Die Maya – von Selzer-McKenzie SelMcKenzie
Author D.Selzer-McKenzie
Die Heimat der Maya ist eine geschlossene Region, in Grösse
und Form Deutschland ähnlich. Den nördlichen Teil bildet die Halbinsel Yukatan,
die weit in das Karibische Meer hineinragt, auf Kuba ausgerichtet ist und somit
im Westen, Osten und Norden von der See umspült wird. Im Süden schliessen sich
die von der amerikanischen Kordillere geprägten Hochländer von Chiapas,
Guatemala, El Salvador und Honduras an und stellen die Landverbindungen ins
nördliche Mesoamerika und nach Zentralamerika her. Die Grenze der MayaRegion im
Westen kann etwa mit dem Unterlauf des Rio Grijalva im mexikanischen
Bundesstaat Chiapas gezogen werden. Die südöstliche Grenze ist kulturell
weniger streng ausgeprägt. Sie folgt etwa nordsüdlich dem Westrand des Rio
UluaTales in Honduras und biegt von dort nach Südwesten zum Pazifik ab. Im
äussersten Süden bildet der Pazifische Ozean die natürliche Grenze. Das so
umrissene Gebiet liegt in den gemässigten Tropen, ist aber im nördlichen Teil
der Halbinsel Yukatan, vor allem wegen extrem niedriger und jahreszeitlich
ungleich verteilter Regenmengen, eine Dornbuschsteppe. Dagegen sind weite Teile
des südlichen Tieflandes heute von dichtem tropischen Regenwald bedeckt, sofern
sie nicht von der Viehwirtschaft oder dem Kaffeeanbau beansprucht werden. In
nicht allzuferner Vergangenheit herrschte hier jedoch eine lichte Wald und
Savannenlandschaft vor, nicht der Urwald.
Weite Gebiete des Hochlandes sind tektonisch aktiv und
gipfeln in tätigen, bisweilen über 3000 Meter hohen Vulkanen. Diese Zone wird
deshalb immer wieder von Erdbeben erschüttert und durch Vulkanausbrüche
verwüstet. Die oft steilen Hanglagen und durch Erosion zerklüfteten Hochflächen
beschränken die Möglichkeiten der Besiedlung und landwirtschaftlichen Nutzung.
Hingegen ist der Norden eine fast ebene, erdbebenfreie durchkarstete
Sedimentkalkfläche. Gele gentlich wechseln Hügel und Senken ab, doch
überschreiten die Erhebungen eine Höhe von 200 Metern nicht, in der
Oberflächengestalt vergleichbar der Norddeutschen Tiefebene. Nur entlang der Küste
des heutigen Belize ragt ein Ausläufer der Kordillere weit ins nördliche
Tiefland hinein. Diese „Maya Mountains" waren und sind bis heute eine
Siedlungsbarriere.
Extreme Gegensätze weist der Wasserhaushalt auf. Während die
grosse verkarstete Kalkplatte der Halbinsel Yukatan in ihrem nördlichen Teil
keine Flüsse kennt, sondern nur unterirdisch verlaufende Grundwasserströme, die
in „Cenotes" genannten Dolinen — das Wort Cenote ist vom Maya ts'onot
abgeleitet und als Fremdwort ins Spanische übernommen worden — an vielen
Stellen zugänglich sind, ertrinkt die weite Alluvialebene an der Bucht von
Campeche alljährlich während der Regenzeit von April bis November in den
Wassermassen, welche die Stromsysteme des Rio Grijalva und des Rio Usumacinta
sammeln und über sie ergiessen. Es bleiben dann nur einige Erhebungen
inselartig trocken. Im Gebirge und an der pazifischen Abdachung herrschen
hingegen nach unseren Massstäben normale hydrographische Verhältnisse mit gut
entwässernden Flüssen und zahlreichen Seen. Die von der Gesteinsbildung, der
Oberflächengestalt und dem Wasserhaushalt her unterschiedenen Zonen weisen
damit zusammenhängend sehr verschiedene Böden, Mineralien, Pflanzen und
Tierpopulationen auf, die ihrerseits die Grenzen und Möglichkeiten menschlicher
Besiedlung weitgehend vorherbestimmen. So ist der ganze Norden ein schier
unerschöpfliches Reservoir an Kalkstein, der sich als Baustein, zur Gewinnung
von Kalkmörtel und Zement eignet, zur Anfertigung von Skulpturen dient und
unentbehrlich für die Zubereitung von Maisspeisen ist. (Mais muss vor der
Zubereitung durch Wässern in Kalklösung chemisch aufgeschlossen werden). Auch
findet man in Yukatan Einschlüsse von Feuersteinknollen, die Rohmaterial für
Klingen abgeben. In den vulkanischen Gebieten findet man im Gegensatz dazu den
für Mahlsteine besonders geeigneten porösen Tuff und stellenweise den überaus
geschätzten Obsidian, der, verarbeitet, die schärfsten Schneidewerkzeuge
ergibt. Die ausgedehnten Wälder bieten alle Arten von Hölzern: weiche, harte, termitenfeste.
An Bauholz besteht also kein Mangel; und Palmblätter lassen sich, ebenso wie
lange Gräser, zur Bedachung nutzen. Weniger bekannt ist bei uns, dass Baumharze
als Klebematerial für das Handwerk, als Grundstoff für die Beleuchtung mittels
Fackeln, als Räucherharz im religiösen Ritual und auch ganz profan als Kaugummi
vielfältigen Nutzen spenden.
Überall gedeihen bei angepasster Anbauweise Mais, Bohnen,
Kürbisse, Kalebassen, Tomaten, Tabak und in den feuchteren und heisseren Zonen
auch Yucca, Kakao, Chili und Baumwolle. In den üppigen Wäldern des Tieflandes
wachsen essbare Früchte wild, die sich auch unschwer in Gartenkulturen pflegen
und veredeln lassen, so die Papaya, der Avocado, die birnengrosse ZapoteFrucht,
die Chirimoya oder Anona, ebenfalls eine Baumfrucht, und die RamönNuss. Dagegen
ist das Angebot an jagdbarem Grosswild bescheiden: Puma und Jaguar kommen nur
ihrer Felle wegen in Betracht. An Wildbret bieten sich Hirsch, Peccari und
Kleinwild wie Kaninchen, Agouti, Tepeiztcuintli (ein rattengrosses Nagetier),
Leguan und Schildkröten an. Vögel sind hauptsächlich wegen ihrer Federn
begehrt. An erster Stelle rangiert der scheue, nur in feuchten Bergwäldern
heimische QuetzalVogel, dessen lange, elastische grüne Schwanzfedern ein
wichtiger Bestandteil der Tracht gehobener Schichten waren. Kleinaffen, von
denen die drei Spezies des Brüllaffen, des Kapuzineräffchens und des
Spinnenaffen in den Wäldern leben, wird man, wie auch heute noch, als
possierliche Haustiere gehalten haben. In den Flüssen, Seen und vor allem an
der Meeresküste sind schliesslich noch Fische, Schalentiere, Muscheln und
Schnecken heimisch und als Nahrungsquellen, zum Teil auch wegen ihrer robusten
Kalkschalen als Rohmaterial für Schmuckstücke und Geräte, begehrt. Das Land
bietet dem Menschen also eine reiche Auswahl an Naturprodukten.
Den Anfang archäologischer Feldforschung im MayaGebiet
machten Erkundungen bedeutender Ruinenstätten seit dem ausgehenden 18.
Jahrhundert. Die urwaldüberwucherte Ruinenstadt Otolum nahe dem Dorf Palenque
hatte schon früh das Interesse der ansässigen nichtindianischen Bevölkerung
geweckt. Der spanische König Karl III. griff die Meldungen über die Entdeckung
von Ruinen in seinen amerikanischen Kolonien begierig auf und liess 1786 durch
den ArtillerieHauptmann Antonio del Rio eine Expedition dorthin schicken. Die
Erforschung der Ruinen war dank des Talentes ihres Leiters erfolgreich. Dennoch
kam es zur Veröffentlichung seiner sorgfältigen und umsichtigen
Bestandsaufnahme von Gebäuden und Skulpturen erst etwa 30 Jahre nach ihrer
Erforschung, und zwar nicht in Spanien, sondern in England und Deutschland.
Ein Anfang war gemacht und das Interesse geweckt, doch
zunächst kam die Forschung nicht voran, weil infolge der Unabhängigkeit der
amerikanischen Kolonien von Spanien in den ersten Jahrzehnten des 19.
Jahrhunderts Chaos herrschte und Fremde sich kaum in die entlegeneren Gebiete
Zentralamerikas wagten. John Lloyd Stephens, ein unternehmender Nordamerikaner,
und der englische Architekt Frederick Catherwood, beide bereits
Forschungsreisende mit Erfahrungen im Orient, durchstreiften nach dem Abklingen
der Kämpfe von 1839 bis 1841 das ganze MayaGebiet. Ihre Bücher stimulierten mit
spannenden Reiseschilderungen aus Stephens' Feder und romantischen Stichen nach
Catherwoods Zeichnungen die Öffentlichkeit am nachhaltigsten. Beide hatten im
weiteren Leben kein Glück mehr: Ihre Sammlungen, darunter auch Catherwoods
Bilder, verbrannten bei verschiedenen Unfällen in London und Washington, und
Stephens erlag, noch relativ jung an Jahren, der Malaria, die er sich in Panamä
zugezogen hatte, während sein Reisegefährte Catherwood auf dem Atlantik bei
einem Schiffsunglück ertrank. Mit Stephens und Catherwood schloss die
vorphotographische Ära ab; denn schon während die beiden Yukatan bereisten,
waren in Frankreich und England die photographischen Verfahren der Herren
Daguerre und Talbot erfunden und mit Erfolg erprobt worden. Der Franzose Desire
Charnay versuchte sich bereits um 1860 mit beachtlichem Erfolg im
Photographieren von Ruinenstätten in Mexiko und eben auch im MayaGebiet. Diese
Dokumentationstechnik blieb bis heute unentbehrlicher Standard der Forschung
und wurde schon zwanzig Jahre später von dem ehemaligen englischen
Kolonialbeamten Alfred Percival Maudslay und dem in Rom geborenen badischen
Staatsbürger und nachmaligen kaiserlichmexikanischen Hauptmann Teobert Maler zu
so hoher Qualität entwickelt, dass ihre Aufnahmen noch heute, 100 Jahre nach
den Forschungen, die primäre Dokumentation darstellen. Malers und Maudslays Unternehmungen
waren privat organisiert und finanziert. Beide opferten ihr persönliches
Vermögen dafür. Architekturaufnahmen, Karten und Grundrisse gaben dem Leser zu
Hause ein gutes Bild von der Baukunst der Maya und der Anlage der Städte. Und
vor allem Maudslay sorgte dafür, dass einige mit Papiermache abgeformte und
später in Gips gegossene Skulpturen und kleinere Sammlungen von
Originalartefakten zusammen mit Gemälden nach Feldskizzen in London bewundert
werden konnten, während Maler durch DiaVorträge das Pariser Publikum
begeisterte.
Im Verlauf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wechselte
die Feldforschung von der Bestandsaufnahme oberflächlich sichtbarer Ruinen zur
Ausgrabung. Und es waren jetzt nicht mehr privat agierende Forscher, sondern
grosse Institutionen, die solche Unternehmungen planten, finanzierten und
durchführen liessen. Schrittmacher waren die schon vor der Jahrhundertwende
begonnenen Grabungen des PeabodyMuseums in Copän. Danach war fast 50 Jahre lang
die Carnegie Institution aus Washington Hauptförderer der archäologischen
Feldforschung. In der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts richtete sich das
Erkenntnisinteresse der Forschung statt auf die Prunkbaute und die Monumente
der Elite auf das Leben der einfachen Bevölkerung. Man war jetzt bestrebt,
Dörfer und Wohnbezirke auszugraben. Die Verteilung der Siedlungen im Raum und
die Beziehung zur Umwelt rückten daher stärker ins Blickfeld. Den Anstoss dazu
gab zunächst der PerüArchäologe Gordon R. Willey mit seinem ersten
Feldforschungsprojekt als frisch bestallter Professor an der
HarvardUniversität. Er grub unscheinbare Siedlungen im Tal des BelizeFlusses
aus. Mehr vom theoretischen und methodologischen Hintergrund her übte der als
MayaArchäologe ausgebildete, dann aber ausschliesslich in Zentralmexiko tätige
Kent Flannery Einfluss aus mit einem Buch, das den programmatischen Titel „The
Mesoamerican Village" trägt. Daher wurden in den 1960er und 1970er Jahren
vermehrt marginale Zonen und kleinere Zentren erforscht. Gleichzeitig mit dieser
Verlagerung des Forschungsinteresses fanden nun auch in der europäischen
Siedlungsarchäologie längst etablierte Grabungsstrategien in die amerikanische
Archäologie Eingang: flächiges Ausgraben ganzer Siedlungszonen, Landesaufnahme
von Oberflächenfunden und befunden. Diese Grabungen werden, und das ist die
Amerikaspezifische Neuerung, objektiviert durch statistische Auswahlverfahren.
Feldforschung ist aber nicht das einzige Arbeitsfeld des
Archäologen. Geräteaufwendige naturwissenschaftliche Materialuntersuchungen
haben das Aussagepotential der von Archäologen ergrabenen Funde unerwartet
erweitert und präzisiert. In erster Linie und zeitlich am frühsten wurde die
" CDatierung auf organische Reste, meist Holzkohle, angewandt. Ihre erst
spät entdeckte problematische Grundannahme eines konstanten Niveaus von
radioaktivem Kohlenstoff in der Atmosphäre hat viel chronologische Unsicherheit
geschaffen, die aber jetzt überwunden ist, und die Untersuchungen in der
MayaStadt Tikal haben viel zur Klärung dieser Probleme beigetragen. Dennoch ist
dieses Datierungsverfahren nicht präzise genug für historische Fragestellungen
im Rahmen der MayaGeschichte und daher von nur beschränktem Nutzen. Für
chronologische Fragestellungen sehr viel ergebnisträchtiger als die
14CUntersuchungen scheint die ThermolumineszenzAnalyse von gebranntem Ton zu
sein. Hier sind im günstigsten Fall auf 50 Jahre genaue Ergebnisse zu
erreichen. Für Fragen der Herkunft von Tonwaren sind Neutronenaktivierung und
ähnliche kernphysikalische Verfahren hilfreich und auch bereits angewandt
worden. Hier hat sich in jüngster Zeit ein bedeutendes Forschungsfeld eröffnet;
denn die meisten bemalten Tongeschirre, mit denen MayaForscher arbeiten,
stammen aus undokumentierten Raubgrabungen und können mit dieser Methode vielleicht
auf ihren Ursprungsort zurückgeführt werden; abgesehen davon, dass sich mit ihr
Fälschungen erkennen lassen, von denen der Kunstmarkt überschwemmt wird.
Die Entschlüsselung der MayaSchrift war ein langwieriges und
von vielen Sackgassen behindertes Unterfangen. Schon in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts haben Forscher in Nordamerika und Europa das in der Schrift
verschlüsselte Zahlensystem an den Bilderhandschriften studiert und enträtselt
(s. Kapitel III). Darauf aufbauend konnte der königlichsächsische Bibliothekar
Ernst Wilhelm Förstemann, der die ersten Editionen einer in Dresden
befindlichen Handschrift vorbildlich betreute, bald auch die astronomischen
Rechentabellen für Sonnenfinsternisse und die Sichtbarkeitsphasen des
Wandelsterns Venus entschlüsseln. Diese Ergebnisse wurden schon um die
Jahrhundertwende erfolgreich auch auf Steininschriften angewandt, von denen
ständig neue entdeckt und veröffentlicht wurden. Durch diese stand der
Forschung bereits vor der Mitte des 20. Jahrhunderts eine detailreiche
Chronologie zur Verfügung, doch fehlte das Wissen um die Bedeutung der Daten,
denn die nichtchronologischen Textpartien, die immerhin zwei Drittel des
Gesamtcorpus ausmachen, waren weitgehend unentziffert geblieben, ja es tobte
noch ein Streit, ob sie denn überhaupt sprachlich zu lesen seien. Solange
dieser Streit unentschieden blieb, gab es Fortschritte nicht so sehr auf dem
Gebiet der Entzifferung als vielmehr bei der direkten inhaltlichen Deutung des
chronologischen Gerüstes der Texte und der begleitenden Bilder. Hier waren es
zwei ausserhalb der akademischen Forschung stehende Wissenschaftler, die den
Erkenntnisstand entscheidend voranbrachten: Heinrich Berlin, ein in jungen
Jahren aus Fürth nach Mexiko ausgewanderter Privatgelehrter, und die russische
Emigrantentochter Tatiana Proskouriakoff, die in den Vereinigten Staaten als
Architektin ausgebildet war. Sie fanden gleichzeitig und unabhängig voneinander
heraus, dass es bei den Steininschriften um Ereignisse im Leben von
Herrscherfamilien der MayaStaaten und um diese Staaten selbst ging. Kapitel IV
fusst bei der Darstellung der Dynastien von Palenque und Yaxchilän auf den
Pionierarbeiten der beiden. Der Streit um den Charakter der Hieroglyphenschrift
wurde erst in den Jahren nach 1970 zugunsten der sprachlichen Lesung als
Silbenschrift (mit bilderschriftlichen Elementen) entschieden. Diese Auffassung
hatte der Russe Yuri Knorozov zwar bereits zwanzig Jahre zuvor vertreten, sie
wurde jedoch in der führenden Welt der nordamerikanischen Forschung nur von
David Humiston Kelley aufgegriffen, was man ihm in der akademischen Welt
schlecht dankte, denn er wurde wegen der Übernahme suspekter
„sowjetischer" oder „marxistischleninistischer" Forschung nicht
ernstgenommen. Erst als 1973 der Linguist und Ethnologe Floyd Lounsbury durch
methodisch überzeugende Argumentation den Knorozovschen Entzifferungsansatz
weiterführte, gelang der allgemeine Durchbruch, und auch Kelley ist inzwischen
als Pionier der Entzifferung rehabilitiert. Was gegenwärtig noch ansteht, ist
das Ausmerzen von unplausiblen Lesungen, das Begründen neuer Vorschläge für die
vielleicht noch unentzifferten 20 Prozent der knapp 500 Zeichen der MayaSchrift
sowie die Lesung dieser Zeichen und der aus ihnen zusammengesetzten
Hieroglyphen und Texte in der von den Sprachforschern Terrence Kaufman und
William Norman rekonstruierten Sprache der klassischen Maya, dem
ProtoCholischen. Denn bisher begnügen sich Forscher bei ihren
Entzifferungsvorschlägen meist mit unmethodisch gemischter Verwendung verschiedener
MayaSprachen späterer Sprachstufen. Ich bemühe mich im Folgenden, in diesem
Sinn zuverlässige Lesungen vorzutragen; im Zweifelsfall gibt das Register
Aufschluss über abweichende Lesungen. Die Erforschung der Kolonialzeit durch
Aufschlüsselung von frühen schriftlichen Zeugnissen spanischer Präsenz im
MayaGebiet ist bis heute ein Stiefkind der Geschichtsforschung geblieben.
Selbst die reiche und wohlgeordnete Dokumentensammlung im IndienArchiv in
Sevilla, im spanischen Mutterland, wurde nie vollständig ausgewertet; und in
den Ländern mit MayaBevölkerung gibt es keine geordneten Archive. Wegen dieser
misslichen Lage hat die schon um die archäologische Forschung verdiente
Carnegie Institution in Washington um die Mitte unseres Jahrhunderts kurzzeitig
Anstrengungen unternommen, verstreute Dokumente über die Maya zusammenzutragen,
zu veröffentlichen und durch Übersetzungen ins Englische und historiographische
Synthesen nutzbar zu machen. Dieser vielversprechende Beginn wird heute von der
staatlichen mexikanischen Universität in MexikoStadt fortgeführt, wo der
Historiker Rene Acutia die treibende Kraft ist.
Das MayaGebiet war bis ins 20. Jahrhundert eine
dünnbesiedelte und von der modernen Zivilisation nur wenig berührte Zone. Daher
haben Völkerkundler immer wieder betont, dass man dort noch viele traditionelle
Lebensformen erforschen könne. Zunächst betrafen solche Forschungen die
MayaSprachen, ein Unternehmen, das im 19. Jahrhundert zunächst in der Hand
europäischer Reisender lag. Carl Hermann Berendt aus Danzig und Otto Stoll aus
Zürich seien genannt. In Merida und GuatemalaStadt beteiligten sich auch
gebildete Städter der spanischstämmigen Oberschicht an solchen Forschungen,
darunter in Yukatan der Verwaltungsbeamte Juan Pio Perez, der schon Stephens
mit historischen Dokumenten versorgt hatte. Die professionelle Erforschung
traditioneller Lebensformen, also die Ethnographie, setzte erst im 20.
Jahrhundert ein und war immer eine Domäne von Nordamerikanern. Es wirkten an
ihr aber auch Mexikaner und vereinzelt Deutsche mit: Leonhard Schultze Jena in
den 1930er Jahren, Ulrich Köhler und Christian Rätsch in der Gegenwart. Im 18.
und beginnenden 19. Jahrhundert gab es noch nicht so etwas wie rationale
Theorien über die Geschichte der Maya, sondern allenfalls religiös und
phantastisch inspirierte Spekulationen mit historischer Zielsetzung: Atlantis,
die Ägypter und der verlorene Stamm Israels spielen dabei immer wieder eine
erklärende Rolle. Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts hin wurden echte
Theorieansätze in Form einfacher sozialgeschichtlicher Typisierung über die
Maya, ihre Herkunft und ihre politische und wirtschaftliche Verfassung geboren.
Sie spiegeln sich in Formulierungen wie „Das alte und das neue Reich der
Maya" oder „die Theokratie der Maya" wider. Man verwandte dazu die
zunächst einzig beachteten archäologischen Zeugnisse: stehende Architektur,
Monumentalkunst und Kalenderdaten der Hieroglypheninschriften. Denn, wie wir
sahen, war es schon recht früh gelungen, den ansonsten bis in unsere Tage
unentziffert gebliebenen hieroglyphischen Texten die tagesgenauen Kalenderdaten
zu entnehmen. In Anbetracht der Tatsache, dass bereits zu Anfang des 20.
Jahrhunderts Hunderte solcher Inschriften mit vielleicht 1000 Kalenderdaten
bekannt waren, boten sie ein genaues Datenraster, innerhalb dessen man die
Geschichte der Maya darstellen konnte. Doch zu differenzierten Theorien über
sie führte das nicht, denn der Inhalt der nichtkalendarischen Hieroglyphen war
weiterhin unbekannt. Mit dem Anwachsen der Daten aus allen Bereichen der
archäologischen Forschung, des Quellenstudiums, der Sprachforschung, der
fortschreitenden Hieroglyphenentzifferung und der Beobachtung moderner
MayaIndianer zeigte sich die Unzulänglichkeit grober Klassifizierungen und
einseitiger Ausrichtung auf die Elitekultur der alten Maya. Man bedient sich
daher jetzt eines anderen Instrumentes, der Modellbildung, d. h. man versucht
alle vorhandenen Daten quantifiziert und klar definiert zusammenzubringen und
in einen Funktionszusammenhang zu stellen. Wenn das mit modernen Mitteln der
Mathematik und der Computerberechnungen geschieht, bezeichnet man es als
Simulation. Solche — nun nicht mehr anschaulichen — Modelle helfen, vermutete
Zusammenhänge zu überprüfen und neue zu formulieren. Der Niedergang der MayaKultur
im 8. und 9. Jahrhundert war eines der früh mit historischer Zielsetzung:
Atlantis, die Ägypter und der verlorene Stamm Israels spielen dabei immer
wieder eine erklärende Rolle. Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts hin wurden
echte Theorieansätze in Form einfacher sozialgeschichtlicher Typisierung über
die Maya, ihre Herkunft und ihre politische und wirtschaftliche Verfassung
geboren. Sie spiegeln sich in Formulierungen wie „Das alte und das neue Reich
der Maya" oder „die Theokratie der Maya" wider. Man verwandte dazu
die zunächst einzig beachteten archäologischen Zeugnisse: stehende Architektur,
Monumentalkunst und Kalenderdaten der Hieroglypheninschriften. Denn, wie wir
sahen, war es schon recht früh gelungen, den ansonsten bis in unsere Tage
unentziffert gebliebenen hieroglyphischen Texten die tagesgenauen Kalenderdaten
zu entnehmen. In Anbetracht der Tatsache, dass bereits zu Anfang des 20.
Jahrhunderts Hunderte solcher Inschriften mit vielleicht 1000 Kalenderdaten
bekannt waren, boten sie ein genaues Datenraster, innerhalb dessen man die
Geschichte der Maya darstellen konnte. Doch zu differenzierten Theorien über
sie führte das nicht, denn der Inhalt der nichtkalendarischen Hieroglyphen war
weiterhin unbekannt.
Mit dem Anwachsen der Daten aus allen Bereichen der
archäologischen Forschung, des Quellenstudiums, der Sprachforschung, der
fortschreitenden Hieroglyphenentzifferung und der Beobachtung moderner
MayaIndianer zeigte sich die Unzulänglichkeit grober Klassifizierungen und
einseitiger Ausrichtung auf die Elitekultur der alten Maya. Man bedient sich
daher jetzt eines anderen Instrumentes, der Modellbildung, d. h. man versucht
alle vorhandenen Daten quantifiziert und klar definiert zusammenzubringen und
in einen Funktionszusammenhang zu stellen. Wenn das mit modernen Mitteln der
Mathematik und der Computerberechnungen geschieht, bezeichnet man es als
Simulation. Solche — nun nicht mehr anschaulichen — Modelle helfen, vermutete
Zusammenhänge zu überprüfen und neue zu formulieren. Der Niedergang der MayaKultur
im 8. und 9. Jahrhundert war eines der früh erkannten und nie befriedigend
erklärten Phänomene der Maya Geschichte, das partiell mit Simulationsmodellen
verständlicher gemacht worden ist. Ebenso ist eine kurze Zeitspanne in der
Mitte der klassischen MayaEpoche, die eine Krise der MayaKultur kennzeichnet
und die man den Hiatus nennt, ein Problem, für das wir einst vielleicht im
Rahmen von Modellsimulationen Erklärungen finden.
An den Küsten des Pazifik und der Karibik wurden zwischen
2500 und 2000 v. Chr. die ersten dörflichen Ansiedlungen im späteren MayaGebiet
gegründet. Sie hatten bescheidene Ausmasse und vereinigten vielleicht nicht
mehr als zwanzig Familien in jedem Dorf. Woher die Bewohner kamen, wissen wir
nicht. Am Fundort Cuello in Belize ist die frühste Töpferei erst sehr viel
später, nämlich um 1000 v. Chr., nachzuweisen. Dort weist auch das Vorkommen
von JadePerlen auf Fernhandel schon in dieser Zeit, denn die nächsten
JadeVorkommen sind im 200 Kilometer entfernten MotaguaTal. Die frühste Keramik
der Fundorte La Victoria und Ocös an der Pazifikküste datiert auf 1500 v. Chr.
und hat mit der der karibischen Küste nichts gemein, so dass man vorerst an
beiden Küstenorten unabhängige Übergänge zur Keramikherstellung annehmen muss.
Pauschal nimmt man jedoch an, dass die Kenntnis der Töpferei und wenig später
des Maisanbaus die Siedler an diesen und weiteren Orten im MayaGebiet aus dem
Norden erreichte, wo es in den Trockentälern und Höhlen von Tamaulipas, Puebla
und Oaxaca frühere Funde von Pflanzendomestikation gibt . Immer wieder weisen
aber ausserdem Forscher nicht unberechtigt auf die Möglichkeit hin, dass die
Töpferei über die karibische See aus Venezuela und Kolumbien und durch
Küstenschiffahrt auf dem Pazifik aus Ecuador ins MayaGebiet Eingang gefunden
haben könnte. In Südamerika sind diese Prozesse nämlich ebenfalls zu beobachten
und beginnen früher als in Mexiko und Guatemala.
Die gerade für die Erhellung der frühen Siedlungsgeschichte
so wichtige Chronologie macht der Archäologe am Wandel in Form und Verzierung
von Tonwaren fest. Eine Kultur und damit zugleich eine Zeitphase wird nach der
mit ihr assoziierten Keramik benannt. So heisst die frühste Keramik einer
bestimmten Ausprägung im MayaTiefland Mamom; diesen Namen hat sie am ersten
Fundort, wo sie in grösseren Mengen ausgegraben und anschliessend typologisch
bestimmt wurde, nämlich in Uaxactün, erhalten. Die Abfolge der Keramikphasen
wird dann meist in einem Säulendiagramm dargestellt, wobei die frühste Phase,
wie auch in der Wirklichkeit des Fundortes, zuunterst steht. Tabelle 1 zeigt
die wichtigsten Keramikphasen des MayaGebietes. Es ist in der Forschung leider
Brauch geworden, dass jeder Archäologe an seinem Fundort die erkannten
KeramikTypen mit neuen Namen benennt, und zwar nach sehr ideosynkratischen
Grundsätzen; man vergleiche in dieser Hinsicht La Victoria, Cuello und
Uaxactün. Da dient einmal die Köchin, weil sie die Archäologen so gut versorgt
hat, ein andermal der fleissige Vorarbeiter als Namensgeber, oder, was noch
irreführender ist, der Archäologe nimmt sich Worte aus MayaSprachen zur
Benennung seiner Keramik, unbeschadet der Tatsache, dass diese Wörter in der
Sprache und in anderen Bereichen der MayaForschung ganz andere Bedeutungen
haben. So war es schon bei der Leitgrabung in Uaxactün, wo spätere Phasen (
„Tzakol", „Tepeu") nach QuicheGöttern benannt wurden, wiewohl in
Uaxactün niemals QuicheIndianer gelebt haben. Erst in einem reifen Stadium der
vergleichenden KeramikChronologie schälen sich dann keramische Gruppen heraus,
die wegen ihrer diagnostischen Merkmale und weiten räumlichen Verbreitung
verschiedene Fundorte gleichermassen charakterisieren. „Fein Orange" und
„Bleiglanz" sind KeramikWaren, die solche Eigenschaften in der
spätindianischen Zeit haben, doch sind sie nicht zu Phasenbenennungen verwendet
worden. Bei der frühen MamomKeramik können wir hingegen den vernünftigeren
Prozess im Ansatz beobachten, dass sich die Benennung von Phasen nach der
überregionalen Leitkeramik richtet.
Der Prozess der Neolithisierung, also die sesshafte
Siedlungsweise, die Einführung von Töpferei und der Beginn des Feldbaus, auch
im Binnenland, scheint sich im MayaGebiet über insgesamt ein Jahrtausend zu
erstrecken und ist in Einzelheiten noch keineswegs befriedigend geklärt. Wegen
dieses langsamen Anwachsens und Sichausbreitens zivilisatorischer
Errungenspricht man nicht mehr von einer neolithischen Revolution, wie es V.
Gordon Childe in den fünfziger Jahren für Europa vorgeschlagen hatte.
