Die Inka Culture von Selzer-McKenzie SelMcKenzie
Video: http://youtu.be/AviCUeK1h4I
Als die Spanier im Jahre 1535 in Peru landeten, entdeckten sie ein Gebiet, das Teil eines vollendeten politischen Gemeinwesens war. nämlich das Reich »Tahuantinsuyu« mit seiner Hauptstadt Cusco.
Das 16. Jahrhundert ist zugleich ein Wendepunkt in der Geschichte Perus. Mit der Ankunft der Spanier zerfällt eine durch Jahrtausende gereifte Lebensweise und wird durch eine okzidentale Form ersetzt. Mit dieser Wende beginnt eine geschichtliche Etappe, an deren Erforschung man üblicherweise durch Überprüfung schriftlicher Quellen herangeht. Durch das Fehlen solcher Unterlagen für die vorhergehenden Perioden sind diese eindeutig der Archäologie zuzuordnen. Die Berührung zwischen Spanien und Tahuantinsuyu war besonders heftig, besonders von seiten der Fremden, die alles zerstörten, was sich ihnen in den Weg stellte, nur um sich dieses Reiches für ihre kolonialen Zwecke bemächtigen zu können. Dies hatte nicht nur die rapide Vernichtung der herrschenden Elite einer autochthonen Lebensweise zur Folge, sondern auch das Verschwinden aller kulturellen Errungenschaften der Eingeborenen. Durch die Verfolgung der Weisen in den Anden —die man der Hexerei anklagte — wurden jahrhundertealte Kulturen ausgelöscht und die Bewohner gezwungen, ihre Kenntnisse zu verheimlichen oder sie innerhalb der kolonialen Institutionen zu verschleiern.
Diese besondere historische Situation verhindert auch einen unmittelbaren Zutritt zur Kultur der Andenvölker. Die erste Beschreibung stammt von spanischen Soldaten, Beamten oder Geschichtsschreibern, die an der Conquista teilnahmen und die, ganz abgesehen von den durch ihre Zwischenstellung auferlegten Schwierigkeiten, gar nicht in der Lage waren, eine Lebenswirklichkeit zu verstehen, die so fremd war wie jene der Andenvölker. So entstand also das Wissen um das »alte Peru«, das schon in weniger als einem Jahrhundert zum »Altertum« wurde — so jedenfalls wurde es bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von den »Chronisten Indiens« bezeichnet. Wir wissen nicht, ob Tahuantinsuyu im Jahr 1535 sechs, acht oder vielleicht achtzehn Millionen Einwohner hatte; da es aber 50 Jahre später nur mehr höchstens eine Million war, ist es verständlich, dass die wenigen Augenzeugen der vorspanischen Zeit nicht mehr als ausreichende Informanten über eine Geschichte gelten können, die als Zeugen nichts als zerstörte oder verlassene Städte, Gräber oder andere Reste bietet, die nur mehr Archäologen verstehen.
Die ersten Quellen, die sich mit dem alten Peru befassen, sind die spanischen Dokumente aus dem 16. Jahrhundert. Einige von ihnen befassen sich mit der Beschreibung des Inkareiches, die meisten jedoch schildern das Leben und die Kämpfe der Konquistadoren. Unter diesen heben sich die Chroniken des Pedro Cieza de Leön und des Juan de Betanzos und, etwas später, die des Mestizen Garcilaso Inca de la Vega ihres Inhalts wegen von den übrigen ab. Im Auftrag der Kolonialverwaltung wurden Berichte, wie jene des Sarmiento de Garnboa, zur Rechtfertigung der Kolonialherrschaft geschrieben. Nach 1600 wurde eine weitere Reihe von Darstellungen verfasst, die, schon lange nach der TahuantinsuyuZeit, Zeugnisse über alte Einrichtungen und andere Kulturelemente enthalten und deshalb heute für den Völkerkundler von Bedeutung sind. Die bemerkenswertesten Dokumente sind diejenigen, die im Zusammenhang mit der »Ausrottung der Götzendienerei“ geschrieben wurden und die Systeme und Arten der Kulte und des Glaubens schildern, die ohne diese Berichte unrettbar verloren gegangen wären.
Das 18. Jahrhundert und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zehren ausschliesslich von dem, was in den vorhergehenden Perioden geschrieben wurde. Man verwendete das Wissen über die Sozialstruktur der Inkas zur Unterstützung bei den Debatten, die sich im Zuge der Industriellen Revolution in Europa ergaben. Während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine neue Art der Kenntnis des alten Peru, die mehr von einem Gefühl der Neugier und der Exotik als von historischen Unterlagen geprägt war und die auf den Untersuchungen der baulichen Überreste beruhte. Die Pioniere dieser neuen Zeit — und in gewissem Sinn die Begründer der peruanischen Archäologie — waren europäische Reisende, die Peru, das damals gerade von Spanien politisch unabhängig wurde, durchwanderten. Zweifelsohne muss das Werk »Antiguedades Peruanas«, das der Peruaner Mariano E. de Rivero gemeinsam mit dem Schweizer J. J. Tschudi geschrieben hat, als das erste dieser Art angesehen werden. Es erschien 1851 in spanischer und 1853 in englischer Sprache.
Zehn Jahre später — zwischen 1863 und 1865 —reiste der Nordamerikaner Ephraim George Squier durch Peru, mit der Absicht, die Überreste einer alten Zivilisation zu besuchen; man geht nicht fehl, ihn für den ersten zu halten, der seine Beobachtungen mit den Augen eines Archäologen machte, als er versuchte, von den noch vorhandenen Resten ausgehend eine historische Rekonstruktion zu machen. Er verzeichnete die wichtigsten Monumente, die er besuchte, photographierte, zeichnete Pläne und führte sogar archäologische Ausgrabungen in Pachacamac durch. Tatsächlich sind dies die ersten Arbeiten archäologischer Natur, da bis zu diesem Zeitpunkt sämtliche Ausgräber nur eines im Sinne hatten, nämlich Schätze zu suchen. Mit diesem Ziel erfolgten die Grabungen seit dem 16. Jahrhundert. Squier veröffentlichte verschiedene Artikel über seine Erlebnisse und seine Überlegungen, aber das meiste wird in seinem Werk »Peru, Incidents and Travels in the Land of the Incas«, erschienen 1877, vorgelegt.
Zur selben Zeit, zwischen 1871 und 1872, führte der britische Konsul Thomas J. Hutchinson an der peruanischen Küste ebenfalls Beobachtungen und Ausgrabungen durch, ohne jedoch die gleichen Resultate wie Squier zu erzielen. Er verfasste seinen Reisebericht mehr vom anekdotenhaften als vom wissenschaftlichen Standpunkt aus. Ein Jahr später reiste Charles Wiener quer durch Peru, grub an verschiedenen Stätten und stellte im Auftrag der französischen Regierung für Frankreich bestimmte Sammlungen zusammen. Sein Buch »Krou et Bolivie« (1880) leidet zwar unter einigen Ungenauigkeiten, gibt aber sehr nützliche Hinweise auf Monumente und Funde. Auf dieselbe Weise, wenn auch präziser in seinen Aufzeichnungen, bereiste Ernst W Middendorf in den Jahren 1886 bis 1888 Peru und veröffentlichte ein ausgezeichnetes Werk in drei Bänden unter dem Titel »Peru«. Dazu brachte er noch gleichzeitig ein sechsbändiges Werk über die Sprachen Quechua, Aymara und Yunga heraus.
Im Zuge des Eisenbahnbaus in den Jahren 1869 und 1870 wurden hei Ancön, nördlich von Lima, ausgedehnte Friedhöfe gefunden; dies war nicht nur der Anlass für gewaltige Plünderungen der vorkolonialen Gräber, sondern gab auch den Anstoss für die ersten systematisch durchgeführten Gra bungen, die in der Folge für die peruanische Archäologie charakteristisch wurden.
Die deutschen Geologen Wilhelm Reiss und Alphons Stübel führten zwischen 1874 und 1875 die Ausgrabung im Gräberfeld von Ancön fort. Der dabei entstandene Bericht ist der erste seiner Art.
Einige Jahre später führte der schwedische Archäologe Knut H. Stolpe weitere Ausgrabungen in der Gräberzone durch; leider wurden seine Grabungsergebnisse nie veröffentlicht, sondern sind überhaupt verschwunden. Dasselbe Schicksal erlitten die Berichte des Amerikaners George A. Dorsey, der zwischen 1891 und 1892 in Ancön grub; sie sind verschollen; und seine Doktorarbeit über Ancön, die er an der Universität Harvard im Jahr 1894 vorlegte, wurde nie gedruckt.
Während dieser ganzen Zeit hat man das Material aus dem peruanischen Altertum ständig den Inkas zugeordnet, obwohl man sehr wohl wusste, dass es eine »PräInka—Periode gab. Die Anstrengungen von Squier und Middendorf gingen nie über Hypothesen hinaus.
So ist allgemein anerkannt, dass die wissenschaftliche peruanische Archäologie mit dem deutschen Archäologen Max Uhle beginnt, der mit stichhaltigen empirischen Beweisen das Vorhandensein nicht nur einer, sondern gleich mehrerer VorInkaPerioden belegt.
Uhle begann sein Studium der peruanischen Archäologie, noch bevor er das Land überhaupt kannte. Seine Begeisterung für diese Kultur begann im Verlauf seiner Kontakte mit Reiss und Stübel, die bereits in Peru gearbeitet hatten. Ende 1876 machte sich Stübel in Tiahuanaco Notizen, mit deren Hilfe Uhle einen ersten Bericht über dieses Gebiet ausarbeitete, den er 1892 veröffentlichte, mit einer These über das mögliche Alter von Tiahuanaco. Diese These stützte sich nicht nur auf Mythen und die von den spanischen Chronisten überlieferten Kommentare — die wohl feststellten, dass Tiahuanaco schon vor den Inkas existiert hatte —, sondern auch auf Beweise stilistischer Natur.
Uhle unternahm seine erste Reise in die Anden gegen Ende des Jahres 1892. Er brach von Argentinien aus auf und arbeitete dann in Bolivien, wo ihm die örtlichen Behörden die Erlaubnis für Grabungen in Tiahuanaco verweigerten.
Die Arbeiten Uhles in Peru setzten 1896 mit den Ausgrabungen von Pachacamac ein. Hier bewies er die stratigraphische Lage von Gebäuden der Inka Periode über Gräbern, die Keramiken und Textilien enthielten, deren Schmuckmotive denen von Tiahuanaco glichen. Damit bestätigte er den zeitlichen Unterschied zwischen den beiden Kulturen.
Uhle kehrte 1899 nach Peru zurück und setzte seine Arbeiten mit kurzen Unterbrechungen bis 1911 fort. Seine intensivste und erfolgreichste Tätigkeit lag aber in der Zeit zwischen 1899 und 1905. 1906 wurde er Direktor der archäologischen Abteilung des Nationalmuseums in Lima, mit mehr bürokratischen Verpflichtungen als Möglichkeiten zur weiteren Forschung.
Uhle grub hauptsächlich an der Küste, in den Tälern von Moche, Supe, Chancay, Rimac, in der Bucht von Ancön, in Chincha, Ica und Nasca sowie an anderen, weniger bedeutenden Stätten. Seine Studien befassen sich vorzugsweise mit der Freilegung von Begräbnisstätten und der Untersuchung von Gebäudekomplexen.
Von hier bezog er seine Informationen, besonders auf Grund von Grabbeigaben in Form von Keramiken und Textilien sowie auf Grund von chronologischen Beweisen stilistischer Art. Er stützte sich gelegentlich auf Angaben in den Gräbern, ohne sie jedoch tatsächlich zu nutzen oder sie ausreichend zu beschreiben.
Er stellte eine Sequenz von vier Perioden auf, nämlich der bereits bekannten InkaPeriode, der TiahuanacoPeriode, die von jener der Inka durch eine Zwischenzeit getrennt ist, und einer allen anderen vorangehenden Periode, die einige Kulturen lokalen Charakters zusammenfasst und die er ProtoChimü, PibtoChincha, ProtoNasca und ProtoLima nannte. Ausserdem führte er eine neue Periode, nämlich die Primitiven Fischer« ein, die wiederum allen übrigen Zeiten voranging und teilweise mit den »Proto«Perioden zeitgleich verlief und deren Funde hauptsächlich aus den Muschelhaufen von Ancön und Supe stammen.
Dank der Uhleschen Sammlungen und der begleitenden Angaben über die Herkunft der Objekte sowie einiger zusätzlicher Anmerkungen war es nach Uhles Tod einer Gruppe amerikanischer Archäologen unter der Leitung von Alfred L. Kroeber möglich, das im Museum der Universität von Kalifornien, Berkeley, lagernde Material zu studieren. Das Team untersuchte die chronologischen Hypothesen des deutschen Archäologen und prüfte die analytischen Methoden, die auf der Assoziation von Kontext und Stilarten beruhten. Somit ergab sich eine Aufeinanderfolge von drei Perioden: einer frühen, die den »Primitiven Fischern« und »ProtoKulturen« von Uhle entsprach; einer mittIeren, entsprechend dem Tiahuanaco von Uhle; und einer späten, die die weitere Entwicklung und die Inka umfasste.
Gesamtansicht Kotosh: Tempel von KotoshMito, KotoshTemplo Blanco und Templo de las Manos Crzadas (der gekreuzten Hände)
Ende der zwanziger Jahre war die Chronologie also festgesetzt, und zwar so gut, dass sich die Wissenschaftler in den 30er Jahren nur in diesen Begriffen ausdrückten und nicht mehr in der vereinfachenden und vagen Bezeichnung »VorInkaPeriode«. Das Grundproblem, nämlich die Herkunft der Inka, war somit gelöst. Sie besassen erwiesenermassen lokale Vorfahren. Nun aber tauchte ein neues Problem auf, nämlich die früheren Entwicklungsstufen der anderen Kulturen.
Uhle hatte sich schon von Anfang an mit dieser Frage befasst. Die ältesten Kulturen, die er gefunden hatte, hielt er nicht für Ergebnisse früherer lokaler Kulturen. Auch waren sie derart entwickelt, dass man von keinem plötzlichen Entstehen, ›,von heute auf morgen«, hätte sprechen können. Trotzdem konnte er mit keiner anderen Erklärung aufwarten als mit der des ,Diffusionimus«. Die Erklärung gipfelte darin, dass die Andenzivilisationen auf die Maya zurückgingen, wobei er sich auf ikonographische Vergleiche, auf Analogien und verschiedene andere Ähnlichkeiten berief. Nur die Kultur der 'Primitiven Fischen konnte seiner Meinung nach als einzige auf lokale Formen und Vorfahren in Ancön und Supe zurückgreifen, aber auch diese war von Einflüssen aus dem Norden geprägt.
In diesem Stadium der Untersuchungen, in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts, begann der peruanische Archäologe Julio C. Tello nach einer anderen Erklärung der »Quelle der prähistorischen Andenzivilisationen« zu suchen. Er lehnte die Theorie Uhles von importierten Kultureinflüssen ab und vertrat die These einer autochthonen Entwicklung vom ersten Auftreten des Menschen auf diesem Kontinent an bis zur Epoche der Inkas. Tellos Hauptargument bestand darin, dass die Zivilisation der Anden eigenständige Merkmale im Vergleich mit anderen Kulturen aufweist. Er begründete dies mit der besonderen Art der Problembewältigung in den Anden. Seiner Meinung nach hätten die Maya ohne radikale Änderung ihrer Kulturform hier gar nicht existieren können.
Aus diesen Gründen schlägt das Schema von Tello — der zugleich auch Vertreter der Evolutionstheorie war — eine Aufteilung in Etappen zunehmender Milieubeherrschung vor: Eine erste »primitive« Etappe umfasste eine hypothetische Periode rclemler und Fischer. Darauf folgte das »Zeitalter der Zivilisationen der Ostandeth,_ indem_ die Amazonasbewohner, i c an mit dem Anbau von Pflanzen begonnen hatten7 ihre neuen Produktionsmethoden im Zuge ihrer Wanderungen in das Ostandengebiet mitbrachten. Da hier ähnliche Bedingungen wie in ihrer ursprünglichen Heimat am Amazonas waren, mussten sie nur einige ihrer Lebensgewohnheiten ändern und einige neue Verfahren für die Anpassung gewisser tropischer Pflanzen an die neue Höhenlage erfinden.
Die nächste Etappe, das »Zeitalter der Zivilisationen der Westanden«, ist gekennzeichnet durch Veränderüngen in den Produktionstechniken, vör allem in der Wasserversorgung. Das Vorhandensein von Wasser nimmt von Osten nach Westen allmählich ab, so dass an der dem Pazifik zugewandten Seite der Anden eine der trockensten Wüsten der Welt entstanden ist. In diesem Zeitalter mussten also die Pflanzen der Höhe, aber auch den für die Anden charakteristischen wechselnden Trockenund Regenzeiten angepasst werden. Man musste neue Bewässerungsmethoden entwickeln und den Boden für den Ackerbau bereiten.
Im »Zeitalter der littoralen Zivilisationen« war der Andenbewohner bereits in der Lage, dank einer hochtechnisierten Fruchtlandbewässerung die Wüste zu besiegen. Gleichzeitig beginnt aber bereits das »Zeitalter des Tahuantinsuyu« oder »der Inka«.
Tello, der sich auf die Untersuchung von Bauwerken und Begräbnisstätten als einzige verfügbare archäologische Quellen verlassen musste, konnte keine ausreichend stichhaltigen materiellen Beweise für seine Hypothesen finden. So blieb der Grossteil seiner Behauptungen unbewiesen, und die Erörterung seiner Studien beschränkt sich auf das anekdotische Detail bestimmter alter Kulturen im Vergleich mit anderen. Auf diese Weise wurden Chavin und Paracas zum Mittelpunkt der von Tello ausgelösten Polemik. Dieser peruanische Archäologe hielt die ChavinKultur für die Urkultur der Anden, die der ProtoChimüKultur voranging und diese unmittelbar auslöste. Ferner war er der Ansicht, dass Paracas eine Küstenversion von Chavin war, die ihrerseits die ProtoNascaKultur (nach Uhle) nach sich zog. Die sogenannten »autochthonen Thesen« von Tello wurden niemals in Frage gestellt, das Problem beschränkte sich auf Anerkennung oder Ablehnung bestimmter zeitlicher Abläufe oder bestimmter Einflussgebiete dieser besonderen Kulturen. Gerade dies war Tellos Lieblingsthema während seiner letzten Lebensjahre und auch das seiner engsten Schüler.
Schon zu Lebzeiten Tellos stellten zahlreiche andere Archäologen fest, dass die ChavinKultur tatsächlich die älteste bis damals bekannte Kultur war und dass die Einordnung von Paracas als Vorläufer von Nasca dem Vorschlag Tellos entsprach. Es war jedoch notwendig, den »Protoiden« noch eine weitere Periode voranzustellen; das Chavin von Tello wurde nun die »Frühe Periode«, so dass Nasca, Mochica oder Moche (ex ProtoChimü) und das ProtoLima zu einer Zwischenperiode zwischen Chavin und Tiahuanaco wurden. Im weiteren Sinn musste dann ein zusätzlicher Abschnitt zwischen »Tiahuanaco« und »Inka« eingeschoben werden. Von dieser Einteilung ausgehend, zerfiel die peruanische Archäologie in den 40er Jahren in fünf Epochen: Chavin, frühe Zwischenkulturen, Tiahuanaco, späte Zwischenkulturen und Inka. Drei dieser Epochen decken einen Zeitraum, der als gesamtperuanisch angesehen werden kann, während die Zwischenperioden regional beschränkt waren.
Huacaloma (Cajamarca) Rechteckiger Raum mit Resten des aufgehenden Mauerwerks
Bei diesem Stand der Dinge organisierte das von Alfred L. Kroeber und Julio C. Tello in New York gegründete Institute of Andean Research zwischen 1939 und 1946 zwei langfristige Studienprojekte, die die von Uhle und Tello vorgebrachten Hypothesen beweisen sollten. Das erste Projekt widmete sich hauptsächlich dem Ziel, die geltende chronologische Reihenfolge empirisch zu beweisen; das zweite hatte die Aufgabe, den Zeitablauf in einer bestimmten Region zu untersuchen. Man wählte dazu das kleine Küstental von Virü. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass diese beiden Projekte den Beginn einer dritten Phase in der Geschichte der peruanischen Archäologie darstellen. Als erste Phase kann jene weit vor Uhle liegende, als zweite die hauptsächlich von Uhle und Tello bestimmte und mit dem ersten Projekt des Institute of Andean Research abgeschlossene bezeichnet werden. Die dritte Phase setzte mit dem VirüProjekt im Jahr 1946 ein.
Das VirüProjekt hat neue Forschungsansätze in der peruanischen Archäologie ermöglicht. Nicht mehr die Chronologie stand im Mittelpunkt des Forschungsinteresses, sondern die Veränderungsprozesse, denen die menschlichen Siedlungen, die Institutionen oder die Nutzung der Umweltressourcen unterworfen waren; deren Indikatoren nicht nur in den Monumentalanlagen und Gräbern, sondern auch unter den Abfällen der menschlichen Siedlungstätigkeit zu finden waren.
Die ersten Berichte über das Projekt Virü wurden 1948 veröffentlicht, mehr noch in den 50er Jahren, als mit der C14Methode eine neue Datierungstechnik zur Verfügung stand, die einen Strukturwandel der gesamten Archäologie ermöglichte.
Untersuchungen im Rahmen des VirüProjektes erschlossen auch die präkeramischen Epochen. So haben Gordon R. Willey und John M. Corbett in Supe, an einem Ort namens Aspero, zum ersten. mal Fischer und primitive Ackerbauern lokalisiert, denen die Keramik unbekannt war. Später, im Jahr 1946, identifizierte Junius Bird in Huaca Prieta (Tal von Chicama) und Cerro Prieto (Tal von Virü) die gleichen Elemente. Diese Periode war von da an bekannt unter der Bezeichnung »Angehende Ackerbauern“. Zusätzlich wurde eine ebenfalls präkeramische »Periode der Jäger« hinzugefügt. Die Funde aus dieser Zeit wurden an der Oberfläche entdeckt und umfassen einige schöne Pfeilspitzen aus den Pampas von Paijän. Erst 10 Jahre später — 1957 — wurde diese Entdeckung durch die Funde des peruanischen Archäologen Augusto Cardich bestätigt, der in den Höhlen von Lauricocha in der nördlich zentralen Sierra Ausgrabungen durchführte.
So ergaben sich sieben grosse Perioden in der peruanischen Archäologie:
1. Epoche der Jäger, Sammler und Fischer, nach der C14Methode ungefähr in der Zeit zwischen 14000 und 5000 v. Chr.
2. Epoche der präkeramischen »Angehenden Ackerbauern«, ca. zwischen 5000 und 1500 v. Chr.
3. Epoche der Ältesten Keramik, die mit der von Tello als »Chavin« bezeichneten Zeit zusammentrifft, die man gewöhnlich auch »Formativ« benennt und die den als »FrühKeramik« und »Früher Horizont« bekannten Perioden entspricht. Nach der C14Datierung liegt die Epoche zwischen 1800 und 400 v. Chr.
4. Epoche der früheren »ProtoKulturen«, in die man natürlich auch Kulturen wie Recuay und Cajamarca (400 v. Chr. bis 700 n. Chr.) einbinden müsste; es ist aber hinlänglich bekannt, dass der erste Abschnitt (vor unserer Zeitrechnung) von den »Übergangsformen« beherrscht wurde, die eine Regionalisierung dieser Kulturen ermöglichten —das bedeutendste Charakteristikum jener Periode. Sie wird wegen der Qualität der meisten Kunstwerke dieser Zeit auch als »Klassik« bezeichnet.
5. Epoche der Ausdehnung einer »tiahuanakoiden« Kultur, von der man annahm, dass sie aus der Region von Tiahuanaco stammt. Durch spätere Untersuchungen hat sich gezeigt, dass es sich um eine Ausdehnung der HuariKultur handelt, die in Ayacucho beheimatet ist. Die C14Datierung verlegt sie ungefähr in die Zeit von 560 bis 1000 n. Chr. Diese Periode trägt noch andere Bezeichnungen, von »HuariReich« bis »Mittlerer Horizont«.
6. Epoche der Regionalkulturen der VorInkaZeit., der Chimü, ChinchaIca und ChancayKultur sowie der anderen lokalen Kulturen. Später werden sie in das InkaReich integriert. Nach der C14Datierung liegen diese Kulturen zwischen 1100 und 1500 n. Chr.; sie umfassen die »Späte Zwischenperiode« und sind ausserdem unter der Bezeichnung »Städtebauer«, »Regionalstaaten« etc. bekannt.
