Istanbul Turkey Travel Reise SelMcKenzie Selzer-McKenzie
Ein Reisebericht von D.Selzer-McKenzie
Video:
http://www.youtube.com/watch?v=ytEhJNHomb4
Auf muslimische Empfindlichkeiten nimmt Istanbuls Da¬menwelt keine Rücksicht. Die weibliche Hautevolee flaniert schon Ende Februar so dürftig bedeckt, als wäre
sie unterwegs zum Strand von Ipanema. Die Tops sind knapp, die kurzen Jäckchen blähen sich überm Busengewoge, und die Designerjeans sitzen so stramm, dass der Armani-Adler auf der Gesäßtasche bei jedem Schritt hüpft wie ein aufge¬regtes Huhn. Der Catwalk der Stadtschönheiten verläuft quer durchs gediegene Viertel Nisantasi, neuerdings luxusinfiziert mit Gucci- und Tod's-Boutiquen, Bulthaup-Küchenstudios und Bang & Olufsen-Showrooms.
Dass das feingemachte Istanbul bei betuchten Reiselustigen hoch im Kurs steht, liegt aber nicht nur an seinen Boutiquen. Die „New York Times " setzte die Stadt wegen der florierenden Kunstszene auf ihre diesjährige Liste der „31 Places to Go" .
Tatsächlich melden die Galeristen einen regelrechten Ansturm ausländischer Sammler auf zeitgenössische türkische Malerei. Und mit der Ernennung zur europäischen Kulturhauptstadt 2010 wird sich Istanbuls Attraktivität noch erhöhen. Dabei stür¬men schon jetzt sieben Millionen Besucher im Jahr den Gigan¬ten am Bosporus. Und die meisten von ihnen besichtigen nicht nur die Blaue Moschee, sondern schnuppern im mondänen Nisantasi den Duft des hippen neuen Istanbuls.
Dabei erlebte das hügelige Areal seinen Aufschwung schon in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Italienische und französische Architekten bauten für türkische Großindus¬trielle, die in der neuen, weltoffenen Republik Atatürks schnell ein Vermögen gemacht hatten, Palais im Art-d&o-Stil.
Auch Orhan Pamuk, Nobelpreisträger und derzeit wohl be-kanntester Istanbuler, verbrachte seine Kindheit in der ge
hobenen Urbanität Nisantasis. Seine bourgeoise Großfamilie belegte alle fünf Stockwerke eines weitläufigen Anwesens. Der Schriftsteller erinnert sich, als spielender Knirps seine Großmut¬ter gern im obersten Geschoss besucht zu haben, um wie ein Kapitän auf der Kommandobrücke den riesigen Familiendamp¬fer durch ein imaginäres Meer zu steuern.
Heutzutage wäre selbst für die wohlhabenden Pamuks eine solche räumliche Ausdehnung kaum mehr erschwinglich. In Nisantasi explodierten jahrelang die Immobilienpreise. Seit ein paar Monaten ist die Nachfrage nach Wohn- und Geschäftsräu¬men in Bestlage allerdings rückläufig. „Der Markt war so über¬hitzt, dass auch viele gutsituierte Istanbuler in günstigere Außen¬bereiche abwanderten", erklärt ein Makler die Situation.
Moscheen und Bazare? Gibt es auch. Aber höher als die So prägt nun vor allem schickes Amüsement das Straßenbild in
Minarette wachsen Wolkenkratzer in den Istanbuler Himmel Nisantasi. Auf den schmalen Trottoirs drängen sich die überfüll
ten Straßencafös und Bars so dicht aneinander, dass die Kellner in ihren gutgeschnittenen Anzügen die Übersicht zu verlieren drohen und den Prosecco am falschen Tisch abliefern.
Seit 2009 auch in der Türkei ein Rauchverbot in geschlossenen Räumen in Kraft trat, glühen neben jedem Tischchen im Freien gasbetriebene Heizpilze. Wer dort Platz nimmt, fühlt sich bald wie ein Toast im Röster. Die Istanbuler stört das wenig. Schließ-
Einwohner: 12,7 Mio. (2009) lich ließen sie noch nicht einmal vom Tabak, als Sultan Murad IV.
im 17. Jahrhundert den Rauchern mit dem Galgen drohte.
Wirtschaftsmotoren: Textil- und pharmazeutische
Überhaupt gehört ein wenig anarchischer Trotz zu den typischs
Industrie, Banken und Börse ten Wesenszügen der unbändigen Stadt. Die konsequente Rot-
Religion: 98 % Muslime .- licht-Missachtung der Autofahrer alarmiert schon lange keinen
Verkehrspolizisten mehr. Die Stadtverwaltung der 12-Millionen
Moscheen: über 2500 Metropole, die ganze 47 Kilometer Bahngleise für Metro- und
Kirchen: 40 Tram besitzt, setzt eher auf psychologische Verkehrserziehung.