Welcher Sprachgruppe diese frühen Besiedler des späteren
MayaGebietes angehörten, ist unbekannt. Um diese Frage zu klären, hilft die
Archäologie nicht weiter; denn den archäologischen Funden und Befunden in Ocös,
La Victoria oder Cuello sehen wir nicht an, ob die Menschen dort eine
MayaSprache gesprochen haben. Für die Skizzierung der frühsten Vergangenheit
der Mayasprechenden Indianer wenden wir uns daher der historischen
Sprachforschung zu, die ausgehend von heute lebenden Sprechern von MayaSprachen
deren Geschichte zu erhellen versucht. Angespornt durch die Möglichkeiten der
+500 vielversprechenden
RadiokarbonMethode zur absoluten Da
tierung von organischem Material, entwickelte der
nordamerikanische Sprachforscher Morris Swadesh in den fünfziger Jahren unseres
Jahrhunderts eine Methode, mit der es möglich sein sollte, aus dem Vergleich
von Standardwörterlisten verwandter Sprachen die Zeitpunkte der
Auseinanderentwicklung dieser Sprachen annähernd zu bestimmen; sie wird
Glottochronologie oder Lexikostatistik genannt. Die Erwartungen, die Swadesh
und seine Anhänger in die Methode setzten, sind überzogen. Die Methode dient
nach heutigem Fachurteil lediglich dazu, die Abfolge der Ausdifferenzierung,
nicht jedoch absolute Zeitpunkte dieses Prozesses zu bestimmen. Beziehen wir
aber Gesichtspunkte der Sprachgeographie in unseren Rekonstruktionsversuch mit
ein, so lässt sich in groben Umrissen die Frühgeschichte der Maya skizzieren.
Bis etwa 1500 v. Chr. bildeten die UrMaya im Hochland der
Cuchumatanes in Guatemala eine homogene kleine Gruppe. Die angrenzenden Gebiete
waren damals noch von anderen Indianern, zum Teil Jägern und Sammlern, zum Teil
bereits Sesshaften, besiedelt. Etwa um das genannte Jahrfünfhundert spaltete
sich ein Teil von der UrMayaGemeinschaft ab und wanderte nach Norden in die
Halbinsel Yukatan ein. Diese Gruppe bildete den Grundstock der noch heute dort
siedelnden Mayat' an (d. i. ,Sprache der Maya`) sprechenden Indianer. Eine
andere Gruppe spaltete sich wenig später ebenfalls vom Stamm ab und wanderte
zunächst an die Golfküste, die von den Olmeken beherrschte Region, und dann,
dieser Küste entlang nach Norden, bis in die Grenzzone der heutigen
mexikanischen Bundesstaaten Tamaulipas und Veracruz. Sie werden von uns mit dem
altaztekischen Namen Huaxteken bezeichnet, und ihre Sprache ist das Huaxtekische.
Infolge dieser Wanderung verloren sie den Kontakt zu ihrer Herkunftsgruppe und
deren kultureller Fortentwicklung. Am spätesten besiedelt wurde die Urwaldzone
am Abhang der Kordillere, obwohl sie am dichtesten am Stammland in den
Cuchumatanes liegt. Ursache für die späte Besiedlung mag die schlechte Eignung
für ausgedehnte Landwirtschaft sein. Um die Mitte des letzten vorchristlichen
Jahrtausends war mit der Besiedlung der genannten Urwaldrandzone durch die
CholMaya der gesamte Raum, den die MayaIndianer dann für die kommenden 2000
Jahre gehalten haben, von ihnen bereits bewohnt.
Heute gibt es etwa 30 verschiedene MayaSprachen, die sich in
ihrer Differenzierung bzw. in ihren Übereinstimmungen untereinander mit der
Binnengliederung germanischer Sprachen Europas vergleichen lassen. Phonetisch
ist bei den MayaSprachen die systematische Ausformung der stimmlosen
Verschlusslaute in einfache und glottalisierte bemerkenswert. So besitzen viele
MayaSprachen, wo wir ein p, ein t und ein k als stimmlose Verschlusslaute
kennen, jeweils ein unglottalisiertes p, t und k, die in etwa unseren Lauten
entsprechen, und dazu jeweils noch die glottalisierten Laute p, t' und k'. Im
Quiche gibt es sogar vier verschiedene kPhoneme; man unterscheidet in dieser
Sprache also noch eine vordere und eine hintere Artikulation und wählt zur
Kennzeichnung der hinteren Artikulation den Buchstaben „q". Würden wir den
Namen dieser Indianergruppe phonologisch korrekt schreiben, sähe er daher
folgendermassen aus: K'iche`, denn es handelt sich beim ersten glottalisierten
Verschlusslaut um die vordere Artikulation. Da diese phonologischen
Besonderheiten der MayaSprachen gerade bei Namen im wissenschaftlichen und
populären Schrifttum meist missachtet werden, sollte der Leser sich nicht daran
stossen, wenn meine Schreibungen, die, wo es auf die sprachliche Form ankommt,
phonologisch korrekt sind, von traditionellen Schreibungen abweichen. Ansonsten
ist die Lautung dieser Sprachen verglichen mit dem Deutschen nicht besonders
fremdartig.
Viele hundert Jahre entwickelten die Indianer an den Küsten,
im Innern Yukatans, aber auch in den grossen Flusstälern und in benachbarten
Regionen ein einfaches, bodenständiges Leben. Und wenn wir der Sprachforschung
folgen, waren das seit etwa 1500 v. Chr. mehrheitlich direkte Vorfahren der
späteren MayaIndianer, also Menschen, die sich in ProtoCholisch,
ProtoTzeltalisch und ProtoYukatekisch sowie in anderen Vorformen heutiger
MayaSprachen ausdrückten.
Einen qualitativen Sprung zu höherer gesellschaftlicher
Komplexität und wirtschaftlicher Leistungskraft kann man im MayaGebiet, später
als an der benachbarten Golfküste, erst um 800 v. Chr. beobachten, als ganz
Mesoamerika vom zweiten Aufblühen der olmekischen Kultur, der nach einem
wichtigen olmekischen Fundort benannten La VentaPhase, erfasst wird. Jetzt
kommen erstmals ObsidianKlingen in Gebrauch, was abermalige Ausweitung der
Handelsbeziehungen voraussetzt, da sich dieses vulkanische Glas nur an wenigen
Stellen in OstGuatemala (El Chayal ist ein bedeutender Fundort) und in
Zentralmexiko findet. Wie erklärt sich dieser kulturelle' Aufschwung?
Archäologen vermuten, dass ein weitgespanntes Netz olmekischer Handelsposten
den Anstoss gab. Im Tausch gegen einheimische Rohstoffe und landwirtschaftliche
Produkte wurde olmekisches Kunsthandwerk erworben, an dessen Beispiel sich dann
die eigenen technischen, intellektuellen und künstlerischen Fähigkeiten
entwickelten. Das Abnahmeangebot für lokale landwirtschaftliche Erzeugnisse
seitens olmekischer Händler trug ausserdem vielleicht dazu bei, die
Produktivität der Anbaumethoden zu steigern.
Die Olmeken als Vorläufer
Die Olmeken waren, wie wir eben sahen, in mancher Hinsicht
Vorläufer der Maya, und sie waren vermutlich auch Vorbild, weil ihr
elaboriertes Religionssystem, das wir freilich im Detail nicht kennen, sondern
nur in groben Zügen aus den Kunstwerken zu umreissen vermögen, hohes Prestige
genoss, so dass manche Interpreten, sehr spekulativ, von olmekischer Mission
als Alternative oder Ergänzung zu den behaupteten Handelsbeziehungen sprechen.
Man bezeichnet die Olmeken aufgrund dieser und anderer Merkmale als erste
Hochkultur Mexikos. Nun scheint für fast alle Hochkulturen der Menschheit zu
gelten, dass von einem bestimmten Punkt ihrer soziokulturellen Entwicklung an
die Einführung eines schriftlichen Aufzeichnungssystems nützlich und geradezu
unvermeidlich wird. Schrift in irgendeiner Form wird deshalb sogar als
wesentliches Kennzeichen für Hochkulturen angesehen. Als Schrift ist hierbei
ein auf graphischen Zeichen beruhendes Zeichensystem zu verstehen, das Aussagen
inhaltlich oder in sprachlicher Gestalt dauerhaft festhalten kann. Diese
Inhalte müssen für alle des Systems Kundigen sicher wiedergewinnbar, d. h.
lesbar sein, auch und gerade, wenn sie den Inhalt der Aufzeichnung noch nicht
kennen. Viele frühe Schriftsysteme sind allerdings nur Partialschriften, denen
die Fähigkeit fehlt, einen Text vollständig, verlässlich und eindeutig
wiederzugeben. Andererseits sind Partialschriften oft auf einen Aussagebereich
spezialisiert und dort vielleicht leistungsfähiger als eine universell
verwendbare Schrift.
Nacholmekische Entwicklungen
Kehren wir zum MayaGebiet zurück und verfolgen wir die
weitere kulturhistorische Entwicklung. Nach dem plötzlichen Niedergang der
Olmeken — um 400 v. Chr. fiel deren Hauptstadt La Venta der Zerstörung anheim —
entfaltete sich zunächst das im MayaHochland gelegene Kaminaljuyü zu einem
ansehnlichen zivilen und religiösen Zentrum. In Kaminaljuyü sind aus dieser
Zeit 200 Pyramiden nachgewiesen, deren krönende Tempel vermutlich aus Holz
waren und daher spurlos verschwunden sind. Auch die Skulpturfunde sind bedeutend,
aber leider nie in situ ausgegraben und aufgenommen worden. Kaminaljuyu ist ein
Repräsentant der grossen, in verschiedenen örtlichen Ausprägungen vorhandenen
Kultur, die olmekische Traditionen fortführte und mit eigenen Neuerungen
bereicherte. Sie wird daher passend epiolmekische Kultur genannt. Andere
wichtige Zentren der EpiOlmeken sind Chalchuapa in El Salvador und La Lagunita
im guatemaltekischen Hochland, Abaj Takalik und Izapa nahe der Pazifikküste und
Chiapa de Corzo im Hochland von Chiapas.
Das für uns Interessante an den epiolmekischen Kulturen im
Hochland und an der Pazifikküste ist ihre deutliche künstlerische Anbindung an
die vorangegangene olmekische Kultur. Oft kann sogar eine räumliche Kontinuität
nachgewiesen werden, wie zum Beispiel in Abaj Takalik und La Lagunita, wo sich
am selben Ort olmekische und epiolmekische Kulturreste gefunden haben.
Allerdings haben seit der Zeit der Olmeken auch wesentliche Änderungen
stattgefunden. Die monumentale, vollrunde olmekische Skulptur wird durch flache
und vermehrt szenisch komponierte Reliefs abgelöst und erlebt nur noch in den
künstlerisch unbedeutenden „Dickwanst"Skulpturen eine Fortsetzung. Die
bescheidenen Ansätze einer Hieroglyphenschrift entwickeln sich, vielleicht
unter dem Einfluss der epiolmekischen Kultur von Cerro de las Mesas, zu einem
regelrechten Schriftsystem, in das nun die bereits komplex entwickelte
Chronologie der Tageszahl in längere nichtkalendarische Texte eingefügt ist (s.
Kapitel III). Schliesslich erfinden die EpiOlmeken das Ensemble von aufrecht
stehender Stele mit davor gesetztem gedrungenem, oft als Reptil ausgeformtem
Altar, das später so kennzeichnend für die klassische MayaKultur sein wird und
sich vor allem im Südosten des MayaGebietes, in Copän und Quiriguä, noch in klassischer
Zeit grosser Beliebtheit erfreut.
Für Olmeken und EpiOlmeken wird aufgrund sprachhistorischer
Studien angenommen, dass sie eine Vorform des MixeZoque sprachen; und in der
Tat liegt das heutige Siedlungsgebiet der stammverwandten Mixe und ZoqueSprachen
im geographischen Zentrum dieser Kulturen. Somit haben sie in ihren
Schriftdenkmälern eine Sprache geschrieben, die nichts mit den Sprachen der
Maya oder anderer mexikanischer Indianer ausserhalb ihres Kernlandes gemein
hat. Doch ist ihr Einfluss auf die MayaSprachen in Lehnwörtern erkennbar.
Die beiden westlichen Ausprägungen der epiolmekischen
Schriften hatten nur bis zum Frühklassikum Bestand und wurden dann von
einfacheren Systemen abgelöst, wobei auch die bis dahin bestehende
Textfähigkeit verlorenging. Die Verarmung führte so weit, dass die Frage, ob
Teotihuacan, das mächtigste kulturelle Zentrum Mesoamerikas im Mittelklassikum,
wirklich ohne Schrift war, wie es das Fehlen von eindeutigen Inschriften
anzunehmen zwingt, immer noch Gegenstand einer Kontroverse ist. Die
Schriftlosigkeit Teotihuacans wäre nicht nur schrifttheoretisch, sondern auch
vom historischen Befund her erstaunlich, da in einzelnen Stadtvierteln von
Teotihuacan eine zapotekische Kolonie bestand, in der die Verwendung der zapotekischen
Schrift nachgewiesen ist. Doch hat die Ethnologie für diese kulturelle
Regression, wie man den scheinbar unmotivierten Verlust kultureller
Errungenschaften nennt, durchaus eine hypothetische Erklärung: Die Vielfalt der
grundlegend verschiedenen Sprachen auf engem Raum lässt ein System, das auf
Bedeutung beruht, also letztlich mit Bildern arbeitet, gegenüber einem, das
wesentlich die sprachlichen Laute einbezieht, durchaus vorteilhaft erscheinen.
Man denke dabei an die ganz ähnliche und historisch vielfach verbürgte
Entwicklung auf den nordamerikanischen Plains, wo sich eine Zeichensprache
entwickelte, nachdem im 17. Jahrhundert durch die Einführung des Pferdes die
Stämme mobiler wurden und Begegnungen fremdsprachiger Indianer untereinander
sich häuften. Unbeschadet des Ausgangs der Kontroverse um die Schriftlichkeit
in Teotihuacan ist ein scharfer Trennstrich gezogen zwischen den verarmten
Nachfolgesystemen im Westen und im Zentrum Mesoamerikas und der entstehenden,
sich stetig vervollkommnenden MayaSchrift im Osten, der wir uns jetzt zu
wenden.
Die MayaSchrift in historischer Perspektive
Vor dem Hintergrund der Degeneration von Schriftsystemen in
den epiolmekischen und nachfolgenden Kulturen ist es zunächst erstaunlich, dass
die Maya, die ja selbst nur am Rande mit den Olmeken in Berührung standen und
auch ganz andere Sprachen hatten, die einzige Nachbarkultur waren, die das von
den Olmeken Erreichte bewahrten, an ihre Sprachen anpassten, weiterentwickelt
und dabei den lautbezogenen Aspekt der
Schrift aufgegriffen haben. Doch kann man sich men im
Umkehrschluss von der oben erwähnten Ikulturellen Regression erklären. Die vor
allem le: sse Ähnlichkeit der MayaSprachen untereinander len fremdsprachlicher
Enklaven erlaubten es, eir auszubilden, ohne dass damit die VerständiguA
Einbussen erlitt.
Im ganzen MayaTiefland, nicht jedoch im H breitete sich der
Gebrauch dieser Schrift. Das vt stem ist so einheitlich, dass ein heutiger
Forscher 1 rigkeiten hat, Texte beliebiger Herkunft zu leset einem lokalen
Textcorpus die Regeln des Mayaerlernt hat. Veranschaulichen wir uns diese am im
Königshaus von Palenque gebräuchlichen Na kal lautet und ‚Schild' bedeutet. So
hiess nicht n tendste Herrscher von Palenque , sein Grossonkel oder Onkel. Der
MayaSchriftge Möglichkeit, den Namen Pakal mit einem Bildz stellen, weil die
Schrift über ein Zeichen, das eir dergibt, verfügt
Schrift aufgegriffen haben. Doch kann man sich dieses
Phänomen im Umkehrschluss von der oben erwähnten Hypothese zur kulturellen
Regression erklären. Die vor allem lexikalisch grosse Ähnlichkeit der
MayaSprachen untereinander und das Fehlen fremdsprachlicher Enklaven erlaubten
es, eine Lautschrift auszubilden, ohne dass damit die Verständigung wesentliche
Einbussen erlitt.
Im ganzen MayaTiefland, nicht jedoch im Hochland,
verbreitete sich der Gebrauch dieser Schrift. Das verwendete System ist so
einheitlich, dass ein heutiger Forscher kaum Schwierigkeiten hat, Texte
beliebiger Herkunft zu lesen, wenn er an einem lokalen Textcorpus die Regeln
des MayaSchriftsystems erlernt hat. Veranschaulichen wir uns diese am Beispiel
eines im Königshaus von Palenque gebräuchlichen Namens, der Pakal lautet und
‚Schild' bedeutet. So hiess nicht nur der bedeutendste Herrscher von Palenque
(s. Kapitel IV), sondern auch sein Grossonkel oder Onkel. Der
MayaSchriftgelehrte hat die Möglichkeit, den Namen Pakal mit einem Bildzeichen
darzustellen, weil die Schrift über ein Zeichen, das ein ‚Schild' wiedergibt,
verfügt . Dieses Bildzeichen ist aber vermutlich nicht eindeutig zu lesen, denn
es gibt mehrere Wörter, die ‚Schild' bedeuten, unter anderem das Wort chimal
(s. Tabelle 2). Um die Lesung der Namenshieroglyphe eindeutig zu machen,
bedient sich der Schreiber der Silbenschrift. Er zerlegt das Wort pakal in
Silben der Form Konsonant + Vokal, wobei an den isoliert stehenden
wortabschliessenden Konsonanten ein Vokal angehängt wird, so dass folgende
Silbenreihe entsteht: pakala. Für jede dieser Silben verfügt er über ein
Schriftzeichen. Diese muss er dann so zusammensetzen, dass eine ästhetisch
ausgewogene rechteckige Hieroglyphe entsteht. Nun hat er grundsätzlich die
Wahl, beide Schreibungen, das Bildzeichen und die syllabische Schreibung,
zusammen zu benutzen, oder er kann abgekürzt zum Bildzeichen nur ein oder zwei
Silbenzeichen hinzufügen, die bereits ausreichen, um Lesungsalternativen wie
chimal auszuschliessen. Das System ist im Grunde einfach; was der Forschung
jedoch Schwierigkeiten macht und beim Laien vermutlich den Eindruck einer
esoterischen Bilderschrift erweckt, ist die Formenvielfalt. Für die meisten
Zeichen gibt es neben abstrakten, einfach zu schreibenden Formen auch als Kopf
oder sogar Vollfigur ausgestattete Alternativen. Die letzte Schreibung des
Namens Pakal in Abbildung 2 zeigt eine Schreibung mittels Kopfvariante. Dort
ist, in einen Tierkopf, der zur Lesung nichts beiträgt, das Bildzeichen für
‚Schild' als Auge eingefügt. Auf Schreibökonomie und geschwindigkeit kam es den
MayaSchreibern also offenbar nicht an, sondern auf Schönheit und Variation.
Texte im nördlichen und im südlichen Tiefland unterscheiden
sich in den Formen der Zeichen und in der Syntax etwas voneinander. Das
spiegelt vermutlich nicht nur künstlerische, sondern auch sprachliche
Unterschiede wider. Aus der historischen Linguistik wissen wir, dass in diesen
beiden Grossregionen die verwandten, aber deutlich unterschiedenen Sprachen
Yukatekisch im Norden und ProtoCholisch im Süden gesprochen wurden und dass
verschiedene Nachbarsprachen, zuerst das MixeZoque, in späterer Zeit das
Totonakische und schliesslich eine NahuaVariante von der mexikanischen
Golfküste, ihren Einfluss geltend gemacht haben, wobei verschiedene Regionen
unterschiedlich betroffen gewesen sein mögen.
Die frühesten MayaTexte haben sich im südlichen Tiefland
gefunden. Es sind fast ausschliesslich Steininschriften, denn anderes hat sich
kaum erhalten. Stele 29 aus Tikal (Abb. 2 a) nimmt in ihrer Inschrift auf die
Inthronisation des Herrschers VolutenAhawJaguar von Tikal Bezug, die am 8. Juli
292 stattfand. Es gibt zwar noch frühere Inschriften, doch sind sie nicht genau
datiert und sind meist illegal ergrabenes Plünderungsgut, so dass nicht einmal
ihre örtliche Herkunft bekannt ist. Immerhin sind selbst diese Schriftzeugnisse
erst Jahrhunderte nach dem letzten uns bekannten epiolmekischen Vollschrifttext,
der erst vor wenigen Jahren aus dem Schlammbett eines Flusses geborgenen Stele
von La Mojarra, geschrieben worden. Wie erklären wir uns dann die Kontinuität
trotz einer grossen zeitlichen Lücke? Die Erklärung ist einfach: So wenige
Texte aus der frühsten Zeit sind erhalten und datierbar, dass diese Zeitspanne
zufällig undokumentiert ist. Die Lücke wird sich mit zukünftigen Funden
schliessen.
Erhalten hat sich der Gebrauch der MayaSchrift an der
Gebirgsabdachung in Chiapas in der Stadt Toninä (Abb. 2 b) bis nach 900 und im
nördlichen Tiefland sogar bis zur spanischen Eroberung, also noch einmal 600
Jahre länger. Aus der letztgenannten Region stammen die vier heute noch
erhaltenen Faltbücher in Dresden, Paris, Madrid und MexikoStadt. Aus der frühen
Kolonialzeit verfügen wir auch über eine allerdings lükkenhafte und
missverständliche Beschreibung des MayaSchriftsystems in dem Bericht über die
Angelegenheiten Yukatans des FranziskanerMönchs Diego de Landa. Vereinzelt
werden hieroglyphische Zeichen danach noch in Handschriften der Kolonialzeit,
vor allem den Büchern des Jaguarpriesters, gebraucht (s. Kapitel VI); bei den
Itsa am See von Tayasal, die erst um 1697 von den Spaniern unterworfen wurden,
war die Hieroglyphenschrift sogar noch bis zu diesem Zeitpunkt in vollem
Gebrauch. Die MayaSchrift ist also über 1000 Jahre gut dokumentiert, und in
Vorläufern und Ausläufern reicht sie nochmals um 500 Jahre weiter.
Die MayaSchrift steht
auch äusserlich in deutlichem Kontrast zu den anderen mesoamerikanischen
Schriften. MayaHieroglyphen haben einen hohen Grad von Standardisierung und
Abstraktion erreicht, und die MayaSchrift hat als einzige eine auf dem auch von
uns genutzten Prinzip des Stellenwertes basierende Zahlennotation entwickelt.
Hieroglyphische Texte der MayaSchrift sind ausserdem sehr kompakt in Zeilen und
Spalten geschrieben und oft völlig losgelöst von erläuternder bildlicher
Darstellung (s. Abb. 5, S. 66). Hierin spiegelt sich zweierlei wider: Zum einen
die Tatsache, dass sich die MayaSchrift nach ihrer Entstehung auf
epiolmekischer Grundlage schnell und unabhängig von anderen mesoamerikanischen
Schriften entwickelt hat, und zum zweiten, dass sie schon um 300 n. Chr. eine
voll textfähige Schrift ist, die nicht mehr der Stütze mündlicher Erläuterungen
und bildlicher Erklärungen bedarf. Diese Entwicklung spielte sich in einer
Zeitspanne von rund 500 Jahren ab. Das will uns, in Anbetracht der langen
Tradition und Beständigkeit unserer heutigen Schriftsysteme, unwahrscheinlich
kurz erscheinen, ist aber zum Beispiel ebenso für die Entwicklung der
sumerischen Schrift belegt und scheint damit in gewissem Grade eine
schriftsystemimmanente Zeitspanne zu sein.
Mesoamerika: Ausdruck gemeinsamer Tradition
Um die vielfältigen kulturellen und soziopolitischen Gemeinsamkeiten,
die sich, ausgehend von den Olmeken, über die Nachbarräume ausgebreitet haben
und einem grossen Gebiet ein einheitliches Gepräge verleihen, in einen Begriff
zu fassen, nennt die Forschung diesen Raum „Mesoamerika" und definiert ihn
als die erste Ausformung dessen, was in der kulturgeschichtlichen Ethnologie
als Kulturareal bezeichnet wird (s. Karte 1). Dessen Vorhandensein impliziert
jedoch keine vollkommene Homogenität im Innern, wo sich Enklaven
wildbeutexischer und dem Zivilisationsprozess fremd gegenübertretender Stämme
erhalten konnten. Auch die Grenzen des Kulturareals unterlagen grösseren
Schwankungen, bedingt durch Einfälle nördlicher Barbaren, durch Regression im
Kulturniveau oder auch durch Expansion zivilisierter Völker aus dem Areal
hinaus. Der Kulturraum als solcher hat in der geschilderten Dynamik bis zur
europäischen Landnahme Gültigkeit behalten; und wir werden im folgenden am
Beispiel der Maya sehen, wie immer wieder grossräumige Prozesse der
Vereinheitlichung zu seiner Bewahrung beigetragen haben.
Die klassische Blüte der MayaKultur 1. Eine Naturkatastrophe
als Auslöser
Eine Serie gewaltiger explosionsartiger Ausbrüche des
Vulkans Ilopango im Osten Salvadors zerstörte mit Aschen und Bimssteinregen um
250 n. Chr. weite Landstriche im heutigen Salvador und dem östlichen Guatemala.
Auf 20 bis 40 Kubikkilometer wird der Ausstoss geschätzt, der das Land im
Umkreis von 75 Kilometern tief unter Asche begrub. Die weniger direkten Folgen
und klimatischen Auswirkungen dürften darüber hinaus beträchtlich gewesen sein.
Die Bevölkerung der näheren Umgebung musste, soweit sie überhaupt überlebt
hatte, auswandern, da ihre Felder von Asche und Bimsstein bedeckt waren und
sich diese Schicht erst nach Jahrzehnten chemisch in fruchtbaren Ackerboden
zersetzt. Blühende Zentren, vor allem Chalchuapa, dicht am Ausbruchsherd
gelegen, aber auch Kaminaljuyü im guatemaltekischen Hochland, wurden so sehr in
Mitleidenschaft gezogen, dass sie zu Bedeutungslosigkeit hinabsanken.
Insgesamt mögen vielleicht 30000 Menschen vor dem Ausbruch
und seinen Verwüstungen geflohen sein, von denen sicher einige tausend bis ins
südliche Tiefland vordrangen. Sie brachten ihre zivilisatorischen
Errungenschaften mit und pass
ten sie der neuen Umgebung an. Die Konzeption der gestuften
Ziegel und Lehmpyramide mit abgeflachter Spitze und darauf
errichtetem Holz und PalmdachTempel setzten die Tiefland
Maya in steinerne Stufenpyramiden mit ebenfalls meist aus
Stein errichteten Hochtempeln um. Das flache, aus Holzbalken
und Zement gefügte Dach genügte den statischen Ansprüchen
steinerner Monumentalarchitektur nicht. Die Baumeister des
Tieflandes machten sich deshalb die bis dahin wenig genutzte
zapotekische Erfindung des Kraggewölbes zu eigen. Erst haben
sie es, wie die Zapoteken, für Grabkammern verwendet, doch setzten sie es bald
dazu ein, in Tempeln und Palästen schwere Lasten in Form von mehreren
Stockwerken und massiven Dachkämmen zu tragen. Schliesslich fanden Städteplaner
der Maya zu einer in ihrer Konzeption zeitlosen Anlage: Auf einer niedrigen
rechteckigen Plattform aus Bruchsteinschüttung und Zementdecke werden an drei
oder vier Seiten Pyramiden der geschilderten Art oder langgestreckte
Plattformen mit krönenden Häusern (sogenannten Palästen) errichtet. Die Gebäude
umschliessen einen erhabenen, nach einer Seite oder an den Ekken offenen Platz.
Diese Grundkonzeption blieb im Tiefland fortan gültiges Schema. Die Paläste
sind langgestreckte, meist einstöckig auf einer niedrigen Plattform errichtete
Bauwerke und sind über eine breite Treppenflucht zugänglich. Ihre Räume sind
zum Treppenaufgang hin offen, und von dort kann man den davorliegenden grossen
Hof überblicken. Die Räume können aber auch mit Vorhängen verschlossen werden,
wie aus Seilhaltevorrichtungen an den Türlaibungen ersichtlich ist. In ihnen
befinden sich im spitzen Giebel Querbalken zum Aufhängen von allerlei
Habseligkeiten. Sonst sind meist an Rück und Seitenwänden gemauerte und mit
einem Estrich überzogene breite Schlaf und Sitzbänke angebracht. Fenster hatten
die Räume nicht, allenfalls kleine Mauernischen. Die Wände waren sorgfältig
verputzt und gelegentlich farbig ausgemalt. In der Mehrzahl waren sie
Schlafkammern und Orte herrscherlicher Rituale. Das tägliche Leben spielte sich
vor dem Haus auf der Plattform, auf den Treppen und im darunterliegenden Hof
ab. Auch gekocht wurde meist im Freien oder unter einfachen und luftigen
Strohdächern. Spezialisierte Räume oder Bauteile, wie man sie in einer
Hochkultur für die wohlhabenderen Schichten, aber vor allem für verschiedene
Berufssparten erwartet, gab es kaum. Schwitzbäder mit Kanalisation für den
Wasserzu und abfluss sowie Entwässerungsanlagen für die zementierten und daher
regenwasserundurchlässigen Höfe und Ballspielplätze sind in ihrer
Zweckbestimmung deutlich erkennbare Spezialbauten, die sich aber nur in den
grösseren Zentren finden. Andere Bauten sind in ihrer Funktion noch umstritten.
So vermutet man von manchen weiten offenen Plätzen, dass sie als Märkte gedient
haben, und von einigen Palästen, dass sie Lagerhallen oder Versammlungshäuser
für bestimmte Berufsgruppen waren. Einwandfrei geklärt ist die Funktion der
„Chultunes" genannten flaschenförmigen unterirdischen Kammern: Im
südlichen Tiefland dienten sie als Nahrungsmittelspeiche; im nördlichen, wo es
kein Oberflächenwasser in Form von Flüssen gibt, als Trinkwasserzisternen. In
beiden Regionen hat man dafür Sorge getragen, dass sie mit einem steinernen
Stopfen gut verschlossen werden können.
Eine besonders markante Neuerung ist die Entwicklung der
polychromen Malerei. Immer schon haben die Maya ihre Pyramiden und den
Fassadenschmuck ihrer Tempel bemalt. Doch zunächst überwog flächige Applikation
von Rot, was auf dem weissen Untergrund des Verputzes eine intensive Wirkung
hervorbringt. Jetzt, im beginnenden Klassikum, wird die Farbpalette
vielfältiger: Blau und Grün, Braun, Rosa und Schwarz treten hinzu, damit die
szenische Ausmalung von Innenräumen einhergeht. Von solchen Wandmalereien ist
allerdings wenig erhalten, Bauwerk 1 in Bonampak gibt einen Eindruck von der
üppigen Innenraumausmalung, die sich übrigens auch in einigen reichen Gräbern
findet. Die vielfarbige Bemalung von Tongeschirr setzt jetzt ebenfalls ein, sie
begegnet uns auf Tellern, Schüsseln, Bechern mit oder ohne Deckel und vielen
anderen Formen. Hier schwelgten hervorragende Künstler in phantastischen
Unterweltszenen und in der üppigen Darstellung von Hofritualen ihrer
Auftraggeber. Mancher Künstler war so selbstbewusst und angesehen, dass er sein
Kunstwerk signierte, eine in Altamerika einmalige Sitte, die wir sonst vor
allem von der griechischen Vasenmalerei kennen. Freilich dürften solche
feinbemalte Tonwaren ein kostspieliges Privileg weniger hochrangiger Personen
gewesen sein. Und so besteht wahrscheinlich ein innerer Zusammenhang zwischen
dem Aufschwung der Kunst und den im nächsten Absatz berichteten politischen
Entwicklungen. Uns sind die bemalten Tonwaren als Grabbeigaben bekannt, die in
ihrer grossen Mehrzahl durch Plünderung und Zerstörung bei Raubgrabungen zutage
kommen und dann undokumentiert vom Kunstmarkt weiterverteilt werden. Nur wenn
ausnahmsweise eine Inschrift Nachricht von der Herkunft eines solchen
Kunstwerkes gibt, der Maler es signiert hat oder das Atelier aufgrund des Stils
erkennbar ist, können wir diese Tonwaren als historische und
religionsgeschichtliche Quellen auswerten.