7. Epoche der Inkas, ungefähr zwischen 1430 und 1540. Man nennt sie auch »Später Horizont«.
Da seit dieser Zeit eine allgemeine Übereinstimmung über den chronologischen Ablauf herrscht, ist die Verwirrung unter den Archäologen, die in den verschiedenen Regionen unter Anwendung immer strengerer archäologischer Kriterien und mit immer grösserer Genauigkeit in den einzelnen Disziplinen forschen, etwas kleiner geworden. Diese Klarheit begann sich Anfang 1960 abzuzeichnen, erreichte aber erst in den beiden vergangenen Jahrzehnten ihren Höhepunkt. In unserer heutigen Zeit hat sich die peruanische Archäologie zur Aufgabe gestellt, Fragen im Zusammenhang mit der Organisation der Produktion oder der Technologie, der Einrichtungen, der strukturellen Eigenheiten jeder Kultur sowie Art und Richtung von Änderungen zu erforschen. Es handelt sich hier nicht mehr um eine Beschreibung von Altertümern oder um eine Diskussion über eine zeitliche Abfolge. Dies wird, da als bekannt vorausgesetzt, nur mehr im Zusammenhang mit grossen historischen Diskussionen behandelt.
In den beiden letzten Jahrzehnten ist die Zahl einheimischer Forscher gewachsen, die sich für die Archäologie in einem Mass interessieren, das über das rein Akademische hinausgeht. Für die Peruaner liegt nämlich der wichtigste und bedeutendste Teil ihrer Geschichte in der Archäologie. Gemeinsam mit den Peruanern haben Hunderte von Forschern aus Europa, Japan, den Vereinigten Staaten und anderen amerikanischen Ländern das Thema Anden in ein Forum verwandelt, in dem die zahlreichen Richtungen und unterschiedlichen Vorgehensweisen zusammenlaufen.
Die peruanische Archäologie zeigt nunmehr ein Bild, das von jenem zu Beginn des Jahrhunderts sehr verschieden ist — als Uhle und dann Tello begannen, sich damit zu befassen.
PräKeramische Zeit
Die präkeramische Zeit dauerte von 15000 bis 2000 v. Chr. und wird in verschiedene Perioden unterteilt, die jeweils bestimmten Neuerungen in der Lebensweise der Bewohner der Zentralanden entsprechen. In der Zeit von 15000 bis 6000 v. Chr. wanderten nomadisierende Jäger und Sammler durch die Anden auf der Jagd nach Wild, auf der Suche nach Pflanzen. Um 6000 v. Chr. entwickelt sich eine primitive Art des Gartenbaus: Die ersten Pflanzen werden nun schon gezüchtet, und einzelne Menschengruppen beginnen, in dauerhaften Wohnsitzen zu leben. Man wird sesshaft. In der Puna gewöhnt sich zur selben Zeit das Lama — als erster amerikanischer Kamelide — an seine Laufbahn als Haustier.
Übersichtskarte über die wichtigsten Anlagen der späten Präkeramik
Der Ackerbau nimmt eigentlich erst um 2500 v. Chr. seinen Aufstieg — als man beginnt, den Mais zu kultivieren. Der Mensch wird sich des Wachstums der Gruppe, deren Teil er ist, bewusst, die Gruppe organisiert sich zur besseren Kontrolle dieses Phänomens. Gegen Ende der präkeramischen Zeit, von einigen Autoren jüngere präkeramische oder auch beginnende keramische Zeit genannt, entstehen bereits viele Bauten öffentlichen Charakters.
Diese Gebäude, mit Uförmigem Grundriss an der Küste, in der Sierra mit einer Mauer um den heiligen Bereich des Feuers, sind das Ergebnis einer neuen Gesellschaftsform. Der Mächtige hält nunmehr die Zügel der Wirtschaft und wird zum Herrscher eines Volkes von Ackerbauern, die dem ”Souverän« einen Teil ihrer Produkte überlassen und Aufgaben übernehmen, wie z. B. den Bau dieser Stufenpyramiden.
Zur selben Zeit entstehen auch erste künstlerische Ärbeiten. Die Keramik ist noch unbekannt, aber die Weberei spielt bereits eine wichtige Rolle. In Huaca Prieta, das von Junius Bird ausgegraben wurde, zeigen Textilien und mit Ritzdekor versehenen Kalebassen bemerkenswerte künstlerische Ausdrucksformen. Die Keramik, die gegen 1800 v. Chr. in Erscheinung tritt, weist noch eine gewisse Formenarmut auf — Krüge, Schalen und Flaschen sind die Haupterzeugnisse. Offensichtlich beherrscht man die Technik des Töpferns noch nicht; besondefs beim 13rennen entstehen Unregelmässigkeiten auf der Aussenseite der Gefässe. Die Zentren lokaler Produktionen zeigen bereits das Bestehen verschiedener Strömungen, aus denen sich später unterschiedliche Stilrichtungen entwickeln.
VOM PRÄKERAMIKUM ZU CHAVIN – ALTPERUANISCHE KUNST 3. UND 2. JAHRTAUSEND V. CHR.
Eine eigentümliche Faszination geht von der künstlerischen Gestaltungskraft früher Hochkulturen aus und prägt ihr Bild im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit. Für Sumer, Ägypten und AltChina gilt dies, für die Olmeken“ AltMexikos und für Chavin, die »Mutterkultur« AltPerus, wie sie ihr Entdecker Julio C. Tello nannte. Frühe »Grosse Kunst« beschäftigt aber auch die vergleichende Kulturforschung: G. R. Willey (1962) stellte sie in den Mittelpunkt seiner Frage nach den Kennzeichen und motivierenden Faktoren der Kulturentwicklung in den beiden altamerikanischen Kernregionen Mesoamerika bzw. Zentraler Andenraum.
DIE SUCHE NACH DEM URSPRUNG DER CHAVINKUNST
Die erste wegweisende Untersuchung der ChavinKunst an ihrem klassischen Fundort Chavin de Huäntar durch John H. Rowe (1962) konzentrierte sich auf ihre kanonische Form, ohne über deren Ursprung zu spekulieren. Zehn Jahre später formulierte Donald W. Lathrap (1974: 146) die herrschende Auffassung noch immer wie folgt: ”...die ChavinKunst erscheint als voll entwickelter Kunststil in der monumentalen Steinskulptur... des grossen ZeremonialZentrums Chavin de Huäntar«. Auch Peter G. Roe (1974), der Rowes Periodisierung auf ein breiteres Material anzuwenden suchte, hinterfragte dies nicht. Zwar hatten bereits die Forschungen von Junius B. Bird (1963) in Huaca Prieta, Frederic A. Engel 1963) in Asia und der japanischen AndenExpedition (Izumi/Sono 1963; Izumi/Terada 1972) in Kotosh Beispiele präkeramischer Kunst nachgewiesen. Offensichtlich waren dies jedoch keine unmittelbaren Vorläufer der ältesten Manifestationen des ChavinStils, zu denen nach Rowe (1962) vor allem die »Lanzön—Skulptur zählt.
Ein Versuch Chiaki Kanos (1974), die ChavinKunst aus der figürlich verzierten frühen Keramik von Kotosh/Shillacoto bei Huänuco abzuleiten, war nur begrenzt erfolgreich. Unbestritten musste die Lösung aber innerhalb derselben Periode gesucht werden, der diese Keramik angehört —der sogenannten Initial(keramischen)Periode, die nach Edward P. Lanning, einem Schüler J. H. Rowes, in Nord und Zentralperu zwischen der präkeramischen Zeit und dem durch ChavinEinfluss bestimmten ',Frühen Horizont« einzuschieben ist. In seiner Gesamtdarstellung des frühen Peru hatte Lanning (1967: 93, 101) u. a. die Skulpturen von Cerro Sechin (Casma) weitsichtig dieser InitialPeriode oder der späten präkeramischen Zeit zugewiesen und sie als mögliche Vorgänger der Kunst von Chavin benannt. Unter dem Einfluss der auf den Fundort Chavin fixierten Lehrmeinung und der Thesen D. W. Lathraps (1974) über den bedeutenden Anteil des AmazonasTieflands an der Entstehung der andinen Kultur konnte sich seine Auffassung aber zunächst nicht durchsetzen.
DATIERUNGSFRAGEN
Ausgrabungen während der sechziger und siebziger Jahre erschlossen an der Küste und im Hochland Perus weitere Bau und Fundkomplexe, die nach den Schichtbeobachtungen jeweils in ihrer Region der Ausbreitung des ChavinStils vorausgingen. Andere, die bereits dessen Merkmale zeigten, wurden aufgrund von 14CAltersmessungen der InitialPeriode zugewiesen. So zählte Richard L. Burger 1981 vier Küstenorte mit älteren Messergebnissen auf, als sie für die klassische ChavinKultur in Chavin de Huäntar selbst vorlagen: Garagay und Ancön in der Region Lima, Haldas an der Küste bei Casma und Huaca de los Reyes im MocheTal bei Trujillo. Für Luis G. Lumbreras (1989), Leiter der letzten bedeutenden Ausgrabungen in Chavin, waren die Burger seinerzeit zur Verfügung stehenden 14CMessungen allerdings aus gutem Grund nicht in allen Fällen eindeutig genug, um die traditionelle Priorität des klassischen Fundorts in Frage zu stellen. In der Tat weist die 14CDatierungsmethode Schwachstellen auf:
— Umwelt und Stoffwechsel verschiedener Organismen können das Ergebnis ebenso verfälschen wie eine unsachgemässe Behandlung ihrer Überreste;
— die untersuchten Proben können aus anderen Zeitperioden stammen als die Schichten oder Bauzusammenhänge, aus denen sie geborgen werden: z. B. ist eine Pyramidenplattform häufig aus Erdreich aufgeschüttet, in dem ältere Kulturreste enthalten sind;
— die Umsetzung der gemessenen ”Radiokarbonjahre« in Kalenderjahre erfordert eine komplizierte Berechnung und ist im 1. Jahrtausend v. Chr. weithin überhaupt nicht möglich;
— schliesslich bewirkt der statistische Fehler des Verfahrens, dass in der Regel ohnehin nur auf 80 —150 Jahre genau gemessen werden kann.
Hat der Archäologe jedoch die Fundumstände genau beobachtet und dokumentiert, wurde das Probenmaterial in den Labors der beteiligten Naturwissenschaftler korrekt identifiziert, sorgfältig aufbereitet und gemessen, gestattet die 14CUntersuchung immerhin in den meisten Fällen, die zeitliche Abfolge der einzelnen Fundverbände innerhalb eines Rasters von ca. 200 — 300 Jahren festzulegen. Durch Vergleich verschiedener Datengruppen und Schichtabfolgen kann eine noch höhere Genauigkeit erzielt werden.
Vor Entwicklung dieser Methode hatten die führenden Archäologen noch 1946 im ,Handbook of South American Indians« der höheren Kultur in Peru nur ein Alter von 2000 Jahren zugebilligt. Heute wissen wir, dass die ChavinKultur schon vor über 3000 Jahren einsetzte und ihr eine annähernd 700 Jahre umfassende »Initial(keramische)Periode« sowie eine ungefähr ebenso lange Spätphase der präkeramischen Zeit vorausgingen.
Im Rahmen dieser doch recht ausgedehnten Zeitspanne sind die zahlreichen Sakralbauten der mittleren peruanischen Küste zu beurteilen, welche nach Erweiterungen und Überbauungen zum Teil gigantische Ausmasse annahmen: die grösste Plattform, Sechin Alto im CasmaTal, erreicht auf einer Grundfläche von 350 x 200 m eine Höhe von 35 m.
NEUE PERSPEKTIVEN
Das peruanischdeutsche Gemeinschaftsprojekt zur Erforschung und Sicherung der in Sichtweite von Sechin Alto gelegenen Ruinenstätte Cerro Sechin konnte 1980 — 1985 durch Schichtbeobachtungen und naturwissenschaftliche Datierungsverfahren nachweisen, dass auch dieses Bauwerk und seine Reliefs lange vor Chavin entstanden, wie bereits E. P Lanning vermutet hatte.
Damit war ein Festpunkt gegeben, um die Frage nach der Entstehung der Kunst von Chavin wieder aufzugreifen. Auch die Neufunde und Materialpublikationen peruanischer, nordamerikanischer und japanischer Forscher boten dafür eine wesentlich verbesserte Grundlage.
Zunächst galt es, die Bildwerke zusammenzustellen, die den Skulpturen von Cerro Sechin ähneln oder ihnen wenigstens in wichtigen Details entsprechen. Der übrige Formenbestand dieser Vergleichsobjekte diente dazu, den Kreis relevanter Funde noch zu erweitern. Allerdings konnte dann nicht mehr ohne weiteres von ihrer Gleichzeitigkeit ausgegangen werden, sie waren vielmehr als ausschnitthafte Belege einer zeitlich ausgedehnten und wohl auch regional differenzierten, bisher nur sehr lückenhaft dokumentierten Tradition aufzufassen. In einigen Fällen erlaubte der archäologische Kontext die »relativchronologische‹< Einordnung in eine Abfolge lokaler Siedlungs oder Bauperioden bzw. regionaler Kulturstufen und damit eine Kontrolle der nach den Kriterien des Formvergleichs vorgenommenen Gruppierungen.
Während 14CMessungen eine annähernde Zeitabschätzung ermöglichen und den Rahmen andeuten, in dem historische Prozesse stattgefunden haben könnten, ist die Ähnlichkeit von Stilund Formelementen Beweis einst tatsächlich bestehender Kontakte, d. h. Kommunikation zwischen Gemeinschaften. Der Vergleich von Bildwerken anhand der auf ihnen fixierten Merkmalskombinationen dient auch dem Aufbau einer fein strukturierten Chronologie, die den Kontext der Bildwerke — Bauperioden oder Grabinventare — mitdatiert. Erst dies schafft die Voraussetzungen für eine Beantwortung der in der amerikanischen Archäologie derzeit so populären sozialhistorischen Fragen.
Kleinkunst vom spätpräkeramischen Fundort Asia a: Spinnwirtel aus organischem Material b: Fragment eines Knochenspatels, wohl als Schwirrgerät weiterverwendet c: Ritzverzierte Spiegelfassung aus gebranntem, rot bemaltem Ton (Spiegel aus Pyrit)
ELEMENTE DER STILENTWICKLUNG IM FRÜHEN PERU
Präkeramische Kunst
Als Quellen für die Kenntnis der ältesten Kunst im Andenraum stehen nur Felsmalereien zur Verfügung, erhalten zumeist in bewohnbaren Felsnischen oder auf Höhlenwänden. Da die archäologischen Befunde zeigen, dass die frühesten Einwohner der »Lithischen Periode« als Wildbeuter lebten, schreibt man ihnen einige anschauliche, wenngleich skizzenhafte Tierdarstellungen und Jagdszenen zu (Abb. 6). Beweise für deren Alter sind nur ausnahmsweise zu erbringen (Höhle von Toquepala). Durchweg handelt es sich um rezente Arten, die bis in die Gegenwart bejagt oder im Rahmen der Tierzucht bewirtschaftet werden. Ebenso unklar sind die Entstehungsmotive — Gestaltungsfreude, Erfolgsbericht, Jagdmagie?
Im Gegensatz zum erzählerischen Moment dieser Felsbilder tragen die wenigen bekannten nichttextilen Kunstäusserungen aus späten präkeramischen Bau und Grabzusammenhängen des 3. und 2. Jahrtausends v. Chr. symbolhaften Charakter und fallen durch die heraldische Stilisierung der dargestellten Tiere auf (Abb. 7). Dieser Auffassungswandel kündigt bereits den Hang zur Abstraktion durch geometrische Umsetzung und formelhafte Wiedergabe bzw. Vervielfältigung an, der die vorspanische Kunst AltPerus späterhin bis auf wenige Ausnahmen beherrscht. Formal lässt sich dieser Typus, der die Naturvorbilder — Tiere, menschliche Gesichter — auf ihre Grundlinien reduziert, aber nicht einer Rasterstruktur unterwirft oder bildnerisch verfremdet, mit dem Stil der genannten Jagdszenen in Verbindung bringen und damit einer alten einheimischen Tradition zuschreiben.
Brandverzierte Kürbisse vom präkeramischen Fundort Huaca Prieta, Grab 903 b: Detail des Dekors, eine Felidenfigur d: LambayequeRegion, Figuren vom Fries eines gravierten Steingefässes
Er repräsentiert die spätpräkeramische Kunst aber nicht allein. Im Süden tritt er an einem wich tigen, wenngleich wohl relativ späten Fundort — Asia 1 (AsiaTal) — bereits zusammen mit einer Darstellung auf, die eine Tendenz zu Rechteckformen und rasterhaftem Aufbau zeigt (Abb. 7 c). Am wichtigsten Fundort des Nordens — Huaca Prieta im ChicamaTal — fehlt er ganz. Die ältesten hier gefundenen nichttextilen Darstellungen auf zwei ritzverzierten Kürbissen (Abb. 8 ab) zeichnen sich durch eine mit sicherem Sinn für Proportionen entworfene rechteckige Rasterstruktur aus. Sie erschienen so überraschend fremdartig, dass man sie nur durch Einfluss der ValdiviaKultur Ekuadors erklären zu können glaubte, die bereits Keramik produzierte.
Die Anregung zu einer solchen Darstellungsform dürfte allerdings eher mit der Entwicklung figürlicher Motive auf Stoffen in ZwirnbindungsTechnik zusammenhängen, und diese ist z. Zt. an der zentralen und nördlichen peruanischen Küste (El Aspero, Rio Seco, Huaca Prieta) sowie im angrenzenden Bergland (La Galgada) nach Ausweis von 14CMessungen weiter zurückzuverfolgen als anderswo.
Wandreliefs der ersten Bauphase von Punkuri Polychrom gefasster Lehm auf Lehmziegelwänden: hintere Wand des Cellaähnlichen Raums auf der oberen Plattform und Fassadenseite der unteren Plattform.
PunkuriStil
Hinzu kommt wahrscheinlich eine durch den Forschungsstand bedingte Überschätzung der Befunde von Huaca Prieta. Ein Vergleich der KürbisMotive mit Darstellungen auf gravierten Steinmörsern aus der ChiclayoRegion zeigt so enge Übereinstimmungen, dass sie als Repräsentanten ein und derselben Kunsttradition gelten können (Abb. 8 c—d). Die Fundorte ähnlicher Stücke liegen — soweit bekannt — ebenfalls weiter im Innern der Flusstäler.
Erst recht gilt dies für die farbig gefassten Reliefs auf der Fassade des älteren LehmziegelBaus von Punkuri (NeperiaTal), die als eindrucksvollste Vertreter dieser frühen Flächenkunst gelten dürfen und daher für die Namensgebung herangezogen wurden (Bischof 1985). Berücksichtigt man zudem die architektonische Perfektion der ältesten bekannten präkeramischen Steinarchitektur im Andenhochland, z.B. in Kotosh und La Galgada, ist damit zu rechnen, dass die kulturellen Zentren von Rang sich schon damals im Landesinnern befanden und Architektur wie Fundgut des marginal gelegenen Huaca Prieta ihren Entwicklungsstand nur unvollkommen widerspiegeln.
Cerro Sechin, Auswahl aus Motiven der Steinreliefs von der unteren Terrassenstützmauer der Bauphase4
Abstrahierende flächenbetonte Darstellung in einem Raster von Horizontalen und Vertikalen, das aber gebogene Elemente und abgerundete Ecken zulässt, sind die wichtigsten formalen Merkmale des PunkuriStils. Hinzu kommen neue Inhalte: erstmals erscheinen mythische Wesen in Anlehnung an die Tier oder Menschengestalt.
Datierungshinweise ergeben sich aus Schichtbeobachtungen in Huaca Prieta, wo die 14CMessungen (nach dendrochronologischer Korrektur) z.T. schon in die 1. Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. verweisen. Dies wird durch die um die Mitte des 3. Jahrtausends einsetzenden Messresultate für La Galgada gestützt, dessen Textilkunst weitgehend mit Huaca Prieta übereinstimmt (Grieder und andere 1988). Eine weitere Bestätigung liefern die noch etwas späteren Daten von Cerro Sechin (s. u.), denn eine Bauskulptur mit Merkmalen des SechinStils überlagert in Punkuri die ältere Bauphase und deren Reliefs. In allen Fällen fehlt Keramik im Fundgut oder ihr Vorkommen ist zweifelhaft (Punkuri).
Die 14CMessungen für einige präkeramische Fundorte (Asia, El Paraiso, Salinas de Chao) scheinen sich im 19./18. Jahrhundert v.Chr. insbesondere mit denen für den frühkeramischen Fundkomplex von La Florida (Lima) zu überschneiden. Ob dies historische Gleichzeitigkeit impliziert oder mit Problemen der Probenherkunft und interpretation zusammenhängt, ist noch unklar.
SechinStil
Die von J. C. Tello 1937 entdeckte Ruinenstätte Cerro Sechin (Tello 1956), eine annähernd quadratische, mindestens zweistufige Plattform von 52 x 52 m, wurde durch ihre fast 400 GranodioritReliefs bekannt, die in die untere Zone der jüngsten Stützmauer eingelassen sind und einen zusammenhängenden Fries bilden. Dargestellt ist eine Prozession, deren Teilnehmer aus dem Portal auf der Südseite hervortreten und den Bau nach beiden Seiten umschreiten, um vor den BannerReliefs (Abb. 10 i) am zweigeteilten Treppenaufgang im Norden wieder aufeinanderzutreffen. Zwischen den würdevollen Gestalten liegen mitten durchgeschnittene Menschenleiber und verstümmelte menschliche Überreste aller Art, darunter zahlreiche Trophäenköpfe .
Der SechinStil ist durchweg realitätsorientiert und reduziert alle Bildmotive auf ihre wesentlichen Züge. Sein Akzent liegt auf den grosszügig konzipierten, nie mit Füllmustern versehenen Flächen, die durch markante Linien umrissen werden. Eine Tendenz zu ruhiger Linienführung ist erkennbar, sie äussert sich aber in kraftvollen Bögen statt in geometrisierender Geradlinigkeit. Nur das »exzentrische« Auge, dessen Pupille an das obere Lid grenzt, gibt den menschlichen Gestalten etwas Bedrohliches und verbindet Cerro Sechin mit dem ChavinStil. Im Hinblick auf dieses Element und auf das in der Küstenregion fast einzigartige Medium Steinrelief rückte man Cerro Sechin von Anbeginn in den Umkreis der ChavinKunst. Zur Frage, ob der Ort vor oder nach deren klassischer Periode anzusetzen sei, lagen 1980 die Meinungen um fast 1500 Jahre auseinander. Die Mehrheit neigte zu einer späten Datierung.
Cerro Sechin a—b: PumaGemälde am Eingang zur Cella der Bauphase sowie c—e: Vergleichsstücke aus Punkuri, NeperiaTal (Lehmskulptur der 2. Bauperiode, Umzeichnung nach Larco 1941, fig. 7), Quebrada dcl Felino, JequetepequeTal, Steinblock 3 (Felszeichnung, Pimentel 1986, fig. 59) und Chavin de lluäntar .Dem peruanischdeutschen SechinProjekt' gelang eine Datierung des Bauwerks durch 14Cund ThermolumineszenzMessungen2 in die Zeit zwischen ca. 2100 und 1800 v. Chr. (korrigierte Daten).
Dazu passt der keramische Befund: während das Bauwerk selbst keramikfrei ist, kommt die älteste aus der Region bekannte Keramik (»Guafiape«) in einer späteren Verfüllung vor, Keramik vom ChavinTypus erst in einer noch höher gelegenen Deckschicht (Fuchs 1990). Kunst im SechinStil geht also der klassischen ChavinKunst voraus.
Sechin, polychrome Lehmreliefs der Bauphasen 1 und 3
Bedauerlicherweise fehlen in Cerro Sechin Abbilder mythischer Wesen, so dass weder mit den »Idolen« auf dem ChiclayoMörser oder den PunkuriReliefs noch mit den Göttern von Chavin ein direkter Vergleich möglich ist. Zur Verfügung stehen nur die Bildmotive »Fisch«, »Fehde« und »Menschliche Figur« mit ihren ikonographischen Details wie Augenform, Hand oder Tatzenform, Würdestab und Gürteltyp.