An neuralgischen Kreuzungen sind über den Ampeln Displays
Brücken über den Bosporus: 2 angebracht, die die verbleibenden Sekunden der jeweiligen
Schaltphase herunterzählen. Die Aussicht, in absehbarer Zeit
wieder ein paar Meter voranzukommen, soll mäßigend wirken auf die Nervenbündel hinterm Steuer. Kein Wunder, dass eine besonders verwundbare Spezies gewöhnlich im Istanbuler Ver¬kehrsgetümmel fehlt: Die einzigen Radfahrer, die sich todesmutig mit den Blechlawinen anlegen, spuckt an Sommersonntagen das deutsche Kreuzfahrtschiff „Aida" aus. Vom Dock am Bosporus brechen die Pedalritter auf, Istanbuls historische Halbinsel mit der Blauen Moschee und dem Topkapi-Palast zu erobern. Die Welt¬stadt mit ihrer wechselhaften Geschichte, Kultur und Religion hat so manche fremden Besucher kommen und gehen gesehen, aber wenn die deutschen Radler in der Rush-Hour ihren Hals riskieren, können einheimische Passanten gar nicht hingucken.
Ein Krämer schenkte der Stadt ihren höchsten Turm
Istanbul ist ein Menschenmagnet. Allein in den letzten vier Jahrzehnten versechsfachte sich die Bevölkerung. Halb Ana-tolien kam auf Job- und Glückssuche, viele nur mit dem, was sie am Leib trugen. Aus Bauern wurden Krämer, aus Cayci, also fliegenden Teeservierem, Tavemenwirte. Und manche verwirk¬lichten die türkische Variante des Tellerwäschertraums. Als Ar¬chitektur gewordener Beweis für Schwindel erregende Karrieren ragt der eben fertiggestellte Sapphire-Tower in den Istanbuler Himmel. Der Bauherr des höchsten Wolkenkratzers der Stadt stammt aus einem ostanatolischen Kaff. In nur einem Vierteljahrhundert stieg der kleine Lebensmittelverkäufer zum Besitzer ei¬ner Supermarktkette mit 500 Millionen Euro Jahresumsatz auf.
Bisweilen geht es aber auch im ehrgeizigen Istanbul nicht so recht voran. Der Fertigstellung des Bosporus-Tunnels beispiels¬weise liegen tonnenweise antike Steine im Weg. Das Projekt, das entscheidend die Verkehrsnot der Metropole lindern würde, gerät immer wieder ins Stocken. Die 13 Kilometer lange unterseeische Eisenbahnröhre ist zwar längst verlegt - Ministerpräsident Erdo¬gan spazierte bereits unter dem Meeresboden vom europäischen Teil der Stadt in den asiatischen -, aber die Anschlussbahnhöfe können wohl nicht vor 2014 in Betrieb genommen werden. Beim Tiefbau stieß man auf eine ganze byzantinische Hafenanlage samt Schiffen und Fracht. Nun schuften Hunderte Archäologen Tag und Nacht, die Funde rasch zu bergen oder zu kartografieren. Die durch die Wasserstraße geteilte Stadt muss sich aber darauf einstellen, noch ein paar Jahre ohne Tunnel auszukommen Da trifft es sich gut, dass die Istanbuler ihre Bosporus-Fähren lieben wie die Londoner ihre Doppeldecker-Busse.
Hunderttausende Pendler setzen täglich morgens von Asien nach Europa über und tuckem abends wieder zurück. „Wir ver¬bringen unser halbes Leben auf dem Arbeitsweg", sagt Aisegül, die im asiatischen Stadtteil Kadiköy wohnt und auf der anderen
Bosporusseite in einem Hotel den Empfang leitet. Vier Stunden verbringt die junge Angestellte jeden Tag in Bussen, Zügen, Sam¬meltaxis. „Aber die zweimal 20 Minuten Bootsfahrt geben mir die Lebenskraft zurück, die mich der Alltag im Dauerstau kostet."
Ohne den Bosporus würde die Stadt an sich selbst ersticken. Ohne das blaue Band, das die Gigantomanie aus Beton und Marmor durchglänzt, wäre Istanbul ein seelenloser Moloch. Am blanken Bosporus belebt sich nicht nur das müde Auge, das Wasser zwischen den Kontinenten rauscht auch wie ein großes Orchester. An den Ufern zerschmettert mit dutzendfachem Echo das Fernwehtuten der riesigen Tanker, die Möwen schreien hei¬ser in das tiefe Brummen der Dieselmotoren, und der Gebetsruf der Muezzin zerstiebt im Seewind zu melodiösen Fetzen.