Es ist sicherlich kennzeichnend, dass wir als Abschluss des
Übergangs zum Klassikum — man nennt diese kaum 100 Jahre dauernde Phase auch
das Protoklassikum — die ersten Dynastiegründungen im MayaTiefland fassen
können. Zuerst scheint nach Aussage hieroglyphischer Inschriften und meiner
Hochrechnung um 200 n. Chr. in Tikal eine königliche Dynastie begründet worden
zu sein. Andere Orte folgen im Abstand von Jahrzehnten: zunächst Yaxchilän um
280, Naranjo um 320, Copän um 360 und als letzte grosse MayaStadt Palenque erst
um 390. Nach 200 Jahren also ist das ganze Tiefland von einem Netz kleiner
Fürstentümer überzogen. Sie alle verherrlichen ihre Könige und schildern deren
religiöse und rituelle Pflichten und manchmal sogar ihre göttliche Abstammung
in Inschriften und Bilddarstellungen auf Stelen, monumentalen Treppen und
Wandtafeln.
Die hier skizzierten kulturgeschichtlichen Prozesse des
Übergangs von epiolmekischen Hochlandkulturen des späten Präklassikums zur
frühklassischen Kultur der TieflandMaya sind allerdings in hohem Mass
hypothetisch. Es fehlt noch weitgehend an direkten archäologischen Daten, die
diesen Übergang Schritt für Schritt und in allen Kulturbereichen dokumentieren:
und es sind auch noch grosse geographische Lücken zu schliessen sowie zeitliche
Diskrepanzen zwischen Hochland und Tiefland zu klären.
Auch das nördliche Tiefland erlebte in dieser Zeit einen stetigen,
nur am Ende beschleunigten Bevölkerungsschub, einhergehend mit
architektonischen und technischen Verbesserungen. Wir erkennen das vor allem am
Anwachsen einiger Städte. Während der äusserste Norden Yukatans ziemlich
isoliert und eigenständig blieb und das südliche Grenzgebiet vielleicht durch
Konflikte kriegerischer Art bewegt war, so beobachten wir an der Ostküste
Yukatans intensive Handelskontakte zum südlichen Tiefland. Hier, an der
karibischen See, setzte sich eine handelsorientierte und damit weltoffene
Lebensform durch, die von nun an in allen Epochen der weiteren Entwick lung
erkennbar bleibt. Die Ostküste ist gerade für den Handel besonders geeignet,
denn fast in ihrem ganzen Verlauf ist sie durch Korallenriffe geschützt und
weist zahlreiche gute Naturhäfen auf. Die Maya, die nie Hochseefahrer waren,
konnten in ihren grossen, aber nicht hochseetüchtigen Einbäumen an beiden
Seiten der Halbinsel entlang der Küste einigermassen gefahrlos ganz Yukatan
umschiffen. In die grossen Ströme des Rio Ulua, des Rio Motagua, des Belize
River und des Rio Hondo einfahrend, gelangten sie tief in den Peten und nach
Belize. Eine kürzlich entdeckte KaiAnlage am Rio Motagua in Quiriguä zeigt,
dass Flussschiffahrt tatsächlich eine Rolle spielte; im äussersten Norden der
Halbinsel ist ebenfalls erst vor wenigen Jahren eine heute unter den
Meeresspiegel versunkene Seehafenanlage auf der Insel Cerritos entdeckt worden.
Es ist wichtig, den Übergang von den epiolmekischen Kulturen
zu den frühklassischen Maya auch im Bereich der Sprachen zu verfolgen. Denn
jetzt scheinen verschiedene MayaSprachen, Vorformen der CholSprachen und des
Yukatekischen, involviert zu sein. Die einstigen MixeZoque Kulturbringer waren
sprachlich inzwischen assimiliert oder aus dem MayaGebiet zurückgewichen.
Fremdbestimmung durch Teotihuacan
Die Zeit von 400 bis 610 nennen wir das Mittelklassikum und
definieren sie als eine Zeit übermächtigen Einflusses der Wirtschaftsgrossmacht
Teotihuacan im nördlichen Hochtal von Mexiko.
Kaminaljuyü im MayaHochland erreicht unter
TeotihuacanEinfluss seine zweite kulturelle Blüte. Die Umformung der nicht mehr
bedeutenden frühklassischen MayaStadt ist so direkt und stark, dass manche
Forscher politische oder militärische Präsenz von Teotihuakanern annehmen. Für
benachbarte Orte im Hochland und an der Pazifikküste, z. B. Tiquisate, rechnet
man hingegen eher mit indirektem Einfluss, also wirtschaftlicher und/oder
kultureller Durchdringung.
Auch für die immer noch rätselhafte Kultur von Cotzumal
huapa nimmt man im Gefolge der teotihuakanischen Präsenz Eindringlinge von
Norden als Träger an. Vielleicht sind dies die ersten nahuasprechenden
Indianer, die sich bis zur Ankunft der Spanier in verschiedenen Wellen über das
südliche Mesoamerika und tief nach Zentralamerika ergossen haben und die in den
Quellen Pipiles (d. h. ‚Fürsten') genannt werden. Wenn diese Vermutung
zutrifft, haben wir es hier mit der frühesten Gruppe der späteren Tolteken und
Azteken genannten Stämme zu tun. Die Kultur von Cotzumalhuapa beschränkt sich auf
ein Gebiet von knapp 8000 Quadratkilometern an der pazifischen Abdachung
Guatemalas um den gleichnamiger Ort und ist uns vor allem durch grandiose
Steinskulpturen vertraut, die sich jetzt im Berliner VölkerkundeMuseum
befinden.
Die teotihuakanischen Zentren im Hochland, allen vorar
Kaminaljuyü, unternahmen vermutlich wirtschaftliche, diplomatische, ja
vielleicht sogar militärische Vorstösse ins zentral: Tiefland. Besonders stark
ist der Einfluss in Tikal. Aber auch i: den benachbarten Städten Yaxhä, Uaxactün
und dem weitenördlich gelegenen Becän ist dieser Einfluss nachzuweisen Selbst
noch in der weit im Norden Yukatans gelegenen alten Stadt Acanceh zeigte ein
Stuckfries an einer der grossen Pyrarr den, der heute leider zerstört ist,
deutlich teotihuakanische Inspiration.
Ähnliches ist auch, allerdings sehr abgeschwächt, im
äussersten Osten des MayaGebietes, in Copän und darüber hinau, in
Zentralamerika zu beobachten. Auch in sprachlicher Hinsicht macht sich der
Kontakt Teotihuacans mit dem MayaGebiet geltend.
Das MayaGebiet war insgesamt schliesslich in so grosse
Anhängigkeit von Teotihuacan geraten, dass mit dem Rückzug Teotihuacans aus
seinen südlichen Vorposten wegen Schwierigkeiten in seinem Kerngebiet die
führenden MayaStädte ein: schwere Krise durchmachten. Man nennt diese Krise
de„Hiatus”, denn man konnte sie ursprünglich vor allem dunden Rückgang oder das
fast gänzliche Fehlen von Inschrifte während der etwa 75 Jahre von 535 bis 610
fassen. Erst später wurde ein ursächlicher Zusammenhang mit dem Niedergang
Teotihuacans vermutet, der heute den Kern der vorherrschenden Hypothesen zur
Erklärung des Hiatus darstellt. Wenn die MayaDynastien im Tiefland ihre
Entstehung dem Vorbild oder sogar dem direkten Einsetzen teotihuakanischer
Herrscher verdankten, ist einsichtig, dass der Zusammenbruch dieser Grossmacht
auch die epigonalen MayaFürstentümer erschütterte. Der Rückzug Teotihuacans mag
also der Grund für das plötzliche Verstummen des öffentlichen Herrscherkultes
in der Form von Stelen sein. Gleichzeitig mögen teotihuakanisch dominierte
Überlandfernhandelsrouten zwischen Zentralmexiko, dem MayaHochland und von dort
zum Tiefland, die nun auch nicht mehr zur Verfügung standen, erst allmählich
durch nördlichere Seerouten ersetzt worden sein. Dass der damit einhergehende
zeitweilige Zusammenbruch des Fernhandels so massive Folgen für die Elite haben
konnte, wird verständlich, wenn wir bedenken, dass die dortige Elitekultur von
eingeführten Rohstoffen oder Fertigwaren abhängig war: JadePerlen für den
Körperschmuck, Quetzalfedern für Fest und Kriegstrachten und Obsidian für
Waffen mussten allesamt aus dem Hochland eingeführt werden. Aber bis heute ist
nicht endgültig geklärt, ob diese Ursachen ausreichen, eine so grosse und
wirtschaftlich prosperierende Region wie das MayaGebiet so nachhaltig zu
erschüttern, oder ob es nicht unerkannte weitere Ursachen gab.
Spätklassische Stadtstaaten im Tiefland
Als sich Tikal und die anderen MayaStädte um 610 aus der
Krise wieder hochgearbeitet hatten, war der ehemals starke TeotihuacanEinfluss
völlig verschwunden. Die jetzt einsetzende Epoche heisst das Spätklassikum,
ihre Kultur stelle ich hier im Rahmen des Modells von Kleinstaaten mit einer
geschichteten Gesellschaft dar. Diese Gesellschaften werden wesentlich von
politischen und wirtschaftlichen Faktoren und erst in zweiter Linie auch von
Weltbild und Religion gesteuert. Früher verwendete Vorstellungen einer
Theokratie, die das Religiöse betonten, oder einer Demokratie, die ganz auf die
politische Verfassung abgestellt waren, werden in ihrem Totalanspruch vor den
Daten nicht getragen.
Die MayaStadtstaaten im Tiefland können wir uns ähnlic: der
Polis des klassischen Griechenland vorstellen: Ein grosse Ort mit seinem
unmittelbaren Umland, worin sich auch einig: nachgeordnete Landstädte, im
übrigen aber kleine bäuerlich, Zentren und Streusiedlungen finden. Sicher ist,
dass zum End, des Klassikums die Wohnbevölkerung gerade in den Zentre: so
zunahm, dass man von voll ausgebildeten Städten und folglich auch von
Stadtstaaten sprechen kann und sich nicht vor dem früher oft gebrauchten Bild
fast menschenleerer Zeremc nialzentren
in die Irre führen lassen sollte.
Bauern
Das wirtschaftliche Fundament der Gesellschaft sind die
&Lern. Lange nahm man an, dass sie allein durch Brandschwencbau auf der
Grundlage von Mais, Bohnen und Kürbis mit mehrjähriger regenerativer Brache
ihre eigene und die Ernährung de Elite sicherten. Diese nach dem aztekischen
Wort für ,Maisfek Milpa genannte Agrarform ist in ihrer Einförmigkeit allerdine
den unterschiedlichen Umweltbedingungen im MayaLand nicht optimal angepasst. So
ist es nicht erstaunlich, dass neue agrargeographische Forschungen ergeben
haben, dass die Paler der angebauten Früchte nicht auf Mais, Bohnen und Kürt'
beschränkt war, sondern auch Süsskartoffel, Yucca, Kaka Zapote, Avocado,
RamönNuss, Tomate und vieles andere urr fasste. Ausserdem konnten sehr
verschiedene Anbauverfahren :7 MilpaSystem, vor allem Formen künstlicher Be und
Entwäss: rung, archäologisch nachgewiesen oder ethnographisch hyp stasiert
werden. Fischteiche, durch Kanäle bewässerte Feld: erhabene Feldfluren in
Überschwemmungsgebieten, Terrass. und
Staudämme in Hanglagen und tropische Gartenwirtschkamen jeweils in den für sie
geeigneten Gegenden zum Zu,: Hier tauchen in einer unvermuteten Form Aspekte
der draulischen" Grundlage von Zivilisation wieder auf, die allerdings
faktisch kaum mehr mit den Modellkonstruktionen unter theoretischen Postulaten
der orientalischen (= hydraulischer_ Despotie nach Karl Wittfogel in Einklang
zu bringen sind.
Ob diese landwirtschaftlichen Produktionsmethoden als
Antwort auf zunehmenden Bevölkerungsdruck oder auf den politisch und
ideologisch verursachten Konzentrationsprozess zur Siedlungsverdichtung in
Städten zurückzuführen sind, ist ungeklärt und sollte deshalb eine zentrale
Frage zukünftiger agrargeschichtlicher Forschung im MayaGebiet sein.
Die Bauern lebten im Familienverband in kleinen
gehöftartigen Anwesen. Die Häuser wurden in einfachem Holzständerwerk
errichtet; die Wände stellte man aus aufrecht gestellter dünnen Stangen her,
die umflochten und mit Lehm beworfen wurden, und das Giebeldach wurde mit
Palmblättern odeGras gedeckt. Zum Schutz vor Überschwemmungen währen,. der
Regenzeit errichtete man diese Häuser auf niedrigen Hau, warften. Jedes Gehöft
bestand aus mehreren Wohnhäuserund schloss das eine oder andere
Wirtschaftsgebäude wie KL che und Vorratsgebäude ein. In Anlehnung an die
kolonialzei: liche und moderne Sozial und Siedlungsstruktur nimmt maan, dass
die bäuerliche Bevölkerung patrilineare erweiterte F. milien kannte und diese
auch die Wohnverbände der vorgefudenen Gehöfte waren.
Gelehrte
Qualifizierte Kunsthandwerker, also Maler, Stukkateure,
Ste metze, Schmuck und Kleidermacher,
nahmen vermutlich ein. höheren Rang als die Bauern ein. Die Existenz dieser
Bert:gruppen und die Frage, ob sie Teilzeit oder Vollzeitspezialis:: waren, ist
allerdings noch weitgehend ungeklärt, da sie archi logisch nur durch
Flächengrabungen, quantifizierte Daten
deren statistische Auswertung nachzuweisen sind, was
bi nur an einigen Grabungsorten in Ansätzen, z. B. für
Obsid: Werkstätten, versucht worden ist. Für gesicherte Verallgernerungen
verfügen wir also über zu wenige Daten. Klarer sewir, dank zahlreicher
Bilddarstellungen und gelegentliche Erwöhnungen in Hieroglyphentexten, bei der
Rangposition von Angehörigen der weltlichen und religiösen Verwaltung, die wir
uns als Palast und Tempeldiener, als Buchhalter und Steuereinnehmer, als Lehrer
und Hofchronisten und als Kalenderpriester, also im weitesten Sinne als
Gelehrte, vorstellen können.
Grundlage des Berufes eines Kalenderpriesters war das
Beherrschen der Arithmetik und der Hieroglyphenschrift . In allen MayaSprachen
sehr ähnlich finden wir ein systematisch ausgebildetes vigesimales
Zahlensystem, auf dessen Grundlage die Hieroglyphenschrift mit nur drei Zeichen
beliebig hohe Zahlen zu schreiben vermag. Was musste ein Kalenderpriester oder
ein als Hofchronist tätiger Gelehrter ausser den einfachen Grundlagen des
Zählens und Rechnens noch beherrschen? Zunächst einmal den Kalender. Ein
Sonnenjahr von 365 Tagen war Grundlage des MayaKalenders, und die Maya haben
dies in frühklassischer Zeit oder davor bereits von den EpiOlmeken übernommen.
Entsprechend dem Vigesimalsystem der Zahlen war das Jahr in 18 Abschnitte zu
jeweils 20 Tagen eingeteilt. Die restlichen 5 Tage wurden am Ende angefügt.
Jeder so gebildete Monat hatte einen Namen. Bei den Yukateken waren es zur Zeit
der spanischen Eroberung:
Rechenunterricht. Ausschnitt aus einem Vasenbild
Pop, Wo, Sip, Sots', Sek, Xul, Yaxk'in, Mol, Ch'en, Yax,
Sak. Keh, Mak K'ank'in, Muwan, Pax, K'ayab, Kumk'u, Wayeb
Diese Monatsnamen scheinen in ihrer Bedeutung keinen enger
Bezug zu den Jahreszeiten oder zu bestimmten Festen gehab: zu haben, denn sie
sind zum grossen Teil aus alter Zeit tradiert vielleicht sogar aus fremden
Kulturen und Sprachen übernommen; und sie hatten daher wohl auch für die
spätklassisch: Maya keine über ihre kalendarische Funktion hinausgehend,
Bedeutung mehr. Hierin sind sie unseren Monaten nicht ur ähnlich, von denen
auch kaum jemand mehr die ursprünglich. römische Bedeutung kennt. Die einzelnen
Tage innerhalb jedeMonats wurden durch eine dem Monatsnamen vorangestell: Zahl
von 0 bis 19, bzw. beim letzten, kürzeren Monat von bis 4 gekennzeichnet. So
konnte man, ähnlich wie in unsere:7 Kalender, jeden einzelnen Tag im Jahr
benennen.
Während der Jahreskalender alltäglichen öffentlichen
Zwe ken dient, ist Wahrsagerei eine mehr
klientenbezogene Tät'_ keit. Zum Wahrsagen benützen noch heute Quiche, Ixil
ur._ MamIndianer im Hochland von Guatemala den altüberliefeten Wahrsagekalender
von 260 Tagen Länge, der früher bei a len MayaGruppen in Gebrauch war (s. auch
Kapitel VI). Ratsuchende geht ins Haus des Wahrsagers und trägt ihm se Anliegen
vor. Ist der Wahrsager bereit, sich des Falles anzune men, bestimmen sie gemeinsam mit dem
Bohnenorakel einegünstigen Tag. An diesem wird gebetet, Trankopfer werde den
Göttern dargebracht, und der Wahrsager erteilt dem Rasuchenden nach genauer
Befragung Verhaltensmassregeln u: eine Prognose für die Lösung des Problems
oder den Ausgar der beabsichtigten Unternehmung. Dazu gibt ihm das mehrm: lige
Auslegen des Bohnenorakels und die Stimme des Blut, die er in seinen Gliedern
verspürt, ebenso Anhaltspunkte w seine vorherige Anamnese des Klienten. Der
Wahrsager wl vom Klienten grosszügig
bezahlt, vor allem wenn Opfer Bergschreinen und andere Tätigkeiten seitens des
Wahrsage erforderlich sind. So kommt es, dass zahlreiche QuicheWahsager noch
heute sich und ihre Familie mit diesem Beruf ernähren können. Kein
astronomisches Phänomen kann die Länge des Wahrsagekalenders begründen; doch
scheint er, wie Schultze Jena in Chichicastenango und Momostenango
herausgefunden hat, auf dem Phänomen der menschlichen Schwangerschaftsperiode zu
beruhen. Unbeschadet diesen Ursprungs haben indianische Mathematiker den Zyklus
schon früh in vorspanischer Zeit analytisch in die Faktoren 13 und 20 zerlegt,
denn 13 mal 20 = 260. Und so haben sie zwei kürzere Zyklen geschaffen, die
durch Permutation alle 260 Tage des Wahrsagekalenders bezeichnen. Diese
Permutation wird sprachlich einfach als Verknüpfung der Zahlworte für 1 bis 13
mit den Namen für die Elemente des 20er Zyklus gebildet. Die Namen des
ZwanzigerZyklus bezeichnen teils Tiere, teils Naturgewalten und zu einem Rest
abstrakte oder auch altüberlieferte, nicht mehr verstandene Begriffe. Sie
lauten bei den Quiche:
imox, iq' (Wind), ak'abal (Nacht), k'at, kan, kame, keh,
q'anil, toh, tsi', bats' (Brüllaffe), e (Zahn), ah (Schilfrohr), ix (Jaguar), ts'ikin
(Vogel), ahmak, no'h, tihax, kawuq und ahpu (Blasrohrschütze).
Ein Wahrsagetag bei den Quiche heisst dann also zum Beispiel
wukub bats' (Sieben Brüllaffe). Der darauffolgende heisst wahxakib e (Acht
Zahn) und so fort. Der Wahrsagekalender ist, wie der Jahreskalender, zyklisch;
d. h. auf den letzten Tag eines Zyklus folgt der erste Tag des nächsten und so
fort.
Wenn man den Zyklus von 260 Tagen mit dem 365tägigen Jahr
permutiert, ergeben sich 52 aufeinanderfolgende Jahre, in denen jeder Tag eine
andere Bezeichnung trägt. Eine Tagesbezeichnung dieses Systems setzt sich daher
aus Elementen der beiden anderen zusammen. Der dadurch gebildete Grosszyklus
von 18 980 Tagen (das sind genau 52 Jahre zu je 365 Tagen oder 73
Wahrsagezyklen zu je 260 Tagen) heisst Kalenderrunde und war die höchste
Einheit der Zeitrechnung bei den meisten mesoamerikanischen Völkern in
spätindianischer Zeit. Mixteken und Azteken kannten zum Beispiel kein darüber
hinausgehendes Mass, den Ablauf der Zeit zu bezeichnen. Nicht so die Maya; sie
kannten und bewahrten noch weitere Systeme, darunter die für die historische
Chronologie besonders wichtig: Tageszahl, deren System sie aus der
epiolmekischen Schnübernommen haben .
Alle kalendarischen und astronomischen Zyklen und Sysn me
haben bei den Maya letztlich wahrsagerischen und religie, spekulativen Zwecken
gedient. Es ist nämlich das Bestrebedes Kalendergelehrten, die wahrsagerisch
bedeutenden Zykle durch Permutation
untereinander und mit historischen Datezu verknüpfen und dadurch etwas über das
Geschick der Klie7 ten, des Herrschers und des eigenen Volkes in Erfahrung 1.
bringen. Besonders wichtig in klassischer Zeit war dabei offen bar die Planung
von Kriegszügen. Hier kam, wie der Bonn, Forscher Werner Nahm und andere
meinen, dem Planeten V, nus eine aussagende Rolle zu. Wahrsagepriester hatten
durch, wie wir es auch aus anderen Kulturen und Zeiten ke: nen, einen
beträchtlichen Einfluss auf das politische Geschehe:
Solche lebenspraktischen Ziele sind dann auch zum
Augangspunkt zweckfreien Spielens und Forschens geworden. wurden Berechnungen
spekulativ weit in die Vergangenhe und Zukunft projiziert, und sie dienten
damit dem Erkenntn., drang und dem Bestreben, hochkomplexe mathematische Ssteme
zu durchschauen. Wir können also durchaus behauptedass hier Anfänge reiner
Mathematik zu beobachten sind, wie sie sonst vor allem Babylonier, Griechen,
Araber und Inder zeigen Menschheitsgeschichte beigetragen haben.
Adel:
Die zahlenmässig kleinste, politisch aber massgebende Schic
war der untereinander versippte Hochadel. Er war, wie das e fache Volk auch,
patrilinear organisiert. Polygynie war möglich, aber wohl nicht häufig, wie aus
Inschriftentexten herz geht. Zum Hochadel konnte man wohl nur durch Geburt oc.
Einheirat gehören. Ihm entstammten die Könige der Stadtst_ ten, die Statthalter
untergeordneter Städte und vermutlich höhere Klerus. In bezug auf den höheren
Klerus hat die Forschung aber noch nicht das letzte Wort gesprochen; es ist
keineswegs klar, ob politische und religiöse Führung getrennte
Gesellschaftsbereiche waren, oder ob nicht doch das als überholt angesehene
Modell einer Theokratie wiederaufzugreifen ist, nach dem der König und die ihm
Nahestehenden auch priesterliche Funktionen innehatten. Zumindest können wir
auf Vasenbildern, unserer Hauptquelle für das klassische Leben und die
Gesellschaftsverfassung in den Stadtstaaten, keine Unterschiede zwischen
religiös Tätigen und weltlichen Dingen nachgehenden hochrangigen Personen
feststellen.
Rituale:
Neben den auch uns geläufigen politischen Aufgaben der
Repräsentation, der Lenkung von Staatsgeschäften, dem Schlichten von Streit,
der Aufsicht über das Zusammenleben und dem Schwelgen im Essen und Trinken
(Dickleibigkeit war, wie in Ostasien, ein Statussymbol) fallen merkwürdig
anmutende Pflichten auf: Die Selbstkasteiung durch schmerzliches Durchbohren
von Zunge oder Penis , das Tanzen in vollem Herrscherschmuck und das
SichBerauschen an halluzinogenen Flüssigkeiten in der Form von Einläufen per
anum. Auch das Rauchen von Zigarren, eine Erfindung der MayaIndianer, gehört zu
diesen psychotropen Techniken, die auf rituelle Anlässe beschränkt waren; das
Rauchen war keineswegs, wie es heute weltweit der Fall ist, eine
Alltagsbeschäftigung und Sucht. Diese Riten sind in der Regel schmerzhaft und mit
körperlichem Unwohlsein verbunden. Auf vielen Darstellungen werden die
Opfernden deshalb von Dienern gestützt, damit sie nicht vor Schmerz
zusammenbrechen oder, wenn sie sich nach dem Trinken eines Absuds aus dem
Giftschleim der Kröte Bufo Marinus und anderer Ingredienzien übergeben müssen,
sich nicht die Kleidung bespucken.
Der Herrscher muss sich ausserdem im Ballspiel hervortun,
denn dieses Spiel ist eine zentrale Kultübung. Zwei Parteien stehen sich
gegenüber. Die Mannschaftsstärke variiert; deshalb gibt es Ballplätze
unterschiedlicher Grösse. In einer Variante muss man den Ball durch einen
kleinen Steinring hoch an der Begrenzungsmauer des Platzes hindurchtreiben und
darf dabei nur das Gesäss und vielleicht die Ellenbogen benutzen. Es gibt
auch Handballspiele und solche, bei denen die Punkte anders
gewonnen werden als durch das Treffen einer Ringöse. Der
Ball ist aus Naturgummi, den man aus der Baummilch von
HeveaArten gewinnt. Sie sind wohl stets massiv gewesen, und wegen ihres
Gewichtes meist klein. Dennoch muss man, um
sich nicht zu verletzen, dicke Lederpolster an den
Körperteilen
tragen, mit denen der Ball in Berührung kommt.
Die Bedeutung, die dem Ballspiel im Kult und, als dessen
Reflex, im Mythos zukommt, wird aus dem Popol Vuh deutlich. Die Urväter der
Quicht Hun Hunahpu (,Eins Blasrohrschütze') und Vucub Hunahpu (,Sieben
Blasrohrschütze') hatten die Un
terweltgötter mit ihrem Ballspiel auf der Erde erzürnt und
mussten darob sterben. Doch ihre Söhne Hunahpu (,Blasrohr
schütze`) und Xbalanke (,kleiner JaguarHirsch'?) finden die
im Haus ihrer Grossmutter versteckten Ballspielgeräte und
können der Versuchung nicht widerstehen:
Sie aber freuten sich und gingen fort, auf dem Ballplatz zu
spielen. Lange spielten sie Ball, sie allein, und hatten den Ballplatz ihrer
Väter gefegt. Das hörten gar wohl die Fürsten von Xibalba: „Wer sind die, die
hier wieder das Spiel über unseren Köpfen anfangen und sich nicht im Mindesten
scheuen, herumzutoben?"
Daraufhin werden Hunahpu und Xbalanke vom Vogel Voc vor die
Herren der Unterwelt zitiert, um sich mit ihnen im Ballspiel
zu messen.
Und alle Fürsten befahlen sie zu sich: „Auf, lasst uns ein
Ballwettspiel machen, Ihr Jünglinge!" ... „Wohlan, lasst uns diesen,
unseren Ball gebrauchen!" sagten die Xibalbaner. „Nein, nicht diesen sollt
ihr gebrauchen, sondem den Unsrigen!" entgegneten die Jünglinge.
„Keineswegs diesen, sondern den Unsrigen!" entgegneten wieder die
Xibalbaner.
Die Jünglinge geben schliesslich nach, und bald zeigt sich
der Betrug der Fürsten von Xibalba, die ein Dolchmesser in ihrem Ball versteckt
haben.
„Was ist das?" riefen Hunahpu und Xbalanke, „Den Tod
wünscht ihr uns! Habt Ihr uns nicht eiligst rufen lassen, und haben sich nicht
Eure Boten aufgemacht? Wahrlich, wir sind beklagenswert, lasst uns bloss weggehen!"
sagten die Jünglinge zu ihnen. Denn das war ja den Jünglingen zugedacht: Dass
sie sofort an Ort und Stelle an dem Dolchmesser zugrunde gehen, dass sie
überwältigt werden sollten. Jedoch so kam es nicht, sondern die von Xibalba
wurden von den Jünglingen überwältigt.
Die kultische Rolle, die dem Ballspiel bereits im Klassikum
zu
kommt, können wir aber nur schemenhaft erfassen. Vasenbilder
und einige Steinreliefs, darunter die Treppe von Bauwerk
33 in Yaxchilän (s. Kapitel IV, Abschnitt 2), zeigen Szenen
mit
zwei gegnerischen Spielern auf dem Ballplatz, noch öfter
jedoch auf einem Hof und gegen die Treppen spielend. Gelegentlich zeigt ein
gebundener Gefangener auf dem übergross wiedergegebenen Ball oder gar die
Opferung eines solchen mit
dem Dolchmesser, dass eine Variante dieses Kultdramas mit
dem Tod einer Partei endete; dass also die Absicht der Unterweltgötter, wie sie
das Popol Vuh darstellt, im Kult nachvollzogen wurde. Diese Korrespondenz von
Mythos und Kult er
staunt den Ethnologen nicht; sie ist weltweit zu beobachten,
wie der Frankfurter Religionsethnologe Adolf Ellegard Jensen nachgewiesen hat.
Man hat sich dann aber immer wieder gefragt, welche Glaubensvorstellung dieses
grausame Ritual legitimieren mag, und man greift zur Erklärung gern auf die
eben
falls weltweit verbreitete Vorstellung zurück, dass solche
Menschenopfer die Fruchtbarkeit der Felder, des Herrscherge
schlechtes oder auch des Staates sichern sollen. So etwas
mag
auch bei den Maya dahinterstehen, doch sicher wissen wir es
nicht; denn selbst das Popol Vuh, unsere einzige einigermassen
authentische Quelle zur Religion, schweigt sich über die
Ätiologie des Rituals aus.
Totenkult
Gewiss kam jedem Maya nach seinem Ableben eine anständige
Totenfeier und ein Begräbnis zu. Denn in allen Kulturen der
Welt wird der Tod als wichtiger Einschnitt im Leben des
Menschen mit Übergangsriten, wie die Ethnologie es nennt, begangen. Mit der
politischen und gesellschaftlichen Bedeutung, mit Macht und vielleicht auch mit
dem Reichtum wächst der Anspruch auf ein prunkvolles und wahrscheinlich
öffentlich begangenes Begräbnis. Die Österreicherin Estella Krejci hat
archäologische Grabfunde ausgewertet und kommt zu dem Schluss, dass man etwa
sechs Stufen zunehmenden Reichtums bei MayaBestattungen feststellen kann. Ob
das in irgendeiner Form die gesellschaftliche Schichtung widerspiegelt, die ich
in weniger Stufen dargestellt habe, oder ob nur individuell erworbener Rang und
Reichtum des Toten sich darin zeigen, bleibt offen. Speisen und ein Kakaotrunk
für die Jenseitsreise werden jedem Toten mitgegeben. Und so steht in
Hieroglyphenschrift auf manchem Becher oder Deckelgefäss geschrieben ,dies ist
der frische KakaoTrunk von Herrn N. N.', womit der Verstorbene gemeint ist.