Fische gibt es einerseits auf den PunkuriReliefs, andererseits auf klassischer ChavinKeramik und Steinskulptur, aber ein Vergleich ist wenig ergiebig. Als aussagekräftiger erwies sich das FelidenMotiv. Die farbig gefasste Lehmskulptur aus der 2. Bauperiode von Punkuri steht den PumaGemälden Cerro Sechins in Augen und Tatzenform sowie im Fehlen einer Fellzeichnung besonders nahe und beweist das höhere Alter der von ihr überdeckten Reliefs im PunkuriStil. Recht ähnliche Merkmale zeigt ein FelidenFelsbild aus dem JequetepequeTal , das seinerseits die weite Verbreitung dieses Typus beweist. Der auf seinen Leib gezeichnete Raubvogel kann als Versuch einer additiven Steigerung numinoser Kraft interpretiert werden, im Gegensatz zu deren Potenzierung durch Kombination von Feliden und Raubvogelmerkmalen in der ChavinKunst (Abb. 14 b, dort jedoch Langustententakel). Das FelidenRelief aus Chavin de Huäntar schliesslich (Abb. 11 e) hat neben dem aus Punkuri bekannten Augentyp undeutliche, aber runde Tatzen und keinerlei metaphorisches Beiwerk — markante Unterschiede zum FelidenTypus Chavins, von dem es z. B. am Runden Platz mehrere Varianten gibt und der sich am Jaguar oder anderen Arten mit lebhafter Fellzeichnung orientiert. Ähnlichkeit bedeutet noch keine strenge Zeitgleichheit aller Darstellungen, doch sind dieses aus seinem Bauzusammenhang gerissene Relief und verwandte Stücke ein Indiz für die Existenz unbekannter früher Bauten in Chavin de Huäntar.
Das kraftvolluntersetzte Menschenbild der SechinReliefs (Abb. 12 a, 10) findet bisher nur in der TrophäenkopfZeichnung auf einer Steinplatte aus dem benachbarten Sechin Alto und im Relief von Siete Huacas (NepenaTal) seine genaue Entsprechung (Bischof 1985, Abb. 8384). Die im ganzen ähnlichen »Adoranten—Figuren des ChiclayoMörsers sind viel stärker schematisiert durch Bevorzugung gerader Umrisslinien und durch Trennlinien zwischen einzelnen Körperteilen wie Kopf und Hand.
Auf der Steinfassade der 4. Bauperiode Cerro Sechins werden dagegen die Rundung des Körpers und seine organische Ganzheit thematisiert — in die der Mensch aus wichtigem Anlass durchaus eingreift. Mit geschärftem Blick ist nun auch zu erkennen, dass das Lehmrelief aus der 1. Bauperiode Cerro Sechins der Auffassung des PunkuriStils wie zu erwarten näher steht (Abb. 11 a). Ein Relief der Steinfassade, dessen HandgelenkTrennlinien der Tradition vielleicht zu stark verhaftet waren, scheint sogar Retuschen aufzuweisen, jedenfalls fehlen derartige Linien auf dem Gegenstück der anderen Fassadenseite (Tello 1956, fig. 59, 76). Nur bei einer Figur markierte man Kopf, Arme und Knie mit ineinandergreifenden Hakenlinien, vielleicht ein Versuch, deren Beweglichkeit anzudeuten (Tello 1956, fig. 54).
In den Umkreis des SechinStils können die nach 14CMessungen annähernd zeitgleichen Lehmreliefs der »Gekreuzten Hände« aus Kotosh gestellt werden (Izumi/Terada 1972, Farbtafel 2). Eine andere Gruppe ist bereits dem ChavinStil verbunden (»Yurayako«Typus).
Früher ChavinStil (Chavin A)
Da auf der Steinfassade Cerro Sechins Tierdarstellungen und explizit mythische Wesen fehlen, war es die menschliche Gestalt, die zu Versuchen anregte, die Stellung Sechins in der Kunstgeschichte AltPerus zu klären. Unter den Vergleichsobjekten befanden sich eine Schneckentrompete von Chiclayo und ein Steinteller aus dem JequetepequeTal mit einem tier—menschlichen Mischwesen (Abb. 14 b). In beiden Fällen sind die Zentralfiguren mit eindeutigen ChavinElementen kombiniert: monströsen Reisszahnbewehrten Häuptern und Schlangenköpfen (Haar ?) bzw. unterkieferlosen »agnathischen« Masken. Diese eigentümlichen Motive finden sich nicht nur an der Küste weit im Norden, sondern auch näher bei Chavin im Hochland um den oberen Rio Santa: monströse Häupter auf einem Muschelring aus La Galgada (Grieder und andere 1988, fig. 84,8), eine sehr ähnliche agnathische Maske auf dem Monolithen von La Pampa (Abb. 14 a). Während beim Ring schon wegen des Materials an Import gedacht werden kann, muss der Monolith von La Pampa in der Nähe des Ortes entstanden sein. Daher wählte der Verfasser (1985: 424, 445) die Bezeichnung »La Pampa« für diese Frühstufe des ChavinStils. Zur Vereinfachung der Nomenklatur sei hier vorgeschlagen, sie durch den Begriff »Chavin A« zu ersetzen und damit die von John H. Rowe (1962: 12) selbst ins Auge gefasste Untergliederung seiner FrühChavinStufe AB zu vollziehen. Zentrales Stück der Stufe Chavin B bleibt die LanzönSkulptur im alten Haupttempel von Chavin de Huäntar.
Menschendarstellungen vom ›Yurayako—Typus der Stufe Chavin A. a: Beschnitzter Knochenspatel aus Huaca Prieta, Grab 867 b: Steinrelief aus Chavin de Huäntar.
Bei der Behandlung des recht umfangreichen Materials empfiehlt es sich, nach Motivgruppen vorzugehen: Anthropomorphe — d. h. weitgehend der menschlichen Gestalt entsprechende — Figuren vom Typus »Yurayako«, Agnathische Masken, schliesslich Feliden vom Typus »Pampa de las Llamas«.
Der SchneckentrompetenBläser von Chiclayo teilt mit den SechinSkulpturen eine prinzipiell realitätsorientierte Darstellung, zeigt aber Unterschiede in den Details wie Auge, Halsband, Gürtelform, Handgelenk und Knöchelschmuck sowie der Geometrisierung von Händen und Füssen. Die Schlangenköpfe deuten auf eine Nähe zur klassischen ChavinKunst, die bei anderen Stücken nicht zu beobachten ist.
Meist sind die Körper der Figuren vom »Yurayako—Typ fleischiger und die Häupter kahl. Über der Knollennase hängt eine »zornige« Stirnfalte wie ein Lappen herab, eine Doppelvolute bildet das Ohr — Merkmale, die grossenteils in den SechinFiguren vorgeprägt sind. Ein derartiger »Yurayako«Stirnlappen dürfte andererseits dem hypertrophen Trichterelement auf der Stirn der »Lanzön—Skulptur zugrundeliegen. Der Knochenspatelgriff aus einem in die Schichten der Huaca Prieta (ChicamaTal) eingetieften Grab, das demnach jünger ist als diese, und die Steinplatte aus einem noch unbekannten Bauwerk in Chavin de Huäntar selbst beweisen die weite Verbreitung dieses Typus. Ein Felsrelief auf dem Alto de la Guitarra (MocheTal, ein Lehmrelief in Garagay (Lima), Seitenbau A, sowie die Trophäenköpfe auf Steinblöcken aus Chupacoto (Huaylas) am oberen Rio Santa..
Agnathische Masken und Tierdarstellungen vom »Pampa de las Llamas»Typus der Stufe Chavin a: Relief des Monolithen von La Pampa, oberes SantaTal. b: »Dumbarton Oaks—Steinteller, angeblich aus Limoncarro, unteres JequetepequeTal. c: Steinrelief aus Chavin de Huäntar d: Lehmrelief aus Garagay, Seitenbau A e:Keramikflasche aus Raubgrabung im Gräberfeld Quinin,
Nur durch Zusatz von Reisszähnen, einen vor das Felidenmaul gezeichneten Raubvogelschnabel und Flügel geben sich mythische Wesen zu erkennen. die in der Ikonographie des klassischen Cha vinStils dann eine beherrschende Rolle spielen. Auch ihre Verbreitung erstreckt sich von Chavin de Huäntar bis in das JequetepequeGebiet NordPerus.
Ein ikonographisch besonders interessantes Stück, der steinerne ”Dumbarton OaksTeller«, wohl aus Limoncarro (fequetepequeTal; SalazarBurger/Burger 1982), präsentiert eine mythische Gestalt, deren menschliche Hälfte dem »Yurayako«Typus entspricht (Abb. 14 b), ebenso wie die Trophäenköpfe im Tragnetz. Aus dem Rücken wachsen vier Beine eines Gliederfüssers, den R. Ravines (1984) und der Verfasser (Bischof 1988) als Krebs oder Languste, L. SalazarBurger und R. Burger (1982) als Spinne ansprechen; Tentakel und Mundwerkzeuge stehen vor dem Raubtiermaul. Eine Tiermaske ohne Unterkiefer bildet den Hinterleib. Unter ihren drei Reisszähnen liegen ebenso viele Zungen, ein relativ häufig auftretendes Element. Auf die Bedeutung der DoppelzipfelAugen der Maske wird weiter unten einzugehen sein.
Auf der Stele von La Pampa erkennt man dieselbe »agnathische« Maske mit DoppelwinkelAugen, flankiert von Tatzen mit dem DoppelbogenGelenk, das schon auf dem ChiclayoMörser erscheint. Zwei Schlangen treten aus dem Maul hervor, ihre Köpfe entsprechen eher der 'lächeln den Schlange« präkeramisch/initialzeitlicher Funde als einem SchlangenkopfTyp der klassischen ChavinIkonographie. Die besten Gegenstücke bietet in der Tat die Keramik von Purul€n (ZariaTal), die nach übereinstimmenden 14CMessergebnissen um 1400 v. Chr. entstand (korrigiertes Datum; Alva 1988, fig. 8). Eine fast identische Felszeichnung in Tolön, JequetepequeTal, allerdings ohne die Schlangen, publizierte V. Pimentel (1986, Abb. 13). Handelt es sich um den Gott des Lanzön, alten Hauptgott von Chavin, dessen Mund nach einer Vermutung J. H. Rowes (1962: 19) ursprünglich agnathisch war?
In der Merkmalsliste P. Roes (1967) nicht berücksichtigte Varianten des DoppelwinkelAuges verbinden eine Anzahl von Tierdarstellungen, bei denen nicht immer ersichtlich ist, ob es sich um Feliden, Kaimane oder Schlangen handelt. Der Augentypus selbst geht auf Feliden zurück. An der nordperuanischen Küste gibt es diese Figuren auf qualitätvollen Kleingefässen aus Stein und auch bereits auf reich dekorierten Keramikflaschen vom »Tembladera«Typ . An der mittleren Küste treten sie im CasmaTal auf Knochenschnitzereien auf, die rituellen Zwecken, insbesondere der Drogeneinnahme gedient haben dürften. Allerdings wurden keine Begleitfunde registriert, die auch nur annähernd den ikonographischen Reichtum und die Qualität der Funde aus Nord_Peru erreichen. Dafür zeigen zwei bedeutende Ruinenstätten der mittleren Küste monumentale Wandreliefs aus Lehm mit Tiermotiven vom »Pampa de las Llamas—Typ. Die ikonographische Tradition, der sie angehören, veranschaulicht demnach eine Vorstellungswelt, die das zeremonielle Leben dieser Gemeinschaften massgeblich beeinflusste: im Baukomplex Pampa de las Llamas (CasmaTal), nach dem dieser Typus benannt ist (Pozorski/Pozorski 1986), und in der Tempelanlage von Garagay (Lima), Seitenbau A. An beiden Orten sind die Tierdarstellungen kombiniert mit Stufensymbolen, die auf ähnlichen Bildwerken wiederkehren, u. a. auf Steinreliefs von unbekannten Bauten in Chavin (Tello 1960, fig. 72; Kauffmann 1978, 237,5). Garagay, Seitenbau A, bietet zudem die ersten Beispiele für eine metaphorische Umsetzung anatomischer Strukturen..
Ein einziges vergleichbares Steinrelief ist in Chavin de Huäntar zutage getreten (Abb. 14 c), wieder aus unbekanntem Bauzusammenhang, Hin weis auf zukünftige Forschungsaufgaben an diesem Ort.
Die so weitverbreitete Form des DoppelwinkelAuges gehört jedenfalls nicht zum Repertoire der klassischen ChavinKunst, und schon auf der LanzönSkulptur werden die Augenwinkel nur noch als Enden der Bogenlinie angedeutet, welche die obere Augenhöhle markiert. Umgekehrt fehlen den durch ein DoppelwinkelAuge gekennzeichneten Wesen die spezifischen Elemente der Tierdarstellungen Chavins: metaphorische Verfremdung anatomischer Strukturen und konventionelle Standardelemente z. B. für Mäuler, Tatzen und Federn.
14CMessungen vermitteln eine Vorstellung vom zeitlichen Verhältnis zwischen den Stufen Chavin A und Chavin B. Mehrere Resultate aus Garagay weisen in die Zeit zwischen 1700 und 1400 v. Chr., doch ist unbekannt, auf welche Bauperiode sie sich beziehen. Für den Seitenbau A wurden keine datierenden Befunde publiziert.' Aus Pampa de las Llamas liegt ebenfalls noch kein Fundmaterial vor, sondern nur 14CMessergebnisse zwischen 1800 und 1450 v. Chr. Zumindest die Grössenordnung stimmt mit dem Ansatz um 1400 v. Chr. für Puruln überein, wo ähnliche Schlangenköpfe wie auf dem Monolithen von La Pampa gefunden wurden.
Für die klassische ChavinKunst der OfrendasGalerie, die bauseits mit dem Runden Platz und dessen Reliefs zusammenhängt, ergab eine einzelne Messung die Zeit um 900 v. Chr. . Da der Muschelring mit ChavinElementen aus La Galgada aber in die Zeit um 1300 v. Chr. gesetzt wird, dürfte der Beginn des klassischen ChavinStils (Chavin B), wie ihn die LanzönSkulptur repräsentiert, noch in das ausgehende 2. Jahrtausend v. Chr. zurückreichen.
ZUSAMMENFASSUNG
Die vergleichende Untersuchung von Bildwerken aus Zentral und Nordperu lässt in grossen Zügen die Entwicklung sichtbar werden, die gegen Ende des 2. Jahrtausends in die klassische Kunst von Chavin mündet. Die wenigen publizierten stratigraphischen und archäometrischen Befunde genügen nach Meinung des Verfassers, um die Stilabfolge zu verifizieren und einen ungefähren Überblick über ihren Zeitrahmen zu gewinnen.
Der PunkuriStil, bisher nur in den Küstentälern zwischen Nepetia und Chiclayo belegt, kann der ersten Hälfte bzw. Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. zugeordnet werden. Wo sein Schwerpunkt lag, ist unbestimmt, da die beeindruckenden Baubefunde in Nepefia eher zufällig zutage kamen.
In die Jahrhunderte um die Wende vom 3. zum 2. Jahrtausend v. Chr. ist der SechinStil zu setzen, der die PunkuriTradition in modifizierter Form fortführt. Als Zentrum kommt nach Lage der Dinge nur die Casma/NeperiaRegion in Betracht. Ausstrahlungen bis zum JequetepequeTal, im Südosten bis nach Kotosh deuten sich an. Das als Beleg für Beziehungen mit Chavin de Huäntar in Anspruch genommene FelidenRelief (Abb. 11 e) gehört allerdings wohl in eine spätere Zeit; es entspricht nicht in allen Details dem Formenbestand der FelidenGemälde von Sechin, sondern steht anderen Reliefs in Chavin nahe, die Elemente der Stufe Chavin A aufweisen.
Der Motivbestand des SechinStils ist übrigens bis jetzt vornehmlich auf die Menschendarstellung beschränkt, die sich aber eindeutig im »Yurayako«Typus der Stufe Chavin A fortsetzt. Der »Yurayako«Typus ist zwischen Chiclayo und Lima sowie im Raum Chavin verbreitet und geht in die Ikonographie der mythischen Mischwesen ein, die in der ChavinKunst eine so bedeutende Rolle spielen.
Da spätere FelidenDarstellungen oder Bildwerke mit mythischen Wesen in Sechin fehlen, lässt sich von dort keine unmittelbare Verbindung zu den agnathischen MaskenMotiven und dem «Pampa de las Llamas—Tiertypus der Stufe Chavin A herstellen. Für das Tiermotiv zeichnet sich eine Verbreitung zwischen dem JequetepequeTal und Garagay/Lima ab, die den Ort Chavin ebenso wie im Falle der »Yurayako—Figuren einbezieht. Agnathische Masken mit DoppelwinkelAugen sind nach Süden nur bis zum Mittellauf des Rio Santa belegt. Manche Darstellungen lassen an Kaimane denken, u. a. auf dem Spatel von Pallka, CasmaTal. Das DoppelwinkelAuge wurde von lebhaft gezeichneten Felidenköpfen abgenommen, und auch die Wangenstreifen der SechinFiguren (Abb. 10 a), vielleicht sogar das StirnfaltenElement entsprechen den Fellmarkierungen z.B. des Ozelots. So stellt sich die Frage, ob Tiere aus dem Milieu des tropischen Regenwalds damals in der Mythologie und Ikonographie einen wichtigeren Platz erhielten. Das Zentrum dieser Entwicklung bleibt unbekannt. Zwar gibt es an der mittleren Küste nicht die vielseitige und qualitätvolle Kleinkunst, welche das nordperuanische Fundgut auszeichnet, doch ist dafür aus dem Norden bisher noch keine Bauskulptur mit diesem Motivgut bekannt, wie es Pampa de las Llamas in so grossartigem architektonischen Rahmen präsentiert.
Der Ort Chavin nahm anscheinend nur am Rande an dieser Entwicklung teil, welche in den Jahrhunderten um die Mitte des 2. Jahrtausends die wesentlichen ikonographischen und Stilelemente der ChavinKunst schuf und deshalb als Chavin A bezeichnet werden darf. Aus ihr ging gegen Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. in dem dann wichtigsten Zentrum Chavin de Huäntar die klassische ChavinKunst hervor.
GARAGAY: EIN FRÜHES ZEREMONIELLES ZENTRUM
Das Tal von Lima verbindet — kulturell gesehen — drei geographische Zonen, nämlich das Tal von Rimac in der Mitte, das Tal von Chillon im Norden und das Tal von Lurin im Süden. Lima, die Hauptstadt von Peru, befindet sich im ersten Tal in 12° 02' 36" südlicher Breite und 77° 01' 42" westlicher Länge. Die geographischgeschichtliche Einheit dieser drei Täler, die das heutige Lima Metropolitana bilden, wird bereits im 16. Jahrhundert von den spanischen Eroberern erwähnt, die einen politischen und kulturellen Zusammenhalt zwischen den Bewohnern beobachtet haben.
Nach den Informationen spanischer Chronisten war das Tal von Lima im 16. Jahrhundert dicht besiedelt, die verschiedenen indianischen Dörfer wurden am Rande von landwirtschaftlichen Flächen errichtet. Konkrete Angaben über diese Völker sind nicht sehr zahlreich, vor allem was die äussere Erscheinung der Bewohner, die Sprache oder die kulturellen Vorbilder betrifft.
Bernabe Cobo, der erste Historiker von Lima, erwähnte, dass das Tal von Lima in der Epoche der Inka von einem Volk bewohnt wurde, das eine andere Sprache hatte als das benachbarte Volk im Norden, und dass es drei Hunos oder Bereiche von jeweils 10 000 Familien gab.
Er schreibt wörtlich: »Das Dorf von Caraguayallo stand an der Spitze des ersten Huno, das Dorf von Maranga, das sich in der Mitte des Tales befindet, an der Spitze des zweiten Huno und Surco an der Spitze des dritten Huno... Diese Dörfer, die die Hauptorte und Sitze der Regierungen waren, besassen zahlreiche, nicht weit voneinander entfernte Marktflecken, deren Namen heute kaum bekannt sind, sowie lokale Kultstätten, die im gesamten Tal zu finden sind; Erdbeben führten allmählich zu ihrem Einsturz und die Bewässerungskanäle werden verschwinden; aber trotzdem werden sie mehrere Jahrhunderte erhalten bleiben und uns an die Zeit der Indianer erinnern.« Aus dem Gesagten werden zwei Aspekte deutlich: Erstens gab es in der prähispanischen Epoche eine bestimmte soziologischpolitisch einheitliche Gruppe, die das untere Tal von Romac bewohnte; zweitens sind in dieser Epoche der Grossteil der antiken Bauwerke bereits Ruinen oder unförmige Erhebungen, deren Ursprung auch für Einheimische unerklärlich blieb.
Chronologisch betrachtet werden diese monumentalen Bauwerke in den Zeitraum InitialPeriode/Früher Horizont eingeordnet, der auch als »Formativum« bezeichnet wird, um auszudrücken, dass es sich um die erste Entwicklungsstufe komplexer Gesellschaften handelt. Die Formative Periode umfasst ca. einen Zeitraum von 3000 Jahren und endet im 4. Jahrhundert n. Chr., als lokale Stilrichtungen an Stelle des Stiles von Chavin treten.
Ab 2000 v. Chr. war das Gebiet von sesshaften Völkern bewohnt, die grosse öffentliche Bauwerke besassen und Ackerbau mit Sammlertätigkeit verbanden.
Von den Kulturpflanzen war zweifelsohne der Mais die wichtigste, da er die notwendigen Kohlehydrate lieferte. Kürbisse, Bohnen und andere Kulturpflanzen sowie Fische und Wild lieferten Proteine und zusätzliche Mineralstoffe. Ab 1800 v. Chr. sind erste Spuren von Keramik festzustellen.
An der Küste besteht die typische rituelle Architektur aus grossen Konstruktionen, die so angeordnet sind, dass sie grosse Plätze oder offene Flächen begrenzen. In vielen Fällen hatten diese Flächen einen runden, halb unterirdischen Platz. Diese Fundstellen sind eindrucksvoller und grösser als jene in der Sierra. Es scheint auch, dass die gesamte Bevölkerung und nicht nur einige Privilegierte an der Zeremonie teilgenommen hat.
Hochreliefverzierungen, mit Temperafarbe bemalt, schmücken den Grossteil dieser Monumentalbauwerke.
Der Umfang dieser Monumentalbauwerke hängt von der Bauzeit und von den für die Errichtung benötigten Arbeitskräften ab. Unter Berücksichtigung der Kosten und Gehälter sowie einer genauen Einteilung des Aushubpersonals ist die Errichtung von solchen Monumentalbauwerken aus heutiger Sicht praktisch unmöglich.
Die Errichtung von Bauwerken derartigen Umfangs, die den Transport grosser Mengen an Erde und Steinen mit unzureichenden Mitteln erfordern, und zwar in Gegenden, die nicht arm, aber von der Natur nicht besonders begünstigt waren, kann nicht genau erklärt werden. Gegenwärtig weiss man nicht, auf welche Art und Weise diese grossen Konstruktionen errichtet wurden. Die Annahme, dass »mit dem Sack über der Schulter« gearbeitet wurde, als ob es sich um ein Ameisenvolk mit Ameisenmentalität gehandelt hätte (d. h. der Mensch stellt sich in den Dienst seines Geschlechtes, ohne an seinen eigenen Gewinn zu denken), scheint nicht sehr überzeugend.
Der Versuch, die für die Errichtung dieser Monumentalbauwerke erforderlichen Manntage zu berechnen oder die Herkunft der Arbeitskräfte zu eruieren, führt zu keinem Ergebnis. Eine Analyse des verwendeten Verfahrens ist ebenfalls wenig überzeugend, nicht mangels Interesse, sondern weil die gesammelten Daten unzureichend sind. Hingegen ist es wichtig, die Ergebnisse zu analysieren und die umfassenden Kenntnisse zu überprüfen sowie auch das Qualitätsniveau, das dank dieser anonymen Konstrukteure erreicht wurde, denen es nicht nur gelang, diese Bauwerke zu errichten, sondern auch das Ergebnis ihrer Bemühungen zu vermitteln.
DAS ZEREMONIELLE ZENTRUM VON GARAGAY
Die Huaca Garagay in der Mitte des Tales von Lima vermittelt die beste Vorstellung von einem grossen, antiken, zeremoniellen Komplex.
Garagay: Rekonstruktion
Das Zentrum des Komplexes befindet sich zweifelsohne auf dem grossen ZeremoniellPlatz, dessen Abmessungen 215 x 415 m betragen und der von drei Baukörpern umgeben wird. Die Vorderseite im Süden und die Seiten im Osten und Westen sind von drei Pyramiden begrenzt. Diese Anordnung verleiht der gesamten Konstruktion die Form eines U, wobei die Nordseite offen ist.