Wenn die Istanbuler an Bord ihrer Vapurs gehen, verordnen sie sich ein paar Minuten Müßiggang. Sie nippen aus kleinen Gläs¬chen kupferfarbenenen Tee , blicken versonnen in den Schaum¬wirbel der Schiffsschrauben oder herzen die Liebste.
Unlängst mussten die in die Jahre gekommenen Dampferchen ausgetauscht werden. Die Stadtverwaltung präsentierte eine Auswahl schmucker, schnittiger Modelle im Internet. Doch die Istanbuler entschieden sich mit großer Mehrheit für den detail¬getreuen Nachbau der alten Pötte, mit denen sie seit Jahr
zehnten zwischen den beiden Erdteilen hin- und hergondeln. Nicht immer verlaufen Schiffsfahrten auf der verkehrsreichen Wasserstraße beschaulich. Erst vor ein paar Jahren rammte ein liberianischer Tanker um Haaresbreite den osmanischen Prunk¬palast, aus dem der sterbenskranke Atatürk 1938 das letzte Mal auf den Bosporus blickte.
Istanbul-Neulinge versprechen sich von der Überquerung der Wasserstraße den Eintritt in einen fotogenen Bazar mit Tausendundeinernacht-Zauber. Solche klischeehaften Erwar-tungen enttäuscht die asiatische Seite der Megalopolis mit einem ziemlich nüchternen Empfang. Wer den Dampfer im trubeligen Geschäfts- und Wohnviertel Kadiköy verlässt, hat für die Kaffepause die Wahl zwischen einer Tchibo-Filiale und dem unvermeidlichen Starbucks. Aus einer armenischen Kirche wehen Weihrauchschwaden, ein paar Häuser weiter wirbt ein gut sortierter Buchladen in seiner Auslage für den aktuellen Roman des New Yorker Schriftstellers Paul Auster.
Was der Imam nicht weiß, macht ihn nicht heiß
Wo also hat er sich verkrochen, der pittoreske Orient samt landestypischer Küche? Romantiker werden am ehesten im Künstlerviertel Beylerbeyi fündig, das sich ein Stück behagli-cher Dörflichkeit erhalten hat. An der Uferpromenade stehen, beschattet von Plantanen, renovierte Yali (osmanische Sommer-villen) mit arabesk verzierten Holz-Erkern und Bootsstegen. Fischtavemen brutzeln Kalamari und Hamsi, kleine Schwarz-meersardellen, die am besten mit Zitrone und Weißwein mun-den. Weil der Alkoholausschank aber dem örtlichen Imam auf-stößt, dessen hübsche Moschee an den Restaurantgarten eckt, müssen die meisten Tafelnden mit Wasser und Cola vorlieb nehmen. Eingeweihte Stammgäste schlagen dem strengen Ko¬ran mit Hilfe der konspirativen Kellnerschaft ein Schnippchen. Spätestens wenn die Sterne zwischen den Stahlseilen der im¬posanten Bosporusbrücke funkeln, füllen sich ganz heimlich Mokka-Tässchen mit Raki und Fantagläser mit Rebensaft.
Kleine und große Travestien prägen seit jeher Istanbuls originellen Umgang mit seiner kulturellen Diversität. Nach der Eroberung Konstantinopels im 15. Jahrhundert durch Mehmed II. steckten die Osmanen der Hagia-Sophia-Kirche einfach ein paar Minarette auf. Knapp 900 Jahre zuvor baute der christliche Kaiser Justinian eine riesige unterirdische Zisterne. Die Säulen, die das Gewölbe stützen, ließ er aus byzantinischem Bauschutt zusammenfügen. Zuunterst liegen in Stein gemeißelte Medusenhäupter, die man kurzerhand zu Sockeln zweckentfremdete.
Angesichts der immensen Kunstschätze, die die Metropole birgt, wirkt ihre diesjährige Beförderung zur Kulturhauptstadt Europas (zusammen mit dem Ruhrpott und dem ungarischen Pecs) fast ein wenig schnöde: als würde man einem Kaiser ein Königsmän¬telchen umhängen. Die Istanbuler, die das 250 Millionen-Euro¬Budget für Hunderte Veranstaltungen und Renovierungsarbei¬ten mit einer höheren Benzinsteuer mitfinanzieren, entschädigte freilich bereits ein Lacher. Bei einem Kinofestival flog die korrupte Jury auf, weil sie den Preis für die beste Filmmusik just einem Streifen verlieh, der gar keinen Soundtrack hat
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