Sein bestes Gewand und sein Schmuck werden dem Toten angelegt, denn er muss
zunächst in das Weltmeer eintauchen — das Jenseits befindet sich unter dem
Wasserspiegel — und dort zur Residenz der Unterweltgötter vorstossen, wo er
sich mit Anstand vorzustellen hat. Man dachte sich die Reise meist als
Bootsfahrt; doch im Hochland haben die Maya sich, ihrer dortigen bergigen
Umwelt entsprechend, den Eingang zur Unterwelt als Höhle vorgestellt, und die
ganze Reise findet bei ihnen als Fusswanderung statt.
Den regierenden Fürsten und ihren nächsten Angehörigen ist
es vorbehalten, im Herzen der Pyramiden und unter der Plattform ihrer Paläste
bestattet zu werden. Solche Gräber mussten oft schon vor dem Bau des
betreffenden Gebäudes geplant werden (s. Kapitel IV, Abschnitt 4). Sicher
gingen die Seelen der verstorbenen Herrscher im Jenseits ins Pantheon ein, und
man charakterisiert die Religion der Maya gewiss zutreffend, wenn man sie als
einen Ahnenkult, vielleicht ähnlich dem im traditionellen Ostasien, bezeichnet.
Um die Seelenreise nicht zu behindern, hat man gelegentlich in der gemauerten
Gruft einen „Psychodukt" genannten kleinen Gang vorgesehen, durch den die
Seele leicht entweichen kann oder durch den man Opferblut zur Ernährung des
toten Ahnen ins Grab giessen konnte. Es waren wohl vor allem bedeutende
Fürsten, die im Jenseits mächtige Schicksalsdoppelgänger (way) hatten, wiewohl
das dahinterstehende Konzept, als „Nagualismus" bekannt, auch im Diesseits
und für alle Schichten Geltung und Wirkung hatte. Jüngst hat der Bonner
Archäologe und Epigraphiker Markus Eberl nachgewiesen, dass spätere
Graböffnungen und Zweitbestattungen auch praktiziert wurden. Wie allerdings die
verschiedenen von mir nur kurz angerissenen Konzepte und Riten der
Jenseitswelt, der Seelenwanderung und der Schicksalsdoppelgänger zu einem
theologisch stimmigen Totenglauben integriert waren, entzieht sich unserer
Kenntnis.
Interne Struktur des Adels
Wenig können wir bisher über den inneren Aufbau des Adels
sagen. Die Streusiedlungsweise bringt es mit sich, dass auch Mitglieder des Adels
zum Teil weitab von den städtischen Machtzentren wohnten. Es muss also eine Art
Landadel in beträchtlichem Umfang gegeben haben. Für die oberste Stufe des
Landadels, die Herren nachgeordneter Städte, wissen wir, wiederum aus
Inschriften, dass sie zum Teil verwandtschaftlich mit den Herrscherhäusern der
Stadtstaaten verflochten waren und gemeinsam mit den Fürsten an wichtigen Riten
teilnahmen; allerdings konnten nur wenige führende Staaten ihren Machtbereich
über mehrere Zentren von Bedeutung ausdehnen.
Recht spät in der Klassik, kurz vor dem Untergang der
MayaStaaten, treten im Machtzentrum selbst neben dem Herrscher dessen nächste
Verwandte und manchmal auch Personen in den Vordergrund, von denen wir nicht
wissen, ob sie überhaupt mit ihm verwandt sind. Vermutlich differenzierte sich
die Ausübung politischer Funktionen und verteilte sich auf mehrere Angehörige
der Herrscherfamilie, so dass Ansätze der später in Yukatan vorherrschenden
politischen Verfassung schon hier zu erkennen sind.
Zur Geschichte bedeutender MayaDynastien
In diesem Kapitel stelle ich die königlichen Dynastien von
vier bedeutenden MayaStädten, Tikal, Yaxchilän, Copän und Palenque, dar. Tikal
und Copän sind ihrer politischen Bedeutung wegen ausgewählt worden; Yaxchilän
und Palenque vor allem wegen der Qualität ihrer Architektur und Kunst; und alle
vier können nur abgehandelt werden, weil die Archäologie sie intensiv erforscht
hat. Hierbei dürfte für den Leser die Vielfalt der Namen verwirrend sein, denn
sie folgen so gar nicht unseren Gepflogenheiten. Herrscher, ihre Gemahlinnen
und die höfische Entourage tragen meist bildhafte Namen. „Jaguar" ist bei
weitem der beliebteste, aber auch negativ konnotierte wie „Totenschädel"
begegnen häufig, und es finden sich sogar obszön anmutende Namen wie
„JaguarPenis". Sie sind fast immer aus der lebenden Natur genommen, wenn
auch oft phantastisch kombiniert, wie BahlämChan, was wörtlich JaguarSchlange'
bedeutet, vielleicht aber auch einfach eine der grossen Schlangen meint, wie
wir ‚Riesenschlange' sagen, ohne damit ein Mischwesen aus Mensch und Schlange
zu meinen. Manche Namen spiegeln eine solche phantastische Kreativität also
möglicherweise nur vor. Dies gilt erst recht, wenn die Forschung noch keine
gesicherte Entzifferung für eine Namenshieroglyphe bieten kann und als Behelf
das, was der Forscher in der entsprechenden Hieroglyphe als Bild zu erkennen
meint, zum (vorläufigen) Namen macht. So ist es bei der Göttin und mythischen
Herrscherin „Biest" aus Palenque, deren Namenshieroglyphe ein unidentifizierbarer,
nicht menschlich aussehender Kopf ist, der daher von Forschern „Biest"
genannt wird. Diese Hinweise mögen den Leser dahingehend beruhigen, dass die
Namensgebung der Maya auch für die Forscher auf weiten Strecken noch ein Rätsel
ist, und dass man auf keinen Fall mit europäischen Vorstellungen an sie
herantreten sollte.
Tikal
Tikal liegt mitten im Herzen des zentralen MayaTieflandes.
Kein mit dem Kanu schiffbarer Fluss führt dorthin, und die Wege, die es einst
gab, sind schnell vom nachwachsenden Wald überwuchert worden, als das Tiefland
durch die spanische Landnahme und ihre Folgen im 16. und 17. Jahrhundert fast
ganz entvölkert worden war. Selten nur kam daher einmal ein Jäger oder ein
Kaugummisammler hier vorbei. Solche Zufallsbesuche haben aber zweifellos einen
tiefen Eindruck auf den Besucher gemacht, denn hier standen, wild überwuchert
zwar, aber hochaufragend, sechs Pyramiden dicht beieinander. Und auch in den
Palästen auf den weniger steilen Plattformen waren noch so viele Räume in gutem
Zustand, dass der erschöpfte Waldläufer es sich für die Nacht darin bequem
machen konnte.
Wie bei praktisch allen MayaRuinen kann man daher von
Entdeckung im reinen Sinne nicht sprechen, als Gustav Bernoulli, ein Basler
Arzt, 1877 hierher kam und anschliessend davon berichtet hat. Er entnahm den
Tempeln einige schöne Türstürze aus Holz und liess sie nach Basel überführen,
wo man sie im Museum für Völkerkunde studieren kann. Er selbst erlebte das
nicht mehr, denn auf der Rückreise ist er in San Francisco gestorben.
Anfänge und erste Herrscher
Besiedlung in der späteren Stadt Tikal konnte für die Zeit
von etwa 600 v. Chr. an nachgewiesen werden
Im Bereich der NordAkropolis hatten sich damals die ersten Bauern
niedergelassen. In den folgenden Jahrhunderten wuchs Tikal aber nicht über ein
bescheidenes Dorf hinaus, und erst rund 800 Jahre später wird YäxMochXok als
offizieller Begründer der Dynastie genannt. Doch in Wirklichkeit gab es schon
einige Jahrhunderte früher ähnlich hervorgehobene Persönlichkeiten, wie Prunkgräber
aus dieser Zeit beweisen. Warum sie nicht in die offizielle Zählung der
Herrscher einbezogen wurden, wissen wir nicht.
Nach YäxMochXok folgen noch mehrere Herrscher:
VolutenAhawJaguar, dessen Inthronisation am 6. Juli 292 auf Stele 29 gemeldet wird
(s. Abb. 2a, S. 34), MondNullVogel, und einige, von denen wir nicht einmal die
Namen kennen, bis schliesslich der neunte der Dynastie, RoteJaguarTatze, und
sein dynastisch nebenrangiger Bruder RauchFrosch um 350 deutlicher ins Licht
der Geschichte treten. RauchFrosch und RoteJaguarTatze haben sich gemeinsam
kriegerisch mit dem nördlich benachbarten Königreich von Uaxactün
auseinandergesetzt. Den Sieg trug Tikal davon. Mit den wiederholten
Kriegszügen, von denen die Inschriften künden, steht wohl ein fast zehn
Kilometer langer Wall und Graben, der Tikal im Norden gegen Uaxactün abschirmen
sollte, im Zusammenhang. Dieses Schutzwerk wurde von einigen schmalen
Dammstrassen durchbrochen; an diesen Durchbrüchen und am Graben selbst zeichnen
sich durch gelegentliche Verbreiterungen oder durch Auflassung Phasen
friedlicher Nachbarschaft gegen solche kriegerischer Zeiten ab. Allerdings sind
die Bauphasen und Vernachlässigungen des Verteidigungssystems nicht so genau
datiert, dass sie mit inschriftlichen Berichten über Kriegsund Friedenszeiten
in Verbindung gebracht werden können. Dass dieses Bollwerk von der
frühklassischen Auseinandersetzung zwischen Uaxactün und Tikal zeugt, bleibt
also Hypothese.
Der Hiatus
Ein merkwürdiges Phänomen in der Geschichte Tikals beschäftigt
die Forschung seit langem, ohne dass eine definitive Erklärung dafür gefunden
wurde. Es ist der „Hiatus", den ich bereits im vorangehenden Kapitel
angesprochen habe. Wenn man den epigraphischen Befund in Tikal als Zeichen
eines allgemeinen Niedergangs deutet, muss man nach ebenso grundlegenden
Faktoren für den Niedergang suchen. Vorgeschlagen wurde die Verlagerung von
Handelsrouten TieflandHochland und OstWest ins Hochland, so dass Tikal die
Kontrolle über sie verlor und infolgedessen keinen Gewinn mehr aus dem
Fernhandel zog, der bis dahin, so will es die Hypothese, durch Tikal ging und
von Tikal als Marktzentrum dominiert wurde.
Wie wir aus der Gegenwart wissen, können solche
grossräumigen wirtschaftlichen Änderungen einen dramatischen Niedergang örtlicher
kultureller und wirtschaftlicher Blüte verursachen. Das Problem bei Tikal und
in der Vorgeschichtsforschung überhaupt ist, dass die quantitativen Daten, die
eine solche Annahme überprüfbar machen könnten, fehlen: Gräber mit ärmlichen
Grabbeigaben, Skelettfunde, die auf Unterernährung schliessen lassen, Abnahme
von Importen (z.B. Obsidian) in den Abfallhaufen u. a. Ferner fehlen
Wirtschaftsberichte in den hieroglyphischen Inschriften. Wenn wir die
Wirtschaftshypothese mit der in Kapitel III referierten machtpolitologischen
Hypothese des Niedergangs der Grossmacht Teotihuacan in ZentralMexiko
verknüpfen, gewinnt sie etwas an Überprüfbarkeit, denn das völlige Verschwinden
teotihuakanischen Einflusses ist archäologisch gut dokumentiert. Doch entsteht
dabei ein Datierungsproblem: Der Niedergang Teotihuacans als führender
Handelsmacht liegt etwas später als der Beginn des Hiatus in Tikal.
Durch die Fortschritte der Hieroglyphenentzifferung in den
letzten 20 Jahren sind wir neuerdings aber in der Lage, eine
ganz andere, politologische Hypothese aufzustellen: Kriege,
die Tikal verloren hat, sind demnach ausschlaggebend für
seinen zeitweiligen Niedergang. Der Engländer Simon Martin
und der Bonner Epigraphiker Nikolai Grube meinen, in dem
Kleinstaat Caracol im heutigen Belize den entscheidenden Konkurrenten
festmachen zu können, der Tikal eine dunkle Zeit von rund 100 Jahren bereitete.
Zum Problem des Hiatus kann man sich aber auch, die eben
besprochenen Hypothesen als Teilfaktoren berücksichtigend,
interpretativ ganz anders verhalten. Es kann nämlich sein,
dass
nur Steinbildwerke und historischgenealogische Texte eine
chronologische Lücke aufweisen, dass nicht ganz Tikal in Ar
mut versank. Und selbst beim vermeintlichen Schweigen der
Inschriften kann es sich um spätere selektive Zerstörung handelt In der Tat
haben wir aus Tikal zahlreiche archäologische Hinweise auf Zerstörung und
Beseitigung früherer Inschriften und Skulpturen. Wenn man das als
ausschlaggebenden Befund wertet, kann es sich beim Hiatus um ein eher
personalpolitisches und vielleicht begrenztes Problem handeln. Eine neue
Dynastie, die nicht fest im Sattel sitzt oder nicht legitim ist, kann zum
Beispiel versuchen, sich örtlicher Opposition durch Beseitigung öffentlicher
Denkmäler ihrer Vorgänger zu erwehren. Damit im Zusammenhang kann auch der Sieg
einer fremden Macht, also zum Beispiel Caracols im Jahre 562, zur Folge gehabt
haben, dass man so verfuhr und vielleicht eine Zeitlang Tikal keine eigenen
Denkmäler errichten durfte, um die Suprematie des Siegers deutlich zu
dokumentieren. Der Hiatus wird die Forschung als Problem der Interpretation der
MayaGeschichte also noch lange beschäftigen.
Herrscher der Spätklassik
Als Tikal nach dem Hiatus wieder ans Licht der Geschichte
tritt, steht die Stadt, die ohnehin nie zerstört war, in neuer Pracht und durch
weitere Bauwerke vergrössert da. Ihre Monumentalität verdankt sie aber nicht
dem Wirken eines einzelnen Herrschers oder Architekten, sondern der
Bautätigkeit von Generationen.
In Tikal gibt es, wie in Yaxchilän und Copän, auf die ich in
späteren Abschnitten zu sprechen komme, eine durchlaufende Zählung von
Herrschern am Ort. Sie wird „HelZählung" genannt und ist in ihrer Funktion
seit etwa 15 Jahren geklärt. Ist der Rangplatz eines Herrschers nach dieser HelZählung
bekannt, kann man ihn auch ohne genaue Kalenderdaten in die dynastische Abfolge
einordnen; andererseits zeigen Sprünge der Zählung, dass der historische
Bericht lückenhaft ist. Das führte in Tikal 1978 zur Entdeckung eines bis dahin
unbekannten Herrschers. Zunächst kannte man aus den spätklassischen Inschriften
die Herrscher A (später von der Forschung AhKäkäw oder Hasaw genannt), B und C.
Die HelZählung macht jedoch zwischen Herrscher B, er wird als 27. gezählt, und
Herrscher C, der als 29. gezählt wird, einen Sprung. Also muss zwischen diesen
beiden ein undokumentierter weiterer Herrscher regiert haben. Der
TikalArchäologe Christopher Jones und ich als Spezialist für die HelZählungen
haben ihn Z genannt und dann in den Inschriften nach ihm gesucht. Dabei
stiessen wir auf einen Verwandtschaftsbericht, in dem zwar der Name des
vermuteten Herrschers Z zerstört ist, jedoch seine Beziehung zu Herrscher B als
dessen Sohn genannt wird. Damit war dieser Teil der dynastischen Abfolge von
Tikal vollständig bekannt, obwohl von einem der Herrscher nicht einmal der Name
überliefert ist. Wenden wir uns also nun den historischen Berichten über diese
vier Herrscher zu, indem wir einen authentischen Einblick in Teilbereiche ihres
Lebens und ihrer Selbstdarstellung anhand zweier Türstürze nehmen, die
Bernoulli nach Basel hat bringen lassen.
Herrscher Käkäw
Einer der Basler Türstürze (Abb. 4) stammt aus Tempel I und
wird als Türsturz 3 bezeichnet. Auf ihm sehen wir in der Mitte den Herrscher
auf einem Thron sitzen. In der linken Hand hält er einen Rundschild, in der
rechten das Männchenzepter, eine kleine groteske Göttergestalt, bei der ein
Bein als Schlange ausgeformt ist, die der Herrscher umfasst. Über dem
prächtigen, mit der Maske des Sonnengottes verzierten federgekrönten Kopfputz
ragt ein überlebensgrosser Jaguar mit geöffnetem Rachen und vorgestreckter
rechter krallenbewehrter Vorderpranke hervor. Diese Komposition wird in
Analogie zu ethnographisch dokumentierten Verhältnissen als der König und sein
Schicksalsdoppelgänger (way) gedeutet. Dass der Jaguar, das stärkste und
gefährlichste Tier in der Umwelt der Maya, als Schicksalsdoppelgänger eines
Herrschers dient, ist ohne weiteres einsichtig; ganz ähnlich dient in
Westafrika der Leopard zur Symbolisierung herrscherlicher Macht. Vor dem
Herrscher, etwas tiefer, gewissermassen also unten vor der Pyramide, auf der
der Herrscher thront, und in dessen krönendem Tempel der Türsturz selbst
eingelassen ist, steht ein gekleidete Person. Ihre Deutung ist no um einen sozial
untergeordneten und d ten Menschen, aber auch um eine tat Person, also einen
Hofzwerg, handele über dessen Status nichts ausgesagt we matisch hier eine
untergeordnete Rolle ner dargestellt ist.
Auf dem krönenden Tempel , in der der Türsturz selbst eingelassen
ist, steht eine kleine, ebenfalls reich gekleidete Person. Ihre Deutung ist
noch offen: Es kann sich um einen sozial untergeordneten und daher kleiner
dargestellten Menschen, aber auch um eine tatsächlich kleinwüchsige Person,
also einen Hofzwerg, handeln, oder um jemanden, über dessen Status nichts
ausgesagt werden soll, der aber thematisch hier eine untergeordnete Rolle
spielt und deshalb kleiner dargestellt ist.
Der hieroglyphische Text rechts oberhalb der Szene gibt in
freier Umschreibung folgende Nachricht zum Bild und insbesondere zum Herrscher:
Am 26. Februar 695 (AlB1) war ein kalendarischer Zyklus des MayaKalenders zu
Ende (A2). 158 Tage später (B2), am 3. August desselben Jahres (A3B3), wurde
(von diesem Herrscher) Krieg (B4) gegen König JaguarTatze (A5) aus Chan (B5)
geführt. Welchem bekannten Ruinenort Chan entsprechen könnte, wird seit
dreissig Jahren diskutiert und ist immer noch strittig: El Peru und Calakmul
sind plausible Kandidaten. Die Herkunft des Königs JaguarTatze aus diesem Ort wird
durch die Emblemhieroglyphe (B5) angezeigt. Emblemhieroglyphen sind durch zwei
konstante Beizeichen gekennzeichnet, die die königliche Abstammung der
Hauptperson des Textes erwähnen (ch'ul ahaw, d. h. göttlicher Herr). Sie
gruppieren sich um ein variables Hauptzeichen, das angibt, von welcher Stadt
die Rede ist. Es ist daher möglich, mittels der Emblemhieroglyphe Skulpturen,
deren Herkunft nicht bekannt ist, einem MayaOrt zuzuweisen und die Herkunft von
Personen, die ausserhalb ihres Ortes erwähnt werden, wie es hier der Fall ist,
zu bestimmen.
Tikal, Tempel I, Türsturz 3.
Wieder etwas später, am 12. September 695 (C1D1), führte
dieser Herrscher einen Gedenkritus durch, in dessen Verlauf er sich Blut aus
der Zunge abzapfte (C3D3). Er selbst wird nun zum ersten Mal namentlich mit
seinen Titeln als AhKäkäu, ChanToh aus Tikal (D4D5) genannt. Der Text erwähnt
anschliessend noch seine Mutter (E1F2) und berichtet, dass sein Vater (F4), dem
unter anderen der Titel ch'ahom (d. i. ,jemand der etwas hinuntertropfen
lässt') (E5) zukam, Herr SchildTotenschädel (F6) war, der seinerseits König in
Tikal gewesen war. Der Bericht schliesst mit einem Rückblick auf die 4882 Tage
(F7E8) zurückliegende Inthronisation (F9)
von König AhKäkäw (F10) am 1. Mai 682 (F8E9). Als Amt, in
das er eingesetzt wurde, wird „makuch der Sippe" (E10) genannt. Die
Inthronisation des Herrschers bestand also in der Einsetzung in ein Amt
innerhalb seines Verwandtschaftsverbandes. Danach folgen noch zwei weitere
Titel (E12F12).
Wir entnehmen diesem Hieroglyphentext, dass der Herrscher
mit seiner Abstammung im Vordergrund steht, und zwar auch
insofern, als er religiöse Pflichten hat, wie die
Selbstkasteiung.
Schliesslich sehen wir, dass die Hieroglyphentexte uns einen
genauen zeitlichen Rahmen für die wichtigsten Ereignisse der
Herrschaft und der Staatsgeschäfte liefern. Dieser zeitliche
Rahmen ist für uns in zweierlei Weise aufschlussreich. Zum einen gibt er einen
Einblick in den komplexen und genauen Kalender der Maya, einschliesslich seines
mythologischen Hintergrundes mit dem Anfang der Ära und der Verherrlichung von
runden Zeitperioden. Auf der anderen Seite können wir jede zeitliche Angabe
genau in unseren Kalender übersetzen. Wir pflegen dabei für klassische
MayaDaten den damals in Europa gebräuchlichen Julianischen Kalender zu
benutzen. Weiter zeigt die Analyse dieses Textes, dass es der Forschung
mittlerweile gelungen ist, Namen und kurze Satzteile zu lesen, und dass damit
meist auch ihre Bedeutung klar ist, dass es aber auch Wörter und Ausdrücke
gibt, die wir nicht verstehen, weil unser Wissen über die Kultur noch sehr
unvollständig ist, vor allem, was die politischen und religiösen Institutionen
angeht. Und schliesslich sahen wir, dass auch die Bilder uns einiges über die
geistigen, religiösen und sozialen Verhältnisse mitzuteilen haben und in dieser
Einkleidung auch die tatsächliche Lebenswelt des Herrschers darstellen:
Pyramide, Thron, Hofzwerg.
Die Grabungsarchäologie hat zum Herrscher AhKäkäw noch
Interessantes mitzuteilen. Die Pyramide, auf der Tempel I steht, ist nämlich
sein Grabdenkmal. 1962 fand Aubrey Trik beim Durchtunneln der Pyramide Grab
116, eines der reichsten Gräber in Tikal. Vor allem die dort gefundenen etwa 90
mit Bildern und Hieroglyphen geritzten Knochen beweisen über jeden Zweifel,
dass der im Grab bestattete und mit reichem Jadeschmuck ausgerüstete Mann Herr
Käkäw war. Sein Todesdatum ist allerdings in den KnochenTexten und auch sonst
in Tikal nicht überliefert.
Tempel I selbst ist der architektonische Schwerpunkt am Hauptplatz
in Tikal. Er steht an seiner Ostseite und überragt die flankierende Süd und
Nordakropolis und den gegenüberliegenden Tempel II beträchtlich. Das zeigt in
Übereinstimmung mit allem, was wir von der spätklassischen dynastischen
Geschichte Tikals wissen, dass König Käkäw eine herausragende Gestalt war.
Herr Käkäw war auch an anderen Orten Tikals tätig. So liess
er den ersten Zwillingspyramidenkomplex errichten und am 13. März 692
einweihen. Dieses Ensemble ist eine für Tikal typische Hofanlage mit kleinen
flankierenden Gebäuden, Stelen und Altarsetzungen, die wohl ausschliesslich zur
Feier einer Zeitperiode errichtet wurde. Spätere Herrscher von Tikal sind ihm
in diesem Bauritual gefolgt; aus anderen Städten ist es nicht bekannt.
Herrscher B
Türsturz 3 aus Tempel IV
zeigt wieder einen König. Er sitzt auf einem Thron mit Lehne auf der
Plattform einer Stufenpyramide. Der aufrecht gehaltene Speer in der Rechten und
der kleine Rundschild in der Linken kennzeichnen ihn, in Übereinstimmung mit
dem hieroglyphischen Text, als Krieger. Auch sein Kopfputz enthält eine
Anspielung auf dieses Thema. Dort ist das Zeichen für ‚Stern' — damit ist der
Wandelstern Venus gemeint — zu sehen. Venus hat im Glauben der Maya engen Bezug
zum Krieg, vergleichbar mit abendländischen Konnotationen des Planeten Mars.
Die Kriegsthematik wird ausserdem durch den Totenschädel als Hauptelement des
Kopfputzes unterstrichen. Der König selbst sitzt unter einer sich wölbenden
doppelköpfigen Himmelsschlange. Ihr Kopf zur Rechten (vom Betrachter aus
gesehen) ist skelettiert und repräsentiert da durch den Tod, während ihr Kopf
zur Linken sinnbildlicht. Auf der Lebensseite kommt aus Schlangenrachen ein
Gott K mit Opfermesser Wieder eine mythische Gestalt, die an die %ie pflichten
der MayaHerrscher erinnert. Zuober bung der federbesetzten Himmelsschlange,
sirr teten Schwingen der MuwanVogel, auch er. w ein Himmelssymbol.
Das Hauptereignis, das in der Inschrift dieses meldet wird,
ist ein Kriegszug (B4 linker Teil bener von Herrscher B (D2D3) am 26. Juli den
benachbarten Ort Yaxhä (B4 rechter Tei Herrscher B war damals wohl schon zu
betagt Feld selbst das Kommando geführt hätte. AucI auf dem bereits
besprochenen Türsturz aus Schluss des Textes die genealogische und dyna des
Herrschers angezeigt. Der Text sagt, dass sei eine Frau von königlichem Geblüt
aus dem war. Wie wir im Vergleich der bisher besprocht sehen, scheinen hier
Krieg und anschliessende i Heirat stattgefunden zu haben, ähnlich, wie wzr
teleuropäischen Geschichte der Neuzeit kenner tralen MayaTiefland wird dahinter
der Wille z der Macht mit anschliessender Friedenssichen stellen
verwandtschaftlicher Bande gestandet hatte Tikal in der Spätklassik seine
führende Rolle wiedergewonnen. Denn derartige Bestreh sich nicht nur nach Chan
im NordWesten und Osten, sondern auch nach Naranjo im Osten lich gelegene
PetexbatünGebiet. Der Vater v( (G8) ist gemäss der Inschrift dieses Türsturzes
bekannte König AhKäkäw (H8 linker Teil ), sein unmittelbarer Vorgänger auf dem
Thron Wir können also schon mit diesen beiden Insch Generationen umfassenden
Ausschnitt der Dynastie rekonstruieren.
Tikal Tempel IV Türsturz 3
Die letzten Herrscher
Die Blütezeit Tikals hatte dann noch etwas über 100 Jahre
Bestand. In dieser Zeit haben die Herrscher Z und C ihre Monumente errichtet.
Eines davon ist der ehemals wirklich bemerkenswerte Tempel VI. Er trug auf der
Rückwand seines Dachkammes die grösste stukkierte Inschrift, die jemals
ausgeführt wurde. Die einzelnen Hieroglyphen sind einen Meter hoch; doch hat
diese Propagandainschrift dem wuchernden Urwald und dem heftigen Regen der
Jahrhunderte nicht widerstanden und ist heute fast völlig zerstört, so dass
Herrscher Z, der sich dort verewigt hatte, weitgehend unbekannt bleibt.
Vermutlich war er der ältere Bruder des auf ihn folgenden und ebenso schlecht
dokumentierten Herrschers C.
Um 850 hören die hieroglyphischen und bildlichen Denkmä
ler in Tikal auf, die Besiedlung nimmt ab und die
Prunkbauten verfallen. In kleineren Orten der Nachbarschaft, Jimbal zum
Beispiel, hält sich das MayaKönigtum in traditioneller Form
noch etwas länger, verstummt dann aber auch dort noch vor
dem Jahre 900.
Yaxchilän
Yaxchilän liegt in einer Flussschleife am Mittellauf des Rio
Usumacinta, der dort die Grenze zwischen Guatemala und Mexiko bildet. Die Stadt
ist an drei Seiten vom Fluss begrenzt, der seinerseits idealen Zugang zu den
Städten La Pasadita, El Cayo und Piedras Negras flussabwärts und zu denen an
den Nebenund Quellflüssen flussaufwärts, nämlich Altar de Sacrificios, Itzän
und Seibal, bietet. Wissenschaftlich entdeckt wurde Yaxchilän fast am gleichen
Tag im März des Jahres 1882 von Charnay und Maudslay. An den Inschriften aus
Yaxchilän, die dank der ausführlichen photographischen Dokumentation von
Maudslay und Maler (s. Kapitel I) ein ideales Studiencorpus darstellen, gelang
Tatiana Proskouriakoff ein entscheidender Durchbruch in unserem Wissen um die
Dynastien des MayaKlassikums. Schon 1963/64 hat sie die Biographien der Herr
scher SchildJaguar und VogelJaguar im wesentlichen so herausgearbeitet, wie ich
es darstellen werde.
Die ersten zehn Herrscher
Doch zunächst wenden wir uns den Anfängen zu, indem wir die
Inschriften des unscheinbaren palastartigen Wohngebäudes Nr. 12 studieren. Es
liegt am jenseitigen Ende des ersten grossen Platzes, wenn man Yaxchilän von
Nordosten her betritt, hart am Steilufer des UsumacintaStromes. Wenn wir seine
Eingänge im Uhrzeigersinn abschreiten, ergeben die sie überspannenden
steinernen Türstürze mit ihren Inschriften einen fortlaufenden Text, der eine fast
vollständige Liste der ersten zehn Herrscher des Ortes enthält. Schon dem
unermüdlichen Inschriftendokumentar und ChronologieSpezialisten Morley war
aufgefallen, dass diese Türstürze zwölf Hieroglyphen aufweisen, die ohne
erkennbaren chronologischen Gehalt dennoch eine fortlaufende Zählung darstellen
in der Form einer Hieroglyphe, der ein Zahlzeichen vorangestellt ist. Morley
konnte mit dieser Beobachtung nicht viel anfangen, denn die nichtkalendarischen
Hieroglyphen verstand man noch nicht, und es fehlte zudem noch ein wichtiger
Türsturz des Gebäudes, der erst in den 1980er Jahren, bei
Restaurierungsarbeiten unter dem mexikanischen Archäologen Roberto Garcia Moll,
entdeckt wurde. Aus Inschriften anderer Orte, vor allem Copän, Naranjo und
Tikal, wurde die Funktion dieser HelHieroglyphe als Zählung
aufeinanderfolgender Herrscher erst 1982 erkannt. Durch die HelZählung können
die Texte semantisch in einzelne Abschnitte unterteilt werden, deren jeder
einen Herrscher zum Hauptthema hat. Da die Textabschnitte gleich aufgebaut
sind, kann ich mich auf einen beschränken und wähle dazu den neugefundenen
Türsturz, der die Sequenz einleitet (Abb. 6).