Die Pyramide südlich vorne (Erhebung B) ist die Hauptpyramide und zugleich die grösste. Sie besteht aus drei Teilen, einem mittleren und zwei seitlichen. Ihr Grundriss ist rechteckig. Sie ist 383 m lang und 155 m breit und hat eine maximale Höhe von 23 m.
Der mittlere Teil ist ein vierseitiger Quader mit einer Seitenlänge von 140 m und einer Höhe von 23 m und enthält drei Plattformen, die stufenweise übereinander angeordnet sind; die erste Plattform besitzt eine Stiege auf der Vorderseite, die zweite ein Atrium mit drei Terrassen, die dritte ist die obere Plattform mit einem unterirdischen Platz. Die Seitenteile oder »Flügel« der Pyramide sind niedriger und offensichtlich viereckig. Die Abmessungen jedes Flügels betragen 122 m auf der Vorderseite und 100 m seitlich. Die Flügel können als Plattform, bestehend aus zwei Terrassen, gesehen werden; beide grenzen seitlich an den Mittelteil an.
Das Atrium des Mittelteils der Pyramide B ist offensichtlich das wichtigste Element der gesamten Konstruktion. Der Zugang ist eine Stiege von ca. 15 m Breite und 12 m Länge und beginnt am Sockel der Pyramide. Die Stiege ist durchgehend einläufig und besteht aus Steinmauerwerk, bedeckt mit einer dünnen Schicht Feinton. Die Stufen sind 40 cm hoch und 30 cm breit.
Garagay: Pyramide B. Kopf in Form eines Medaillons Garagay: Darstellung eines Tieres mit dem Maul eines Caniden
Das Atrium des Tempels ist eine rechteckige Konstruktion von 24 m Seitenlänge, die in den Mittelteil der nördlichen Vorderseite eingebunden ist und in die Pyramide hineinragt. Eine Mauer, beschichtet mit Ton und verziert mit mehrfarbigen HochreliefFriesen, umgibt seitlich die Konstruktion. Zwei Treppen, eine östlich, die andere westlich, unterbrechen die Seiten, um Zugang zur oberen Plattform der Pyramide zu gewähren.
Das Atrium besteht aus drei Terrassen, die auf unterschiedlichen Höhen angeordnet sind. Die beiden oberen Terrassen besitzen eine Reihe von grossen runden Schächten. Die erste Schachtreihe enthält Holzpfosten, die als Säulen dienten und instabile Abdeckungen trugen, die offensichtlich als Schutz für Friese dienten . Hingegen war die untere Terrasse eine Art viereckiger, halb unterirdischer Platz.
Die Friese an den den Wall begrenzenden Mauern bestehen aus einer Reihe von Bildern, die eine religiöse Prozession darstellen, die sich vom Eingang entlang der Treppe bis zum Mittelteil des Atriums fortsetzt. Jedes Bild ist vom folgenden durch eine Tafel getrennt, die mit einem abstrakten Motiv verziert ist. Die erste Abbildung neben dem Eingang ist anscheinend nachmodelliert, ausgebessert und gleichsam umgewandelt worden. Sie stellt einen Körper dar, dessen Kopf sich auf der anderen senkrechten Wand befindet.
Beide Darstellungen, die vollständig herausgebrochen und verändert sind, und zwar vor allem der Kopf, der eingerahmt wurde, um ihm das Aussehen eines Medaillons zu geben, entsprechen der Abbildung nach der nächsten Trenntafel. Es wird angenommen, dass es sich um das Paradigma des zentralen Bildes von Garagay handelt.
Garagay:Polychromer Fries und Säulen zur Abstützung des Daches
Das zweite vollständige Bild zeigt ein vergrössertes Tier mit dem Maul eines Caniden, einem fächerförmigen Schwanz und wahrscheinlich mit einer Art von Flügeln auf den Schultern . Dieser Darstellung folgen wieder eine Trenntafel und anschliessend eine beinahe vollkommen zerstörte Abbildung ähnlich der vorhergehenden. Dann folgt ein hervorstehender Block aus Adobe, verziert mit zwei unvollständigen, sehr schlecht erhaltenen Abbildungen, die zwei von drei senkrechten Bändern getrennte Gesichtsprofile darstellen.
Nach diesem Block findet man eine Treppe, die zur Spitze der Pyramide führt. Darauf folgt wieder ein Block, der auf dieselbe Art und Weise wie der vorige verziert, aber noch gut erhalten ist. Die Wand setzt sich weiter fort, und die Friese verlaufen anscheinend rund um den gesamten Raum. Dies entspricht einer symmetrischen Anordnung.
Garagay: Darstellung des Fabelwesens
Offensichtlich haben die Friese ein chavinoides Aussehen und, obwohl die Abbildung nicht ganz mit den mythischen Bildern des Tempels von Chavin de Huäntar übereinstimmen, kann man nicht leugnen, dass sie diesem Konzept entsprechen. In Garagay weisen einige Merkmale wie das Maul einer Raubkatze mit hervortretenden oberen Eckzähnen und die Darstellung der entgegengesetzten Gesichtsprofile auf Zusammenhänge mit der Kunst von Chavin hin, obwohl diese im 3/4Profil ausgeführt ist und kein für diese Abbildungen typisches Lippenband enthält. Ebenso gleicht die Darstellung des mythischen Wesens oder Hauptbildes von Garagay trotz des Alters der Bilder von Garagay dem Kaiman des TelloObelisken von Chavin de Huäntar.
Die Pyramide A (Erhebung A), die dem östlichen Flügel der gesamten Uförmigen Konstruktion entspricht, ist eine stufenförmige Konstruktion mit rechteckigem Grundriss. Die Länge beträgt ungefähr 110 m, die Breite 45 m und die Höhe 7 m. Wie Pyramide B besteht sie aus einem Mittelteil mit Stufen und zwei seitlichen Plattformen, wovon die südliche länger und tiefer als die nördliche ist.
Garagay: Anthropomorphe Darstellung im Profil (Fragment) Garagay:Treppe auf der Vorderseite, die vom mittleren Platz Zugang zur Pyramide gewährt
Der Mittelteil enthält drei übereinander angeordnete Bühnen. Die hohe mit 1,80 m hat an der Südfront eine Mauer, die sechs Kammern von 1,50 m Breite und 50 cm Tiefe abstützt. Die Kammern sind in zwei Gruppen zu je drei angeordnet. Links und rechts befindet sich eine grosse Nische, ein Kreuzgang oder ein unterer mittlerer Teil (2 x 2,5 m), der auf einer Seite offen ist und eine Stiege mit drei Stufen hat. An den Seitenwänden ist eine Gestalt , die anscheinend die Wache am Eingang darstellt, als farbiges Hochrelief mit einem grossen runden Schild abgebildet.
Die Bilder, eines auf jeder Seite der Wand, haben eine starke Ähnlichkeit mit jenem des gravierten Kriegers von Alto de las Guitarras im Tal von Moche.
Die sechs Kammern oder Nischen, die an beiden Seiten des Hauptteils angeordnet sind, hätten Bildnisse, von denen keine Spuren mehr vorhanden sind, enthalten können. Zwischen jeder Kam mer befinden sich drei eingeschnittene Abbildungen, die Köpfe darstellen; die am meisten realistische Abbildung ist ein menschlicher Kopf, ähnlich den Köpfen der Flachreliefs von Sechin, während die anderen Abbildungen Merkmale lithischer Skulpturen von Chavin de Huäntar aufweisen.
Vom stilistischen und ikonographischen Standpunkt haben diese Bilder eine Ähnlichkeit und Verbindung mit den Abbildungen von Mojeque, Cerro Blanco, Sechin und Alto de las Guitarras, die der CupisniqueKultur des »Formativs« entsprechen.
Eine Treppe an der Vorderseite , die im Mittelteil der Konstruktion zu erkennen ist, gewährte vom grossen mittleren Platz Zugang zur Pyramide. Ausserdem war diese Pyramide mit einem runden, halb unterirdischen Platz von 20 m Durchmesser verbunden, der sich in der Achse der Stiege 90 m westlich der ersten Stufe befand.
Diese Konstruktion hatte offensichtlich einen zeremoniellen Zweck und erinnert auf gewisse Art und Weise an den Alten Tempel von Chavin de Huäntar.
Der runde, vertiefte Platz hat einen Durchmesser von 12 m und eine Tiefe von 1 m. Er besitzt zwei Zugänge; eine Seite wurde durch eine Naturkatastrophe zerstört. Die Mauern waren rot gestrichen. Anscheinend gab es keine Dekorationen. Die Form des Platzes ist ähnlich dem runden Platz des Alten Tempels von Chavin.
Die Pyramide C (Erhebung C) ist der westliche Flügel der Konstruktion von Garagay. Sie ist 260 m lang und 115 m breit. Ihre Höhe beträgt 9 m. Obwohl die Erhebung mit Steinen und Kies bedeckt ist, kann man mit Sicherheit sagen, dass ihr Umfang grösser als jener der Pyramide A war; ausserdem zeigen die Unterschiede zwischen den beiden Pyramiden, dass die Flügel nie symmetrisch waren, was ein Beweis für die Unabhängigkeit jeder Pyramide wäre, auch wenn das gesamte sakrale Bauwerk die bereits erwähnte Form eines »U« hat.
Die Konstruktionstechnik des Bauwerks entspricht dem Modell antiker Pyramiden des »Formativs« der ZentralAnden. Zuerst wurde direkt auf dem Erdboden eine gitterförmige Kastenkonstruktion errichtet, dann füllte man sie abwechselnd mit Erde und Steinen. Schliesslich wurde diese Erd und Steinschicht befestigt, indem man sie mit einer Stützmauer aus herkömmlichem Mauerwerk umgab. Diese Mauer wurde aussen mit einem Lehmputz überzogen, der an manchen Stellen Reliefs in lebhaften Farben enthält. Durch Errichtung von Terrassen an den Aussenmauern wurde die Stabilität erhöht und die Konstruktion allmählich vergrössert. Diese Verstärkungs und Stützmauern von 70 bis 80 cm Breite bestehen aus kleinen Steinen und Abfällen. Sie sind zweiteilig, wobei die Teile durch einen zentralen Erdkern getrennt sind. Waren diese zusätzlichen Terrassen zur Unterstützung anderer Mauern bestimmt, dann bestanden sie aus Schichten von eckigen Steinen und Lehm, die abwechselnd übereinander aufgebracht wurden. Ihre Dicke betrug ungefähr 12 und 10 cm, ihre Höhe erreichte bis zu 2,8 m. Wenn sie einer grösseren Belastung standhalten mussten, wurde eine zweite Stützmauer zur Verstärkung der Terrasse verwendet. Für die Aufschüttung der letzten Ausbau und Umbaustufe der Pyramiden verwendete man halbrunde Adobe in einem Netz aus Binsen.
Die Aufschüttung enthielt kleine Mengen von Abfällen, aber es gibt keinen Hinweis, dass sie bewohnt waren. Der Unrat, den man in den Aufschüttungen oder in der den Boden — vor allem die Terrassen — bedeckenden Asche gefunden hat, enthält hauptsächlich Kies, Abschläge von Steinen und runde handgefertigte Adobe, Fragmente von Holzkohle, Nahrungsmittelreste und Fragmente von Keramik. Die Nahrungsmittelreste enthalten Knochen von Fischen, kleinen Säugetieren und vor allem Schalen von Meerestieren. Pflanzliche Überreste sind auf Grund der örtlichen Konservierungsbedingungen nur in geringen Mengen vorhanden. Man fand Agaven, Reste von Baumwolle und Lucuma.
Man entdeckte auch Basaltmörser mit rotem Farbstoff, Perlen aus Muschelschalen und Steinen, Figuren aus roher Erde, Torteras, Stoffreste, Binsennetze sowie Fragmente von Hochreliefs aus Erde, die von zerstörten Wandverzierungen stammen. Alle diese Entdeckungen stammen von Abfällen, die Keramik enthalten, die aber in bezug auf ihren direkten Zusammenhang nicht unterschieden werden können; dadurch ist es nur schwer möglich, festzustellen, welche Abfälle mit den Aufschüttungen und welche mit den Böden in Verbindung zu bringen sind.
SCHLUSSBEMERKUNGEN
Die komplexe und genau ausgeführte Ikonographie der Friese von Garagay, der Grundriss der Fundstätte, die Art der Plattformen und das Fehlen von häuslichem Unrat verstärken den zeremoniellen Charakter und die rituelle Funktion der gesamten archäologischen Stätte. Um die Funktion der Religion und der zeremoniellen Einrichtungen auszuwerten, wird es jedoch nötig sein, eine Reihe von — hauptsächlich spekulativen — Hypothesen über die soziale Organisation und den spezifischen Wert der Religion in bezug auf die Entstehung komplexer Gesellschaften im andischen Bereich aufzustellen.
Ausserdem ist Garagay nicht das einzige Phänomen. Andere Fundstätten mit Pyramiden desselben Umfangs und ähnlichen morphologischen Eigenschaften befinden sich in den angrenzenden Küstentälern. Im Tal von Rimac findet man La Florida, Pampa de Cueva, Las Salinas; im Tal von Chillon handelt es sich um die Stätten Huacoy, Chocas .
und Buenavista und im Tal von Lurin um Mina Perdida, Manchay Bajo und Cardal. All diese Fundstätten enthalten Keramikstücke, von denen C14Daten überliefert wurden, die ihr gleichzeitiges Bestehen mit Garagay beweisen. Komplexe mit ähnlichen Plattformen wurden auch an der gesamten Küste nördlich von Lima gefunden, und zwar in den Tälern von Chancay, Supe, Casma, Chicama, Jequetepeque und Piura.
Wir glauben nicht, dass diese Komplexe zum selben Zeitpunkt und nacheinander errichtet und verlassen wurden. Die wahrscheinlichste Annahme ist, dass sie zeitgleiche, zeremonielle Gruppen darstellen, die nach einem ähnlichen Anpassungsmodell funktionierten. Alle Angaben sprechen jedoch dafür, dass sich die Bewohner der Nord und Zentralküste ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. rund um lokale zeremonielle Einrichtungen niedergelassen haben, wo religiöse und mythische Bestrafungen durchgeführt wurden, um die Verhaltensregeln in ihren eigenen Bereichen zu rechtfertigen. Die Verbindung zwischen den lokalen zeremoniellen Einrichtungen, die gleichzeitig entstanden sein können, führte nacheinander zur Schaffung regionaler zeremonieller Bereiche, von denen man — architektonisch betrachtet — Grundrisse in Form eines U und runde, halb unterirdische Schächte entdeckt hat.
Ideologisch betrachtet, scheint die Idee dieses Entstehungsprozesses der andinen Kultur im alten Tempel von Chavin de Huäntar verwirklicht zu sein. Dies ist ein Gebäude mit Uförmigem Grundriss, das innerhalb des Platzes zwischen den beiden Flügeln und dem Hauptkern einen runden, vertieften Platz enthält.
Daher kann Chavin als Produkt der Kommunikation zwischen beiden Bereichen betrachtet werden. In der Entwicklung der andinen Zivilisation kann Chavin als Höhepunkt einer dezentralen Entwicklung der Rituale, deren Ursprung in den alten zeremoniellen Zentren der Küste — wie Garagay —liegt, gesehen werden.
DER FRÜHE HORIZONT (CA. 2000 — 400 V. CHR.)
Um 1500 v. Chr. sind die Grundlagen geschaffen, die die Entwicklung von Chavin de Huäntar erlauben, dem religiösen Zentrum dieser Epoche. Die Anlage besteht aus mehreren Gebäuden, die zwischen 1300 und 500 v. Chr. errichtet wurden. Dieser Ort wird — möglicherweise zu Unrecht — als die Wiege der Urkultur aller anderen altperuanischen Kulturen angesehen. Das ikonographische Hauptmotiv ist die menschenähnliche Figur mit den zurückgebogenen Eckzähnen — Katzenmensch — Krokodilmensch —, die sehr oft auf den Stützelementen erscheint.
In der Anlage wurden nacheinander zwei Tempel errichtet. Im älteren, mit Uförmigem, nach Osten offenem Grundriss, verläuft im Inneren ein Labyrinth von Galerien. Im Schnittpunkt zweier Galerien erhebt sich ein riesiger Monolith in Form einer Lanze — »El Lanzön«. Dieser erste Tempel wird später abgerissen, um dem Neuen Tempel oder »Castillo« Platz zu machen.
Von 800 bis 500 v. Chr. ist Chavin de Huäntar ein bedeutendes religiöses Zentrum. Die herrschende Klasse unterhält zwischenregionale Beziehungen, durch die religiöse Ideen, aber auch der Einfluss auf künstlerische Erzeugnisse bis in den Norden Perus und in den Süden bis Ayacucho und Ica verbreitet werden. Die bereits bestehenden religiösen Zentren passen sich der neuen Religion an und geben ihren eigenen künstlerischen Stil auf; dieser Einfluss wird besonders in Pacopampa und Condor Huasi (oder Kuntur WasiCajamarca) fühlbar.
In anderen Gegenden entlang der Küste befinden sich ebenfalls sakrale Bauten mit Uförmigem Grundriss, deren Datierung nicht immer geklärt ist.
Manche sind der Ansicht, dass Anlagen wie Cerro Blanco, Cerro Sechin, Moxeque, Garagay usw. schon vor der Blütezeit von Chavin bestanden hätten und dass der Neue Tempel mit seiner UForm eine Nachbildung der Anlagen an der Küste sei.
Bei den Keramikgefässen wird der älteste Stil »Ofrendas« genannt; die Behälter sind monochrom (schwarz, grau oder braun) und weisen Ritzornamente auf. Das Motiv des »Katzendämons‹, ist am häufigsten vertreten. An der Küste zeigt der Stil von Cupisnique eine Vorliebe für plastische Formen.
Fundstellen der Initialperiode und des Frühen Horizonts
Die Bildwerke von Chavin, wenngleich von imponierenden Ausmassen, sind eigentlich nur flach erhabene Verzierungen einer felsigen Fläche.
Die Steinbildhauerkunst begnügt sich mit eingeritzten Motiven und Flachreliefs. Der Lanzön, der Obelisk von Tello, die Raimondistele, um nur die berühmtesten zu nennen, zeigen Wesen mit zähnefletschenden Mäulern.
Wir wollen uns dennoch mit einer Besonderheit des »Lanzön« befassen. Diese Besonderheit steht in engem Zusammenhang mit einer Sorge des Menschen, gleich, welcher Zivilisation er auch angehört — dem Wetter. Chavin erweist sich hier als ein wirkliches Observatorium. Seine Ausrichtung gestattete es den Priestern, ihre Beobachtungen zu machen und die Verteilung von Pflichten — insbesondere der mit dem Ackerbau verbundenen — zu überwachen. Auf Grund eben dieser Beobachtungen liess die herrschende Klasse am Kreuzungspunkt zweier Galerien den »Lanzön« errichten, der ein oder zweimal im Jahr vom Sonnenlicht erhellt wurde. Der Einfluss von Chavin ist an der südlichen Küste bis zum Gebiet von IcaParacas zu spüren, wo die keramischen Erzeugnisse mit dem Motiv des ”Stabgottes« verziert sind.
Um 400 — 300 v. Chr. wird der Neue Tempel verlassen und zerstört. Dieses Ereignis bleibt bis heute ein Rätsel, zumindest sind die Gründe für die Zerstörung noch unbekannt. Das Ende dieser Herrschaft kündet eine neue Ära an — die Frühe Zwischenzeit.
Cerro Sechin (Ancash), Reliefblöcke in der Aussenwand der Anlage: Schreitender (a) und Darstellungen abgeschnittener Köpfe
IKONOGRAPHIE VON CHAViN: DER GOTT MIT DE FANGZÄHNEN
…die Ethnographie und die Archäologie können bei der Aufklärung gemeinsamer Probleme zusammenarbeiten... wie kann man daran zweifeln, dass der Schlüssel für die Auslegung so vieler noch unverständlicher Motive in den Mythen und Legenden liegt und uns daher unmittelbar zugänglich ist. Es wäre ein Fehler, diese Methoden, die uns den Zugang zur Vergangenheit vermitteln, ausser acht zu lassen. Sie sind geeignet, uns in einem Labyrinth von Ungeheuern und Göttern zu leiten, wenn schriftliche Zeugnisse fehlen und Statuen und Figuren nichts über sich selbst aussagen können...« (LeviStrauss 1948).
CHAVIN DE HUÄNTAR
Der monumentale Kern des grossen vorspanischen Zeremonialzentrums von Chavin de Huäntar (Callejön de Conchucos, Nördliche Sierra von Peru) erstreckt sich über eine Fläche von mehr als 50 000 m', am Zusammenfluss des Wacheksa und des Mosna (oder Puchka), eines linken Nebenflusses des Maranon. Bestehend aus verschiedenen rechteckigen Plattformen aus Stein, von massivem Aussehen, im Inneren von vielen Galerien und verschieden angeordneten Kammern durchzogen, die mit Belüftungssystem versehen und untereinander wiederum durch Gänge und Treppen verbunden waren, wurde dieses Bauwerk im Lauf des 1. Jahrhunderts v. Chr. (Früher Horizont) in mehreren Bauabschnitten errichtet. Der erste Komplex, genannt der Alte Tempel oder Tempel des Lanzön, entstand im 9. bis 8. Jahrhundert v. Chr. Man umbaute in Form eines nach Osten offenen U einen vertieften runden Platz und fügte dann immer wieder Aufbauten, Zubauten und Vergrösserungen des Südflügels an, bis der sogenannte Neue Tempel oder ›Castillo“ fertig war: ebenfalls in Form eines eckigen Hufeisens, in derselben Ausrichtung, aber bedeutend grösser, und der vertiefte Platz war qua dratisch. Der Neue Tempel erhielt seine endgültige Form zur Zeit der Hochblüte des Heiligtums, ungefähr zwischen dem 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. (Rowe 1962: 79; Burger 1981).
Die beiden Tempel waren mit bizarren Darstellungen von Göttern und schrecklichen Dämonen geschmückt. Im gesamten Bereich des Heiligtums wurden unzählige Abbildungen menschen und tierähnlicher Wesen entdeckt, als Reliefs auf Gesimsen, Säulen und Mauerabdeckungen oder als Menhire; einige in Gestalt von relativ lebensechten Adlern oder Jaguaren, andere mit zusammengesetzten oder monströsen, fantastischen Zügen. Was auch immer ihre wahre Natur sein mag — der Grossteil dieser Geschöpfe weist eine Katzenartigkeit auf, aus den Mäulern ragen bleckende Fangzähne und die Hände und Füsse (oder Tatzen) zeigen Krallen. Alle diese Darstellungen sind in einem sehr eigenen Stil ausgeführt, der ebenso kraftstrotzend wie auch fein und sehr komplex wirkt und offenkundig nicht nur von den Bewohnern dieser Gegend allein geschaffen wurde. Unter den vielen und verschiedenartigen Einflüssen wirkt der Stil in Chavin de Huäntar ausgefeilt und spektakulär.
Andererseits waren diese Kunstwerke der künstlerische Ausdruck einer Religion, eines Kultes, der sich über weite Teile des nördlichen und mittleren Peru ausgebreitet hat, mit Chavin als idealem heiligem Ort (Patterson 1971, Rowe 1976: 910, Pozorski & Pozorski 1987: 127132, Lanning 1971: 98100).
Der Erfolg einer solchen Religion — belegt durch die im gesamten Gebiet vorhandenen Abbildungen der Hauptgottheiten von Chavin auf Textilien, Gefässen und Gegenständen aus Metall, Knochen und Stein (Kan 1972, Sawyer 1972, Burger 1988: 117125) — markiert den Beginn einer interregionalen Integration und setzt eine weitreichendere Ausbreitung von Gütern, Gedanken und Erfahrungen in Gang. Er ist mit grosser Wahrscheinlichkeit einer der Hauptfaktoren für die beschleunigte kulturelle Entwicklung. Entscheidende Fortschritte geschehen sowohl auf dem Gebiet der Kunst und der Technik (Metallurgie, Weberei, Keramik, Steinmetzarbeiten, Architektur, Bewässerungstechnik) als auch im gesellschaftlichen Leben mit dem Auftreten der sozialen Schichtung. All dies vollzog sich auf der Basis einer beachtlich angestiegenen landwirtschaftlichen Produktion als Folge des Anbaus von Mais, der schon seit langem in der Andenregion bekannt, aber noch nicht das Hauptnahrungsmittel der Bewohner in diesem Gebiet war (Lumbreras 1974: 57; 1989: 9798). Die gleichzeitige Einführung von Mais bzw. sein intensiver Anbau in verschiedenen Regionen und das plötzliche Auftauchen von Erzeugnissen des Chavin (Bird 1948: 27, Pozorski 1979: 174; Bird & Bird 1980; 325; Pozorski & Pozorski 1987; 119120; Bonavia 1982: 347378) lassen vermuten, dass die beiden Phänomene zusammenhängen, möglicherweise als weitere Manifestationen eines einzigen Kulturkomplexes, der auf ein neues und eigenes System von kollektiven Glaubensbezeugungen und darstellungen ausgerichtet war (Katz 1974: 94; Disselhoff 1973: 242).