Die erste HelHieroglyphe (A1) hat hier keinen
Zahlenkoeffizienten, sondern ihr ist das Zeichen für ‚erster' (nah) vorgeschaltet.
Die zweite Hieroglyphe (B1) stellt mit ihrem Hauptzeichen einen hockenden
menschlichen Unterleib dar. Es handelt sich dabei, was vom Bildgehalt her
einleuchtet, um ein Zeichen, das ‚sitzen' bedeutet. Das zweiteilige Beizeichen
darüber wird ahaw gelesen und bedeutet ,Herr`. Somit ist der Sinn der
Hieroglyphe ,das SichalsHerr(scher)Hinsetzen'. An dritter Stelle (A2) steht der
Eigenname des Herrschers, YatBahläm (JaguarPenis'). Die vierte Hieroglyphe (B2)
ist als Attribut des Herrschers zu verstehen.
Yaxchilän, Struktur 12, Türsturz o. Nr.
Sie bedeutet ,Herr der Pyramide; und das ist in Anbetracht
der Tatsache, dass die Residenzen der MayaFürsten sich auf erhabenen
Plattformen befinden, recht plausibel. Eine sprachlichsemantisch enge Parallele
gibt es im Quiche, wo Herrschertitel wie der eines ahpop kamha (,Herr des
Totenhauses') belegt sind. Mit der fünften Hieroglyphe beginnt in der Regel
eine Zusatzinformation, die sich bis zum Ende des jeweiligen Abschnittes
fortsetzt. Es sind meist Erfolgsberichte von Kriegen, die der jeweilige
Herrscher geführt, und Berichte von auswärtigen Besuchen, die er empfangen hat.
Hier ist es ein Besuch (A3), der gemeldet wird. Jetzt können wir den Text zum
ersten Herrscher folgendermassen inhaltlich resümieren: „Der erste Herrscher
YatBahläm liess sich zum Herrschen nieder. Er wurde von NAME besucht."
Später im Text werden zu solchen Ereignissen auch die Daten gemeldet. Doch
scheint man beim Niederschreiben des Berichtes über den ersten Herrscher die
Daten nicht mehr gewusst zu haben, denn weder seine Inthronisation noch die
Besuchs oder Kriegsereignisse sind datiert, ganz entgegen der MayaGepflogenheit
chronologischer Genauigkeit.
Der Text auf diesem Türsturz setzt sich dann mit dem Bericht
zum zweiten und dritten Herrscher (B6D7) namens SonnengottJaguar und
VogelJaguar (Yäxum bahläm) fort und enthält noch den Anfang des auf dem
nächsten Türsturz fortgesetzten Berichtes über den vierten (D7D8),
GeweihTotenschädel. Die konstanten Namensbestandteile der Herrscher Yaxchiläns
sind vornehmlich Jaguar` und ‚Totenschädel'. Sie werden mit variierenden
Beizeichen immer wieder aufgegriffen, und es lässt sich an dieses
Namensgebungsmuster die Spekulation anschliessen, dass der Hochadel Yaxchiläns
in zwei miteinander konkurrierende Parteien, die der „Jaguare" und die der
„Schädel", gespalten war, die sich gelegentlich in der Herrschaft
ablösten. Wenn diese Überlegung auch sehr spekulativ klingt, ist sie doch nicht
ganz aus der Luft gegriffen, denn wir kennen viele indianische Gesellschaften,
die in dualen Systemen organisiert sind, nach denen Namen und Ämter vergeben
werden.
Frauen im Leben des Herrschers SchildJaguar
Yaxchilän hat als Stadt seine grosse Blüte erst viele
Generationen später, mit dem einleitend genannten Herrscher SchildJaguar und
seinem Sohn VogelJaguar, erlebt. Während ihrer langen Herrschaft haben Frauen
eine bedeutende Rolle im öffentlichen politischen Leben gespielt, und ich will
ihr Wirken daher in den Vordergrund rücken.
Mit SchildJaguar beginnt die künstlerische Glanzzeit
Yaxchiläns. Aus seiner Jugend ist jedoch kaum etwas bekannt. So kann nicht
einmal sein Geburtsdatum genau ermittelt werden. Zwischen 645 und 649 wurde er
als Sohn des dreizehnten Herrschers der Dynastie geboren. Das Fehlen
biographischer Daten aus seiner Kindheit ist aber nicht ungewöhnlich, treten
die meisten MayaHerrscher doch erst mit ihrer Thronbesteigung ans Licht der
geschriebenen Geschichte. Im übrigen war es ihm ein besonderes Anliegen, seine
frühen Kriegserfolge darzustellen. Struktur 44 mit den skulptierten Stufen und
den Türstürzen über den drei Eingängen legt hiervon Zeugnis ab. Seine
Einsetzung als König von Yaxchilän fand am 18. Oktober 681 statt.
SchildJaguar war mit einer Dame namens Xok verheiratet. Ihr
Name bedeutet ‚Haifisch' und mutet bei einer Binnenlandbewohnerin merkwürdig
an. Vielleicht hat die Forschung ihn ja falsch entziffert. Nehmen wir ihn aber
zunächst einfach so hin, wie wir das grundsätzlich bei allen Namen tun sollten;
denn oft sind die vorgeschlagenen Entzifferungen noch ungesichert, und manchmal
sind die Namen nur Spitznamen, die die Forschung den Personen beigelegt hat,
weil eine Entzifferung der Namenshieroglyphe noch nicht gelungen ist. Spät in
seinem Leben gewährt SchildJaguar seiner Gemahlin Xok einen herausragenden
Bauplatz am Fusse der Akropolis von Yaxchilän mit beherrschendem Blick über die
langgestreckten Plätze und Flachbauten auf der untersten Flussterrasse. Diesem
Bauwerk, es trägt in der archäologischen Nomenklatur die Bezeichnung Struktur
23, wenden wir uns jetzt zu, denn hier verewigte ein hervorragender Künstler in
den Türstürzen der drei Eingänge die rituellen Pflichten der Herrscherin.
Auf Türsturz 24 steht
der König mit einer grossen Fackel — die Riten finden offensichtlich nachts
oder im Dunkeln eines Tempelgemachs statt —, um seiner Gemahlin zu leuchten.
Sie, reich gekleidet, kniet auf dem Boden, vor sich einen Korb mit
Papierstreifen. Durch ihre Zunge zieht sie sich eine dornenbewehrte lange
Schnur, deren unteres Ende bereits in den Korb fällt und mit dem Zungenblut der
Herrscherin das Opferpapier befleckt. Einiges an Dornen steht der Frau noch
bevor, obwohl ihr Gesicht schon jetzt blutverschmiert ist.
Yaxchilän, Struktur 23, Türsturz 24.
Auf dem nächsten Türsturz (25) ist das blutige Opfer vollzogen. Zum Dank
sendet die göttliche Himmelsschlange aus ihrem Rachen den Ahnen der yaxchilaner
Dynastie, also den elf Generationen entfernten Vorvater ihres Ehemannes,
YatBahläm, in voller Kriegsrüstung. Durch dieses Blutopfer wird der Segen auf
die Dynastie herabbeschworen, und ihre Legitimität wird von dem erscheinenden
vergöttlichten Ahnen bestätigt. Auf dem Bild dieses Türsturzes tritt
SchildJaguar selbst gar nicht mehr auf, wie er ja schon beim Blutopfer eine nur
dienende Stellung innehatte.
Auf dem letzten Türsturzbild (26) der Folge (Abb. 9) wendet
sich Frau Xok ihren politischen Pflichten zu: Sie überreicht ihrem Gemahl, der
bereits seinen Kriegspanzer und seine Baumwollschärpe angelegt hat, den
Jaguarhelm zur Rüstung. Kriegführen gehört nicht nur bei den souveränen
MayaStaaten des Klassikums, sondern weltweit zu den vornehmsten Pflichten von
Herrschern; und ich erinnere an die bewegenden Verse in Homers Ilias, wo Hektor
vor dem Kampf mit Achill von seiner Frau die Rüstung gebracht wird.
Yaxchilän, Struktur 23, Türsturz 25.
Ich habe diese Bilderfolge, die zur Zeit der Entdeckung
Yaxchiläns noch völlig unversehrt in Tempel 23 zu bewundern war, heute aber
zerstört ist, als Ereignisabfolge gedeutet. Das ist sie nach Absicht des
Künstlers und der Auftraggeber gewiss; doch sind die dargestellten Riten und
Handlungen ja immer wieder zu verschiedenen Anlässen durchgeführt worden, und
so hat der Künstler aus der Geschichte des Herrscherhauses verschiedene
hervorragende Ereignisse herausgenommen und diese schriftlich den Bildern
hinzugefügt.
Yaxchilän, Struktur 23, Türsturz 26.
Diese hieroglyphisch berichteten Ereignisse bilden keine
chronologische Einheit und Sequenz, sondern werfen aus einer langen Zeitspanne
Schlaglichter auf die Herrschaft des abgebildeten Paares. Frau Xok hat ihren
Gemahl um sieben Jahre überlebt; am 28. März 749 ist sie gestorben, während
SchildJaguar bereits am 13. Juni 742 gestorben war.
SchildJaguar war noch mit einer weiteren Frau verheiratet;
Polygamie war den Maya nicht fremd. Ihre Namenhieroglyphen sind komplexer als
die der bisher erwähnten Personen. Wahrscheinlich geben sie in mehrfacher
Umschreibung und Ausschmückung das Konzept Jod' wieder. Mit Frau Tod, die um
den 5. Mai 682 geboren ist, zeugte SchildJaguar einen weiteren männlichen
Erben, denn der erstgeborene war jung im Krieg gegen Dos Pilas geblieben. Frau
Tod selbst ist am 15. März 751 gestorben. Sie wurde also etwa 70 Jahre alt, hat
ihren Ehemann um etwa zehn und ihre Nebenbuhlerin um knapp drei Jahre überlebt.
So hat sie noch selbst den Aufstieg ihres Sohnes zur Königswürde erlebt.
VogelJaguar
SchildJaguar lebte nach der Geburt seines Sohnes VogelJaguar
allerdings noch gut 30 Jahre, so dass jener die Herrschaft in Yaxchilän erst
antrat, als er selbst schon erwachsen war und bereits einen Sohn gezeugt hatte.
Seine Inthronisation fand erst am 27. April 752 statt. VogelJaguar war als
Bauherr besonders aktiv. Vor allem Bauwerk 33, vielleicht seine Residenz,
sticht durch Grösse und Erhabenheit und auch wegen seines reichen
Skulpturenschmucks hervor: Mit Ballspielszenen und Hieroglyphentexten
skulptierte Stufen, die den Treppenaufgang zieren, mit Stelen und Altären auf
den Treppenabsätzen und vor dem Aufgang auf dem Hof, mit Fassadenschmuck und
einer lebensgrossen vollplastischen menschlichen Sitzfigur, die wahrscheinlich
ihn selbst darstellt, sowie den obligatorischen drei Türsturzreliefs ist das
Bauwerk ausnehmend reich geschmückt.
VogelJaguar war auch aussenpolitisch der erfolgreichste
unter Yaxchiläns Königen. So gründete er vielleicht die Vasallenstadt La
Pasadita, etwa zehn Kilometer flussabwärts am anderen Ufer des UsumacintaStroms
gelegen, oder er brachte sie zumindest unter seine direkte Herrschaft und
konsolidierte damit den nördlichen Teil des Fürstentums, den sein Vater mit der
Einverleibung des heute im Urwald unerforscht liegenden Ortes Laxtunich
erschlossen hatte. In Yaxchilän selbst bleibt VogelJaguar historisch allerdings
merkwürdig blass. Hier ist er geradezu ein Epigone seines Vaters; oder sollte man
lieber sagen, dass sein Vater das Hofritual festgelegt hatte, in dem
VogelJaguar, sein unmittelbarer Nachfolger, gefangen war? Wir kennen solche
starren Rituale ja zur Genüge aus der Spätzeit des mitteleuropäischen
Absolutismus. Mit seiner Frau RoterSchädel zeugte er einen Sohn und Nachfolger,
den späteren Herrscher Chelte'. Der Thronfolger wurde am 22. Februar 752
geboren, und seine Eltern legten ihm als weiteren Namen den seines Grossvaters,
SchildJaguar, bei. Diese Namensgebung mag noch zu den natürlichen Ritualen und
Pflichten des staatstragend folgsamen Kronprinzen gehören. Das eigentlich
Epigonale drückt sich in der Form aus, wie VogelJaguar dieses Ereignis und
seine Kriegstaten als Kronprinz darstellt. Er übernimmt das Modell der drei
skulptierten Türstürze seines Vaters und lässt dieselben Themen, allerdings von
einem weniger begnadeten Bildhauer, im Tempel seiner Frau RoterSchädel
darstellen. Auch dieser Tempel ist dem, den sein Vater für seine eigene Ehefrau
hatte errichten lassen, ähnlich, einschliesslich der Lage mit Blick auf den
Fluss.
Das Ende der Dynastie
Nach VogelJaguar herrschte noch sein bereits erwähnter Sohn,
Chelte', und dann noch dessen Sohn über die Stadt am Usumacinta. Eine
lückenlose Herrscherfolge über 500 Jahre zeichnet den Ort also aus.
Dementsprechend hat sich die Bauund Kunsttätigkeit kontinuierlich entwickelt
und trägt zum Bild einer überaus reichen und dicht bebauten Stadt bei. Der
Umstand, dass die frühen Forscher, wenn sie schon plündernd in den Ort
eingegriffen haben, die geraubten Schätze wenigstens bewahrt und veröffentlicht
haben, und die Entscheidung der mexikanischen Regierung, seit 1927 Yaxchilän
bewachen zu lassen, hat bewirkt, dass diese alte Stadt der Forschung ziem lich
unversehrt zur Verfügung steht. In jüngster Zeit bedroht allerdings ein
geplanter Staudamm Yaxchilän.
3. Copän
Die Lage von Copän ist in mancher Hinsicht ungewöhnlich.
Weit nach Südosten vorgelagert, liegt die Stadt an der markanten Kulturgrenze
in der Kontaktzone zum zentralamerikanischen Kulturareal in einem Tal, das das
ganze Jahr über durch einen stattlichen Fluss und mehrere Bergbäche bewässert
wird. Copän ist mit wenigen anderen klassischen MayaStädten der
Tieflandtradition, wie Toninä und Chinkultic, auch insofern ungewöhnlich
situiert, als es bei einem Talniveau von 600 Metern über dem Meeresspiegel die
Vorzüge eines gemässigt heissen Tropenklimas geniesst, das von den schwülen und
überaus regenschweren Luftströmungen verschont wird. Die umgebenden Berge ragen
bis zu 2000 Meter auf und schützen das Tal so auch vor verwüstenden
Wirbelstürmen.
Schon während der Wirren des Bürgerkrieges im Gefolge der
Unabhängigkeit von Spanien zu Anfang des 19. Jahrhunderts hatte ein Offizier
des zentralamerikanischen Heeres, Juan Galindo, ein gebürtiger Ire, Bildwerke
und Tempel in Copän skizziert, darunter den später so genannten quaderförmigen
Altar Q, der 150 Jahre später das Schlüsseldokument der Forschung werden sollte
(Abb. 10). Sechzehn reich gekleidete Personen sind auf der Peripherie dieses
Steines, der am Fusse der Westtreppe vor Copäns höchster Pyramide steht,
abgebildet. Sie sitzen der Reihe nach im Schneidersitz auf Hieroglyphen und
treffen sich auf der Vorderseite, so dass der erste dem letzten gegenübersitzt.
Zwischen ihnen sind die Inthronisation dieses letzten, also des 16. Herrschers,
und das Datum, an dem sie stattfand, geschrieben. Da lag es nahe, diese
Darstellung als Abfolge von 16 Herrschern der Stadt Copän zu interpretieren.
Erstaunlich, dass viele Jahrzehnte hindurch niemand auf diesen Gedanken
gekommen war. Statt dessen wollte man einen Astronomenkongress oder eine
politische Versammlung darin erkennen.
Copän, Altar Q (CPN 30).
Erst der französische FreizeitForscher Davost aus Angers ist
1976 dem Gedanken einer dynastischen Galerie konsequent nachgegangen. Ich
selbst habe seine Idee bei meiner fünfjährigen epigraphischen Arbeit in Copän
aufgegriffen und weiter ausgeführt. Es gibt nämlich in derselben Stadt noch ein
zweites Denkmal, das Aufschluss über die dynastische Geschichte des Ortes gibt:
die Hieroglyphentreppe. Zwar sind ihre über 60 beschrifteten Steinstufen bei
einem Erdbeben im 16. oder 17. Jahrhundert durcheinandergeraten, doch blieben
wenigstens Teile in der ursprünglichen Anordnung erhalten. Auch auf dieser
Treppe sind viele der 16 Personen mit ihren Lebensdaten verzeichnet und
ausserdem durch besonders ausführliche Texte hervorgehoben. Kein Zweifel also,
die steinernen Schriftzeugnisse in dieser Stadt geben Zeugnis von einer 16
Herrscher umspannenden Dynastie.
Frühzeit
Der Anfang der Copaner Dynastie liegt noch weitgehend im
dunkeln, denn früheste Zeugnisse sind durch spätere Bautätigkeiten zerstört
oder überbaut und bisher nur in kleinen Resten zutage gefördert worden.
YäxK'uk'Mo', zu deutsch vielleicht als ,starker QuetzalAra' zu übersetzen, war
der offizielle Dynastiegründer. Er ist es, der auf dem Altar dem 16. Herrscher
gegenübersitzt und ihm das Zepter überreicht. Wenn wir von ihm auch keine
genauen Lebensdaten haben, kann man doch schätzen, dass er etwa um 360 die Copaner
Dynastie gegründet hat. Freilich war Copän damals noch ein armseliges Dorf,
ohne Steinbauwerke und sicher ohne grossen Prunk.
Vom nächsten Herrscher, GeschmückterAhaw, dessen Grab
möglicherweise am Ende des letzten Jahrhunderts gefunden und von Archäologen
ausgenommen worden ist, ist nichts weiter bekannt. Ähnlich dürftig sind die
Nachrichten über die folgenden Herrscher bis zum 8. der Dynastie, die übrigens
auch hier Gebrauch von der in Tikal und Yaxchilän verwandten HelZählung macht.
GespaltenerMond BlattJaguar ist vermutlich ein Sohn des
vorangegangenen Herrschers, denn als solchen bezeichnet er sich auf einer
Stele. Er hat die Dynastie offensichtlich erfolgreich weitergeführt, denn
später wird er in der Ahnenreihe genannt. Für den 22. Mai 553 ist seine
Thronbesteigung verzeichnet. Seine Herrschaft war nicht besonders lang, und an
Ereignissen ist aus ihr nichts überliefert. Mit etwa 40 Jahren ist er
gestorben.
Der nächste Herrscher, RauchenderHimmel, ist bereits
mitteilsamer, denn er lässt uns sein Geburtsdatum wissen, das er mit dem 23.
April 575 angibt. Doch das ist historisch unwahrscheinlich, wie man beim
Vergleich mit seinem gut verbürgten Inthronisationsdatum sieht. Es liegt hier
also wohl ein Schreibfehler vor. Das Geburtsdatum müssen wir also auch bei ihm
aus indirekten Hinweisen erschliessen. Ich komme dabei auf eine Zeitspanne um
das Jahr 550, die gut im Einklang steht mit der für den 15. November 578
gemeldeten Thronbesteigung. An sie wird später, wie es sich gehört, auf der
Hieroglyphentreppe mit einer überlebensgrossen Statue und einem Gedenktext
erinnert. Sollte sein Todesdatum dort auch verzeichnet gewesen sein, so ist es
nicht mit Sicherheit zu identifizieren. Auf alle Fälle scheint RauchenderHimmel
ungewöhnlich lange, fast 50 Jahre, Copän regiert zu haben.
Blütezeit
Der nächste Herrscher, RauchJaguar ImixUngeheuer, lässt uns
mit einem genauen Geburtsdatum wieder im Stich. Um das Jahr 613 wird er das
Licht der Welt erblickt haben. Zur Herrschaft gelangt ist er schon mit etwa 15
Jahren am 3. Februar 628. Er hat dieses wichtige Datum selbst mehrmals in Stein
hauen lassen, und auch seine Nachfolger haben seiner gelegentlich gedacht. Mit
der Thronbesteigung nimmt er den üblichen Titel ahaw„Here, an und bemüht sich
als erster, häufig und deutlich seine Legitimation vom Gründer der Dynastie,
YäxK'uk'Mo', herzuleiten. Das geschieht, indem er sagt, „ich bin der 12.
Herrscher seit YäxK'uk'Mo' ". Diese Ausdrucksweise und Einbindung in die
Dynastie, die später beliebt blieb, ist für die Forschung eine grosse Hilfe,
denn so gelingt es, manchen schlecht dokumentierten Herrscher an die richtige
Stelle in der Abfolge zu plazieren.
Rauch Jaguars hervorragendste Leistung ist die Errichtung
der talbegleitenden Stelen. 20 Kilometer Luftlinie ist die Längenausdehnung
dieses Systems, das sich auf den Bergrücken zu beiden Seiten des Talgrundes vom
heutigen Dorf Santa Rita über das Zentrum von Copän zur kleinen Siedlung
Hacienda Grande, hart an der heutigen politischen Grenze nach Guatemala,
findet. Nicht nur als Bauleistung — schliesslich mussten die schweren Quader
steile Berghänge hinaufgeschleppt und dort oben errichtet werden , sondern vor
allem als konzeptionellintellektuelle Leistung ist dies eine besondere Tat.
Allerdings wissen wir immer noch nicht, was er damit beabsichtigte. Es mag sein
Anliegen gewesen sein, eine allgemein sichtbare Abgrenzung seines unmittelbaren
Herrschaftsgebietes, eben des Copaner Tales, zu schaffen. Vielleicht waren die
talbegleitenden Stelen aber auch Beobachtungsstationen, von denen aus das Tal
und die Zugangswege überwacht werden konnten. Eine andere Deutung, die sich
grosser Beliebtheit erfreut, ist die, dass zwei oder drei dieser Stelen (wenn
wir eine im Tal stehende mit einbeziehen) astronomische Beobachtungslinien
definierten. Zwar konnte ich die Unwahrscheinlichkeit dieser Deutung
nachweisen, denn die nötige Sichtlinie wird wegen eines Berges, der am Horizont
die vorletzte Stele überragt, gar nicht hergestellt, und die Deutung nimmt
ausserdem eine willkürliche Auswahl aus der Gruppe vor, doch wird diese Ansicht
von einigen Wissenschaftlern und Laien immer wieder vorgetragen. Weniger
spektakulär, aber von grosser Bedeutung, ist die Entwicklung der
Lunarastronomie während RauchJaguars Regierungszeit. Astronomen an seinem Hof experimentierten
mit Mondgruppierungen, vermutlich um Finsternisvoraussagen machen zu können,
was allerdings erst Generationen später zum Erfolg führte und dann in der heute
in Dresden aufbewahrten Handschrift niedergelegt wurde.
Vielleicht können wir in Grab 1, das Maudslay schon vor 100
Jahren freigelegt hat, seine Grabstätte erkennen. Es war eine sorgfältige
gemauerte Gruft, nicht überreich ausgestattet, aber dennoch beachtlich. Bei
RauchJaguars Tod mit etwa 70 Jahren lag eine erfolgreiche und politisch ruhige
Zeit hinter Copän.
Irgendwann zwischen den Jahren 672 und 686 hatte der spätere
König 18Kaninchen das Licht der Welt erblickt. Als er am 23. November 710 seine
Herrschaft antritt, beginnt eine kurze Zeit besonders prunkvoller Ausgestaltung
des zentralen Platzes von Copän. Die Stelen und Altäre, die noch heute den
Platz zieren, sind sein Werk. Und er hat, was der heutige Besucher nicht mehr
sieht, diesen Platz grundlegend umgestaltet, indem er frühere Gebäude
einreissen und planieren, Bildwerke an andere Orte versetzen liess und für die
Renovierung des Ballspielplatzes sorgte, wobei er auf Ausschmückung mit
besonders symbolträchtigen Papageienplastiken sah. Der FeuerAra (Im') ist
Symbol der Sonne und Bestandteil des Namens des Copaner Dynastiegründers. Auf
einem der Markiersteine liess 18Kaninchen sich gar selbst als Ballspieler
abbilden.
18Kaninchen ist der erste und bisher einzige Herrscher von
Copän, über dessen Ende wir Genaueres wissen. Er wurde von StürmischerHimmel,
König des kleineren Nachbarstaates Quiriguä, im Norden jenseits der Berge
gelegen, gefangengenommen und vermutlich später rituell geköpft. In Quiriguä
berichtet man stolz mehrfach über dieses Ereignis, und man eifert Copän
künstlerisch nach, indem 18Kaninchens Platz konzeptionell übernommen wird und
man ihn in der Grösse (nicht aber in der ästhetischen Qualität) der dort
aufgestellten Bildwerke übertrumpft. In Copän selbst verzeichnet nur die
Hieroglyphentreppe diesen Schicksalsschlag. Doch zuvor hatte 18Kaninchen von
einmalig begnadeten und technisch versierten Künstlern sich und vielleicht
seine Ehefrau auf dem grossen Platz auf einem Stelenpaar in Stein darstellen
und dazu einen langen Text einmeisseln lassen, der Copän neben Palenque, dem
noch unlokalisierten Ort Chan und Tikal als eine der vier Hauptstädte des
MayaReiches darstellt. Sollte dieser Anspruch der Wirklichkeit entsprechen,
hätte Copän damals einen Höhepunkt an Macht und vor allem an internationalem
Ansehen erreicht.
Merkwürdigerweise sind von 18Kaninchens Niederlage aber keine
zerstörerischen Spuren oder Anzeichen anschliessender Fremdherrschaft in Copän
zu erkennen. Das verwundert auch insofern, als damals beachtliche
Gastarbeiterkolonien in Copän bestanden, denn die bessere Alltagskeramik
(Copador, Babilonia) wurde von Töpfern aus den südlichen und östlichen
Randzonen des MayaGebietes hergestellt und von Malern, die auch keine Maya
waren, verziert, während die öffentliche Kunst
Bauwerke und Plastiken sich an
Formen und Inhalten des zentralen MayaGebietes orientierte. Schon wegen der
Notwendigkeit, die MayaHieroglyphen zu verstehen, wurde die öffentliche Kunst
von Mayasprechenden und der MayaSchrift kundigen Künstlern geschaffen. Doch
nach einem Aufstand war es den fleissigen, nicht zu den Maya gehörenden Töpfern
anscheinend nicht zumute.
Schon 39 Tage nach der Gefangennahme von 18Kaninchen tritt
der nächste Copaner Herrscher seine Regierung an. Sein Name DreiTod mag die
Bezeichnung seines Geburtstages im Wahrsagekalender gewesen sein, wie es später
und vor allem in anderen Regionen Mesoamerikas üblich war, doch ist das nicht
sicher, denn ein genaues Geburtsdatum ist nicht überliefert. Seine Herrschaft
umspannt zwar immerhin elf Jahre, doch wird aus dieser Zeit nichts von
Bedeutung berichtet.
Der fünfzehnte Herrscher, RauchHörnchen, erwähnt zwar, wer
sein Vater war, doch in einer hieroglyphischen Variante, die wir mit keiner
bekannten Person aus Copän identifizieren können. Er kam am 12. Februar 749 zur
Herrschaft. Ihm verdanken wir die Endausgestaltung des schönsten und gewaltigsten
Kunstensembles in Copän, Bauwerk 26 mit der Hieroglyphentreppe von ursprünglich
über 60 acht Meter breiten Stufen, den in ihrer Mitte eingelassenen
überlebensgrossen Sitzfiguren seiner Vorfahren und der den Fall aller Stufen
überziehenden Hieroglypheninschrift.
Diese Stufeninschrift ist der längste Text, den MayaKünstler
je in Stein gemeisselt haben. Ein Erdbeben hat, wie bereits erwähnt, die Treppe
weitgehend zerstört. Es hat auch den kleinen, ebenfalls prunkvoll mit Friesen
ausgeschmückten Tempel auf der Spitze der Pyramide nicht verschont.
RauchHörnchen hat seine Vorfahren auf der Treppe als Krieger dargestellt: Alle
sind mit Schild in der Linken und Lanze in der Rechten bewaffnet. Damit tritt
erstmals in der offiziellen Kunst Copäns der Krieg in den Vordergrund, während
Bauschmuck, Stelen und Altäre bis dahin immer mythologische Themen variiert
haben. Man mag spekulieren, ob der Krieg gegen Quiriguä oder gar eine allgemein
unruhiger werdende Zeit Auslöser dieses neuen Bildprogramms war. Da RauchHörnchen
sich so grosse Mühe gab, diese Pyramide zu vergrössern, mit einem Tempel zu
krönen und mit einer repräsentativen Treppe zu schmücken, liegt es nahe, sein
Grab dort zu vermuten. Obwohl Bauwerk 26 nie von Schatzsuchern geplündert wurde
und Archäologen es seit Jahren mit Tunnels durchsuchen, ist sein Grab noch
nicht gefunden worden; hingegen hat man viele wertvolle Skulpturen und auch
reiche Gräber aus früherer Zeit entdeckt.
Herrscher Sonnenaufgang und der rasche Verfall
Mit Sonnenaufgang tritt uns der letzte uneingeschränkte und
gut dokumentierte Herrscher der Copaner Dynastie entgegen. Seine Mutter gehört
dem Herrscherhaus von Palenque an. Der westliche und der südöstliche
Aussenposten der MayaFürstentümer haben sich auf diese Weise verbunden. Wenn das
auch kaum einen unmittelbaren Machtzuwachs für Copän bedeutet haben kann — dazu
waren beide Staaten zu weit voneinander entfernt und beide waren traditionell
machtpolitisch wenig ambitioniert —, stellte diese Verbindung sicher einen
Prestigegewinn dar. Während Sonnenaufgangs Herrschaft hat sich das Copaner
politische System und wohl auch die mit der Herrscherschicht verknüpfte Kultur
gewandelt. Nun treten seine Brüder, ja selbst nicht zur engeren königlichen
Familie gehörende Copaneken, als grosse Herren auf und stellen ihren Reichtum
und ihr Prestige in eigenen Bau und Kunstwerken dar. Dennoch, stets muss man
dem Herrscher die Reverenz erweisen, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass
Sonnenaufgang ein schwaches Regiment geführt hätte. Sonnenaufgangs eigenes
Bauprogramm war beachtlich. An allen Stellen der Stadt hat er Pyramiden
überbauen, Tempel renovieren oder erweitern und ausschmücken lassen. Dabei
fällt auf, dass die Baumeister es an Sorgfalt fehlen liessen. Die
Mörtelfüllungen sind sehr sandig und damit wenig haltbar, und ein Tempeleingang
musste schon bald nach Errichtung wegen Baufälligkeit zugemauert werden. Wie
immer bei überzogenen Zielen litt die Qualität, und keines seiner Gebäude steht
heute mehr. Auch die künstlerische Form litt durch Massenfertigung. Grosse
Flüchtigkeit und Sparsamkeit der Ausführung sind Kennzeichen vieler
Steinbildwerke aus dieser Zeit.