In unserer Darstellung möchten wir das Thema eines möglichen Zusammenhangs zwischen dem Ackerbau, insbesondere dem Anbau von Mais, und der Religion von Chavin näher beleuchten, indem wir uns auf die Suche nach direkteren und spezifischeren Bindegliedern machen. Dazu dient eine genaue Analyse der beiden Steinfiguren, des Lanzön und des TelloObelisken, die vermutlich die wichtigsten heiligen Darstellungen im Alten bzw. im Neuen Tempel waren.
DER JAGUARGOTT« DES LANZÖN
Die erste dieser beiden Steinfiguren (Abb. 24) ist ein Monolith aus Granit von mehr als 4,5 m Höhe, eine prismaähnliche Form, die sich nach unten verjüngt. Die Figur steht am Kreuzungspunkt zweier Gänge, fast in der Mitte des ältesten Tempelbezirks. Auf allen Seiten als Flachrelief bearbeitet, stellt sie ein Ungeheuer dar, das an eine Gorgone erinnert. Ihre Form wirkt wie eine riesige, in die Erde gestossene Messerklinge, weshalb Julio C. Tello (1923: 305) die Figur »Lanzön« (»grosse Lanze) nannte. Er verwendete einen Begriff, den bereits Josü Toribio Polo (1899: 199) in seiner Beschreibung prägte. Unter diesem Namen ist sie heute überall bekannt, auch wenn John H. Rowe (1962: 9) die Bezeichnung »Great Image« vorschlug. Letztere ist sicherlich viel eher zutreffend, da der Monolith nichts anderes als die in ihren Ausmassen imponierende und mit grosser Ausdruckskraft dargestellte Verkörperung eines schrecklichen und mächtigen Gottes ist.
Es handelt sich um einen gedrungenen menschengestaltigen Körper in aufrechter Stellung; der linke Arm hängt am Körper herab, während der rechte nach oben zeigt. Hände und Füsse sind mit grossen langen Nägeln versehen. Hingegen weist der Kopf ein ganz und gar nicht menschenähnliches Aussehen auf; er ist unproportioniert und monströs, mit Schlangen anstelle der Haare und Brauen, und mit einem riesigen, breiten Mund, der sich an den Mundwinkeln zu einem schrecklichen Grinsen hebt. Die fleischigen Lippen sind so weit geöffnet, dass sie die viereckigen, hervorstehenden Zähne unbedeckt lassen. Alle Zähne sind gleich gross, mit Ausnahme der beiden Fangzähne, die sich aus den beiden oberen Mundwinkeln nach unten krümmen. Auch die Nase mit den beiden grossen runden Öffnungen, die wie Nüstern wirken, ist eindeutig tierisch. Die Augen sind entsprechend dem Formenkanon von Chavin mit exzentrischer Iris dargestellt.
Als Kleidung trägt die Figur eine Art Tunika, die den ganzen Rumpf bedeckt. Als Schmuck dienen ein Paar Ohrringe mit voluminösen Ringgehängen, eine Halskette (oder ein Zierband an der Kleidung) und grosse Armreifen.
Die Kleidung wird von einem eigenartigen Gürtel vervollständigt, der aus einer Reihe exzentrisch angeordneter Raubtiermäuler in Seitenansicht besteht, die nach oben gerichtet und paarweise spiegelbildlich, jedoch mit gemeinsamen Fangzähnen angeordnet sind.
Der Uförmige Mund mit den zwei Fangzähnen, einer oben, einer unten, zeigt Lippen, die sich nach links und nach rechts fortsetzen und ohne Unterbrechung in die verlängerten Lippen der Mäuler übergehen, so dass ein langes Band entsteht. Zwei weitere Köpfe (vielleicht die Gürtelenden) hängen vorne an jedem Bein entlang herunter.
Schliesslich bilden zwei senkrechte Reihen von Mäulern katzenartiger Raubtiere, wieder spiegelbildlich angeordnet, sowie eine ganz oben angebrachte einzelne, nach oben blickende Figur die Dekoration des Scheitelaufsatzes, der an der Decke festgehalten wird. Auf der Vorderseite dieses Aufsatzes verläuft eine kleine senkrechte Rinne, die in eine Höhlung auf dem Kopf des Wesens mündet. An der Rückseite der Figur erkennt man eine dicke Kette; sie scheint senkrecht von oben herabzustürzen, um dann in der rechten Hand der Figur zu verschwinden und unter den Füssen wieder zum Vorschein zu kommen.
DER KULT DER RAUBKATZE
Angesichts der zahlreichen verschiedenen katzenartigen Charaktere hat Tello keine Bedenken, die Figur als mythischen Jaguar, die oberste Gottheit des Pantheons von Chavin, zu bezeichnen. »Das, was sich der Künstler vorgenommen hatte darzustellen« — schrieb er 1923 über jenen Lanzön — »das war die Art, wie dieser böse Geist zu verstehen ist, dieser Herr der Wälder, Ahn der stärksten Tiere der Schöpfung und der Menschheit, der zugleich Mensch und Tier war, der die grossen Kräfte der Natur beherrschte und ihnen gebot«. Etwas später geht er nochmals auf seine Behauptung ein und folgert: »Die Raubkatze ist die grundlegende Basis, die Urzelle, die strukturelle Einheit sämtlicher künstlerischer Darstellungen in Chavin. Dieses Tier, das sicher nichts anderes als der Jaguar ist, ist das heilige Zeichen, das Sinnbild der Rasse, das Urtier, das die Form und die ursprüngliche Natur der Gottheit auch über ihre übrigen Transformationen und Inkarnationen festhält. Die Statue der Raubkatze schmückt die Wände der Tempel und aller anderen heiligen Orte, ihr Bild erscheint in den Wahrzeichen von Göttern und menschlichen Wesen, wie der Anführer und Priester. Die Raubkatze ist das Vorbild, an das sich die Vorstellung des Künstlers hält, wenn er wünscht, die Götter darzustellen; es ist der göttliche Geist, der in den anderen Tieren Fleisch wird, wie die Schlange, der Kondor und der Fisch, welche die Zeichen seiner Macht darstellen, die sich im Licht, in der Sonne und im Mond konkretisiert« (Tello 1923: 307308, 310).
Es waren diese ständigen Hinweise auf andere Raubkatzen, die als mehr oder weniger veränderte Darstellung des Jaguars angesehen wurden, eines Tieres, das im Tropenwald lebt und einen bevorzugten Platz in den Glaubenssystemen vieler Bewohner dieses Gebietes einnimmt, die Tello zur Behauptung veranlassten (1932, 1942, 1943, 1960), dass es zu Beginn der ChavinKultur Traditionen gegeben habe, die in den waldigen Ausläufern der Ostanden unter den Bewohnern Amazoniens entstanden waren. Dann wurde der Kult der Raubkatze zusammen mit der Keramik, im Zuge der Wanderungen oder einfach durch Kontakte, in das Gebiet des mittleren und oberen Huallaga und in das Becken von Maranon gebracht. Von da stieg er entlang der Quertäler wieder in die Sierra hinauf.
In den ertragreichen und geschützten Tälern des nördlichen Peru hätten daher solche fruchtbaren Einflüsse aus Amazonien — die schon von den Bewohnern der östlichen Kordillerenausläufer positiv aufgenommen worden waren — das Auftreten der ersten Hochkultur der Zentralanden begünstigt, wenn nicht sogar bewirkt, mit Chavin de Huäntar als Ausgangspunkt für eine weitere Verbreitung sowohl in Richtung Küste als auch in die übrigen Andengebiete. Chavin hat daher nach Tello den nachfolgenden Kulturen innerhalb und ausserhalb seines direkten Einflussbereiches eine Reihe seiner typischen Merkmale hinterlassen und somit die Grundlagen einer grossen kulturellen Tradition geschaffen, die sich mutatis mutandis durch 2000 Jahre bis zur spanischen Eroberung fortgesetzt hat. Nach Tello war das Leitmotiv dieser tausendjährigen Tradition die Figur der Raubkatze, von ihm als Schlüsselidee, als tragendes Urbild, als »Kraft der Zusammengehörigkeit und Einigkeit» während des gesamten historischen Verlaufs der Andenkultur bezeichnet, von den Anfängen bis zu Tahuantinsuyu. Sogar Viracocha, das höchste Wesen und der erste Held der Inka (Rowe 1971; Demarest 1981), wäre in Wahrheit nichts anderes gewesen als eine einfache Transfiguration der unvermeidlichen Katzengottheit (Willey 1951: 134).
Vor kurzem wurde die Theorie Tellos über die Herkunft der ChavinKultur aus Amazonien von Donald W. Lathrap wieder aufgegriffen (1970, 1971, 1973, 1977, 1982).
TelloObelisk und Lanzön: Diese Figur befindet sich an der Kreuzung zweier Galerien im Alten Tempel von Chavin de Huäntar
DER »GROSSE KAIMAN« DES TELLOOBELISKEN
Es handelt sich um einen Monolithen mit rechteckigem Querschnitt, 2,5 m hoch, mit einer grossen künstlichen Einkerbung im oberen Teil. Die Figur ist an allen vier Seiten verziert und stellt ikonographisch gesehen das komlizierteste Kunstwerk der ganzen ChavinKultur dar (Rowe 1962: 12).
Der Stein wurde zufällig im Jahre 1908 in der Nähe eines weiteren Steinblocks von Bauern gefunden, die gerade dabei waren, im südwestlichen Teil des Grossen Platzes im Neuen Tempel Mais anzubauen. Dieser Steinblock wies an der Oberfläche sieben runde Höhlungen auf und wurde »Altar des Choqu'e Chinchay< genannt, nach einem Sternbild der alten Peruaner, das in einer berühmten Zeichnung des indianischen Chronisten Santa Cruz Pachacuti (1613) als hagelbringende
Raubkatze dargestellt wird (Tello 1923: 181182). Eine rinnenartige Vertiefung liess die Vermutung aufkommen, dass es sich um den Sockel des Obelisken handeln könnte (Lumbreras 1970: 8183).
Der Monolith wurde nach seiner Entdeckung von den einheimischen Behörden vor der Tür der Dorfkirche aufgestellt, wo ihn Julio C. Tello während seiner ersten, von ihm geleiteten archäologischen Expedition der Universität von San Marcos ins Departement Ancash »entdeckte« und, seine aussergewöhnliche Bedeutung erkennend, ins Universitätsmuseum nach Lima transportieren liess.
Zusammenfassende Beschreibung
Trotz des verwirrenden Durcheinanders der eingeritzten Figuren — in einer Art horror vacui, der anfangs die Entzifferung schwierig macht — lässt eine aufmerksame Untersuchung erkennen, dass es sich um eine einzigartige Darstellung eines monströsen, tiergestaltigen Wesens handelt (Abb. 25). Auf jeder Hauptseite des Obelisken kann man (von oben nach unten) den Kopf, den Körper und das Schwanzende eines theriomorphen Wesens in Seitenansicht erkennen, dessen Pranken an der geraden anschliessenden Seite angeordnet sind (rechts vom Betrachter aus gesehen). Die beiden Profile A und B sind nicht spiegelbildlich ausgeführt, sondern stellen einen Ablauf in gleicher Ausrichtung dar, so als ob es sich um zwei voneinander unabhängige Figuren handelte. Der Schwanz stellt die einzige Ausnahme dar, er erscheint auf beiden Seiten spiegelbildlich.
Das Ungeheuer hält sich auf eine unnatürliche Weise aufrecht, das Maul ist nach oben gerichtet, und der Körper scheint sich auf ein grosses Schwanzende zu stützen, welches an das eines Fisches oder Vogels erinnert, während die vom Bauch ausgehenden Pranken ins Leere zu hängen scheinen. Der Kopf des Tieres wird durch ein grosses, kaum geöffnetes Maul charakterisiert, aus dem oben eine Reihe auseinanderstehender, spitzer Zähne heraussteht. Von den vier menschenähnlichen, mit starken Nägeln bewehrten kurzen Fingern sind die vorne liegenden nach oben gebogen und reichen vom Oberteil des Rumpfes bis gerade unter die Kiefer, während die hinten befindlichen in die entgegengesetzte Richtung zeigen und unmittelbar von den Genitalien ausgehend bis zum Beginn des Schwanzanhanges reichen.
Der gesamte Körper des Tieres scheint mit zahlreichen pflanzenartigen und menschenähnlichen Motiven bedeckt zu sein; verstreut dominieren auch Raubtierköpfe mit bleckenden Mäulern und mächtigen Hauern in verschiedenen Formen und Grössen. Der eigentliche Bauch der Kreatur ist durch einen sehr langen Mund dargestellt, der oben und unten mit einer Reihe dreieckiger, spitzer Zähne versehen und von zwei ineinandergreifenden grossen Fangzähnen unterbrochen ist. Aus dem Maul des Tieres winden sich schlangenförmige Annexe. Auf dem Profil A scheinen diese eine grosse, zweischalige Muschel (spondylus) zu stützen oder zu umfassen, die mit einem Katzenmaul versehen ist, aus dem Schlangen heraushängen. Neben der Muschel ist ein Jaguar dargestellt, dessen Form und Verzierung jenem auf einem Mörser im University Museum in Philadelphia sehr ähnlich ist (Lavall& & Lumbreras 1986: 30, 26). Auf dem Profil B züngeln die schlangenartigen Annexe entweder an den Rücken eines kleinen geflügelten Wesens (das aber auch ein Fisch sein könnte) mit Katzenkopf, das gerade aus dem Maul des Ungeheuers gesprungen zu sein scheint, oder aber an den Schwanz eines bedrohlichen Raubvogels, der soeben mit ausgebreiteten Flügeln senkrecht aufzusteigen scheint. Ein Vogel, ähnlich dem ersten, aber durch die Verwitterung nicht mehr identifizierbar, befindet sich nahe beim Kiefer und auf der Tatze des Tieres, als ob er gerade verschlungen werden sollte.
Achim: Detail des TelloObelisken Maniokknollen: Detail des TelloObelisken Maniokstrauch: Detail des TelloObelisken
Auf Grund der besonderen Schnabelform und anderer morphologischer Zeichen kommt Donald Lathrap (1971: 7577, 1973: 97) zum Schluss, dass es sich bei diesen Raubvögeln, wie auch bei vielen anderen Figuren aus Chavin, um eine bestimmte Art von Adler handeln müsse, nämlich um die Arpia Arpya, die für den Tropenwald typische und mächtigste Spezies der Falkenvögel. Aus demselben Lebensraum sollen auch die verschiedenen Pflanzen stammen, die man — immer in Gesellschaft der Katzenköpfe — aus dem Becken, den Hintertatzen und den Federn des Monsters spriessen sieht. Nach genauer Untersuchung dieser pflanzenförmigen Gebilde glaubt Lathrap erkannt zu haben, dass es sich um die Wurzelknollen und den Strauch der Maniokpflanze (Manihot esculenta), handelt sowie um eine Achirapflanze (Cana edulis), um Pfeffer (Capsicum sp.) mit einer Blüte und vier reifen Früchten um eine blühende Weinrebe und eine Kürbisfrucht (Lagenaria siceraria), (Abb. 30), (Lathrap 1973: 99102). Alle diese Kulturpflanzen sind in der Selva beheimatet, Schliesslich findet sich in der Nähe der Maniokknollen (Abb. 27) und nahe der Obeliskenspitze ein weiteres, schwer zu deutendes Motiv, von dem Tello annimmt, dass es sich um Erdnusshülsen handelt (Arachis hypogaea), (Tello 1960: 184), eine Pflanze, die ebenfalls aus Amazonien stammt.
Interpretation
Das auf der Oberfläche eingemeisselte Bild ist sicher das einer der wichtigen Hauptgottheiten des lokalen Pantheons (Rowe 1962: 18). Tello hält es für die »wichtigste Darstellung des Raubtiergottes« der ChavinKunst. Es zeigt eine Doppelfigur des Jaguars, der obersten Gottheit, die auf der einen Seite (Profil B) gerade einen Vogel, einen Fisch und ein Schlangenungeheuer verschlingt und auf der anderen Seite (Profil A) nach der Mahlzeit, mit den Resten dieser Tiere vor dem Maul, zu sehen ist (Tello 1923: 274275). Eine Gottheit ist in zwei Ansichten zu sehen, »deren erstes Vorrecht es ist, den Sterblichen ihre Nahrung zu geben, deshalb hält sie solche Produkte zwischen den Tatzen. Unter ihrem ersten Erscheinungsbild befinden sich also die Produkte im Körper und in den Fortpflanzungsorganen, es sät sie, um sie zu vermehren. Unter der Einwirkung anderer Kräfte der Natur, symbolisiert durch einen Kondor, einen Fisch und ein schlangenförmiges Ungeheuer, verteilt der Gott Früchte und Samen. Aber während das Untier die untergeordneten Tiere, die jene Kräfte symbolisieren, zerreisst oder verschlingt, spriessen, wachsen und blühen die Samen, ohne Zweifel deswegen, weil diese Kräfte schwächer werden oder erlöschen. Der erste Aspekt der Gottheit könnte daher das Medium darstellen, das die trockene und heisse Jahreszeit bewirkt, während die Blüten verschwinden und nur die Samen übrig bleiben, der zweite Aspekt hingegen die kalte und regnerische des Winters, während der die Samen treiben und wachsen. Handelt es sich um einen Gott des Ackerbaus?« (Tello 1923: 286).
Eine derartige für den Ackerbau zuständige Raubkatzengottheit wird von Tello — auf Grund zahlreicher und zutreffender historischer und ethnographischer Informationen — in Huari identifiziert, als Gott der Stärke, der eng mit den Plejaden in Verbindung steht (Onqoy), mit Niederschlägen und mit Wasser und der nach einer in verschiedenen Andenregionen weitverbreiteten Legende mit Hilfe seiner magischen Kräfte die grandiosen Bewässerungsanlagen des Altertums gebaut hat (Tello 1923: 187).
Der stark agrikulturell ausgeprägte Charakter des Obeliskengottes wurde nacheinander von Rebeca Carriön Cachot und von Ernesta Cerulli erkannt. Erstere deutet die Gesamtfigur des mythischen Monsters als Raubkatze, oder noch eher als doppeltes Reptil, männlich und weiblich, als Symbol der vereinigten Kräfte des Universums, der Fruchtbarkeit und der Produktion der essbaren Pflanzen. Dies wäre gerade an der Metamorphose der Fortpflanzungsorgane in Samen und Früchte wie auch an den Katzen und Schlangenköpfen, deren Zungen sich in Pflanzen verwandeln, erkennbar. Carriön Cachot stellt sich daher unter Hinweis auf Tello vor, dass der Obelisk den Gott Onqoy, den Schöpfer, den Gott der Plejaden, den Verteiler von Nahrung und Beschützer der Getreidespeicher darstellt (Carriön Cachot 1948: 117119; 1958: 373; 1959: 406).
Die Auslegung von Cerulli ist subtiler; sie glaubt, dass auf dem TelloObelisk ein Mythos von der Entstehung der Menschen, Tiere und Pflanzen dargestellt ist, und bringt eine Mythe in Erinnerung, die 1683 vom Chronisten Antonio de la Calancha überliefert wurde. Dieser beschreibt die Entstehung der ersten Maniokpflanze aus den Gebeinen eines vom Gott Pachacamac getöteten Sonnensohns. Das Aufkommen der ersten Nahrungspflanzen aus einem zerstückelten tierischen oder menschlichen Wesen erscheint in zahlreichen Mythen Amazoniens. Cerulli glaubt daher, dass es sich um eine ähnliche Gottheit handelt wie Dema, ein Gott in der Mythologie Indonesiens und Melanesiens .
Bei diesen Völkern geht die Entstehung des Ackerbaus auf den gewaltsamen Tod gewisser Urwesen zurück, aus deren Leichen dann die ersten essbaren Pflanzen gewachsen seien. Ein derartiges mythisches Urereignis wird jedes Jahr von den Eingeborenen während eines grossen, mit dem Wachstumszyklus eng verbundenen Festes rituell wiedererweckt (Jensen 1948, 1960). In Chavin hätte eine ähnliche Vorstellung zur Feier der unterirdisch wachsenden Pflanzen ausgeübt werden können, was nach Cerulli dadurch bewiesen ist, dass man auf dem Obelisk Knollen der Maniokpflanze und andere körnerlose Pflanzen findet, aber keine Getreidesorte, nicht einmal eine so bedeutende wie den Mais, obwohl dieser damals in den Anden schon weit verbreitet war. Es handelt sich daher um einen Kult wie jenen des Dema, chtonisch, in Verbindung mit der Unterwelt, mit den Toten, der Finsternis, dem Mond und den Gewässern, symbolisiert durch die Fische, durch die Schlangen, durch die Muscheln. In diesem Zusammenhang müssen die immer wieder auftretenden Darstellungen grosser katzenartiger Mäuler — nach Cerulli — wahrscheinlich als Wiederkehr der Toten und des Todes auf die Erde interpretiert werden, was als der Ursprung der Menschen, der Tiere und der Pflanzen angesehen wurde.
Darstellung eines Kaiman, in Ritzdekor auf einem Knochenspatel aus der Anlage von Pallka
Auch Federico Kauffmann Doig hat sich mehrfach für die Figur des Obelisken interessiert (1976: 7980, 106, 128129; 1983: 253255; 1985 s. d.). Er ist der Ansicht, dass es sich um eine der ältesten Darstellungen der ”geflügelten Raubkatze« handelt, eines übernatürlichen Wesens, dessen weitläufige räumliche und zeitliche Verbreitung in den Anden er in zahlreichen Arbeiten zu beweisen sucht: Er sieht darin die oberste Gottheit, die in Verbindung mit den atmosphärischen Erscheinungen, den Niederschlägen, dem Wasser und der Nahrung steht, historisch unter dem Namen Illapa bekannt ist, als Donnergott und Blitzeschleuderer der Inka und als Quoa, die regenbringende Himmelskatze der jetzigen Andenbewohner im Süden Perus. Die ”Geflügelte Raubkatze< ist erkennbar an der besonderen Stellung der Tatzen (die Vordertatzen liegen vor den Hintertatzen, die nach hinten zeigen, wenn man sich das Bild waagrecht vorstellt), als ob das Tier durch den Himmel flöge, aber auch an den grossen eckigen Federn, aus denen der Schwanz zu bestehen scheint. Kauffmann ist weiter der Ansicht (1983: 254), dass die Unterschiede in den Details der beiden Seitenansichten mit den verschiedenen Attributen des Gottes in Verbindung zu bringen seien, während die fehlende Spiegelbildlichkeit der gegenüberliegenden Seiten einfach ein grober Kompositionsfehler des Künstlers oder der den Stein bearbeitenden Bildhauer ist.
Auch Rowe (1962: 1819) spricht von einem Fehler in der Darstellung, wonach das Ungeheuer des Obelisken ein Kaiman ist, obwohl an Stelle des Schwanzes die Phantasieflosse eines Fisches zu sehen ist. Da es ihm nicht gelingt, eine zufriedenstellende Erklärung für eine derartige morphologische Abweichung zu finden, nimmt Rowe an, dass dies auf die mangelnde Vertrautheit der ChavinKünstler mit dem Sujet zurückzuführen ist, da der Kaiman immerhin in viel tiefer gelegenen Gebieten lebt. Rowe stellt andererseits fest, dass analoge Figuren von Krokodilen mit Fischschwänzen auf einem Fries zu Beginn der grossen Aufstiegsrampe im Neuen Tempel sowie auf einer in Yauya, einem Dorf in Callejon de Conchucos, gefundenen Stele zu sehen sind (Rowe 1973: 18, 19, 267). Kann man aber bei einem Werk, das eine solche technische Meisterschaft, eine solche ästhetische Feinheit, eine solche ikonographische Vielfalt und vor allem eine solche Bedeutung auf religiössymbolischer Ebene aufweist, an einen Fehler denken, der überdies an anderen Orten (Chavin und Yauya) und zu verschiedenen Zeiten wiederholt wird? Die Stele von Yauya würde nach den Datierungen von Rowe (1962: 1213) und Roe (1974) zeitlich hinter den TelloObelisken gereiht gehören. Peter G. Roe räumt wohl ein, dass ein solcher Fehler theoretisch möglich wäre — man denke an die vielen Ungenauigkeiten und Irrtümer bei den ersten europäischen Darstellungen exotischer Tiere, wie des Elefanten oder des Rhinozeros —, glaubt es aber dennoch nicht. Tatsächlich beweist die Figur eines Krokodils mit Reptilschwanz, die auf einem Knochen eingeritzt in der Nähe der chavinzeitlichen Anlage von Pallka im CasmaTal gefunden wurde (Abb. 31) (Tello 1956: 48, 22), eindeutig, dass die Menschen von Chavin sehr genau die tatsächliche Morphologie des Tieres kannten, obwohl sie weit von der Selva entfernt wohnten. Roe schliesst daraus, dass die Flosse als bewusstes Detail von den ChavinKünstlern angebracht wurde, als »›kennzeichnender Bestandteil des mythischen Kaimans«. »Man kann sich unschwer vorstellen«, schreibt er, ››wie der Kaiman auf Grund seiner Lebensumstände und seines Aussehens sowohl mit den Attributen einer Raubkatze als auch eines Fisches dargestellt werden konnte und dennoch immer als ein von beiden Tieren getrenntes Ganzes bleibt« (Roe 1974: 2324). Alles in allem gesehen, müsste die eigenartige Flosse eben als ein Hinweis auf die Wasserwelt des Krokodiles verstanden werden.
Abgesehen von der Besonderheit des Schwanzes geht Roe bei der Identifizierung des Ungeheuers als Kaiman völlig mit Rowe konform. Er verstärkt seine Behauptung noch durch den Versuch, ikonographische Übereinstimmungen zu identifizieren, die in der ChavinKunst die Darstellungen von Katzen und Krokodilen unterscheiden. Nach Roe besteht der Hauptunterschied in der Darstellung der Tatzen. Diese seien im ersteren Fall verlängert und im Verhältnis zur Körperachse senkrecht, bei den Reptilien hingegen angezogen und parallel zum Körper, genau in jener Stellung, in der sich jene Tiere fortbewegen (Roe 1974: 23). An diese Beobachtung schliesst Lathrap die Feststellung an, dass zwischen dem Gebiss des Untieres des Obelisken und jenem des Kaimans eine erstaunliche Übereinstimmung besteht. Wenn dieser das Maul geschlossen hält, bleiben die oberen Zähne gut sichtbar, mit einem deutlichen Diastem zwischen dem vierten Maxillarzahn, der stärker als die anderen entwickelt ist, und den benachbarten Zähnen. Dies infolge einer breiten, seitlich geschlossenen Alveole, die den entsprechenden Zahn aus dem Unterkiefer aufnimmt. Alle diese der Familie der Alligatoren eigenen Charakteristika finden sich auf der zoomorphen Darstellung des Obelisken: Tatsächlich ragen aus seinem Maul vier hakenförmige Maxillaren, der vordere scheint massiver und von den anderen durch einen grösseren Abstand getrennt. Für Lathrap gibt es gar keinen Zweifel, dass man vor einem schwarzen Kaiman steht (melanosuchus niger), dem grössten und bösartigsten der Alligatoren Amazoniens — was ihn zum Wesen im Rang einer höchsten Gottheit prädestiniert (Lathrap 1982: 302303). Er liefert mit seinen Exkrementen reichliche und unerschöpfliche Nährsubstanzen für den Weiterbestand der Fauna.
Die Eingeborenen, gründliche Kenner ihrer Umgebung, hätten daher den Kaiman als höchstes göttliches Wesen ansehen können, entweder auf Grund seines schrecklichen und wilden Aussehens — dieser Räuber der Waldgewässer hätte sich bestens als Inkarnation des ›,mysterium tremendum« der übernatürlichen Kräfte geeignet — oder aber, weil er wegen seiner Fähigkeit, für die Entwicklung der Fische unentbehrliche Substanzen zu erzeugen und von sich zu geben, auch als Inkarnation der schöpferischen und wohltätigen Kräfte der Natur angesehen werden konnte (Lathrap 1985: 245249).
Auf Grund dieser Beobachtungen, der Analyse verschiedener ikonographischer Bestandteile des TelloObelisken und ethnographischer Angaben über Religionen und deren Darstellungen bei den Bewohnern Amazoniens, die als Ursprung der ChavinKultur angesehen werden, gelangt Lathrap zu einer Reihe überzeugender, wenn auch hypothetischer Schlüsse, über die Natur und die Bedeutung des Monuments und der darauf dargestellten Figur.
Zusammenfassend behauptet er: Die Hauptgottheit des Pantheons von Chavin war der Kaiman, der »Grosse Kaiman«, der vor allem wegen seiner Fischattribute als »Herr der Fische« angesehen wurde. Er war eine mythische Figur, im Tropenwald und auch in anderen Regionen Südamerikas verbreitet (LeviStrauss 1948). Auf einer zweiten, höheren Ebene wäre der »Grosse Kaiman« die Verkörperung eines zugleich konträren wie auch komplementären Götterpaares, d. h. der »Grosse Kaiman des Himmels« (Profil B), wobei der erste an den zwei Muscheln (eine der Art Strombus, die andere der Art Spondylus), und an Symbolen des Meeres, der Gewässer und der Fruchtbarkeit erkennbar ist, der andere durch den harpyienartigen Adler, den Beherrscher des Himmels über Amazonien. Ein derartiges Paar mythischer Wesen würde sich vor allem als Träger und Verteiler von Kulturpflanzen darstellen, wobei dem Grossen Himmelskaiman Pflanzen zugeordnet werden, die sich durch Körner vermehren, und dem Grossen Kaiman der Unterwelt Knollenpflanzen.
Von den vielen dargestellten Pflanzen ist anscheinend die Maniokpflanze die wichtigste, entweder weil sie mit so grosser Natur und Detailtreue dargestellt ist oder aber, weil sie dem Penis der Gottheit wie ein Samen entspringt. Hingegen wird der Mais völlig ausser acht gelassen, eine Kulturpflanze, die anscheinend für die Bevölkerung Amazoniens, den Ursprung der ChavinKultur, gänzlich ohne Bedeutung war; der Jaguar an der Spitze des Obelisken und die übrigen Katzenfiguren, die im Verhältnis zum Kaiman untergeordnet dargestellt sind, wären somit die Mittler zwischen dem Himmel und der Erde und zwischen der Obersten Gottheit und dem Menschen. Diese Rolle scheint übrigens dadurch bestätigt, dass alle Kulturpflanzen aus den Katzenmäulern spriessen (Lathrap 1973: 9697; 1977: 741742; 1982: 301302).
Schliesslich ist Lathrap noch der Ansicht, dass der Grosse Kaiman in seiner Gesamtheit die beiden Hälften des Universums verkörpern könnte, die Oberwelt und die Unterwelt, die ständig durch eine Öffnung in Verbindung stehen, durch welche der Strom der übernatürlichen Kräfte fliesst. Diese Öffnung wird durch einen Kreis verkörpert, der sich oberhalb der Vordertatze des Profils A in einem an den Ecken gezahnten Karree befindet. Ein derartig eigenartiges geometrisches Motiv ist auch auf der Stele von Yauya dargestellt und wird von Lathrap Ushnu genannt, weil es in seiner Bedeutung mit diesem QuechuaBegriff »Wirbel, Anziehung, Verschlingen« übereinstimmt. Im übrigen ist der Ushnu das stilisierte Symbol für den vertieften runden Hof des Alten Tempels von Chavin, dessen Bestandteil der TelloObelisk war (Lathrap 1985: 251). Lathrap weist die von Rowe vorgeschlagene Datierung zurück und meint, dass es sich tatsächlich um die älteste Kultfigur von Chavin de Huäntar handelt, die nicht an Ort und Stelle hergestellte, sondern zum Zeitpunkt der Gründung des eigentlichen zeremoniellen Zentrums hertransportiert wurde, als »die wichtigste axis mundi von einem tiefer gelegenen Ort, entlang des Beckens von Maranon, vielleicht von Yauya, nach Chavin de Huäntar verlegt wurde«. Zur Bekräftigung dieser Theorie vom hohen Alter des Monolithen bringt der Autor vor, dass es sehr ähnliche Züge wie eine andere Figur auf einem Lehmfries in der Anlage von Garagay nahe von Lima aufweist (Lathrap 1985: 249; Ravines & Isbell 1975; Burgher 1981).
Was den «Patio« in der Mitte des Uförmigen Tempels betrifft, so verweist Lathrap eindeutig auf die Hypothese von Carlos William Leön, wonach ein solcher Platz die Funktion eines heiligen Gartens für die Kultivierung der wichtigsten Nährpflanzen und für das Abhalten von damit verbundenen Fruchtbarkeitsriten hatte. Die Hypothese stützt sich auf folgende Feststellungen: Entlang der mittleren Küste Perus (und auf dieses Gebiet beschränkt sich die Analyse von Williams) befinden sich sämtliche alten zeremoniellen Zentren in UForm (wie jene in El Paraiso, La Florida und Garagay) immer in intensiv bebauten Ackergegenden, zwischen Plattformen mit bewässerten Feldern; die Öffnung der Bauten war entgegengesetzt zur Laufrichtung der Flüsse, um das Wasser bei Hochwasser aufzufangen; an den Seiten des zentralen Kerns blieben ein oder zwei Durchlässe frei, um das Wasser abfliessen zu lassen.
Dieses System wird heute noch von den Bauern mit grossem Nutzen angewandt. Diese zentralen Höfe, die immer sorgfältig eingeebnet sind,gleichen in ihren Dimensionen eher wirklichen A'•\5) Feldern als zeremoniellen Plätzen. Nach Williams handelte es sich deshalb um besondere Gärten, in denen in einem höchst rituellen Vorgang der experimentelle Anbau von Mais und anderen Nahrungspflanzen ausgeübt wurde, um die Qualität und den Ertrag zu verbessern (Williams 197880: 109110; 1985: 233234). Lathrap schliesst daraus, dass diese heiligen Gärten das gesamte bebaute Ackerland symbolisierten und dass ihre Bewässerung, auch wenn sie höchst symbolisch war, für alle Felder von befruchtendem Wert war, so dass die Hauptfunktion der alten zeremoniellen Zentren in den Anden gerade darin bestand, jene Kräfte zu polarisieren, die die Niederschläge regeln und die Kulturen mit Wasser versorgen. Was den Uförmigen Grundriss von Chavin selbst und vieler anderer Stätten der gleichen Epoche betrifft, so ist Lathrap überzeugt, dass es sich um die makroskopische architektonische Darstellung der Fangzähne des Kaimans handelt (Lathrap 1985: 244245, 255).
AUF DER SUCHE NACH EINEM VERLORENEN MYTHOS
Sicherlich war kein anderes Monument, weder aus der Chavin noch aus einer anderen präkolumbischen Kultur, Gegenstand so vieler Untersuchungen und Auslegungen wie der TelloObelisk. Seine komplexe Ikonographie hat das Interesse einiger der bedeutendsten Peruforscher hervorgerufen, die über das dargestellte Sujet die vielfältigsten Hypothesen geäussert haben: Jaguar oder Kaiman, »Geflügelte Raubkatze« oder »Herr der Fische«, Wesen aus der Himmelswelt oder der Unterwelt, männlichweiblicher Doppelgott, Gott der Jahreszeiten oder DemaGottheit? Der einzige Punkt, über den sich alle Spezialisten einig zu sein scheinen, ist jener, dass es sich um eine eng mit der Landwirtschaft in Verbindung stehende Gottheit handelt. Was das übrige betrifft, so scheinen manche Hypothesen eher logisch und plausibel, andere eindeutig phantastisch, aber alle mit dem uns zur Verfügung stehenden ikonographischen und archäologischen Material schwer beweisbar. Es ist aber nicht unmöglich, die Bedeutung der Figur des Obelisken und der Religion von Chavin zu begreifen. Rowe (1962: 1417; 1972: 257265) behauptet, dass die Kunst von Chavin figurativ ist, die Bilder aber oft unverständlich werden, sei es durch die Verwendung einer Reihe von stilistischen Überlieferungen (wie die zweiseitige Symmetrie, die reihenartige Wiederholung von Details oder ganzer Figuren, der modulartige Aufbau von horizontalen Bändern nach einem starren Schema, die geometrische Darstellung anatomischer Züge) oder sei es durch die Verwendung fortlaufender visueller Metaphern, wie die Darstellung von Schlangen anstelle von Haaren oder von Zungen anstelle von Gliedern. Im Zusammenhang mit diesen visuellen Metaphern bemerkt Rowe: die am häufigsten in der ChavinKunst dargestellte Figur ist der Mund jeder Art von Kreatur, wie der eines brüllenden Raubtieres, mit sichtbaren Zähnen und über den Lefzen liegenden langen, spitzen Fangzähnen. Das Raubtier, von dem sich die Künstler inspirieren liessen, ist wahrscheinlich der Jaguar, ein im gesamten tropischen Amerika wegen seiner Kühnheit und seiner Kraft legendäres Tier. Wie der Jaguar haben die meisten der Raubkatzen, die mit ganzem Körper in der ChavinKunst dargestellt sind, ein geflecktes Fell. Das Raubtiermaul erscheint nicht nur in seinem natürlichen Zusammenhang, in der Darstellung eines Raubtieres, sondern auch als Mund eines menschlichen Wesens, als Maul einer Schlange und, höchst eigenartigerweise, auch als Schnabel eines Vogels... Vielleicht ist die logischste aller verschiedenen Erklärungen die, dass das Raubtiermaul dazu diente, die göttlichen und mythischen Figuren von der natürlichen Welt zu unterscheiden, also eine Gleichbedeutung der Kraft des Jaguars mit den übernatürlichen Mächten andeutend. Wenn es so ist, dann könnte man das Raubtiermaul als... eine allegorische Figur betrachten. Es ist aber auch möglich, dass das Raubtiermaul einen Hinweis auf irgendeine verlorene Überlieferung der Mythologie von Chavin darstellt« (Rowe 1972: 262).
Mit dieser letzten Hypothese werden wir den Versuch zur Dechiffrierung des TelloObelisken beginnen. Wurde tatsächlich nichts von den Mythen, den Legenden, vom Volksglauben und den kollektiven Darstellungen überliefert, die die alten Künstler von Chavin inspiriert haben? Wenn man die archäologischen und ikonographischen Spuren aus der vorkolumbischen Zeit, die Mitteilungen der Chronisten und Missionare des 16. und 17. Jahrhunderts, der Reisenden des 18. und 19. Jahrhunderts und die zeitgenössischen ethnographischen Angaben einander gegenüberstellt, bietet sich ein Bild einer sehr langen kulturellen Überlieferung, mit Grundmodellen des Begreifens und Auffassens der Wirklichkeit, des Verhaltens, der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, religiösen und räumlichen Ordnung, die sich von der vorgeschichtlichen bis zu unserer Zeit nur wenig verändert haben.
FORTDAUER DES VOLKSGLAUBENS UND DIE DARSTELLUNGEN DER CHAVINKULTUR
Untersuchungen von Ana Maria Mariscotti de Gorlitz (1978) über den Kult der Erdmutter, von Alejandro Ortiz Rescaniere (1980) über die Mythologie, von Gary Urton (1981) über die Astronomie und Kosmologie, von John Reinhard (1983) über Bergkulte und von Michael J. Sallnow (1987) über die Rituale von Pilgerfahrten zu Heiligtümern und heiligen Stätten im allgemeinen zeigen eindeutig, dass die Art zu leben, zu denken, sich gegenüber anderen Menschen zu verhalten, heute genau so ist wie in der vorkolumbischen Epoche, trotz einer fünf Jahrhunderte währenden europäischen Präsenz in diesem Gebiet.
Wie weit aber kann man diese kulturelle Überlieferung zurückführen? Es ist sicher, dass alle Elemente, die die andine Kultur charakterisieren, so wie sie sich uns durch historische Quellen und ethnographische Beobachtungen darbietet, schon während der MocheEpoche klar ausgeprägt und in Verwendung waren (Hocquenghem 1987). Diese Epoche erstreckte sich zwischen 200 und 600 n. Chr. (Frühe Zwischenzeit) in den Küstentälern im Norden Perus, von Lambayeque im Norden bis zum Nepenatal im Süden, über ein bedeutendes Gebiet des alten Einflussbereiches der ChavinKultur (Donnan 1978: 3).
Die MocheKeramik leitet sich von der CupisniqueKultur ab (die mit der ChavinKultur eng verbunden war), sie zeigt besonders in der Phase III typische ChavinMotive, wie den klassischen Raubtierkopf mit den grossen Fangzähnen.
Darstellungen mit Einflüssen der ChavinKultur wurden aber noch weiter entfernt, zum Beispiel in Pucarä aufgefunden, wo zu Beginn unserer Zeitrechnung ein riesiges urbanes und zeremonielles Zentrum auf dem Hochplateau im Süden Perus bestand (Rowe 1971a). Einige Fachleute (Patterson 1971: 4546) sind der Ansicht, dass sich der religiöse Komplex der ChavinKultur gerade durch und über Pukara auf die grossen Kulturen von Tiahuanaco und Huari übertragen hat, die damals während des Mittleren Horizonts (6001000 n. Chr.) über die Zentralanden verbreitet waren.
Hier erlebte die Ikonographie von Chavin eine erstaunliche Wiedergeburt. 'Es bestehen kaum Zweifel«, bestätigt William H. Isbell (1988: 180) nach ikonographischen Vergleichen, »dass die Ikonographie in Tiahuanaco Teil einer mythischen Überlieferung ist, die ihre Wurzeln in der ChavinKultur hat«. Tiahuanaco, das seinen Einfluss über das gesamte Titicacabecken, Zentralperu und Nordchile ausdehnte, vermittelte seinerseits seine eigene religiöse Ikonographie der HuariKultur, die während der letzten Jahrhunderte des ersten nachchristlichen Jahrtausends ein gesamtperuanisches Reich bildete und somit auch die alten Territorien von Chavin und Moche umfasste. In der HuariKunst wiederholen sich die Darstellungen übernatürlicher Wesen mit raubtierhaften Zügen. Nach dem Untergang von Huari lebten die ChavinTiahuanacoHuariMotive bei den Chimü, direkten Nachfahren der Moche, fort, welche unter ihrer Herrschaft — vom 13. bis 15. Jahrhundert — die Küstentäler Nordperus vereinigten, bevor sie den Inkas ungefähr 70 Jahre vor der Ankunft der Spanier (Rowe 1971a) unterlagen.
MYTHOS ÜBER DIE ENTSTEHUNG DER PFLANZEN
Die über zwei Jahrtausende — vom Frühen Horizont bis zur protohistorischen Zeit — anhaltende Beständigkeit von ikonographischen Motiven, die eindeutig mit mythischen Themen in Zusammenhang stehen, in Verbindung mit einer nachgewiesenen Kontinuität bestimmter Kulturmodelle seit der MocheEpoche bis in unsere Tage, lässt plausibel erscheinen, dass sich in der mündlichen Tradition der AndenIndianer heute noch Elemente oder Spuren eines alten Glaubens erhalten haben, die einst die phantastischen Bilder der Götter und Dämonen von Chavin beeinflussten. In der zeitgenössischen mündlichen Überlieferung gibt es eine mythische Erzählung, die eine klare Erklärung für die Darstellung des TelloObelisken liefert, sowohl in seiner Gesamtheit als auch für jedes Detail, dass sie uns förmlich zu dem Gedanken zwingt, dass es eine moderne, verarmte und ihrer ganzen Epik beraubte Variante des Grundmythos ist, auf dem die ganze ChavinReligion beruht. Diese Hypothese ist um so höher zu bewerten, als die Geschichte in der eigentlichen Region von Chavin erzählt wird. Es handelt sich um den Mythos von Achkay, der von M. Toribio Mejia Xesspe auf Grund von verschiedenen Erzählungen zusammengestellt wurde, die er in den Jahren 19331934 von Eingeborenen im Pomabamba, in Chavin de Huäntar und an zwei weiteren Orten gehört hat.
Im ersten Teil wird die Geschichte von zwei kleinen Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, erzählt, die während einer grossen Hungersnot von ihren verzweifelten Eltern in einen Abgrund geworfen wurden. Auf wunderbare Weise wurden sie von einem Kondor gerettet, der sie aber in der Gegend von Chavin de Huäntar verliess. Die Geschwister kamen zum Haus einer alten Frau namens Achkay, die mit ihrer Tochter Oronkay in der Gegend lebte. Die Frau verstellte sich und nahm die Kinder freundlich auf. In der Nacht aber verschlang sie den kleinen Jungen und befahl am nächsten Tag ihrer Tochter, das kleine Mädchen zutöten und zu kochen. Dieses wurde von einem Frosch gewarnt und warf durch eine List Oronkay in den Kochtopf. Dann floh das Mädchen in die hohen Berge, nahm aber die Knochen seines unglücklichen Bruders mit. Achkay, die nichts von den Ereignissen wusste, verschlang den Inhalt des Kochtopfes, nämlich ihre eigene Tochter, die sich nun auf ewig in ihrem Magen befand. Nach der grausigen Entdeckung sann sie auf Rache und machte sich auf den Weg, das kleine Mädchen zu suchen. Diesem wurde aber auf seiner Flucht von verschiedenen Tieren geholfen — vom Kondor, vom Fuchs und vom Hirsch. Alle Tiere des Landes — so der Text des Mythos — boten ihren Schutz an. So gelangte das kleine Mädchen ins Reich der Kullkush, der Turteltauben der Puna, die sie um Hilfe beim Tragen der Gebeine des Bruders bat, weil sie schon sehr müde war. Eine der Turteltauben versprach ihm, sie würde den Bruder wieder zum Leben erwecken, nur müsste das Mädchen alle Knochen in einen Strohkorb legen. Bevor der Vogel wegflog, um Körner zu suchen, gebot er dem kleinen Mädchen, keinesfalls in dem Korb nachzusehen, was mit den Knochen geschähe.
Achkay, die den Spuren des kleinen Mädchens gefolgt war, gelangte ebenfalls ins Land der Kullkush und stiess einen drohenden Schrei aus, als sie das Mädchen erblickte. Dieses war verzweifelt, als es die Taube nicht zurückkehren sah, öffnete den Korb und sah zu seiner Überraschung, dass sich die Knochen in den Körper seines Bruders zurückverwandelt hatten. Es war überglücklich, aber als es die Hand seines kleinen Bruders ergriff, verwandelte sich dieser in einen Kashmi (kleiner weisser Hund). Gefolgt von seinem neuen Begleiter, floh das kleine Mädchen in die fruchtbare Hochebene. Dort traf sie auf ein Vikunja, das eine Goldschnur um den Hals trug. Diesem erzählte es von seinem Missgeschick und bat, ihm die Schnur zu leihen, damit es in den Himmel klettern könne. Das Vikunja lieh dem Mädchen seine Goldschnur, das sofort, begleitet von seinem Bruder, den Aufstieg in das Himmelsgewölbe begann. Inzwischen traf auch Achkay das Vikunja; als sie das kleine Mädchen in den Himmel klettern sah, verlangte auch sie ein Seil, um dem Mädchen folgen zu können. Das Vikunja gab ihr ein Queschua (eine Strohschnur), das am Ende ein Ukush (eine Maus) trug. Achkay warf das Seil in die Luft und begann unerschrocken hinaufzuklettern, überzeugt, dass ihr der kleine Flüchtling diesmal nicht entkommen werde. Als sie sich dem Mädchen näherte, schrie sie ihr zu: «Warte nur, Elende, du wirst mir für den Tod meiner Tochter mit dem Leben bezahlen!« Aber während sie ihrem Opfer folgte, hörte sie ein Geräusch, das die Maus machte, und sie fragte: »Nun, schönes Mäuschen, sag mir, was du da mit so grosser Begierde frisst?« »Ich kaue die harte Kamcha meiner Grossmutter«, antwortete die Maus. Das Tier fuhr fort, ruhig die Fasern des Seils zu zernagen, bis dieses an einem bestimmten Punkt unter der Last von Achkay zerriss. Die Alte fiel mit einem gellenden Schrei zu Boden. Als sie sich verloren sah, rief sie ihre Helfer, die ihr eine Decke bringen sollten, damit sie nicht auf die Bergspitzen fallen würde. Die von Achkay ausgestossenen Hilfeschreie prallten von den Bergen ab und verwandelten sich innerhalb der Schluchten und Abgründe von Chavin de Huäntar in zahlreiche Echos. Dieses Echo ist heute noch unter dem Namen Huari zu hören. Der Körper der bösen Achkay zerschellte auf dem Berg Rakan Shapra, am linken Ufer des Flusses Puchka, nahe den Ruinen des Tempels von Chavin. Das Blut, das aus dem Körper herausspritzte, fiel an einem anderen Ort desselben Gebietes nieder. Dieser Ort heisst Wilakota und ist ein kleiner See am linken Ufer dieses Flusses.