Abrupt kommt das Ende noch während oder doch bald nach
seiner Herrschaft. Eine unvollendete Steinskulptur stellt vielleicht die
Übergabe der Herrschaft an einen sonst nicht dokumentierten Nachfolger nach dem
Vorbild von Altar Q dar. Das restlos ausgeraubte Grab unter Tempel 18, der an
seinen zwei Durchgängen Kriegerporträts von Sonnenaufgang trägt, ist ein
weiteres äusseres Anzeichen für das unverhoffte und vielleicht gewaltsame Ende
der Dynastie. Zwar weisen die Tempelskulpturen über diesem ausgeraubten Grab
mit ihrer kriegerischen Thematik vielleicht auf unruhige Zeiten hin, doch sehen
wir sonst keine Anzeichen für massive Zerstörungen, Plünderungen oder das
gewaltsame Eindringen fremder Bevölkerung. Selbst für die Übernahme der Macht
durch revoltierende Handwerker fremder ethnischer Zugehörigkeit, wie sie in
Copän schon seit Jahrzehnten ansässig waren, liegen keine Hinweise vor. Die
Dynastie nimmt um 820 ein Ende, und die Stadt wird mit ihren öffentlichen
Bauten dem Verfall preisgegeben, während die bäuerliche Bevölkerung im Tal zwar
noch weiterlebt, aber allmählich an Zahl abnimmt.
4. Palenque
Palenque ist die westlichste grosse MayaStadt. Sie liegt
über zwei Kilometer ostwestlich ausgestreckt auf den ersten Hügeln der
aufsteigenden Sierra Madre. Der Blick von ihren Tempeldächern oder dem Turm des
Palastes reicht weit nach Norden in die Alluvialebene der Stromsysteme von Rio
Usumacinta und Rio Grijalva. Im Rücken Palenques ragen die Berge steil und
dicht bewaldet auf.
Mit der Auffindung der Ruinen Otolum durch einheimische
Bewohner des benachbarten Dorfes Palenque (den Namen Otolum haben CholIndianer
den Ruinen gegeben, er bedeutet ,Land der Häuser') und der Meldung dieser
Entdeckung an die Beamten der spanischen Regierung in Guatemala nahm die
archäologische Erforschung Mexikos im ausgehenden 18. Jahrhundert ihren Anfang.
Der Bericht von den Ruinen erregte beachtliches Interesse am spanischen Königshof,
und so rüstete man umgehend eine wissenschaftliche Expedition aus, um die
Ruinen fachgerecht zu erforschen. Der Vermessungsingenieur Antonio del Rio als
Expeditionsleiter und der Maler Ricardo Almendäriz erledigten ihre Arbeit denn
auch vorbildlich. Berichte ihrer Forschungen sind, allerdings nicht in Spanien,
veröffentlicht worden; eine der frühesten Veröffentlichungen wurde sogar wenige
Jahre nach der englischen Erstausgabe im thüringischen Meiningen veranstaltet.
Ganz Europa war offenbar von den Ruinen im Urwald nahe dem Dorf Palenque
fasziniert.
Götter als Ahnen der Dynastie
Zunächst reklamierten die Herrscher von Palenque eine
örtliche Trinität von Göttern als Vorfahren ihrer Dynastie. Diesen Gottheiten
wurden durchaus menschliche Eigenschaften zugeschrieben; vor allem haben sie
präzise bekannte Geburtstage, die von den MayaTheologen in die Zeit des Beginns
ihres Kalenders gelegt wurden, und die lag zur Zeit der Blüte der klassischen
MayaKultur immerhin schon gut 3000 Jahre zurück. Jahrhundertelang haben die
Chroniken dann nichts mehr zu vermelden, bis ein Mann namens UCh'ixChan am 11.
März 993 v. Chr. geboren wurde. Er bestieg den Thron mit 26 Jahren. Wenn sein
Inthronisationsalter ihn als wirkliche menschliche Person ausweist, so ist
zumindest die Plazierung dieses Ereignisses in olmekische Zeit
unwahrscheinlich. Er mag daher eine fiktive Person sein oder ein wirklicher
Vorfahre, dessen Lebenszeit weit in die Vergangenheit verlegt worden war. Man
kann andererseits auch darüber spekulieren, ob bei den Maya in Palenque
chronologisches Wissen und Kenntnis der OlmekenKultur bestand und ob sie daher
bewusst die Zeitspanne dieser angesehenen VorgängerKultur als Lebenszeit ihres
Ahnen UCh'ixChan wählten. UCh'ixChans Herkunft ist nicht klar. Irgendwie scheint
er über eine Person namens Matanal von der Lokalgöttin Biest abzustammen, die
ihrerseits als Herrscherin Palenques vorgestellt wird.
Die ersten historischen Herrscher
Bis zum nächsten Herrscher BahlämK'uk' klafft eine
beträchtliche Lücke. Sein Geburtstag ist der 28. März 397. Dass es sich hierbei
um eine historisch zuverlässige zeitliche Einordnung handeln kann, geht aus
unserer Kenntnis des Beginns der klassischen MayaEpoche hervor. Um diese Zeit
scheint die Institution des Königtums im MayaTiefland Verbreitung gefunden zu
haben oder von aussen eingeführt worden zu sein. Wir hatten das ja bereits bei
Tikal und Copän gesehen. BahlämK'uk' kam erst mit 34 Jahren auf den Thron.
Seine Residenz innerhalb Palenques wird in Texten genannt, und auch spätere Mitglieder
der Dynastie haben dort hofgehalten.
Von 435, dem Jahr der Inthronisation von BahlämK'uk's
Nachfolger Kaspar (ein Spitzname, den die Forschung ihm beigelegt hat), bis 612
folgen acht Herrscher aufeinander, ohne dass über sie Bemerkenswertes bekannt
ist. Zukünftige Grabungen werden sicher noch einiges Licht auf diese Frühzeit
werfen.
Pakal der Grosse
Eine Frau namens SäkK'uk' wurde am 17. Oktober 612
inthronisiert. Ihre Bedeutung liegt darin, dass sie vermutlich die Mutter des
bedeutendsten Herrschers von Palenque, nämlich Pakals des Grossen, war.
Inschriftlich ist ihr das Tempelchen zuzuordnen, das die Forschung wegen seiner
Lage ausserhalb des Zentrums „El Templo Olvidado", den „vergessenen"
oder „verschollenen Tempel", nennt. Frau SäkK'uk' ist am 7. September 640
gestorben. Von ihrem Ehemann, dem Vater Pakals, K'änBahlämMo', ist nur das
Todesdatum bekannt, der 27. Dezember 642. Seine Frau hat er also um zwei Jahre
überlebt. Er selbst hat aber nicht in Palenque geherrscht, so dass wir hier die
erstaunliche Situation vorfinden, dass eine Frau die Regierung leitet, ihr Mann
jedoch im Hintergrund steht, was bemerkenswert ist, da die Maya ein
patrilineares Verwandtschaftssystem pflegen. Doch ist die Prominenz von Frauen
uns bereits aus der MayaStadt Yaxchilän geläufig, wiewohl die Ehefrauen der
beiden grossen Könige SchildJaguar und VogelJaguar dort nicht regiert haben.
Geboren ist der spätere Herrscher Pakal der Grosse am 21.
März 603 als Sohn des K'änBahlämMo' und der Regentin SäkK'uk'. Schon am 24. Juli
615, also mit knapp 13 Jahren, kam er zur Herrschaft, zu einer Zeit, als die
Regentin, seine Mutter, noch lebte und bei bester Gesundheit war (sie starb
erst 25 Jahre später am 7. September 640). Pakals Inthronisation fand in Haus E
des Palastes statt. Frau SäkK'uk' reicht ihm, der auf einem doppelköpfigen
Jaguarthron sitzt, den Helm als Herrschaftszeichen. Warum diese vorzeitige
Herrschaftsübergabe? Meine Hypothese ist, dass Frau SäkK'uk' in Ermangelung
eines legitimen Mannes, der dieses Amt hätte bekleiden können, die Regentschaft
führte. Nachdem sie einen Sohn geboren hatte und dieser volljährig geworden
war, wurde er als legitimer Herrscher eingesetzt, und ihre zwischenzeitliche
Regentschaft hatte ein Ende. Nach seiner Inthronisation hat Pakal bis ins hohe
Alter die Staatsgeschäfte von Palenque geleitet; erst am 26. August 683 ist er
80jährig gestorben.
Seltenes Archäologenglück brachte es mit sich, dass der
mexikanische Ausgräber Alberto Ruz Lhuillier die unversehrte Totengruft Pakals
tief unter dem Tempel der Inschriften entdeckte und dort auch den noch
verschlossenen steinernen Sarg des Königs vorfand. Das Gesicht des Königs war
von einer JadeMosaikmaske bedeckt und sein Körper mit reichem Schmuck
ausgestattet. Sein Sarg trägt auf der Oberseite des Deckels die Darstellung der
Apotheose des Königs und den Kanten entlang eine umlaufende Inschrift, in der
wir mit Kalenderdaten über seine Vorfahren und sein eigenes Leben genau
informiert werden. Daher sind wir auch sicher, dass es Pakal ist, der hier begraben
liegt.
Palenque, Palast, Haus E, Rückenlehne des Throns.
Allerdings meinte der Ausgräber Ruz, selbst kein Fachmann in
Hieroglyphenfragen, dem Befund der Knochenuntersuchung mehr trauen zu müssen
als dem der hieroglyphischen Inschrift auf dem Sargdeckel und den
Wandinschriften des Tempels darüber. Seine mexikanischen Kollegen Eusebio
Dävalos Hurtado und Arturo Romano hatten die Skelettreste des Königs nämlich
noch in situ in der Gruft studiert und auf ein Sterbealter von 40 bis 50 Jahre
geschätzt. Laboruntersuchungen von 1975, 25 Jahre nach der ersten Untersuchung,
wiederum unter Beteiligung von Arturo Romano und weiteren Spezialisten in
Mexiko, kamen dann auf das noch geringere Alter von 30 bis 40 Jahren. Wie wir
heute wissen, kann man das Sterbealter erwachsener Menschen an Skelettresten
mit traditionellen Untersuchungsverfahren aber nicht genau bestimmen, und nach
meiner Meinung hat die Schätzung der physischen Anthropologen daher wenig
Gewicht; auch die spätere Untersuchung der Mineralisation eines kleinen Teils
von Pakals Schädeldecke ist für genaue Altersaussagen nicht geeignet. Die
mexikanischen Untersuchungsergebnisse besagen in Wirklichkeit nicht mehr, als
dass es sich um die Knochen eines erwachsenen Mannes handelt. Ruz selbst war
aber nie bereit, der erst später gelungenen Entzifferung der hieroglyphischen
Inschrift mit den darin enthaltenen Lebensdaten Pakals Vertrauen zu schenken,
sondern blieb bis zu seinem Tod bei der einmal geäusserten Vermutung, Pakal sei
als Mann von etwa 40 Jahren gestorben. Ich vertraue den hieroglyphischen
Angaben jedoch mehr, die besagen, dass Pakal erst mit 80 Jahren gestorben ist.
Als König, der für den Fortbestand der Dynastie zu sorgen
hat, war Pakal verheiratet. AhpoHel, seine Ehefrau, hat ihm zwei Söhne geboren:
BahlämChan und K'änHok'Xul. Beide wurden später auch Herrscher von Palenque.
Frau AhpoHel hat ihren Gemahl nicht überlebt. Sie ist gut zehn Jahre vor ihm,
am 11. November 672, gestorben.
Im Sommer des Jahres 1994 haben wiederum mexikanische
Archäologen in einem kleinen Tempel neben Pakals Grabbau eine ebenso ausgebaute
Gruft mit Steinsarkophag entdeckt. Leider finden sich dort keine Inschriften,
und das Skelett ist noch nicht untersucht worden. Dennoch möchte ich einige
Spekulationen über die Person in diesem neuen Grab wagen. Der Tod von Frau
AhpoHel mag Anlass gewesen sein, dass ihr Ehemann noch selbst dafür sorgte, ihr
neben seiner eigenen Residenz, dem Tempel der Inschriften, ein bescheidenes,
aber würdiges Haus zu errichten und sie dort bestatten zu lassen. Ähnlich
könnte Pakal allerdings mit diesem Bauwerk auch für seine Mutter, Frau
SäkK'uk', gesorgt haben, die ebenfalls erst während seiner Herrschaft gestorben
ist. Auf alle Fälle möchte ich bei diesem Grab wegen der unmittelbaren Nähe zu
Pakals Mausoleum annehmen, dass es sich um jemanden aus seiner unmittelbaren
familiären Umgebung handelt. Die Position des Grabtempels auf derselben
Plattform, jedoch nicht so hochragend wie der des Königs, weist auf eine
untergeordnete Stellung hin. Daher scheiden Pakals Söhne BahlämChan und
K'änHok'Xul aus, da sie sich selbst inschriftlich geschmückte Denkmäler
errichtet haben und sich kaum mit einem untergeordneten Tempelchen im Schatten
des Mausoleums ihres Vaters als Grabstätte begnügt hätten. Bei K'änHok'Xul
kommt als Argument hinzu, dass er wahrscheinlich gar nicht in Palenque
gestorben ist und daher schwerlich dort in einer Gruft begraben liegen kann.
BahlämChan und K'änHok'Xul
Am 18. Mai 635 geboren und unmittelbarer Nachfolger Pakals,
war BahlämChan selbst ein bedeutender Herrscher. Er liess das Mausoleum für
seinen Vater und Vorgänger, den Tempel der Inschriften, fertigstellen, nachdem
er am 5. Januar 684 den Thron bestiegen hatte. Danach war BahlämChan baulich
vor allem in der Kreuzgruppe tätig. Dort liess er um einen kleinen offenen
Platz die drei zierlichen Tempelchen des Kreuzes, des Blätterkreuzes und der
Sonne errichten und reich mit Steinreliefs und StuckAppliqueArbeiten
ausschmücken. Diese drei Tempel sind, was ihre Lage zueinander und ihren
Skulpturenschmuck angeht, wohl als Ensemble geplant und stellen als solches
eine der anmutigsten Baugruppen der Maya dar. BahlämChans Herrschaft hatte 18
Jahre gewährt, als er am 14. Februar 702 starb.
K'änHok'Xul, der jüngere der beiden Brüder, wurde am 31.
Oktober 644 geboren, inthronisiert wurde er aber erst mit fast 60 Jahren, am
28. Mai 702, wenige Tage nach dem Tod seines älteren Bruders und Vorgängers.
Die späte Inthronisation hat ihre Ursache in der Langlebigkeit seines Vaters
und seines Bruders, die ihm beide in der Herrschaft vorausgegangen waren.
Nachdem K'änHok'Xul endlich selbst den Thron besteigen konnte und sich im
üblichen Rahmen als Baumeister und Kunstförderer betätigt hatte, war ihm doch
kein Glück beschieden, denn neun Jahre nach Antritt seiner Herrschaft wurde er
vom Fürsten von Toninä, dem benachbarten, aber bereits im Bergland liegenden
Staat, gefangengenommen und bis an sein Lebensende gefangengehalten (Abb. 12).
Man hätte ihn auch sofort dem Opfertod zuführen können. Doch der Herrscher von
Toninä handelte politisch klug, wenn er seinen gefangenen fürstlichen Gegner am
Leben liess. Auf diese Weise konnte in Palenque kein neuer Herrscher eingesetzt
werden, denn der rechtmässige lebte ja noch. Man musste sich mit einem blassen
Statthalter namens Xok begnügen, der, so das Kalkül des Herrschers von Toninä,
weniger Prestige und damit weniger Macht haben würde.
Toninä Monument 122.
Das Ende der Dynastie
Das traurige Ende K'änHok'Xuls in Toninä leitet den
Niedergang der Dynastie von Palenque ein. Zwar folgte ihm am 9. 10. 721 Chakal,
der sich in Tempel XIX einen repräsentativen Thron mit Bilddarstellungen und
Inschriften errichten liess, doch wird wenig später mit ChäkSuts' am 13. Juni
723 ein nicht aus dem Königshaus stammender Statthalter zum Herrscher erhoben.
50 Jahre später wird durch die Abspaltung Pomonäs auch der territoriale Verfall
des Staates Palenque sichtbar. Am 27. August 787 entriss der Usumacinta
aufwärts gelegene Nachbarstaat Piedras Negras Palenque die Herrschaft über
Pomonä. Der Herrscher SechsTod, der 799 seine Regierung antritt, ist nur aus
der Inschrift auf Scherben einer Tonschale bekannt. Keine Steininschrift und
kein Grab zeugen von ihm! Die Macht Palenques war also bereits im Verfall
begriffen, und Palenque ist damit die erste grössere MayaStadt, die dem
allgemeinen Kollaps am Ende des Klassikums erlag.
Es ist vielleicht kennzeichnend für diese Katastrophe, dass
der Zusammenbruch sich langsam vom Westen her den Rio Usumacinta aufwärts
vorarbeitete: Als nächste kamen Piedras Negras und Yaxchilän zu Fall, dann
ereilte das Schicksal die Städte um den See von Petexbatün: Dos Pilas, Aquateca
u. a. und schliesslich auch Tikal und den zentralen Peten sowie Orte an den
Zuflüssen des Rio Usumacinta, wo in Seibal deutlich Zeichen mexikanischen
Einflusses auf den letzten Monumenten zu finden sind. Nur Toninä und die
MayaStädte im Norden der Halbinsel Yukatan hielten stand und führten klassische
Traditionen weiter.
5. Politische Geographie Das südliche Tiefland
Schon die erste Entdeckung historischpolitischer Themen in
den MayaInschriften, die dem DeutschMexikaner Heinrich Berlin 1958 gelang, warf
ein deutliches Licht auf die politische Verfassung des MayaTieflandes in der
Spätklassik. Auch heute, gut 40 Jahre nach dieser Entdeckung, sind die von
Berlin so genannten EmblemHieroglyphen immer noch das sicherste Indiz für ein
Herrschaftsgebiet. Ein Emblem bezeichnet den Ort, an dem es am häufigsten und
zeitlich am frühsten auftaucht als Herrschaftszentrum, indem es den Titeln des
Herrschers angefügt wird, so wie ein europäischer Fürst sich „Herzog von
Schwaben" nennt und auf diese Weise den Anspruch auf ein bestimmtes
Herrschaftsgebiet deutlich macht. Wir kennen aufgrund der Embleme etwa 20
solcher Herrschaftsgebiete, die freilich von sehr unterschiedlicher Grösse und
verschiedenem politischem Gewicht waren (Karte 2, S. 45).
Die westlichste Emblemprovinz und zugleich, trotz ihrer
kurzen Blüte, eine der bedeutendsten hatte ihr Zentrum in Palenque. Sie
umfasste das grosse Deltagebiet der Ströme Usumacinta und Grijalva und reichte
im Norden bis an den Rio San Pedro Martin Tortuguero und Pomonä sind zwei
bedeutende Orte in ihr, und vielleicht hat auch Comalcalco, die westlichste
MayaStadt, dazugehört. Das Grossfürstentum Palenque scheint kaum Konkurrenz und
Kriegsdruck verspürt zu haben. Lediglich das südlich, schon in den Bergen
gelegene Toninä hat sich einmal, wie wir sahen, gewaltsam in die dynastischen
Verhältnisse von Palenque eingemischt, doch führte das nicht zu bleibender
Beeinträchtigung des palenkanischen Herrschaftsgebietes.
Im Vergleich zu Palenque beherrschten Piedras Negras und
Yaxchilän, die weiter Usumacinta aufwärts angrenzenden Fürstentümer, jeweils
nur bescheidenere Gebiete in unmittelbarer Umgebung ihrer Hauptstädte an
besagtem Strom. Bei Yaxchilän immerhin, dessen Aussenbeziehungen besonders gut
erforscht sind, gehörten dazu die Orte La Pasadita und Laxtunich am jenseitigen
Ufer des Usumacinta und das diesseits einen halben Tagesmarsch entfernt im
Binnenland gelegene Bonampak sowie zeitweilig dessen Nachbarstadt Lacanjä;
während El Cayo in einer sowohl geographisch wie geopolitisch prekären
Grenzlage zwischen Yaxchilän und Piedras Negras schwankte. Auch in diese Sphäre
griff Toninä gelegentlich kriegerisch ein, so dass das politische Gewicht
dieses am Rand gelegenen Staates nicht unterschätzt werden darf.
Im zentralen Tiefland war zweifellos Tikal der bedeutendste
Staat. Er hat von der Frühklassik bis zum allgemeinen Niedergang der
Stadtstaaten im 9. Jahrhundert immer eine bedeutende Rolle gespielt. Manche
Forscher gehen deshalb so weit, mit dem Blühen und dem Niedergang Tikals das
Schicksal des ganzen MayaTieflandes zu verknüpfen. Südlich von Tikals
Herrschaftsgebiet erwuchs ihm zeitweilig aber ein Konkurrent in dem Fürstentum
von Petexbatün, das nach dem gleichnamigen kleinen See so heisst, um den sich
die Städte Aguateca, Dos Pilas und Tamarindito gruppieren. Und auch die
nördlichen Nachbarn liessen keine Ruhe: Der Staat von Chan, worin wir Calakmul
oder El Perü erkennen, war zeitweilig Konkurrent, und selbst das direkt
benachbarte Uaxactün war nicht immer nur Juniorpartner im Bündnis mit Tikal. So
war das zentrale Tiefland ein beständiger Unruheherd (s. Karte 3, S. 98). Ganz
besonders zeigt sich das zwischen Tikals östlichen Nachbarn Caracol und Naranjo
und der Metropole selbst; und diese Instabilität war ja auch ein Auslöser für
den Hiatus.
Stabil und wenig durch Kriege geprägt stellt sich uns,
ähnlich wie Palenque, die Südostregion mit Copän als wichtigstem Zentrum und
Quiriguä als einzigem ernsthaften Konkurrenten dar. Zwischen den beiden gab es
zwar eine kriegerische Episode während der Regierungszeit des Copaner
Herrschers 18Kaninchen, doch scheint sie sich für keines von beiden Staatswesen
schädlich ausgewirkt zu haben.
Wie wir schon bei der Darstellung einzelner Ortsdynastien
gesehen haben, waren nicht nur Kriege, sondern auch dynastische Heiraten ein
Mittel der MayaPolitik. Wir sind über etwa ebenso viele dynastische Heiraten
und friedliche Besuche informiert wie über Kriege. Und dabei schliessen sich
diese Formen der Kontaktnahme nicht aus. So wie Naranjo, Tikal und Caracol sich
bekriegten, so heirateten sie auch untereinander. Und schliesslich gab es immer
wieder Staatsbesuche zwischen ihnen und anderen Staaten.
In den geschilderten Territorialstaaten scheint sich in
spätklassischer Zeit das Bedürfnis einer übergreifenden, das ganze Tiefland
umfassenden politischen Ordnung herausgebildet zu haben. Wenn dafür auch
ideelle Gründe ausschlaggebend gewesen sein mögen und das Ergebnis unter
Umständen eher fiktiv als im politischen Alltag wirksam war, so hat es
wahrscheinlich doch den intensiven Handelsbeziehungen, der intellektuellen
Zusammenarbeit der Kalenderpriester und Astronomen, den Heiratsallianzen der
Herrscherhäuser und den Staatsbesuchen einen ideologischen Überbau geliefert.
Vor allem die Heiratsallianzen werden wenigstens eine
Zeitlang für Frieden und Zusammenarbeit im MayaTiefland gesorgt haben. Die
Einheirat einer palenkanischen Prinzessin in das Herrscherhaus von Copän zeigt
schlaglichtartig, dass auf diesem Weg auch weit entfernte Stadtstaaten
miteinander in enge Beziehungen traten, und Einzeluntersuchungen haben in
diesem Fall gezeigt, dass dabei auch intellektuelle und künstlerische Einflüsse
übermittelt wurden, wie etwa die Sitte, grosse Räucherbecken aufzustellen. Das
Ergebnis dieser Entwicklungen war vielleicht eine politische Entente, in der
das ganze südliche MayaTiefland in vier Grossprovinzen aufgeteilt wurde. Der
westlichsten stand Palenque vor; die beiden zentralen wurden von den in
dauernder Konkurrenz stehenden Städten Tikal und Chan (El Perü oder Calakmul)
geleitet; und die südöstliche hatte ihr Zentrum in Copän. Trotz zweimaliger
Umgruppierungen hatte diese Entente bis zum Verfall der Staaten im Tiefland,
insgesamt also über 200 Jahre, von etwa 650 bis 850, Bestand.
Das nördliche Tiefland
Das nördliche Tiefland ist nicht Teil dieses durch
EmblemInschriften bekannten MayaGebiets, wiewohl es dieselbe Schrift und
ähnliche Stadtanlagen, ein verwandtes Kunstschaffen und eine eng verwandte
Sprache mit ihnen teilte.
Wenn es ein Indiz für ein übergreifendes politisches Gefüge
gibt, sind es die auf den äussersten Norden der Halbinsel Yukatan beschränkten
Netze von Überlandstrassen, die Sakbe. Leider gibt es keine umfassende
Untersuchung und Darstellung dieses überregionalen Strassennetzes. Es war
sicherlich nicht so ausgebaut und planvoll angelegt wie die InkaStrassen in
Peru, doch nichtsdestoweniger stellen auch die MayaLandstrassen bedeutende
Bauleistungen dar. Der längste Sakbe, von Cobä nach Yaxunä, erstreckt sich
immerhin über 100 Kilometer und hat dabei eine durchschnittliche Breite von
fast zehn Metern. Er überwindet Sümpfe und Senken auf gut fundierten
Steinpackungen und ist auf weite Strecken schnurgerade angelegt. Wenn wir
bedenken, dass die Maya keine Transport und Zugtiere hatten und auch keine
Wagen, will der verkehrstechnische Zweck solcher Strassen nicht recht
einleuchten. Man nimmt daher an, dass sie vor allem als Prozessionsstrassen
gebaut wurden, wiewohl ähnliche gepflasterte Strassen in den Städten, wo
zahlreiche Bevölkerung, Bauvorhaben und Handel von ihnen Gebrauch machen
konnten, als Erleichterung des alltäglichen Verkehrs sehr wohl sinnvoll waren.
Cobä, am östlichen Ende der genannten langen Überlandstrasse, ist das beste
Beispiel für ein verzweigtes metropolitanes Strassennetz. Was die Hauptfunktion
der Überlandstrassen auch gewesen sein mag, gewiss hat die Planung, die
Herstellung, die zeremonielle Nutzung und die laufende Instandhaltung ein
Friedensgebiet zur Voraussetzung und weist vielleicht, wie bei den Inka, auf grossräumige
staatliche Planung und einen gesamtstaatlichen Machtbereich hin.
Zur weiteren Erschliessung der gesellschaftlichen und
politischen Struktur, und das gilt nicht nur für den Norden, dient schliesslich
noch die für das MayaGebiet immer wieder versuchte Interpretation von Siedlungs
und Besiedlungsbefunden. Die dafür nötigen genauen Landesaufnahmen und die
Herstellung von Ortskarten sind wegen der dichten Bewaldung und der
Unerschlossenheit des Inneren der Halbinsel mit viel Mühe verbunden und daher
noch nicht im nötigen Umfang geleistet. Die Anwendungen der in Mitteleuropa und
in der historischen Geographie aussagekräftigen Methode der zentralörtlichen
Verteilung scheint mir deshalb hier verfrüht. Zwar ist das ebene gleichförmige
Land die ideale Voraussetzung für eine nur durch menschliche Entscheidung und
menschliches Handeln begründete Siedlungsverteilung, doch bedarf es zu seiner
zentralörtlichen Deutung eben der vorangehenden Erfassung aller Siedlungen mit
ihren wichtigsten wirtschaftlichen und demographischen Parametern; und diese
Voraussetzung ist noch nicht erfüllt.
Das Hochland
Das MayaHochland scheint, wenn wir uns auf die Zeit der
Spätklassik beschränken, sich ganz ausserhalb des unmittelbaren politischen
Wirkens der Tieflandbewohner befunden zu haben. Diese Trennung lässt sich auf
geringe Kommunikation wegen der Unwegsamkeit der Abdachungen des Hochlandes
zurückführen. Daher bedurfte es stets besonderer historischer Bedingungen,
damit Hochland und Tiefland enger zusammenfanden. Solche Bedingungen herrschten
wohl dauerhaft in grauer Vorzeit; davon legt die immer noch feststellbare, wenn
auch entfernte sprachliche Verwandtschaft zwischen Hochland und TieflandMaya
Zeugnis ab. So war es vielleicht auch eine kurze Zeit infolge des Flüchtlingsstromes
aus dem Hochland, der sich nach dem IlopangoAusbruch ins Tiefland ergoss. Die
Vorherrschaft von Teotihuacan in der mittelklassischen Epoche war ebenfalls
eine solche Zeit (Kapitel III), und wir werden im nächsten Kapitel eine weitere
kurze Kontaktperiode kennenlernen. Sonst aber blieben Hochland und Tiefland
einander meist fremd.
Niedergang und Neuorientierung im Nachklassikum
Fremde Eindringlinge
Das ausgehende neunte Jahrhundert ist im südlichen
Mesoamerika eine unruhige Zeit. Wellen mexikanischer Gruppen strömten zu
verschiedenen Zeiten und auf verschiedenen Wegen nach Süden und Südosten. Diese
Ereignisse waren offenbar so umwälzend und haben so tiefen Eindruck
hinterlassen, dass schriftliche Berichte aus der Kolonialzeit ausführlich davon
erzählen, obwohl das Geschehen zur Zeit der Niederschrift bereits 500 Jahre
zurücklag.
Der mexikanische Einfluss lässt sich aber nicht nur in
historischen Berichten und am Stil der Bau und Kunstwerke festmachen
(PhallusDarstellungen als Fassadenschmuck sind ein wichtiges Indiz), sondern im
ganzen MayaGebiet finden vermehrt Lehnwörter aus NahuaSprachen Zentralmexikos
Eingang. In Yukatan gab es sogar ein Herrschergeschlecht mit dem mexikanischen
Namen Tutul Xiw, das bei Ankunft der Spanier in Mani die Macht ausübte.
Die Fremden scheinen der Golfküste entlangziehend nach
Tabasco eingedrungen zu sein. Dort wurden sie zunächst durch enge Kontakte mit
den küstenbewohnenden ChontalMaya (so ihr mexikanischer Name), die in
Itzamkanak und Tixchel ihre Hauptsiedlungen hatten, geprägt und setzten die
Wanderung dann als PutunMayaMischgruppe (so ihr MayaName) fort. Im Verlauf von
vielleicht nur 50 Jahren wanderten sie von der Küste den Rio Usumacinta
aufwärts. Der Name dieses Stromes ist übrigens auch mexikanischen Ursprungs und
bedeutet ‚Affenfluss'. Die weitere Wanderbewegung können wir am Aussetzen
datierter Inschriften verfolgen, denn die letzten klassischen
Herrscherskulpturen mit Inschriften markieren vermutlich das erste Auftauchen
der neuen Machthaber. In Palenque hört die einheimische Königsherrschaft um 780
auf. Piedras Negras errichtet noch bis 795 Denkmäler. Der letzte Herrscher von
Yaxchilän, der im übrigen, ebenso wie der letzte verbürgte König von Piedras
Negras, in seinen Inschriften von besonders vielen Kriegstaten berichtet, starb
am 7. April 808, also wiederum nur 13 Jahre später. Mit dem Erreichen von
Yaxchilän zeichnet sich ein Umschwung in der Politik der eindringenden Putun
ab. Die nächsten Orte, die unter ihren Einfluss geraten, Altar de Sacrificios um
850 und Seibal zwanzig Jahre später, finden nämlich nicht ein abruptes Ende,
sondern sie erleben eine kurze Nachblüte, in der Elemente der PutunKultur und
der klassischen MayaKultur im Stelenkult verschmelzen oder nebeneinander
auftreten. Das muss man wohl als Zeichen relativ friedlicher Durchdringung
deuten. Als letzte Tieflandregion, vielleicht wegen ihrer Abgelegenheit von den
Hauptwasserstrassen, fällt der zentrale Peten um 890 dem Niedergang anheim.