Die Überreste des Körpers flogen in alle Himmelsrichtungen; aus ihnen entsprossen viele Waldund Gartenpflanzen, die auch heute noch im Land der Conchucos blühen. Aus den Armen und Beinen entsprossen die Kakteen (Kashas), aus den Nägeln die Zwetschgenbäume, aus der Haut die Brennesseln, aus den Augen die Erdäpfel und »Olluco«, aus den Zähnen der Mais, aus den Fingern »Oca« und »Mashwa« und so fort.
PARALLELEN ZUR DARSTELLUNG DES OBELISKEN
Die Ähnlichkeiten der Erzählung aus den Anden von heute mit der Darstellung auf dem TelloObelisken sind vielfach und überzeugend. Es besteht kein Zweifel, dass es sich bei dieser Erzählung um einen echten Mythos über die Entstehung der Pflanzen handelt, die aus den »membra delecta« eines bösen Wesens und Menschenfressers entsprungen sind. Dieses Wesen wird getötet, als es mit Hilfe eines Seils ein kleines Mädchen und dessen Bruder verfolgt, in der Absicht, diese zu verschlingen. Das Seil wird von einer Maus abgebissen; das Ungeheuer stürzt ab, und aus seinen zerschmetterten Gliedern wachsen verschiedene Arten von Pflanzen, während die beiden Kinder das Firmament erreichen und sich in Sterne verwandeln. In gleicher Weise sehen wir auf dem TelloObelisken eine monströse, fleischfressende Kreatur mit den Zügen eines Krokodils, aus dessen Körper eine Reihe von Kulturpflanzen spriesst. Die Beschreibung des Ungeheuers, »in aufrechter, unnatürlicher Haltung«, mit dem Rachen nach oben und die Tatzen im Leeren hängend, scheint im Lichte der Legende nun nicht mehr so aussergewöhnlich. Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass man die schreckliche Bestie beim Hinaufklettern in die Luft, auf der Jagd nach seiner Beute, hier durch einen Jaguar und einen oder zwei Raubvögel versinnbildlicht, ebenfalls in senkrechter Haltung dargestellt hat.
Im Zusammenhang mit dieser Szene wird auch der eigenartige Vogel oder Fischschwanz verständlich. Es handelt sich mit grösster Sicherheit um einen gefiederten Schwanz, ein Attribut, das allgemein einem zum Himmel aufsteigenden übernatürlichen Wesen zugeordnet wird. Nicht die mangelhafte Kenntnis der wirklichen Morphologie eines Kaimans, wie dies Rowe von den Künstlern von Chavin annimmt, hat sich hier manifestiert; das ornithologische Element gilt als Symbol für den Ort, die Luft, in der sich das mythische Geschehen abspielt, und für die Bewegung, das Aufsteigen.
Was das reissende Seil betrifft, so finden wir auch auf dem Obelisken zwei Seilstücke: eines von oben herabhängend und bis zum Rachen des Tieres reichend, das andere, halb um das Tier gewickelt, schlaff und herunterhängend bis unter die hintere Tatze auf Profil A. Dass es sich hier eindeutig um ein Seil und nicht um irgendein Ornament oder um eine Reihe von Erdnussknollen handelt, wie Tello vermutete, wird dadurch bewiesen, dass auf dem Lanzön, ungefähr an denselben Stellen. d. h. oberhalb des Kopfes und unter den Tatzen des Ungeheuers, die Teile eines dicken Seils oder einer Kette) dargestellt sind, straff und senkrecht zum Boden gespannt und mit zwei verdreh:en Strängen (Abb. 24). Auch hier hat es den Anschein, dass die Enden des Seiles über das Monument hinausgehen und sich im Boden und in der Decke verlieren. Ausserdem ist es überaus bedeu:.ingsvoll. dass das Seil senkrecht gerade bis zur erhobenen Tatze der Figur herabfällt, so als wollte sich diese noch festhalten. Mit Hilfe dieses Schlüssels finden auch die »exzentrischen Augen« noch '131' eine logische Erklärung, ebenso wie die vielen ", anderen katzenartigen Figuren der Ikonographie von Chavin: Diese bedeuten ganz einfach die Blickrichtung des Monsters, nämlich nach oben gegen den Himmel, der Beute nach.
Darstellung von Raubkatzen und Schlangen auf der Gesimsplatte an der Südwestecke des Neuen Tempels von Chavin de Huäntar
Die Legende von der Achkay scheint mit der Figur des TelloObelisken und mit jener des Lanzön in Verbindung zu stehen. Beim blossen Hinsehen erfasst man, trotz aller Unterschiede, dass die beiden Gestalten das Sujet darstellen (Kauffmann Doig 1976: 259).
Es ist noch zu klären, warum die eine Figur ein Wesen mit Krokodilzügen und die andere eines mit den Zügen einer Raubkatze darstellt. Wenn wir in unserer Deutung der Figur des TelloObelisken weitergehen, so wird man feststellen, dass die beiden tiergestaltigen Profile nicht spiegelbildlich, sondern in derselben Ausrichtung dargestellt sind. Wenn man die Figuren auf den vier Seiten des Obelisken flach abgerollt sieht, so hat man tatsächlich den Eindruck, vor einem Kaimanpaar zu stehen; dieser Eindruck wird noch verstärkt, weil sich die beiden Profile, trotz ihrer Identität in der allgemeinen Struktur, doch durch einige auffällige Details unterscheiden. Dazu gehören das Vorhandensein bzw. das Fehlen des männlichen Geschlechtsorgans, die unterschiedlichen Arten der Pflanzen, die aus den Gliedmassen wachsen, und die verschiedenen Tierfiguren oberhalb des Rachens. Man sah daher entweder ein mythisches männlichweibliches Doppelwesen (Carriön Cachot 1959: 406; Lyon 1978: 100; Cane 1983) oder einen Erdund Himmelsgott (Lathrap 1973: 96) oder aber eine einzige Gottheit, dargestellt in zwei verschiedenen Erscheinungen und Augenblicken (Tello 1923). Warum aber ist bei allen Unterschieden am übrigen Körper der gefiederte Schwanz auf beiden Profilen absolut spiegelgleich? Warum befindet sich auf Profil B kein Motiv, das eine Vagina darstellen könnte? Wenn es sich um ein einziges Wesen handelte —wäre es tatsächlich möglich, dass die Künstler aus Chavin bei einem so bedeutungsvollen Werk einen derart gewaltigen Fehler begangen hätten? Dies alles erscheint nicht plausibel. In Wirklichkeit ist die Erklärung ganz einfach und entspricht der Vorstellung Cerullis, die aber die Geschichte der Achkay gar nicht kannte. Cerulli sah auf dem TelloObelisken den zerstückelten Körper einer Raubkatze bzw. ein »echsengestaltiges« Untier, das gerade auf dem Boden zerschmettert wird und aus dessen abgerissenen Gliedmassen verschiedene Pflanzen hervorspriessen. Mit Hilfe der Ungleichheit und Asymmetrie der beiden Profile wollten die Künstler den Begriff der Zerstückelung des Körpers zum Ausdruck bringen; dieser Eindruck wird durch den stark «modulhaften« Aufbau der Figur noch verstärkt — fast wie ein Puzzle kurz vor dem Auseinanderfallen. Die Künstler von Chavin konnten mit ihrem grossen Wissen alle Hinweise auf die richtigen Zeichen mit originellen Formlösungen zu einem einzigartigen Bild kombinieren, das von den Gläubigen unmittelbar verstanden wurde als der Höhepunkt des mythischen Ereignisses, das ihre Ackerbaukultur begründete, als die »Geburt« der Kulturpflanzen. Auf Grund der modernen Legende der Achkay kann man den allgemeinen Zusammenhang der dargestellten Szene verstehen, nicht aber eine Reihe wichtiger anderer Nebenmotive, da es sich ja nur um eine vage und entfernte Variante des grossen Mythos über die Entstehung des Ackerbaus handelt, um den sich im Lauf von fast drei Jahrtausenden das ganze System des Volksglaubens und der Kollektivdarstellungen der Menschen von Chavin gerankt hat. So bemerkt man zum Beispiel eine eklatante Abweichung darin, dass Achkay eine weibliche Figur ist, während der Gott auf dem Obelisken eindeutig männlichen Geschlechts ist, wie der grosse Penis mit dem Jaguarkopf zeigt, aus dem der Maniokbusch wie eine Art Samenflüssigkeit herauswächst. Trotzdem kann man noch andere — wenn auch nur auf Vermutungen beruhende — mögliche Analogien zwischen der Darstellung auf dem Obelisken und dem, was wir durch die mündliche Überlieferung wissen, entdecken. Hier ist zum Beispiel die menschenähnliche Figur mit den Katzenzügen, jedoch ohne deren Fangzähne, die sich in der Rückengegend des Kaiman unmittelbar unterhalb des Kopfes befindet und die den Anschein erweckt, als ob sie die Hände zum Mund erheben und zu schreien beginnen würde. Könnte sie nicht eine Abbildung der Oronkay sein, die irrtümlich im Magen der Achkay endete? Könnten nicht die Tiergestalten oberhalb des Rachens des Ungeheuers für die kleinen Geschwister stehen, die in den Himmel kletterten und sich dort in Sterne verwandelten, um den Krallen der Zauberin zu entkommen.
Schmuckmotiv auf einem Gefäss aus der Periode IV von Kotosh
ChavinKultur wiederholt? Ist nicht ein zähnefletschender Wilder das typischste und ursprünglichste figurative Element der Kunst dieser Kultur? Oft sieht man von diesem Wilden weder den Körper noch den Kopf, sondern nur das Maul, das offensichtlich das charakterisierende Grundelement ist. Diese Fangzähne besitzen, wie Kauffmann Doig (1976: 839) bemerkt, dieselbe Form wie die einzige realistische Darstellung von Mais aus der ChavinEpoche, die uns erhalten ist: der Maiskolben, der in halb geöffneten Deckblättern auf der Wandung eines flaschenförmigen Gefässes eingeritzt ist. Diese Flasche wurde in Kotosh in einer Schicht gefunden, die wahrscheinlich aus der Zeit der ersten Phasen von Chavin de Huäntar stammt . Ersetzt man bei dieser Form den inneren weiblichen Blütenstand, den eigentlichen Schaft, durch Zähne, entsteht der klassische Raubtierrachen von Chavin, der identisch mit den vielen Mäulern ist, die auf dem Lanzön dargestellt sind, ebenso mit den auf dem Fries in der südwestlichen Ecke des Neuen Tempels dargestellten Katzen und Schlangen, ebenso mit dem auf dem Knochen von Pallka eingeritzten Krokodilmaul . Aus dem Rachen dieses Tieres und aus jenen der Schlangen auf dem Fries ragen Annexe in Form einer Einzahnung hervor, die wie junge Maisblätter aussehen. Es ist zu bedenken, dass sich der Mais über die Samen der Kolbenkörner vermehrt, die auch bei den heutigen Bauern noch mit Zähnen in Verbindung gebracht werden. Eines der häufigsten Komplimente, die ein junger Mann einer Schönen macht, besteht darin, ihre Zähne mit Maiskörnern zu vergleichen (Sabogal Wiesse 1981: 4). Wir glauben, dass eine solche Ähnlichkeit auf die wichtigste visuelle Metapher der ChavinKunst zurückgeht und dass dies der Grund ist, warum alle katzenähnlichen Geschöpfe als Verkörperung des Wachsens und Entstehens von Mais anzusehen sind. Das erklärt auch die Ungenauigkeit im Erscheinungsbild der zoomorphen Wesen, einschliesslich des TelloObelisken. Die Schöpfer dieser Figuren waren nicht so sehr am Kaiman oder an der Raubkatze als solchen interessiert, sondern sie wollten ein wildes, starkes und räuberisches Tier mit mächtigen Zähnen darstellen, welches bei den Gläubigen sofort den Gedanken an die Entstehung des Mais, der wichtigsten Kulturpflanze, hervorrief. Die grossen Fangzähne der wichtigsten Raubtiere, wie des Kaimans oder des Jaguars, waren als Metapher für Mais besonders geeignet. Halten wir daher fest, dass es sich um ein mythisches Thema in Verbindung mit dem ›Raubtierrachen handelt, das Rowe als unwiederbringlich verloren hält.
FRÜHE ZWISCHEN PERIODE 400 V. CHR. — 700 N. CHR.
Wenn sich im Frühen Horizont noch eine gewisse Einheit zeigte, die sich besonders in der Verbreitung einer Religion ausdrückte, in der der »Stabgott<, und Gottheiten mit anatomischen Charakteristiken von Tieren, wie Raubkatze und Reptil, vorherrschten, so finden wir nun in einer ersten Phase um 400 v. Chr. und dem Beginn unserer Zeitrechnung kleinere, verstreute Königreiche.
Im Gebiet von Piura und bis nach Lambayeque bleibt die Chronologie der VicüsKultur noch unklar, man rechnet ihr etwa ein Jahrtausend (500 v. Chr. bis 500 n. Chr.) zu. Die ersten Funde aus heimlichen Ausgrabungen brachten eine Fülle bis dahin unbekannter Werke auf den Markt, die aus tiefen Gräbern stammten. Zwei verschiedene Epochen oder zwei verschiedene Quellen würden die bemerkenswerten Unterschiede in den Ausführungen erklären; einige Züge nämlich erinnern an Funde aus der Äquatorialzone, andere wieder könnten aus lokaler Inspiration entstanden sein.
Man denkt daher an die Koexistenz zweier fast gleichzeitig auftretender Stilrichtungen, die jedoch in ihrer Ausdrucksform völlig verschieden sind. Der Stil ”VicüsVicüs«, der seine Wurzeln in Ekuador hatte, zeigt »Grobkeramiken»< mit expressionistischem Ausdruck.
Die zweite Stilrichtung, ”MocheVicüs« genannt, ist mit den MocheProdukten der Phase 1 identisch, man bemerkt hier denselben Geschmack in der realistischen Darstellung von Menschen und besonders von Tieren. Hier ist die Skulptur, die hocherhabene Arbeit, vor allen anderen Ausdrucksformen vorherrschend. Möglicherweise wurde dieser Stil von den MocheLeuten eingeführt, die bereits über eine fortgeschrittene soziale und politische Organisation verfügten. In den nördlichen Anden beherrschten sie die Kunst der Metallverarbeitung, dank derer die Metallkünstler der Vicüs viele Gegenstände und Schmuck aus arsenhaltiger Bronze, Kupfer oder Tombak, einer Legierung aus Gold und Kupfer, anfertigten.
In den Tälern von Chicama und Moche herrschte in der Zeit von 600 bis 100 v. Chr. die SalinarKultur. Auf diesem eher kleinen Gebiet wurde die SalinarKultur von der CupisniqueKultur aufgesogen, die ihrerseits wieder stark von der ChavinKultur beeinflusst war. Die Kunst der Salinarepoche, besonders die Keramik, trägt in sich bereits den Samen jener Kultur, die ihr in eben diesen Tälern nachfolgte — der MocheKultur.
Gleichzeitig mit Salinar gedeiht im Tal von Virü die Virü oder GallinazoKultur (auch Virü/Gallinazo genannt). Sie ist besonders durch ihre Keramik bekannt, die mit ihren Negativverzierungen den Gefässen im Stil VicüsVicüs ähnelt.
Die Moche beherrschten während der Frühen Zwischenzeit die Nordküste von Peru. Um 100 v. Chr. erreichte diese Zivilisation im Tal von Chicama ihren Höhepunkt, dort, wo sich schon kurz vorher die SalinarKultur entwickelt hatte. Zwischen 200 und 400 n. Chr. eroberte oder vergrösserte die MocheKultur ihr Gebiet vom Tal von Jequetepeque bis zum Tal von Nepena, obgleich auch angenommen wird, dass ihre Spuren im Tal von Casma und von Huarmey ebenfalls als Nachweis einer Besiedlung angesehen werden können. Weitere Spuren ihrer Wanderung wurden bis zu den Chinchainseln und den Guanoinseln gefunden, wo sie sich mit Dünger versorgten. In zerbrechlichen kleinen Booten aus Totora wagten sie sich auf den Ozean hinaus, der wegen seiner ungestümen Wellen gefürchtet war und noch ist.
Die baulichen Funde aus der MocheZeit sind beeindruckend. Die Sonnenpyramide von Moche besteht aus übereinanderliegenden Plattformen, die eine Fläche von 228 x 136 m bedecken, angeblich zusammengesetzt aus 50 Millionen Adobeziegeln. Das Bauwerk trug ein Zeremonienhaus und diente gleichzeitig als Bestattungsort.
Tatsächlich stammen alle künstlerischen Funde dieser Zeit — mit Ausnahme der Wandmalereien —aus Gräbern mit mehr oder weniger kostbarer Ausstattung, je nach gesellschaftlichem Rang des Verstorbenen. Unter den im Zuge der wissenschaftlichen Ausgrabungen — oder bedauerlicherweise bei Raubgrabungen — gefundenen Gegenständen stellen die Töpferwaren wahrscheinlich jene Kunstrichtung dar, die die MocheKunst am eindrucksvollsten wiedergibt. Unter den Formen sind die Steigbügelgefässe am häufigsten vertreten. Mit Hilfe zweischaliger Modeln angefertigt, sind sie ein Beweis der technischen Genialität dieser Keramikkünstler. Übrigens ermöglichte die Verwendung von Modeln die Vervielfältigung einer Figur, was das gelegentliche Auffinden von »Zwillingen« nicht nur in verschiedenen Sammlungen, sondern auch in verschiedenen Gräbern erklärt.
Während der ersten drei Phasen der MocheKultur entstanden hauptsächlich Skulpturgefässe, wobei entweder Geschöpfe des wirklichen Lebens oder Figuren aus der Götterwelt dargestellt wurden. Nach und nach erscheinen auf cremefarbigem Grund rot gemalte Szenen (manchmal auch weiss auf rotem Grund), in der letzten MochePhase (Phase V) ist dies überhaupt die am meisten geübte Malweise, während sich die Motive auf eine Wiederholung dicht angeordneter Szenen über die gesamte Ausbauchung der Gefässe beschränken.
Auch wenn Metallverarbeitung und besonders Goldschmiedekunst den Moche bekannte Techniken waren, so hat eine kürzlich gemachte Entdeckung, vorerst rein zufällig, später glücklicherweise methodisch, im Zuge der in der Gegend von Sipan gemachten Ausgrabungen gezeigt, wie sehr die Bewohner damals die verschiedenen Techniken beherrschten. Das Gebiet in der Region Lambayeque gibt Anlass zu einer neuen Hypothese, wonach das Territorium der MocheKultur in zwei deutlich verschiedene künstlerische Zonen unterteilt werden muss. Lambayeque und seine Umgebung widmete sich hauptsächlich der Goldschmiedekunst — einer Tätigkeit, die auch für die Bevölkerung der neueren Zwischenzeit in diesem Gebiet charakteristisch ist. Im Süden hingegen, in den Tälern von Chicama, Moche, Sante, entwickelten die Künstler besonders Fertigkeiten in der Herstellung von Keramik. Diese »Abspaltung« ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass es für die Bewohner von Lambayeque besonders einfach war, sich Metalle, vor allem Gold, zu beschaffen.
Paracas: Grab aus Paracas Cavernas
Die MocheGesellschaft scheint sehr straff organisiert gewesen zu sein. Bemalte oder mit Reliefs versehene keramische Gefässe und der Reichtum der Gräber von Sipan sind Zeugen einer ebenso ausgeprägt hierarchischen wie tief religiösen Gesellschaft. Die Kampfszenen zwischen Menschen oder Göttern und Darstellungen von Gefangenen, die zur Opferung geführt werden, zeigen, dass die privilegierte Klasse jene der Krieger war, beherrscht von einem Gebieter, der zugleich als weltliches und religiöses Oberhaupt wirkte. Eben diese Organisation von Herrschenden erklärt auch, warum derart ungeheuerliche Erdarbeiten durchgeführt werden konnten, bei denen Adobeziegel auf Adobeziegel gelegt wurde — dank der Mobilisierung einer grossen Anzahl von Menschen.
Jagd, Fischerei und Ernte ergänzten den Bedarf an Nahrung, deren Basis durch den Ackerbau geliefert wurde. Dennoch führte das demographische Wachstum zu einer Politik der Eroberung mit dem Ziel der territorialen Ausdehnung und damit zur Vergrösserung der Anbauflächen. Die Bewässerungssysteme konnten sogar Täler untereinander verbinden.
Während der Phase V der MocheKultur wurde die Unterdrückung durch die Huari fühlbar — es kündigte sich der Untergang des Königreiches bzw. ein Aufgehen in einer neuen Kultur an. In den Keramikerzeugnissen vermischten sich nun Einflüsse der Moche mit den neuen der Huari, es entstand der MocheHuariStil. An der mittleren Küste erstreckte sich die LimaKultur zu den Tälern von Chancay, Rimac, Chillön und Lurin. Tatsächlich deckt der Begriff Lima verschiedene Stilarten, darunter den Playa GrandeStil, der den Namen einer Ausgrabungsstätte am Strand von Ancön trägt. Das dem NieveriaStil zugeschriebene Material, das erst kürzlich unter der Bezeichnung Maranga identifiziert wurde, stammt aus Begräbnisanlagen von Nieveria im Tal von Rimac. Im Verlauf der Geschichte der Archäologie Perus wurde dieser Stil unter verschiedenen Bezeichnungen bekannt: Pachacamac, ProtoLima, Nieveria, Cajamarquilla, Altlima und Maranga.
Durch ihre Lage am Kreuzungspunkt zweier Kulturwege unterliegt die LimaKultur Einflüssen aus dem Norden (Moche), dem Süden (Nasca) und der Sierra (Recuay und Ayacucho); wesentlich ist sie durch Nasca und Ayacucho geprägt, die die Polychromie in der Keramik begründeten. Der Stil von Playa Grande, wahrscheinlich an Ort und Stelle gewachsen, weist hauptsächlich ineinander verschlungene Motive auf (InterlockingStil), die jenen der Wandmalereien von Cerro Culebra ähneln. Die Architektur zeigt sich als abgestumpfte Pyramide. Die bedeutendsten Bauwerke dieser Art stehen in Pachacamac, noch bevor dieser Ort ein grosses Pilgerzentrum und ein berühmtes Orakelheiligtum wurde, das die Menschen aus allen Teilen Perus anzog. Noch heute kann man, durch Lima schlendernd, die Spuren dieser Kultur erblicken, besonders die Huaca Maranga, die Huaca Juliana, die einer zügellosen und undisziplinierten Urbanisierung trotzen. In diesen riesigen Pyramiden herrscht der NieveriaStil (oder MarangaStil) vor. Bei den Keramiken findet man am häufigsten die Gefässe mit Doppeltülle und Bügelhenkel, ein Beweis für die Bedeutung des Einflusses von Nasca. Auch die MocheKultur hinterliess ihren Eindruck in der Form der als Reliefs gearbeiteten Verzierungen; einige erinnern stark an die berühmten Portraitge: fässe dieser nördlichen Kultur.
Pampa de Ingenio, Blick auf die Nasca—Pisten“. NascaKultur
Während der Zwischenperiode bildete sich aber nur an der Südküste ein Kunsthandwerk aus, dessen Qualität dem bereits beschriebenen der Nordküste gleichwertig ist. Im Laufe eines Jahrtausends, etwa von 400 v. Chr. bis 600 n. Chr., entwickelte sich eine Tradition, die unter den Namen Paracas und Nasca bekannt ist. Tatsächlich aber widerspricht diese Unterscheidung der in diesem Jahrtausend herrschenden kulturellen Einheitlichkeit, die sich besonders in der Ikonographie ausdrückt. Diese Einheitlichkeit bedeutet jedoch keineswegs, dass nicht im Lauf der Jahrhunderte Änderungen stattgefunden hätten.