Der Norden blieb anfangs von diesen Umwälzungen unberührt.
Zwar nimmt die Forschung aufgrund zahlreicher spätklassischer Stadtmauern an,
dass auch dort die Kleinstaaten sich bekriegten, doch ist das kein
ausreichendes Anzeichen für mexikanische Durchdringung, denn kriegerisch waren
auch schon die Fürstentümer der klassischen Epoche im Süden.
Das Beispiel Chich'en Itsa mag diese Kontinuität
verdeutlichen. Dort finden wir in den Bauten klassischer Prägung zahlreiche
Hieroglypheninschriften, die zwar nicht mehr einen einzelnen Herrscher
verherrlichen, die aber doch von den Bewohnern als Fürsten handeln und deren
Verwandtschaft und rituelle Pflichten nennen, ganz so, wie es früher auch im
Süden Brauch gewesen war, nur dass die Privilegien breiter gestreut sind. In
Chich'en Itsa finden wir diese traditionellen Verhältnisse etwa 50 Jahre länger
als im Süden. Dann, um 950, ist auch hier Schluss mit der inschriftlichen
Tradition, und der mexikanische Einfluss wird spürbar und schliesslich
überwältigend; was zur Folge hat, dass die bestimmende Rolle Chich'en Itsas ein
Ende findet und das Land zerfällt.
Die Putun oder Itsa, wie sie in indianischen Quellen aus der
Kolonialzeit auch genannt werden, dringen schliesslich auf dem Seeweg entlang
der Küste auch in den Norden der Halbinsel Yukatan vor. Die erste Chronik in
den Büchern des JaguarPriesters mag als Beleg dienen:
Dies ist die Folge der K'atune, seit sie ihr Land verlassen
haben, ihre Häuser in Nonoal. Vier K'atune waren die Tutul Xiw im Westen, in
Suyua. Das Land, woher sie kamen, war Tulapan Chikonawtlan. Vier K'atune
wanderten sie, bis sie hier ankamen mit Holon Ch'an Tepeuh und seinen Mannen.
Dann verliessen sie jene Gegend, als es 7 K'atun war. 6 ahaw, 4 ahaw, 2 ahaw:
81 Jahre. Im ersten Tun von 13 ahaw war es, als sie hier in dieser Gegend
ankamen. ... 8 ahaw war es, als sie Chich'en Itsa entdeckten.... 100 Jahre
regierten sie in Chich'en Itsa, und dann wurde Chich'en Itsa verlassen. Damals
geschah das DreizehnfacheFalten des K'atuns. Dann gingen sie, sich in
Chak'anputun niederzulassen. Dort hatten die Itsa, gläubige Menschen, ihre
Häuser.... 8 ahaw. Chak'anputun wurde verlassen. 260 Jahre wurde in
Chak'anputun die Herrschaft von den ItsaMenschen ausgeübt.... 40 Jahre. Dann
kamen sie, ihre Häuser zum zweiten Mal zu errichten, nachdem sie Chak'anputun
verlassen hatten. Dies sind die Jahre: 40 Jahre. In diesem K'atun 2 ahaw
richtete sich im Land Ah Suytok' Tutul Xiw in Uxmal ein. 2 ahaw, 13 ahaw, 11
ahaw, 9 ahaw, 7 ahaw, 5 ahaw, 3 ahaw, 1 ahaw, 12 ahaw, 10 ahaw. Ah Suytok'
Tutul Xiw liess sich nieder im Land, in Uxmal. 200 Jahre regierten sie im Land
von Uxmal zusammen mit dem Halach Winik von Chich'en Itsa und von Mayapan
Die Itsa gründen ihre Hauptstadt also zeitweilig in Chich'en
Itsa, der Name bedeutet einfach ,am Brunnen der Itsa`. Von dort werden sie aber
wieder vertrieben. In einer letzten Invasionswelle erreichen dann Tolteken
Yukatan. Nach zentralmexikanischen Berichten war ihr Reich in Tula um diese
Zeit zugrunde gegangen, und eine grosse Gruppe unter ihrem Priesterkönig
Ketsalkoatl, der in Yukatan K'uk'ulkan heisst, beides bedeutet ‚Federschlange',
war nach Osten geflohen und liess sich ebenfalls in Chich'en Itsa nieder. Die
Tolteken bauten die Stadt in grandioser Weise nach ihren Architektur und
Städtebauvorstellungen um. Mit der ChakmoolSkulptur als Opferaltar vor den
Pyramiden und auf den Tempelplattformen, mit den Schädelstätten für die Köpfe
der Geopferten und mit den Kriegerfriesen als Schmuck an Versammlungshallen und
Pyramidenwänden führten sie Elemente toltekischer Religion, Kunst und Bauweise
ein. Man vermutet, dass damit auch zugleich die Menschenopfer zunahmen und die
zentralmexikanische Institution der Kriegerorden ihren Einzug hielt. Allerdings
ist neuerdings wieder strittig, ob dieser toltekische Einfluss erst nach dem
Zusammenbruch der klassischen MayaTradition in Chich'en Itsa einsetzt oder ob
er sich zeitlich mit ihm überlappt. Letzteres meint der nordamerikanische
Archäologe Charles Lincoln aus seinen Grabungen in Chich'en Itsa folgern zu
können; und in der Tat gibt es einige Bauten im toltekischen Stil, die mit
klassischen MayaHieroglyphen verziert sind, wo sich also Äusserungen beider
Kulturen sichtbar mischen. Diese offensichtliche Klammerfunktion des Ortes
macht es für den Historiker schwierig, die einzelnen Phasen seiner Geschichte
aus dem archäologischen Befund abzulesen.
Die Eroberungen der Putun und Tolteken im Norden haben nicht
den verheerenden Effekt wie ähnliche Ereignisse im Süden. Im Gegenteil,
Chich'en Itsa erblüht zu neuem Glanz, und die grosse Insel Kusamil entwickelt
sich zum bedeutenden Handels und Pilgerzentrum. Der endgültige Niedergang
geschieht hier erst um 1240 mit dem Zerfall des Nordens in 13 sich bekriegende
Kleinstaaten und der weiteren Aufgabe ererbter künstlerischer und
zivilisatorischer Errungenschaften.
Werfen wir jetzt einen Blick auf das Hochland, das in dieser
Epoche dieselben Umwälzungen durchmacht und von sprach und stammesverwandten
MayaIndianern bewohnt wird. Dort werden zu den traditionellen Talsiedlungen der
spätklassischen Zeit jetzt vermehrt Fluchtburgen auf den Höhen angelegt oder
ausgebaut, und das geht mit einem merklichen Bevölkerungsrückgang einher. Die
Forschung nimmt an, dass auch hier das Eindringen fremder Gruppen im
Hintergrund steht und dass diese über die Einfallspforten des Rio Usumacinta und
seiner Quellflüsse, des Rio de la Pasiön und des Rio Chixoy, ins Hochland
gelangt sind, wie es ein unbekannter Indianer im Popol Vuh, der
Nationalgeschichte der Quiche, berichtet:
Von Tulan Suva ist nur der Brauch gekommen, des Essens sich
zu enthalten; immerzu taten sie fasten, warteten auf das Hellwerden, spähten
nach dem Sonnenaufgang. Sie wechselten sich ab, Ausschau nach dem grossen Stern
zu halten mit dem Namen ,Der die Sonne überhole; er steht dem Antlitz der Sonne
am nächsten, wenn der Tag geboren werden soll, der prächtige Vorläufer der
Sonne. Dorthin waren also immer ihre Blicke gerichtet, gen Sonnenaufgang, als
sie noch in Tulan Suvan weilten, wie der
Ort heisst, von dem ihre Götterbilder kamen.... „Dies hier ist nicht
unser Zuhause, lasst uns vielmehr aufbrechen zu sehen, wo wir uns niederlassen
können!" sagte nun Tohil. ... Sie brachen also auf. Etliche aber liessen
sie am Wege zurück, ja es gab Leute, die hier zurückbleiben wollten und
schliefen. Jeder einzelne Volksstamm aber erhob sich, immer wieder nach dem
Stern Ausschau zu halten, der die Sonne ankündigt.... Sie langten nun auf der
Höhe eines Berges an. Hier kamen alle QuichiLeute mit ihren Stämmen zusammen,
hier versammelten sie sich alle und trafen Vereinbarungen miteinander. Danach
wird der Berg heute genannt: ,Zur Vereinbarung' ist der Name des Berges. ...
Gemeinsam sprachen nun Tohil, Awilix und Hakawits zu Balamkitse, Balamaqab,
Mahukutah und Ik'ibalam: „Lasst uns bloss aufbrechen, stehen wir doch bloss
auf! Hier ist nicht unseres Bleibens: Bringt uns an einen versteckten Ort!
Schon naht das Frühlicht! Wäre es nicht beklagenswert für Euch, wenn wir von
Kriegsleuten gefangengenommen würden." ... Hier nun auf dem Berge
vermehrten sie sich, und hier entstand ihre Stadt, hier also weilten sie, als
nun wirklich Sonne, Mond und Sterne erschienen waren, als es Tag geworden und
erleuchtet worden war das Antlitz der Erde und die ganze Welt
Es ist jedoch ebenso möglich, dass einige Gruppen den
direkten Weg über Chiapas, also durch die Hochländer oder gar entlang der
pazifischen Küste genommen haben, Routen, die schon Jahrhunderte früher,
während der teotihuakanischen Vorherrschaft, von mexikanischen Einwanderern und
Händlern benutzt worden waren. Die schriftlichen Berichte sind nicht spezifisch
genug, um eine genaue Rekonstruktion der Stationen während der frühen Etappen
der Wanderung zu ermöglichen, wiewohl französische Archäologen, die dort seit
über zehn Jahren arbeiten, einige der in Quellen genannten Orte als Wüstungen
oder natürliche Formationen identifiziert haben.
Die spätesten dieser Einwanderer ins Hochland können wir
historisch in indianischen Überlieferungen fassen, die bald nach Ankunft der
Spanier im 16. Jahrhundert aufgeschrieben wurden. Hiernach stiessen
verschiedene Stämme, darunter die Quiche, kurz nach 1200 unter ihrem Führer
Balamkitse in die Gegend von Rabinal vor. Dort gewannen sie die entscheidende
Schlacht am Berg Hakawits, wodurch sich ihnen das Hochland öffnete. Das Popol
Vuh berichtet hierzu:
Balamkitse nun, Balamaqab, Mahukutah und Ik'ibalam, die
weilten auf der Höhe des Berges, Hakawits heisst der Berg. Dort weilten sie und
hatten auf dem Berge ihre Söhne in Sicherheit gebracht. Aber es waren ihrer
nicht viele, ihre Menge war nicht so gross wie die Menge der Stämme; und nur
klein war die Höhe des Berges, die sie verschanzt hatten: Das war ja der Grund,
warum die Stämme sie zu töten beschlossen hatten, als sie sich insgesamt
vereinigten, Ratsversammlung hielten und alle sich herbeiriefen.... Alsbald
erhoben sich sämtliche Krieger; in der Nacht den Überfall zu machen, planten
sie im Stillen, als sie losgingen. Aber dazu kamen sie nicht; sondern auf dem
Weg verbrachten alle Krieger die Nacht, und da nun wurden sie von Balamkitse,
Balamaqab und Mahukutah übertölpelt.
Die dadurch eingeleitete Überlagerung der altansässigen
MayaBevölkerung führte zu fünf militärisch streng organisierten Fürstentümern
mit den Merkmalen von Klassengesellschaften. Die Hauptstadt der Quiche war seit
etwa 1400 Q'umarkah, die der Mam Zakuleu, die der Cakchiquel Iximche', die der
Tzutuhi1Tsikinahay und die der Pokom Mixco Viejo.
Jedes Fürstentum wurde politisch von mehreren Grosssippen
geleitet; und diese Grosssippen stammten ihrerseits von den Kriegsanführern der
Einwanderungszeit ab. Die Repräsentanten der führenden Sippen wohnten in
grossen Sippenhäusern uni Plätze herum. Dort befanden sich auch die Schreine
ihrer Stammesgötter: Tohil, Awilix, K'uk'umats und Tepeuh. Erstaunlich schnell
passten sich die Eroberer sprachlich und teilweise auch kulturell der
alteingesessenen Bevölkerung an, so dass wir die nachklassische
Mischbevölkerung als QuicheMaya bezeichnen. Diese Fürstentümer lagen in
ständigen Kriegen miteinander, wobei die Quiche sich vor allem auf Kosten der
Mam und Cakchiquel langsam zur führenden Macht emporkämpften und ihr
Territorium vergrösserten.
Interne Ursachen des Niedergangs
Zur Zeit, als die Städte des Usumacinta erobert werden und
im Hochland von Guatemala kriegerische Fürstentümer toltekischer Abstammung
entstehen, oder sogar schon etwas früher, endet im ferneren Osten ebenso abrupt
die Herrschaft der Dynastien von Copän und Quiriguä. Dort können wir aber beim
besten Willen nicht vom Eindringen fremder, mexikanischer Krieger ausgehen. Es
muss also noch weitere Ursachen für den konzentrierten Verfall der klassischen
Maya gegeben haben. Denn wenn die einwandernden Mexikaner in relativ kleinen
Gruppen kamen und sich an wenigen strategisch wichtigen Orten niederliessen,
wie zum Beispiel in Chich'en Itsa oder auf dem Berg Hakawits, können ihnen
direkt solche umfassenden Wirkungen kaum zugeschrieben werden.
Schliesslich passt auch der dramatische Rückgang der
Bevölkerung im ganzen Tiefland nicht ins Bild kleiner Gruppen eindringender
Krieger. Hier fügt sich die These von Martin und Grube über internen Krieg ins
Bild, wenn man aus ihr folgert, dass zunächst eskalierende interne Kleinkriege
das MayaGebiet schwächten und damit die Einfälle von aussen ermöglichten. Eine
Folge davon war der Zusammenbruch internationaler Handelsnetze. Auf internationalen
Handel war die Herrscherschicht im Tiefland aber angewiesen, die viele
Rohstoffe (Obsidian, Quetzalfedern, Jade, Pyrit) für ihre Lebensgestaltung im
eigenen Territorium nicht besass. Sie konnte sich aber in ihren dicht
besiedelten Ländern durch Ausbeutung der Produktivkraft ihrer Bauern und
Handwerker und durch den Handel mit eigenen Erzeugnissen (z.B. Baumwolltuche,
Honig, Salinensalz, Keramik, Schneckengehäuse) die Mittel beschaffen, um durch
Fernhandel an die gewünschten Güter zu kommen. Wenn nun kriegerische
Ereignisse, zunächst im Innern und dann auch an den Grenzen, den Fernhandel
erschwerten und schliesslich weitgehend zum Erliegen brachten, hat die
Verteuerung der Einfuhren, verbunden mit drückendem Kriegsdienst, vielleicht zu
erhöhter Ausbeutung der Arbeitskräfte, zu Unzufriedenheit und in direkter Folge
schliesslich zu Arbeitsverweigerung oder gar zu Aufständen geführt. Solche
Revolten, der Kleinkrieg mit Nachbarn und die kriegerischen Einfälle von
Fremden mögen dazu geführt haben, dass die Gesellschaft zerbrach und der Adel
aufgerieben wurde.
Auf alle Fälle muss man den Prozess des Niedergangs der
klassischen Epoche als ein dynamisches und komplexes Netzwerk von Beziehungen
verschiedener Elemente und Entwicklungen sehen und dabei beachten, dass die
massgeblichen Faktoren nicht überall direkte Wirkung entfalteten, ihre
Vernetzung und die rückgekoppelten Beziehungen jedoch überall zur Verstärkung
von zerstörerischen Tendenzen führten, so dass schädliche Wirkungen, die
alleine betrachtet und unter anderen Begleitumständen von der Gesellschaft ohne
grossen Schaden überstanden worden wären, fatale Ausmasse erreichten.
3. Neue politische Strukturen in Yukatan
Um 1185 nahm die Herrschaft der Itsa von Chich'en Itsa unter
ChakXibChak ein jähes Ende. HunakKe'el, ein tatkräftiger Emporkömmling, der es
schon zum Herrscher von Mayapan gebracht hatte, wollte seinen Machtbereich
erweitern. Er verführte den Fürsten von Chich'en Itsa durch Zauber dazu, die
Braut des Herren von Isamal zu entführen. Daraufhin bekriegten sich die beiden
Städte, und HunakKeel zwang durch Eingreifen im rechten Moment und durch
mexikanische Söldner verstärkt beide unter seine Gewalt. Die Itsa verliessen
daraufhin Chich'en Itsa, und ein Teil entzog sich dem Zugriff des Siegers durch
Auswanderung nach Süden an den Ort Tan Xuluk Mul, der an einem der Seen von
Yaxhä oder Tayasal (der kolonialzeitliche Name bedeutet nichts anderes als ,bei
den Itsa`) lag. Am letztgenannten See wurden sie dann 500 Jahre später von den
Spaniern angetroffen .
HunakKeel oder seine Nachfolger, die den Familiennamen Kokom
führten, errichteten in Mayapan ein zentralisiertes Regime. Alle
Regionalfürsten hatten ständig dort am Hof zu weilen. Dadurch wurde den Kokom
die politische Kontrolle ihrer Vasallen erleichtert, und für den Fall, dass
dennoch eine Provinz aufbegehrte, hatte man in Mayapan ihren Herrscher als
Geisel in der Hand. Durch wiederholtes Herbeirufen mexikanischer Söldner
festigten sie bei Bedarf ihre Herrschaft, brachten aber dadurch auch die
eingesessene MayaBevölkerung gegen sich auf.
Mit dem politischen Umbau eng verknüpft war ein Wechsel im
Siedlungsgefüge, der zumindest einige bedeutende Städte betraf. Mayapan war
eine dicht bebaute und nach sozialen Schichten gegliederte Stadt von 425 Hektar
Grundfläche. Innnerhalb dieses von einer Stadtmauer umfriedeten Areals
beherbergte sie schätzungsweise 12 000 Menschen. Im Zentrum der Stadt stand der
im Vergleich zum Haupttempel in Chich'en Itsa bescheidene, aber jenem wohl
nachempfundene K'uk'ulkanTempel. Um ihn herum lagen die Häuser der Fürsten und
Priester, und zur Stadtmauer hin drängten sich die kleineren und einfacheren
Häuser der Gemeinfreien. Soweit aus den Bauresten geschlossen werden kann, ging
die Bedeutung der öffentlichen religiösen Kulte stark zurück. Als direkte Folge
davon ist der rasche Niedergang in Künsten wie Architektur und Bildhauerei und
wahrscheinlich auch in anderen Bereichen anzusehen, denn diese existierten
nicht losgelöst vom religiös motivierten Herrscher und Götterkult. Doch müssen
wir vorsichtig sein mit wertenden Schlussfolgerungen. Der Niedergang in manchen
Bereichen wurde vermutlich durch technische Verbesserungen auf anderen Gebieten
und durch Erleichterungen gesellschaftlicher Art kompensiert. Es kann also
durchaus sein, dass in der Bilanz. die Bevölkerung den Verlust der
Kulturleistungen gar nicht als Minderung der Lebensqualität empfand.
Das mayaGebiet im Nachklassismus
Nach 250jähriger Knechtschaft fand sich schliesslich unter
der Führung von AhXupan TutulXiw aus dem Herrscherhaus von Mani eine Gruppe
Unzufriedener zusammen, der es gelang, in einem entscheidenden Schlag alle
greifbaren KokomFürsten umzubringen. Nur einer entging dem Massaker, denn er
hielt sich gerade in Handelgeschäften in Hibueras auf. Mayapan wurde 1461 geplündert
und gebrandschatzt. Damit war das Ende des zentralistisch geführten Staates
besiegelt.
Mit dem gewaltsamen Ende der Vorherrschaft der Kokom in
Mayapan zerfiel, geopolitisch gesprochen, das ganze Gebiet des nördlichen
Yukatan. Sechzehn unabhängige Kleinstaaten bildeten nun in den Augen der
Zeitgenossen die politische Landschaft (s. Karte 4). Sie waren zum Teil
altüberlieferte Herrschafts und Einflussbereiche der dort ansässigen Fürsten,
zum Teil aber auch Neuschöpfungen der jüngsten Vergangenheit. So wird
berichtet, dass die grosse Provinz Ah Kanul im Zusammenhang mit dem Fall von
Mayapan einer Schutztruppe der besiegten Kokom zugewiesen und dann von ihnen
zur allgemeinen Zufriedenheit verwaltet wurde. Der Vorgang spielte sich etwa
folgendermassen ab: Jeder der neun Führer der Schutztruppe bekam ein BatabAmt
(Bürgermeisteramt) zugewiesen. Die übrigen BatabÄmter der Provinz blieben in
der Hand der Alteingesessenen, wie auch sicherlich die meisten untergeordneten
Posten. Ähnlich war die Provinz Ah K'in Ch'el entstanden. Hinter solchen
Änderungen der politischen Landkarte standen also keine Vertreibungen,
Umsiedlungen oder andere Zwangsmassnahmen grossen Stils, wie wir es aus der
jüngsten europäischen Geschichte und Gegenwart vielleicht vor Augen haben. Als
Vergleich bietet sich wohl eher Oberitalien im Spätmittelalter und der
Renaissance an oder die Kleinstaaterei in Mitteleuropa zur Zeit des
Absolutismus.
Die Beziehungen der Kleinstaaten untereinander waren alles
andere als friedlich. Da gab es traditionelle Erbfeindschaften, die aus der
Zeit von Mayapan herrührten. Sie teilten die Staaten in zwei Lager: im Westen
die Anhänger der Tutul Xiw, zu denen die Ah Kanul, Kehpech, Hokaba und Ah K'in
Ch'el zählten; und im Osten deren erbitterte Feinde, die Kokom von Sotuta.
Ihnen gesellten sich die Kupul und Kochwah zu. Chik
'in Ch'el im Norden und die Randprovinzen scheinen sich
beiden Fraktionen erfolgreich entzogen zu haben. Oft gab es
Streit zwischen zwei Nachbarn um die Grenzen, infolgedessen
es gelegentlich zu Kriegen kam. Ausser diesen Gründen war
ein immer wiederkehrender Kriegsanlass der Wunsch nach Gefan
genen, von denen man die Gemeinen als Arbeitssklaven
verWtaKt.e. Vät weiterverkaufte, Kindern und Adligen aber das
Privileg zukommen liess, bei religiösen 'Feiern geopfert zu
weiden. Dies war eine traditionelle Sitte, die womöglich Haupt
antrieb für die vielen Kriege der Kleinstaaten im südlichen
Tiefland während der klassischen Epoche gewesen war. Die im
Norden ans Meer grenzenden Kleinstaaten waren zusätzlich
gezwungen, ihre reichen Salzgewinnungsstätten gegen
habgierige Habenichtse aus dem Inland zu verteidigen und die Küstenschiffahrt
zu überwachen.
Die innenpolitische Struktur der Kleinstaaten lässt sich in
drei Typen beschreiben. Einmal gab es Staaten, die ein Halach Winik (,wahrer
Mensch') genannter Fürst von der Hauptstadt (kah) aus regierte. Sein Amt war in
männlicher Linie erblich, und er war gleichzeitig Batab, d.h. Bürgermeister,
seiner Hauptstadt. Alle anderen Batab seiner Provinz waren ihm untergeben, und
jeder Ort musste dem Halach Winik Naturalabgaben liefern. Je nach
Produktionsmöglichkeiten der Gegend waren es Truthühner, Honig, Baumwolldecken,
Schmuck, Salz und anderes. Übereinstimmend wird in den Quellen immer betont,
dass die Abgaben mässig waren und für die Bevölkerung keine besondere Belastung
darstellten. Aussenpolitik und Kriege waren die Hauptbeschäftigung des
Herrschers. Zu diesem Zweck konnte er jederzeit die wehrfähigen Männer zu den
Waffen rufen. Wer dem Einberufungsbefehl nicht folgte, musste als Ersatz
Abgaben leisten und wurde bei erfolgreichem Ausgang des Feldzugs nicht an der
Beute beteiligt. Gut die Hälfte der Provinzen wies diese Struktur auf, unter
ihnen die von den Nachfolgern der einst in Mayapan herrschenden Familien regierten
Staaten von Sotuta, wo die Kokom den Halach Winik stellten, und Mani, wo die
Tutul Xiw dieses Amt bekleideten.
Ein zweiter Typus der politischen Verfassung und vielleicht
eine unstabile Übergangsform hin zur eben geschilderten besteht darin, dass zwar
kein Halach Winik über die gesamte Provinz herrschte, dass aber die Mitglieder
einer einzigen Adelsfamilie die meisten BatabPosten innehatten. Das
Verwandtschaftssystem sorgte dann dafür, dass Konflikte friedlich beigelegt
wurden und man äusseren Feinden geschlossen entgegentrat. Auf diese Weise war
die Provinz AhKanul organisiert. In ihr hatte sich keiner der ursprünglichen
neun mexikanischen Führer zum Halach Winik aufgeschwungen; die Provinz war im
Laufe der Zeit unter den dominierenden Einfluss der nichtmexikanischen, d. h.
also wohl der alteingesessenen KanulFamilie geraten.
Die politische Verfassung des dritten Typs entbehrte
jeglicher gemeinsamen Führung und Koordination. Hier handelte jeder Batab auf
eigene Rechnung. Infolgedessen kam es auch innerhalb einer Provinz gelegentlich
zu Überfällen von einer Stadt auf eine andere, und nicht immer gelang es,
äusseren Feinden geschlossenen Widerstand zu leisten. Dass diese
unstrukturierten Gebilde dennoch als Einheit betrachtet wurden, mag im Fall der
Provinz Chik'in Ch'el auf das negative Abgrenzungskriterium zurückzuführen
sein, dass nämlich die Orte dieser Provinz der Eingliederung in die straffer
organisierten Nachbarstaaten entgangen waren.
Die Siedlungsstruktur dürfte sich seit dem Fall von Mayapan
in einem wesentlichen Punkt geändert haben. Grosse Städte mit einer auf engem
Raum konzentrierten Bevölkerung und Stadtmauern zur Verteidigung gab es nicht
mehr. Auch hatten nur noch einige Zeremonialzentren ihre überregionale Funktion
beibehalten, darunter Isamal, Mani, Chich'en Itsa und die vier Schreine auf der
Insel Kusamil. An diesen im ganzen Land gleichermassen verehrten Kultstätten
versammelten sich zwar gelegentlich grosse Scharen von Pilgern und Priestern,
doch wies keiner der Orte eine bedeutende permanente Bevölkerung auf, und auch
in ihrer Anlage waren sie keine Städte, wie es Mayapan, Chich'en Itsa und Tulum
früher gewesen waren. In jeder Provinz gab es mehrere Orte, die jedoch selten
mehr als ein paar tausend Einwohner beherbergt haben dürften. Ein solcher Ort
war Verwaltungs, Markt und Kulturzentrum für die umliegenden verstreuten
Gehöfte und Siedlungen. Diese Dezentralisierung spiegelt sicherlich den Verfall
zentraler Macht und den Niedergang der mit zentralen Herrschaftsorten
verbundenen EliteKultur wider. Verstärkend in Richtung Dezentralisierung wirkte
die zentripetale Kraft der MilpaWirtschaft, immerhin die Hauptbetätigung der
Bevölkerungsmehrheit.
Jedes Regionalzentrum war in vier endogame Ortsteile
gegliedert, deren jeder aus mehreren exogamen Patrilinien bestand. Für den
einzelnen bedeutete das, dass er mit der Geburt zur Gruppe der mit seinem Vater
direkt blutsverwandten Bewohner (der Patrilinie) gezählt wurde. Wenn er das
heiratsfähige Alter erreichte, musste er einen Ehepartner ebenfalls aus dem
Kreise seines Ortsviertels suchen (EndogamieGebot), jedoch mit der Vorschrift,
dass dieser einer anderen Patrilinie angehörte (ExogamieGebot). Diese Regeln
galten gleichermassen für Frauen und Männer. Die vornehmste Patrilinie eines
jeden Viertels bestellte einen Ah Kuch Kab, d. h. ,einen, der die Bürde des
Landes auf sich nimmt', also eine Art Ortsvorsteher. Die vier Ortsvorsteher
bildeten zusammen den Stadtrat, in dessen Führung sie sich turnusgemäss jedes
Jahr abwechselten. Der Ratsvorsitzende führte den Titel Hol Pop, was etwa ,Kopf
der Ratsversammlung' bedeutet. Versammlungen fanden in dem dafür gebauten
Rathaus, dem Popol Na statt. Ämterwechsel fand immer an MayaNeujahr statt (nach
unserem Kalender im Juli) und waren, wie die anderen Amtshandlungen auch, im
höchsten Grade zeremonialisiert und eng mit religiösen Festen verbunden. Dass
der gerade amtierende Hol Pop während seiner Amtszeit ein Gutteil seines
Vermögens in die Ausrichtung der Feste und Zeremonien investierte und auf diese
Weise umverteilte, können wir in Analogie zu heutigen MayaGemeinden annehmen.
Hol Pop und die anderen Ah Kuch Kab waren direkt den Weisungen des jeweiligen
Batab unterstellt.
Das BatabAmt selbst war in männlicher Linie erblich und dem
Adel vorbehalten. Da wir schon in den klassischen Hieroglyphentexten in
Verbindung mit den Namen regierender Fürsten von Stadtstaaten einen Titel Bate'
finden und dieses Wort bedeutungsverwandt mit dem yukatekischen Batab ist,
scheint das BatabAmt die Fortsetzung einer alten Tradition zu sein, was sicher
auch für andere Ämter und Institutionen gilt. Wie wir sahen, war es in
Provinzen, die von einem Halach Winik regiert wurden, oft mit einem Mitglied
seiner Familie besetzt. Gelegentliche Neubesetzungen der BatabStellen und die
Bestätigung neu antretender Batab waren für den Halach Winik sicherlich Mittel,
seine Politik auf lokaler Ebene durchzusetzen; allerdings ist das exakte
Funktionieren dieses Mechanismus nicht bekannt. Dem Batab unterstanden als
Vollzugsbeamte mehrere Ah K'ulel. Ausser Verwaltungschef und oberster Richter
war der Batab auch Militärführer, was in der erwähnten klassischen Hieroglyphe
seinen Ausdruck findet, in der ein Mann mit einer geschulterten (Kriegs)axt
abgebildet ist. Als Militärführer wurde der Batab von gewählten Hauptleuten,
den Nakom, unterstützt. Vermutlich muss man sich das organisatorisch
folgendermassen vorstellen: Dem Batab unterstand das Militärwesen global und
dauerhaft und in Friedenszeiten ausschliesslich und nur befristet, vielleicht
vornehmlich im Falle eines drohenden oder geplanten Krieges wurden Nakom
gewählt und als Hauptleute einzelnen Heeresabteilungen vorangestellt. Die
Einkünfte des Batab bestanden darin, dass die Gemeinde Ländereien für ihn
bewirtschaftete, die ihm einen hinlänglichen Lebensunterhalt sicherten. Alle
anderen erwähnten Ämter waren vermutlich unbezahlte Ehrenämter.
Die geschilderten Ämter und ihre Besetzung deuten bereits
an, dass die Maya eine in Schichten gegliederte Gesellschaft bildeten: Zuoberst
ist der Adel, almehen geheissen. Zu ihm zählte man durch Geburt, und ihm sind
alle wichtigen politischen und religiösen Ämter vorbehalten. Auch die
einträglichsten Wirtschaftszweige wie Fernhandel, KakaoPlantagen und die
Nutzung von Salinen dürften hauptsächlich in seinen Händen geruht haben. Für
seine Mitglieder gilt die Stadtviertelendogamie nicht; vielmehr sind die
herrschenden Adelsfamilien darauf bedacht, durch zielstrebige Heiratspolitik
ihren Einfluss in der eigenen Provinz und bei den Nachbarn verwandtschaftlich
abzusichern und auszuweiten. Auch diese Heiratspolitik des Adels ist bereits in
klassischer Zeit angelegt ge
wesen (wir hatten Beispiele in Kapitel IV kennengelernt).
Unter dem Adel stehen die Gemeinfreien, masehualo'ob, was übrigens ein Lehnwort
ist, das die Maya von den Mexikanern
übernommen haben und mit dem sie sich noch heute bezeich
nen. Die Gemeinfreien stellen den Hauptteil der Bevölkerung,
und diese Schicht zeigte ihrerseits Anzeichen interner Schich
tung. So wurden reiche Kaufleute als ayik'al hervorgehoben.
Zuunterst rangieren die Sklaven, p'entak. Sklave war man von
Geburt an, oder man wurde dazu durch Heirat eines Sklaven.
Auch bestimmte Eigentumsdelikte endeten für den ertappten
Verbrecher mit der Versklavung. Solche Sklaven bearbeiteten vor allem die pflegeintensiven
KakaoPlantagen des Adels und der ayik'al.
Die selbstbestimmte Geschichte nimmt ein Ende Spanier erobern das Land
1511 landeten die ersten Spanier in Yukatan. Es waren 13
armselige Schiffbrüchige der Expedition des Juan de Valdivia, die das rettende
Ufer erreichten und dann auf Gnade oder Ungnade den Indianern ausgeliefert
waren. Dann landeten erst wieder nach 1517 von Kuba kommende Expeditionen
planmässig und ohne Schiffbruch zu erleiden auf Kusamil und an der Küste von
Yukatan; zunächst Francisco Hernändez de Cördoba, dann Juan de Grijalva und
1519 schliesslich Hernän Cortes auf seinem Weg nach Mexiko. Cort8s kümmerte
sich um die seit Jahren in Yukatan festsitzenden schiffbrüchigen Spanier, von
denen offenbar noch zwei lebten. Einen von ihnen, Jerönimo de Aguilar, nahm er
auf, während der andere, Gonzalo Guerrero, sich weigerte, zu seinen Landsleuten
zurückzukehren und es vorzog, bei den Maya zu bleiben und ihnen in ihrem
Abwehrkampf gegen die Spanier beizustehen. 1536 ist er im Kampf gefallen.
Aguilar hingegen leistete Cort8s in der Folge wertvolle Dienste als
Dolmetscher.
Diese Expedition hielt sich, wie alle anderen vor ihr, nur
kurz in Yukatan auf und drang nicht ins Landesinnere vor, da Cort8s andere
Ziele als die Erkundung und Eroberung dieser Gegenden verfolgte. Er zog weiter
nach Veracruz und konzentrierte sich dort auf die Eroberung des
zentralmexikanischen AztekenReiches. Erst als ihm das 1521 gelungen war,
wandten er und einige seiner Mitkämpfer sich den südlich und südöstlich siedelnden
Völkern zu.
1527 stellte ein Veteran aus Cort8s' Truppe, Francisco de
Montejo, mit weitgehenden königlichen Privilegien und dem Titel
„Adelantado" ausgestattet, in Sevilla eine gut ausgerüstete Armada von
vier Schiffen und 400 Mann Besatzung auf, mit dem Ziel, Yukatan zu erobern.
Noch im gleichen Jahr landete er auf der inzwischen gut bekannten Insel
Kusamil. Von dort setzte er dann auf das gegenüberliegende Festland über.
Seine Erkundungen des Landes verliefen anfangs friedlich. In
Ekab genoss er sogar die tätige Unterstützung der Indianer. Doch schliesslich
musste sich Montejos Truppe zweimal gegen die inzwischen nicht mehr so
freundlich gesinnten Indianer energisch zur Wehr setzen. Mehr Schwierigkeiten
als die offene Feindschaft der Indianer machten ihm zunehmende Krankheit unter
den Soldaten und die Ernährung. Da die Spanier mit den Erzeugnissen des Landes
noch nicht vertraut waren, mussten sie sich von Indianern der Nachbarschaft
versorgen lassen. Weigerten sich diese, Lebensmittel bereitzustellen, was nach
längeren Aufenthalten regelmässig geschah, plünderten die Spanier Dörfer und
Felder. Dabei stiessen sie häufig auf den Widerstand der Bewohner. In anderen
Gegenden, zum Beispiel in Florida, hat dieses Versorgungsproblem und die daraus
sich entwickelnde Feindschaft zu den Einheimischen spanische Siedlungsversuche
völlig zunichte gemacht. In Yukatan hielten die Spanier zunächst jedoch aus.
Montejo überliess nach sechsmonatigem Aufenthalt die weitere Erkundung und
Eroberung der Ostküste seinem Untergebenen Alonso Dävila, auch er ein Veteran
von der Eroberung des AztekenReiches. Dävila stiess vor allem in Waymil und
Chaktemal auf entschiedene Gegenwehr und konnte sich schliesslich nicht mehr
halten. In einer verzweifelten Seefahrt an der Küste Yukatans entlang nach
Süden retteten er und die wenigen überlebenden Spanier sich nach Honduras.
Unterdessen versuchte ein Sohn des Adelantado, auch er hiess
Francisco de Montejo, von Westen her in Yukatan einzudringen. Die Provinzen
Chanputun und Kanpech zeigten sich anfangs zu friedlicher Unterwerfung bereit,
beteiligten sich aber schliesslich doch an einem allgemeinen Angriff auf die
spanische Gründung Salamanca de Campeche. Die gewarnten Spanier konnten sich
rechtzeitig verschanzen, die indianische Übermacht erfolgreich abwehren und im
Nachstoss wieder Ruhe an der Westküste schaffen.
Dieser Erfolg und die freundliche Haltung der Provinzen Ah
K'in Ch'el und Mani liessen den Plan aufkommen, im dichtbesiedelten
Landesinneren eine Stadt zu gründen, von der aus ganz Yukatan kontrolliert und
ausgebeutet werden sollte. Der Sohn des Adelantado zog daher 1532 ins Innere
und wurde von dem in der Nähe Chich'en Itsas ansässigen Batab freundlich
empfangen. Die Lage der damals schon verlassenen Stadt erschien den Spaniern
günstig. Deshalb gründeten sie dort ihre Stadt Ciudad Real. Baumaterial
beschafften sie sich aus den MayaRuinen, und ihre wirtschaftliche Versorgung
sicherten sie sich dadurch, dass sie die umliegenden Indianerdörfer in
Encomienden einteilten und von ihnen Tribut verlangten. Auch hier war der
Friede nicht von Dauer. Schon im folgenden Jahr griffen die umwohnenden
Indianer, von anderen Provinzen unterstützt, Ciudad Real an und zogen einen
Belagerungsring um die Stadt. Da es den 200 Spaniern in der eingeschlossenen
Stadt nicht gelang, die Belagerer zu vertreiben, und weil ihre Nahrungsmittel
zur Neige gingen, gaben sie eines Nachts ihre Stellung auf und entwichen im
Schutz der Dunkelheit durch die Linien der Feinde. Eine ganz ähnliche Taktik
hatte bereits Cort8s bei seinem Versuch, Mexiko zu erobern, erfolgreich
versucht. In Eilmärschen erreichten die Spanier fast unbehelligt die verbündete
Provinz Ah K'in Ch'el. Kurz vor Erreichen der Küste traf aus Campeche
Verstärkung ein, so dass beschlossen wurde, Ciudad Real in dem Küstenort
Ts'ilam neu zu gründen.
Inzwischen waren aber die Nachrichten von der Landung
Francisco Pizarros an der Pazifikküste Südamerikas und seiner Eroberung Perus
sowie vor allem die Kunde von den dort erbeuteten ungeheueren Schätzen an
Edelmetall nach Yukatan gedrungen. Viele Soldaten entschlossen sich daraufhin
zu desertieren. Trotz Strafandrohung verdrückten sich so viele Spanier aus dem
in Ts'ilam neugegründeten Ciudad Real, dass die Stadt aufgegeben werden musste
und sich die Verbliebenen nach Campeche absetzten. Doch auch Campeche blieb vom
PeruFieber nicht verschont; und 1534 wurde auch diese letzte Stadt der Spanier
in Yukatan auf Beschluss ihres Stadtrates geräumt. Die übriggebliebenen
Bewohner zogen sich nach Santa Maria de la Victoria am Rio Grijalva in Tabasco
zurück.
Erst im Jahre 1540 wurde von den kurz zuvor wieder
errichteten Stützpunkten Champotön und Campeche aus die Eroberung Yukatans
erneut begonnen. Nach den bitteren Erfahrungen der über zehnjährigen
erfolglosen Bemühungen gingen der Adelantado, sein Sohn und die anderen
Konquistadoren nunmehr planvoller, vorsichtiger und besser vorbereitet zu Werk.
Die Westküstenprovinzen und das angrenzende Fürstentum Mani wurden mit
diplomatischen Mitteln und fast ohne Kampf gewonnen. Mani stellte für die
Eroberung des Inlandes sogar eine ansehnliche Hilfstruppe zur Verfügung. Die
Fürsten von Mani hofften wohl insgeheim, auf diese Weise Rache an den Kokom
nehmen zu können. Jene hatten nämlich wenige Jahre zuvor, als die Spanier sich
aus Yukatan zurückgezogen hatten, auf einem Bankett fast die ganze Nobilität
aus dem Herrscherhause der Tutul Xiw, das in Mani regierte, umgebracht.
Nach vorgefasstem Plan sollten nun von Westen nach Osten
eine Provinz nach der anderen erobert und drei spanische Städte in ihnen
gegründet werden. 1542 konnte die erste Stufe des Plans durch die Gründung von
Merida am Ort der MayaStadt Tiho abgeschlossen werden. Nach blutiger
Unterwerfung von Sotuta, Kochwah und Kupul folgte 1544 die Gründung von
Valladolid im Herzen der Provinz Kupul. Die nördlich und östlich benachbarten
Provinzen Ekab und Kusamil erkannten daraufhin freiwillig die spanische
Oberhoheit an. Dagegen wurde gegen die sich erbittert verteidigenden südlich
gelegenen Staaten Waymil und Chaktemal ein grausamer Vernichtungsfeldzug
geführt, dessen siegreicher Abschluss durch die Gründung von Salamanca de
Bacalar besiegelt wurde. Damit war Yukatan erobert und fest in spanischer Hand.
Nachdem die Eroberung Yukatans abgeschlossen und Land und
Leute der eroberten Länder einigermassen bekannt waren,
wurde die provisorische Zugehörigkeit zu den übergeordneten
Verwaltungs und Rechtsbehören weltlichen und kirchlichen
Charakters, der Audiencia und dem Bistum, überprüft und de
finitiv festgelegt. Es ging dabei um die Frage, ob Yukatan
von Mexiko oder Guatemala aus zu verwalten sei, die beide schon
eine funktionsfähige spanische Verwaltung besassen. Nach
einigem Hin und Her setzte sich Mexiko als Zentrale durch. Auch ging man daran,
die kleineren territorialen Verwaltungseinheiten gegeneinander abzugrenzen.
Schliesslich versuchte die oberste spanische Behörde für die Kolonien, der
Indienrat in Sevilla, durch Inspektionen, Zensuserhebungen und die Anforderung
von Berichten Informationen zu bekommen, um dann Verordnungen zu erlassen, die
die gröbsten während und infolge der Eroberung entstandenen Missstände
abstellen und ungesetzliche oder für die Krone unwillkommene Machtanhäufung
wieder abbauen sollten. Die Sorge um eine ordentliche Verwaltung in den
amerikanischen Besitzungen war nämlich ein wahrhaftiges Anliegen des spanischen
Königs, auch wenn dem nicht immer Erfolg beschieden war. Diese
Konsolidierungsmassnahmen waren in Yukatan bis zum Jahre 1550 im wesentlichen
abgeschlossen. Die KonquistadorenFamilie der Montejos war entmachtet und zum
Teil enteignet worden, und an ihrer Stelle verwalteten königliche Beamte mit
dem Titel „Alcalde Mayor" oder „Gobernador" die Provinz.
Die Bettelmönche der Franziskaner hatten als einziger
Missionsorden in Yukatan eine regulare Ordensprovinz errichtet und sich bis
1563 dort in acht Klöstern organisiert: Izamal, Merida, Valladolid, Campeche,
Mani, Conkal, Homün und Calkini; nicht bedenkend, dass für deren ordentliche
Bemannung zu wenige Mönche aus Spanien kamen. So blieb die missionarische Betreuung
zunächst dünn und sporadisch. Dennoch wurden Ordenskapitel abgehalten und ein
Provinzial der Franziskaner gewählt. Als solcher hat sich Diego de Landa in der
Ausrottung „heidnischer" Gebräuche hervorgetan und seine diesbezüglichen
Kompetenzen so grosszügig ausgelegt, dass ihm darob der Prozess gemacht wurde
und er sich in Spanien rechtfertigen musste. Schliesslich bekam das säkulare
Bistum Yukatan, das seit der ersten Entdeckung pro forma bestand, 1562 einen
ersten residierenden Bischof in der Person des Francisco Toral, der aus dem
Franziskanerkloster von Tecamachalco in Zentralmexiko auf diesen Bischofsstuhl
berufen wurde. Obwohl damals und auch später die Bischöfe oft ehemalige
Franziskanermönche waren, lagen sie stets im Streit mit dem Orden über die Kompetenz
für Mission und christliche Versorgung der Indianer.
Die Versklavung von Indianern, die schon von den Montejos
nur ungern geduldet wurde, wurde aufgrund der Leyes Nuevas — sie galten für die
gesamten spanischen Kolonien in Amerika, nachdem sie 1542 erlassen worden waren
— weiter eingeschränkt. Auch das EncomiendaSystem, das die indirekte Ausbeutung
der indianischen Landbevölkerung durch einzelne Spanier (die
„Encomenderos") flächendeckend organisierte, unterlag nun schärferer
Kontrolle. So stabilisierte sich die politische und wirtschaftliche Lage
Yukatans rasch, und es wurden Institutionen geschaffen, die die ganze
Kolonialzeit über wirksam blieben.
2. MayaTraditionen im Untergrund
Erstaunlich ist im Rückblick auf die spanische Landnahme und
ihre Durchdringung des amerikanischen Kontinents, mit wie geringen menschlichen
Ressourcen die Kolonialherren erfolgreich und dauerhaft den Indianern die neue
christliche Lebensart aufzwingen und sie von ihren alten Sitten und Gebräuchen
abbringen konnten. Dennoch gab es überall, zumal im ländlichen Milieu und
fernab der Verwaltungszentren, Gruppen von Indianern und einzelne Individuen,
die nicht völlig ihren Traditionen entsagen wollten. So war es auch in Yukatan.
Hier ist es vor allem der Komplex aus Wahrsagerei, Krankenheilung und
landwirtschaftlichen Riten, der immer wieder Gelegenheit für die Ausübung
altindianischer Bräuche bot. Das geschah selbstverständlich möglichst unter
Ausschluss der Spanier, wenn auch durchaus unter Ausnutzung kultureller
Neuerungen, die man von ihnen inzwischen übernommen hatte.
So war nach der Vernichtung der traditionellen indianischen
Schriftlichkeit durch die Spanier — auch hier hatte sich Landa hervorgetan —
bald eine eigenständige indianische Literatur in lateinischer Schrift und auf
europäischem Papier entstanden. Diese handschriftlich verfasste
Untergrundliteratur heisst „Bücher des JaguarPriesters", benannt nach
einem Wahrsager (Chilam) namens Balam der in vorspanischer Zeit lebte und die
Ankunft der Spanier vorhergesagt haben soll. Die einzelnen Bücher basieren
weitgehend auf Abschriften eines Urmanuskriptes und wurden im Laufe der
Kolonialzeit mit weiteren Kapiteln angereichert, so dass sie schliesslich recht
unterschiedlich in Inhalt und Umfang wurden. Jedes dieser Bücher trägt in der
Forschung den Namen der Stadt oder des Dorfes, wo es zuletzt im Gebrauch
einheimischer Maya war. So sprechen wir vom Chilam Balam von Chumayel oder vom
Chilam Balam von Tusik und meinen damit nicht einen indianischen Priester,
sondern ein JaguarPriesterBuch aus Chumayel oder Tusik. Als Beispiel eines
solchen Wahrsagetextes folgt ein Auszug aus den Tagesprognosen nach dem Chilam
Balam von Käua:
Die Vorzeichen der 20 Tage, ihre Namen im Einzelnen: Osten:
lamat: Die Korallenviper, die Ente, der Hund sind seine Vorzeichen. Jaguarkopf
(und) Hundepo. Er unterbricht andere beim Reden. Er ist ein Plappermaul. Er
redet anstössig. Er ist ein Hasser. Er fügt anderen Schmerz zu.... Norden:
chuen: Zimmermann, Baumeister. Die Wanderameise ist sein Vorzeichen.
Handwerksmeister. Sehr reich auf allen seinen Wegen, sehr gut in allem, was er
tun wird, verständig auch. eb: Die Bergdrossel ist sein Vorzeichen. Ein
Steuereintreiber, ein Geldverleiher, ein guter Reicher, freigiebig, ein guter
Mensch, kein gewalttätiger Säufer, sehr gut auch. ... Westen: hyx:
Jaguarkrieger. Blutig ist sein Maul, blutig sind seine Krallen, fleischfressend
auch. Er frisst Fleisch, Mörder.... Süden: kawak: Der QuetzalVogel ist sein
Vorzeichen. Immer, wenn die Bürde des Jahres sich niederlegt, ist Krankheit
sein Weg. Der K'auilKakao ist sein Baum, der echte Kakao. Wirkliche Schreiber,
adliger Abstammung, Herr. ... ik': Winde sind sein Vorzeichen. Sehr schelmisch
ist sein Wind, Komet. Die Plumeria ist sein Baum. Ausschweifend auch, ein sehr lasterhafter
Mensch, schlecht ist sein Weg....
Der auch uns nicht fremde Versuch, aus dem Geburtstag oder
dem Tag eines wichtigen Ereignisses auf das Gelingen der daraus hervorgehenden
Unternehmungen oder auf das Lebensschicksal zu schliessen, steht hier strukturierend
im Hintergrund und ist noch ganz in den MayaKalender eingefügt. In diese
Wahrsagung werden ausserdem die vier Himmelsrichtungen einbezogen, und oft
finden auch heilige Bäume Erwähnung. Es gibt aber auch Europäisches in diesen
Büchern, zum Beispiel die erbauliche Geschichte von einer klugen Königstochter
namens Teodora, die alle Gelehrten ihrer Zeit übertrifft. Ihre literarische
Urheimat ist Byzanz. Die Bücher des JaguarPriesters sind eben synkretistische
Erzeugnisse.
Eine weitere wichtige Kategorie traditioneller indianischer
Literatur sind Zaubersprüche. Bei ihrer Anwendung geht es dem Zauberpriester
nicht primär um die Erforschung der Schicksalsbestimmung eines Menschen, wie im
vorangegangenen Beispiel, sondern um die Heilung einer akuten Erkrankung, wie
der Spruch für erotische Besessenheit zeigt:
Ein Mensch redet wirr, weil er Fieber hat. Er spürt in sich
das Verlangen zu flüchten, weil er wahnsinnig ist. Der grosse 4 Ahaw ist der
Tag, an dem dieses Leiden ausgerottet wird. Also begannen sie allmählich
aufzutauchen. So wurden sie geboren, sie wurden gezogen, sie wurden geschaffen.
Angesammelt waren der rote Saft und der weisse Saft. So wurde geboren das
männliche Glied und die weibliche Scham. So wurde geboren die Schamritze. Mit
ihr dann hat er kopuliert. Er fängt an heiss zu atmen und mit ihr zu
kopulieren. Was für Zeichen habe ich denn genommen für das rote menschliche
Stück, für das weisse menschliche Stück?
Dreizehnmal muss er sich drehen und sich himmelwärts wenden,
um nüchtern einzunehmen das rote ChichibeKraut, den roten Tabak und den weissen
Tabak. Ich habe sie bestimmt. Das sind seine Zeichen: Die rote BacalchePflanze
und die weisse BacalchePflanze. Die entsprechenden Zutaten habe ich
eingetaucht, damit er sie geniessen kann. Der SaknikteBaum trägt sein Wesen
bei. Der SabaknikteBaum trägt sein Wesen bei. Die gelbe Cochinille trägt ihr
Wesen bei. Dazu habe ich sie eingetaucht in den Saft des ChichibKrautes und in
den Saft des SaknikteBaumes, damit er sie trinke. Hör mal! Ich werde deine
Wirkung aufheben, Herr verhutzeltes Windmännlein, und deine erotische
Besessenheit!
Beide müssen für den (kranken) Menschen angerufen werden. Er
redet ganz wirr, er flüchtet, getroffen von einem bösen Wind. Das wird für ihn
zur Heilung gesagt.
Zweimal müssen sie gerufen werden. Dann fängt einer an,
seine Zunge bluten zu lassen mit dem Dorn der SisalAgave. Und dasselbe muss man
mit der Mitte des Rückens machen. Dann muss man ihn mit Wasser übergiessen, bis
er von Wasser trieft. Amen.
Der rituelle Spezialist, der mit solchen Zaubersprüchen
Kranke heilt, heisst Hmen; und es sind auch heute noch in Yukatan einige Hmen
tätig. Sie beschränken ihr Wirken nicht auf Krankheiten einzelner Menschen,
sondern können auch zu Hilfe gerufen werden, wenn der Bienenstock von einer
Seuche befallen ist oder wenn das Getreide auf dem Feld nicht wachsen will. Und
gerade in ländlichen Gegenden gibt es auch noch Gemeinschaftsriten wie die
ChachaakZeremonie zur Erflehung der er sten Regen, wo die ganze
Dorfgemeinschaft zusammenkommt und kraft spiritueller Autorität, traditioneller
Riten und der Macht des Zauberspruches sich den Segen der Götter erfleht.
3. Tayasal fällt den Spaniern zu
Die von Spaniern im 16. und 17. Jahrhundert kolonisierten
und cbristianisierten Gebiete grenzten im Innern Yukatans und auf der
Tieflandabdachung Guatemalas immer noch an Indianerland, das nie erobert und
somit nie der spanischen Wirtschaft und dem Verkehr erschlossen worden war. Für
die Bewohner der hier angrenzenden Gebiete, christliche Indianer ebenso wie
Spanier, bestand daher ständig die Gefahr von Überfällen der unabhängigen
Indianer auf ihre Grenzsiedlungen, in deren Folge Dörfer zerstört und Einwohner
verschleppt oder getötet wurden.
Unter diesen Umständen war eine dauerhafte Festigung der
spanischen Herrschaft und der christlichen Macht nicht zu erreichen. Daher
wurden als Gegenmassnahmen zwei Strategien angewandt: Die erste war, die Grenze
durch Eroberung weiter ins Landesinnere vorzuschieben, so dass das
augenblickliche Grenzland befriedetes Hinterland wurde. 300 Jahre später werden
wir dieselbe Reaktion auf die Bedingungen der Grenzlage auf dem
nordamerikanischen Kontinent erleben, wo die Vereinigten Staaten ihre
Westgrenze beständig ins Indianerland vorschieben. Die zweite Strategie war, dass
die zerstreut siedelnden Eingeborenen in den gerade unterworfenen Gebieten an
einigen gut erreichbaren Orten konzentriert wurden, wo sie unter ständiger
kirchlicher Aufsicht und militärischer Bewachung standen.
Das südliche Tiefland und das angrenzende Hochland in der
frühen Kolonialzeit
Eroberungen sollten für die Krone und den Eroberer selbst
Gewinne an Bodenschätzen, landwirtschaftlichen und handwerklichen Produkten und
billige Arbeitskräfte einbringen. Die Missionierung sollte möglichst viele
Seelen den Händen des Satans entreissen und der alleinseligmachenden Kirche
zuführen. Beide Ziele waren im Wertsystem der Spanier so fest verankert, dass
sich immer wieder Männer fanden, die bereit waren auch unter grossen Opfern und
Risiken solche Unternehmungen durchzuführen. Im Falle des südlichen Yukatan und
angrenzenden Pet6n wird ein in Dokumenten immer wieder auftauchender weiterer
Grund genannt: Ziel der Eroberung sollte es sein, Landverbindungen zwischen
Yukatan und Guatemala und zwischen Chiapas und Honduras zu schaffen. Solche
Landverbindungen würden den durch Piraten, Riffe und Stürme gefährlichen und
beschwerlichen Seeweg um die Halbinsel Yukatan entlasten und wären auch kürzer.
Ein Gutachten des königlichspanischen Sachbearbeiters
Antonio de Leön Pinelo von 1639 dokumentiert die genannten Ziele und Motive und
die Bedeutung, die man ihnen von offizieller Stelle in Spanien beimass. Leön
Pinelo befürwortet darin die dem Indienrat vorgelegten Anträge auf Eroberungs
und Pazifikationserlaubnis für einen Grossteil des Landesinneren seitens eines
unternehmungslustigen Privatmannes mit der Begründung, dass dadurch folgende
wünschenswerte Ziele erreicht würden:
1. Bekehrung von
über 10 000 Heiden,
2. Schutz für die
bereits bekehrten Indianer,
3. Verhinderung
der Flucht bekehrter Indianer,
4. Vergeltung der
angerichteten Schäden,
5. Beseitigung
einer unabhängigen Enklave im spanischen Herrschaftsgebiet,
6. Erwerb
landwirtschaftlich produktiver und entwicklungsfähiger Gebiete,
7. Ermöglichung
einer Landverbindung zwischen Guatemala, Yukatan und Tabasco zur Erleichterung
von Handel und Verkehr,
8. Staatseinnahmen
durch Tribute, Steuern und Nutzung der Salzquellen.
Es nimmt nach dieser Schilderung nicht wunder, dass im
Zeitraum von 1550 bis 1700 50 Entradas (so nannte man solche Expeditionen) in
das Landesinnere unternommen wurden. Dazu gehören die von Don Pablo Paxbolön,
dem indianischen Kaziken von Tixchel, seit 1570 durchgeführten
Militärexpeditionen, in denen er erfolgreich flüchtige Indianer aufspürte und
in der Nähe von Tixchel ansiedelte. Neben dem offiziellen Auftrag, die
Flüchtlinge der spanischen kirchlichen Aufsicht wieder zuzuführen, ging es ihm
aber hauptsächlich um die Erweiterung seines Einflusses und vielleicht auch
seiner Einkünfte. Viele Entradas sind aber von unbewaffneten
Missionarsexpeditionen unternommen worden und nahmen einen friedlichen Verlauf.
Vor allem die Lakandonen und Manche waren häufig Ziele solcher Unternehmungen.
Gelegentlich geschah das sogar in Konkurrenz mit entsprechenden militärischen
Vorhaben, eine Idee, die gerade hier von dem Vorkämpfer für die Lebensrechte
der Indianer, Bartolome de Las Casas, bei seinen dominikanischen Ordensbrüdern
durchgesetzt wurde. Sie scheiterte jedoch kläglich, denn die Gewaltbereitschaft
auf beiden Seiten, der indianischen und der der spanischen Zivilregierung, war
nicht zu bändigen. Las Casas' Überlegung war, dass, wenn die Indianer
missioniert waren, es keine Rechtsgrundlage mehr dafür gab, sie militärisch zu
unterwerfen und dabei als Entgelt für das gefahrvolle Unternehmen von der
spanischen Krone einen Teil des zu erobernden Landes und seiner Indianer zur
eigenen Nutzung (und dem unweigerlich daraus resultierenden Missbrauch)
zugewiesen zu bekommen. Bei einem solchen Präventivunternehmen hatte der Franziskaner
Diego Delgado in Tayasal sein Leben eingebüsst. Ein Kazike der Verapaz
fand sich jedoch bereit, den Überfall zu rächen. Er führte
einen Feldzug gegen die Lakandonen im Tiefland, in dessen Folge er
80 Feinde henkte und über 100 ins Hochland verschleppte. Die
Instrumentalisierung Einheimischer gegen ihre eigenen Landsleute ist also auch
hier, wie in späteren Kolonialunternehmungen der Europäer, bereits
verwirklicht.
Es gab ausserdem kombinierte missionarischmilitärische
Entradas. Die Rolle der Missionare war es dabei, vor Eröff
nung der Feindseligkeiten zu versuchen, eine friedliche und
freiwillige Unterwerfung des Gegners zu erreichen. Gelang
das nicht, so hatten sie nach erfolgtem Sieg über den Gegner für sofortige
Bekehrung der Überlebenden zu sorgen. Ausserdem hal
fen sie den Heerführern bei der Festigung der Moral und des
Kampfeswillens der Soldaten, indem sie im voraus Absolution von beim Kampf zu
begehenden Sünden erteilten, die Gottgefälligkeit der Entradas behaupteten und
damit verbundene Segnungen geistlicher Art versprachen. Ein solches Unternehmen
war der aufwendige Feldzug gegen die Itsa in den Jahren 1695 bis 1697. Von
Süden und Norden zogen damals mehrere Heere, jedes von in der Heidenmission
erfahrenen Mönchen begleitet, auf die ItsaHauptstadt Tayasal zu. Nach
verschiedenen vergeblichen Anläufen und Verhandlungen mit den Itsa wurde
Tayasal 1697 erfolgreich im Sturm genommen, worauf die Mönche unter den
Überlebenden das Christentum predigten.
Der Erfolg jahrzehntelanger Bemühungen um die Eroberung und
Befriedung der inneren Landstriche stellt sich mit der Vernichtung des letzten
organisierten MayaStaates durch Martin de Ursüa y Arizmendf für die Spanier nur
in einer Hinsicht ein: In der Folgezeit blieben die angrenzenden Provinzen von
Überfällen und Kämpfen weitgehend verschont. Die verbliebenen unabhängigen
Indianer, darunter vor allem die Lakandonen, waren zu wenige an Zahl und
verfügten über keine intakte politische Organisation mehr. Die spanische
Herrschaft über die meisten eroberten Gebiete blieb hingegen nominell, da die
Dezimierung der Bevölkerung durch Krieg, Seuchen und die Überführung der
Verbliebenen in Orte des guatemaltekischen Hochlandes rasch zur fast völligen
Entvölkerung dieser Landstriche geführt hatte.
War dieser langfristige Misserfolg für die Spanier auch ohne
weiteres zu verschmerzen, so wiegt kulturgeschichtlich viel schwerer, dass mit
der Eroberung Tayasals eine grossartige eigenständige Kultur für immer
vernichtet wurde und weitgehend undokumentiert dem Vergessen anheimgefallen
ist. Was die Forschung aus Bodenfunden, Archivakten und mündlichen Traditionen
heutiger Maya zusammenzutragen und zu rekonstruieren versucht, ist doch nur ein
geringer Teil dessen, was die glanzvolle Kultur der Maya einst ausmachte.
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