Zu Beginn ihrer Periode trägt die ParacasKultur noch Züge des Einflusses von Chavin. Nur zu einem einzigen Zeitpunkt entstehen an der Südküste Gefässe mit bügelförmigen Henkeln.
Die als Grabbeigaben gefundenen Tongefässe sind mit zoomorphen oder geometrischen Motiven geschmückt, die nach dem Brennen noch mit lebhaften Farben (mit Pigmenten gemischte Harze) unterstrichen wurden. Die in Embryostellung liegenden Toten sind in grosse einfarbige oder mit geometrischen Mustern geschmückte Leichentücher gehüllt .
Diese Periode ”Paracas Cavernas“ oder ”Ocucaje“ weicht sodann dem Stil ”Paracas Nekropolis<,. Nun werden die Toten nicht mehr in Kammern beigesetzt, sondern übereinanderliegend beerdigt. In Cerro Colorado fand man 429 Mumienbündel an einer einzigen Stätte nebeneinander und übereinander geschichtet liegend. Im Gegensatz zur vorherigen Periode sind die Mumien nun in mehrere Lagen Tücher gehüllt; die äusseren Lagen bestehen aus einfachem, weissem Leinen, während die direkt um den Körper gewickelten wunderschönen Totentücher vielfarbige Stickereien aufweisen. In den Falten der Tücher lagen einfarbige Gefässe und andere Opfergaben, die den Toten auf seinem Weg ins Jenseits begleiten sollten. Während der ParacasNekropolisPeriode scheint sich das Kunsthandwerk hauptsächlich auf die Herstellung von Textilien konzentriert zu haben, leicht zu transportierende und zu tauschende Produkte, die man eigenartigerweise noch nie ausserhalb ihres kulturellen Bereiches gefunden hat.
Nunmehr wird auch der Einfluss von Chavin völlig verwischt, die Bilder der ParacasKultur werden deutlich und bleiben während der ganzen NascaPeriode bestehen.
Um 200 v. Chr. entstehen in den Tälern des Südens — Pisco, Ica, Nasca, Acari — grosse Bauwerke, einige davon sind befestigt. Das bedeutendste ist zweifelsohne jenes von Cahuachi im Tal von Nasca. Das Gebäude ist wie eine richtige Stadt angelegt, in der unterschiedliche Tätigkeiten verschiedenen Stadtteilen zugeordnet sind. Bei der Keramik verändert eine wahrhaft revolutionäre Technik den Stil jener Zeit — die ehemals nach dem Brennen aufgetragenen Farben machen mitgebrannten Engoben Platz. Für manche Wissenschaftler bedeutet diese Neuerung einen kulturellen Einschnitt, der zugleich die Geburtsstunde der NascaKultur darstellt. Anders als bei den Moche, deren Farbpalette sich immer auf Rot (in allen möglichen Tönen) oder auf Ocker beschränkt, wobei Ocker gelegentlich durch flüchtig mit Schwarz gemalten Motiven betont wird — weisen die Erzeugnisse der Nasca bis zu 16 Farben auf. Tatsächlich trifft es gerade zu jener Epoche zu, dass jede der beiden Regionen durch zwei verschiedene Traditionen gekennzeichnet wird.
Der Norden liebt dreidimensionale Darstellungen, also Figurengefässe, während der Süden sozusagen im Kielwasser der Phase Paracas Ocucaje weiterhin für die Polychromie schwärmt.
Zu Beginn ihrer Periode lassen sich die Töpfer von Nasca hauptsächlich von der Natur inspirieren. Pflanzen und Tiere werden so realistisch gemalt, dass sie leicht identifiziert werden können. Dieser Stil wird Monumentalstil genannt. Die nun folgende Stilrichtung »Proliferant« = Klassische Nasca weist abstrakte Motive auf. Details und Anhängsel wiederholen sich, am häufigsten sind Darstellungen aus dem Kriegswesen. Die letzte Stilart in dieser Reihe, die Späte Nasca, genannt »Disjunktiv«, ist bereits degeneriert, wahrscheinlich als Folge der Berührung mit einer Kulturströmung aus der Hochebene, der Gegend der heutigen Stadt Ayacucho. Die meisten Motive bestehen aus geometrischen Verzierungen, deren Bedeutung wir nicht kennen. Viele Wissenschaftler sind mit dieser Unterteilung in drei Perioden nicht einverstanden, sondern unterscheiden insgesamt 9 Phasen der NascaKeramik. Die Beschreibung dieser langen kulturellen Tradition wäre unvollständig ohne die Scharrbilder der Pampa de Ingenio. Trotz zahlreicher Deutungsversuche, von denen einige ausgesprochen absurd sind, bleiben sie nach wie vor ein Rätsel, das die Neugierde aller weckt. Als im Jahr 1939 Paul Kosok das Gebiet überflog, entdeckte er die »Pisten« und die in den Boden eingearbeiteten Zeichen. Er vermerkte die Beobachtung, mass ihr aber damals keine weitere Bedeutung zu. 1946 lernte eine deutsche Mathematikerin, Maria Reiche, den Archäologen kennen, der ihr von der Anlage berichtete. Sie widmete daraufhin ihr weiteres Leben der Deutung dieser Zeichen und deren Rettung vor dem Vandalismus der Touristen.
Heute ist man allgemein der Ansicht, dass diese Ansammlung von ,›Pisten« und figuralen Scharrbildem einen riesigen Kalender darstellt, der von Figuren mit ritueller oder zeremonieller Bedeutung umgeben ist (Abb. 55). Durch das riesenhafte Ausmass der Umrisse, die dadurch entstanden sind, dass man Steine wegräumte, so dass der helle Sandboden zum Vorschein kam, können die Bilder nur von oben gesehen werden. Man weiss nicht, ob sie gesehen, sicher aber, dass sie verwendet wurden. Ausserdem wurden diese ‚Pisten« nicht während eines einzigen Abschnitts der Geschichte von Nasca errichtet. Genaue Beobachtungen ergaben, dass neuere Zeichnungen über älteren angelegt wurden, und es gibt Anzeichen dafür, dass sich die Ausführung über die gesamte Dauer der NascaPeriode erstreckt, von Phase 3 (Klassisches Nasca) bis zur Phase 8 (Spätes Nasca). Übrigens haben die Bilder des Affen, der Spinne, des Killerwals (Abb. 53) und anderer Figuren starke Ähnlichkeit mit gleichen Motiven auf Gefässwandungen.
Wenn man einmal jene absurden Ideen beiseite lässt, wonach die »Pisten« als Landeplätze für Raumschiffe aus einer anderen Welt dienten, so scheint es, dass man mit Hilfe bestimmter Linien den Stand der Sonne zur Sonnenwende und andere astronomische Erscheinungen beobachten konnte. Dies musste für eine agrarisch strukturierte Gesellschaft von grösstem Interesse sein.
Auf der Hochebene und in der Sierra ist eine ähnliche Unterteilung der Kulturen wie in den Bergen festzustellen. In den nördlichen Anden entwickelte sich, wenngleich etwas später als die beiden grossen Küstenkulturen, ein eigenes künstlerisches Zentrum. Heute bekannt unter der Bezeichnung Cajamarca, erfuhr diese Kultur ihren regionalen Höhepunkt um 600 n. Chr. Sie hat uns schöne Keramiken aus weissem Kaolin hinterlassen, die mit einem sehr feinen Pinsel mit zoomorphen und geometrischen Motiven verziert wurden.
Unter den Formen fällt das Dreifussgefäss wahrscheinlich am meisten auf, im Tal von Virü wurden einige Exemplare gefunden. Es ist jedoch bemerkenswert, dass diese Form in Südamerika nur regional auftritt und die Herkunft aus den nördlichen Ländern (Ekuador, Kolumbien) sehr wahrscheinlich ist. Tatsächlich sind dreibeinige Gefässe in Mittelamerika weit verbreitet, und man sollte vielleicht dort nach den Ursprüngen dieser in den Zentralanden sehr kurz dauernden Produktion forschen.
Weiter im Süden, am Oberlauf des Flusses Santa, setzte gegen das 3. Jahrhundert n. Chr. die RecuayKultur ein. In derselben Umgebung, in der die ChavinKultur und die Tradition der Steinbildhauerei aufblühte, scheint Recuay diese Form der künstlerischen Ausdrucksweise in zahlreichen Plastiken von Kriegern, Frauen fortzusetzen. Die bildhauerische Technik ist sehr rudimentär, entbehrt aber nicht eines gewissen Charmes. Der Künstler kann sich bei seiner Arbeit nicht von den morphologischen Zwängen eines monolithischen Blockes befreien. Die Gliedmassen, selbst der Kopf, scheinen mehr als Flachrelief in den Stein gehauen denn als Figur geformt.
Wenn es auch klar ist, dass Recuay und Moche eine Gleichheit von Motiven und Symbolen aufweisen, die auf das Bestehen von Kontakten — oder eines gemeinsamen Ursprungs — schliessen lassen, so wissen wir über die Bewohner dieses Gebietes kaum etwas. Erst die Ausgrabungen von Terence Grieder in Pashash brachten neue Erkenntnisse, als man auf bislang unberührte Gräber stiess. Die oft sehr wertvollen Grabbeigaben umfassen aus Stein geschnittene Schalen, vergoldete Kupfernadeln und Tongefässe. Letztere zeigen besonders zwei Tiere, eine Katzenart — wahrscheinlich einen Jaguar, wenn man dem gefleckten Fell trauen kann — und eine Schlange mit Katzenkopf. Auch diese Motive lassen an Spuren der MocheKultur denken.
An den Ufern des Titicacasees lösten einander während der Zwischenzeit zwei Kulturen ab. Im Norden des Seebeckens entwickelte sich die Kultur von Pukara, die wahrscheinlich erste grosse Kultur mit städtischen Zeremonienzentren auf dem Altiplano. Nach ihrem Verschwinden übernahm eine Stätte ihren Platz als Hauptzeremonienzentrum in diesem Teil der Hochebene: Es handelt sich um Tiahuanaco, dessen imposante Ruinen sich in der Nähe des Ufers erheben. Heute liegt dieses Gebiet auf bolivianischem Hoheitsgebiet, fast 4 000 m hoch. Im 5. Jahrhundert n. Chr. errichtet, umfasst Tiahuanaco verschiedene Bauten, die aus regelmässig gehauenen Steinen erbaut und in der OstWestachse ausgerichtet sind. Eine menschenähnliche Figur, genannt ,›El Fraile«, schmückt die Esplanade von Kalasasaya. Das Sonnentor — fälschlicherweise so bezeichnet — steht in der Nordwestecke dieses Platzes. Es wurde aus einem monolithischen Andesitblock gehauen und ist fast 3 m hoch. Der Torsturz wird von drei waagrechten Friesen überdeckt, die geflügelte Wesen (Menschen und Vogelmenschen) zeigen. Diese Wesen laufen auf das Mittelmotiv zu, das an den »Stabgott« der ChavinKultur erinnert. Die Darstellung zeigt den Schöpfergott Viracocha, dessen Bild mit dem seiner Begleiter vielfach auf der Keramik der Huari (Mittlerer Horizont) zu sehen ist.
PARACAS
Auf der Suche nach der Herkunft der so kunstvoll bestickten Textilien, die in den Privatsammlungen von Lima und in Europa zu sehen sind, stiess der peruanische Archäologe Julio C. Tello auf die ausgedörrten und von den Winden des Cerro Colorado gepeitschten Hänge der Halbinsel Paracas. Im Zuge der Ausgrabungen, die von 1925 bis 1928 durchgeführt wurden, gelang es, zahlreiche bedeutende kulturelle Spuren zu identifizieren und grundlegende theoretische Schlüsse auf die Kultur von Paracas zu ziehen.
So konnte Tello am Cerro Colorado zwei unterschiedliche kulturelle Komponenten entdecken, Cavernas und Nekropolis genannt, die sich in Hinsicht auf verschiedene Objekte, architektonischen Stil und eine Verformung des Schädels unterschieden. Tiefe Grabkammern in Flaschenform, sogenannte Cavernas, waren in die Felsen der sandigen, in Terrassen angeordneten Abhänge der Hügel gegraben. Diese Kollektivgräber beherbergten Männer, Frauen und Kinder, die alle Grabbeigaben mitbekamen. Bei den Grabbewohnern machten sich auch soziale Unterschiede bemerkbar — ärmere Verstorbene wurden lediglich in grobe Baumwolle gewickelt und bekamen als Grabbeigabe eine einfache KalebasseSchale mit Nahrung. Die Reicheren unter ihnen wurden in mehrere Umhangtücher gewickelt, reich geschmückt und bekamen zahlreiche Beigaben: Keramik, mit Brandmalerei verzierte Kalebassen, Gold und Muschelschmuck, geflochtene Körbe, Siebe, Kämme, kleine Platten aus Kalk und Nahrung. Die CavernasGräber sowie die Einzelgräber aus derselben Periode, die in der Umgebung von Wohnsiedlungen ausgegraben wurden, bargen zahlreiche Beispiele einer charakteristischen Töpferkunst, deren Keramik mit mehrfarbigen Pigmenten verziert war, die nach dem Brand aufgebracht wurden — ein Markenzeichen für die Kultur von Paracas. Tello stellte 1959 starke Ähnlichkeiten zwischen diesem alten Stil der Südküste und dem ChavinStil des nordzentralen Hochplateaus fest.
Die CavernasBevölkerung weist eine besondere Schädelverformung auf, die als »keilförmig< bezeichnet wird und durch eine Abflachung der Stirn gekennzeichnet ist. Tello (1929: 144) rechne te aus, dass an mindestens 40% der Bevölkerung eine Trepanation durchgeführt wurde, bei der ein Teil des Schädels weggeschnitten oder gekratzt wurde, um eine Schädelverletzung oder ein Trauma zu beheben. Diese Technik dürfte sehr erfolgreich gewesen sein, da zahlreiche Schädel Spuren einer Knochenneubildung aufweisen.
Bei den Ausgrabungen, die zwischen 1927 und 1928 in einem Bereich von unterirdischen, gemauerten Kammern im äussersten Norden des Cerro Colorado durchgeführt wurden, konnte eine Anhäufung von 429 Fardos (= Bündel) mit Mumien konischer Form gefunden werden. Hier handelt es sich um die Entdeckung von Nekropolis. Die grössten Fardos — dreiunddreissig von ihnen waren mehr als 1,5 m hoch und hatten einen Durchmesser von mehr als 1,5 m — beinhalteten sehr gut konservierte Körper von alten Menschen. Die nackten Körper, ohne Beigaben wie Gold und Muschelschmuck, waren in einer leicht gebeugten Stellung. Grabbeigaben wie Nahrung und Gegenstände, die rituelle Bedeutung hatten, waren am Körper, in Falten und Schlitze hineingesteckt. Ein geschmücktes Kleidungsstück war um den Körper gewickelt, ein anderes auf seinen Rücken gelegt, dann wurde der Körper in ein Baumwollgewand gesteckt und in einen nicht sehr tiefen Korb gesetzt. Die feinstens bestickten Gewebe, vor allem Kleidungsstücke, waren mit phantastischen anthropomorphen Gestalten verziert, andere Beigaben, wie z. B. Fächer aus Federn, Keulen mit Steinköpfen und Köpfen abgezogener Tierfelle, wurden systematisch in Schichten angeordnet, zwischen den Teilen des einfarbigen Baumwollgewandes. Ein grosser Fardo konnte bis zu ungefähr hundert Beigaben verschiedener Gewänder beinhalten. Die Fardos wurden in den gemauerten Komplexen nach einem groben symmetrischen Schema aufgestellt, wobei die kleineren Fardos auf den grösseren standen.
DAS SOZIALE GEFÜGE VON PARACAS
Die Bewohner von Paracas bildeten die erste komplexe Gesellschaft, die an der Südküste von Peru, ungefähr zwischen 550 v. Chr und 1 n. Chr., siedelte. Ihre Städte, Dörfer und Friedhöfe konnten auf den Hängen der Hügel nachgewiesen werden und befanden sich am Rande der fruchtbaren Täler im Inneren des Landes und entlang der Küste, in den Tälern von Chincha, von Pisco, Ica, Palpa und Rio Grande von Nasca (Abb. 56). Das meiste Wissen über die Kultur von Paracas stammt aus Studien über Stil und Technik ihres Handwerks. Zahlreiche dieser Objekte sind Früchte von Plünderungen, einer Tätigkeit, die seit fast einem Jahrhundert sehr verbreitet ist. Gegenstände, die für die elitäre Gesellschaft oder für rituelle Zwecke erzeugt wurden, sind von den Sammlern hochgeschätzt und daher Hauptzielscheibe für die Grabplünderer. Sie weisen im allgemeinen eine grössere stilistische Freiheit auf und eine breitere Palette von Gegenständen, als dies die Erzeugnisse bieten, die im Zuge wissenschaftlicher Forschungen unter normaleren Bedingungen von den Archäologen gefunden wurden. Wenn man versucht, das soziale Gefüge von Paracas wieder zusammenzustellen, müssen das Einzigartige und das Gemeine wieder in ihren eigenen sozialen Kontext gebracht werden.
Es können zumindest vier Phasen der Besetzung der Südküste von Paracas festgestellt werden, Phasen, die sowohl auf Änderungen der Siedlungsstandorte und der Organisation basieren als auch auf Stiländerungen im Bereich der Keramik und der Textilien. Das Tal von Ica, der Lieblingsort zahlreicher archäologischer Forschungen, liefert die detaillierteste Aufstellung über die soziale Änderung in Paracas sowie über die regionale Wechselwirkung auf die Südküste. Die absoluten Daten, die nachstehend angeführt sind, zeigen die Anhäufung von angeglichenen Messungen durch die ThermolumineszenzMethode aus dem oberen Tal von Ica und den C14Daten, die in den Tälern von Ica und Pisco gemacht wurden (Masset' 1986).
In der Phase 1, ungefähr 550 — 380 v. Chr., sind Modelle für die Errichtung von Standorten und für keramische Erzeugung erstellt, die sich in der zweiten Phase fortsetzen. Die Lokalisierung der meisten Standorte der Phase 1 ist nur durch die Abfallschichten der Standorte von Phase 2 bekannt, ohne bedeutende architektonische Hinterlassenschaften. Die meisten Ansiedlungen der Phase 1 sind klein und umfassen weniger als einen Hektar. Die Ansiedlungen des alten Paracas sind im unteren Tal von Ica gruppiert, im Becken von Callango und entlang der Schluchten von Chiquerillo sowie im oberen Tal von Ica, Gebiete, wo grosse Mengen Grundwasser in das alte Tal fliessen. Eine Siedlung im Callengobecken ist grösser als alle anderen und erbringt Nachweise von wahrscheinlich rituellen oder anderen religiösen Tätigkeiten.
Ansiedlungen des IcaTales
Juan Carlos ist eine langgezogene geradlinige Siedlung neben einem nicht mehr in Betrieb befindlichen Bewässerungskanal, am Westufer des Flusses Ica. Seine Vertikalität wird noch durch lange Erhebungen unterstrichen, die mit einer dichten Schicht von Töpferabfällen bedeckt sind, von Steinwerkzeug, Muscheln und anderen Scherben. Ein niedriger Hügel wurde entlang des Nordkammrandes der Siedlung lokalisiert. Andere Ansiedlungen des alten Paracas befinden sich in den Tälern von Palpa und des Rio Grande von Nasca.
Der keramische Stil der Phase 1 ist vollständig entfaltet, obwohl man wenig lokale Vorformen kennt. Der keramische Stil weist mit Gewissheit auf regionale Unterschiede hin, was wiederum bezeichnend ist für die sozialen Unterschiede bei den ersten Paracasgruppen im Tal von Ica.
Der Austausch von elitären Erzeugnissen und Materialien über lange Strecken hinweg wurde für die alte Bewohnerschaft von Cerillos im oberen Tal bestätigt (Wallace 1962).
Die Phase 2, von 380 bis 220 v. Chr., ist eine Periode regionalen Wachstums. Alle bekannten Ansiedlungen aus Phase 1 sind besetzt, zahlreiche neue Wohnsiedlungen werden im gesamten IcaTal geschaffen. Die Phase 2 liefert den ersten wirklichen Beweis einer sozialen Trennung zwischen dem unteren und dem oberen IcaTal, sowie eine soziale Streuung in Form einer Siedlungshierarchie, die durch unterschiedliche Grössen dieser Grundstücke und ihrer inneren Komplexität gekennzeichnet sind. Das Modell der kleinen Ansiedlungen aus der Phase 1, die um ein grösseres Zentrum gruppiert sind, setzt sich fort im oberen Tal und im Becken des Callengo, erstreckt sich weiter bis in den Norden, einschliesslich der Schluchten von Chiquerillo. Die weitläufigste und komplexeste Siedlung des IcaTales, Animas Bajas im Becken von Callango, umfasst sieben kleine Hügel und mehrere lange Anhöhen, die mit einer dicken Schicht von Siedlungsabfällen in einem Bereich von ungefähr 60 Hektar bedeckt sind. Grosse, isolierte Siedlungen von mehr als 20 Hektar werden in jeder der anderen SubRegionen des unteren Tals eingeordnet. Es scheint sich hier vor allem um vornehme Wohngegenden gehandelt zu haben.
Animas Altas, das schätzungsweise 100 Hektar umfasst, ist die weitläufigste und komplexeste An siedlung an der Südküste von Paracas. Dazu gehören dreizehn registrierte Wohnhügel, zahlreiche kleine Bauten, Vorrichtungen für eine zentrale Lagerung und ein grosser, rechteckiger Platz. Alle Wohnhügel sind gemeinsam nach Norden ausgerichtet und folgen einem Standardschema. Jeder Wohnhügel besteht aus zwei Ebenen. Das obere Stockwerk besitzt eine niedere Fassade, hinter der eine Reihe von Räumen und geraden Gängen gebaut ist. Das untere Geschoss blickt auf einen kleinen rechteckigen Innenhof. Im westlichen Winkel zum Wohnhügel sind einige gemauerte Lager vorgesehen. Sekundärstrukturen konnten sich auf einer oder auf beiden Seiten des Innenhofes befinden. Die Plattformhügel werden um einen Erdkern aus rechteckigen AdobeZiegeln gebaut, die unregelmässige Formen aufweisen und in Lehm oder schlammigem Mörtel eingeschlossen sind. Grasbündel füllen häufig die Spalten zwischen den Ziegeln. Die Oberfläche ist mit einem Gemisch aus Lehm und Stroh verputzt. Der Bau der Spitze wird auf dieselbe Weise ausgeführt.
Im nördlichen Sektor von Animas Altas liegt ein grosser rechteckiger Platz, umgeben von kleinen Bauten mit Räumlichkeiten. Die meisten zentralen gemeinsamen Lagervorrichtungen befinden sich in der Nähe. Diese Lagerstrukturen setzen sich aus zwei oder drei Reihen quadratischer Einheiten zusammen, die sich unter der Erde befinden und eine gemeinsame Mauer haben. Ihre Masse sind 50 x 50 m. Andere Lagerstätten sind über die ganze Ansiedlung verstreut, im allgemeinen sind sie an einen Wohnhügel angeschlossen. Eine gewaltige Festungsmauer, die aus gestapelten Erdschichten und Strohbündeln mit einer Fassade aus AdobeZiegeln besteht, stellt eine Verbindung zum südlichsten Wohnhügel dar und verläuft über die westliche Seite der Siedlung.
Unmengen von Scherben bedecken die Siedlung. Ein kleiner Wohnhügel liegt im nordwestlichen Winkel von Animas Altas. Auf den Mauern eines grossen Innenraumes befinden sich zwölf eingravierte mythologische Wesen. Hauptmotiv ist das «Augenwesen«. Die Raubkatze ist nicht mehr mit grossen Fangzähnen, sondern mit grossen Augen —daher die Bezeichnung »Augenwesen« — ausgestattet. Es ist auf der Ostmauer von vorne, mit einem Raubkatzenkopf dargestellt; die Silhouette seines Körpers im Profil ist von schlangenartigen Gewächsen und stilisierten Trophäenköpfen um schlungen. Drei verschiedene Darstellungen des Augenwesens schmücken die Westmauer und unterscheiden sich in Haltung und Beiwerk. Von Ost nach West entlang der hinteren Mauer erscheinen die Darstellung eines Affen, ein menschliches Gesicht von vorne, eine menschliche Figur mit Tierkopf und Stock, eine Raubkatze mit Ringen, ähnlich wie bei einem Falken, ein Raubkatzenwächter von vorne, ein Wesen mit einem Schädel, der abwechselnd mit Spiralen und Pfeilspitzen umgeben ist, die aus seinem Kopf strahlen, ein zweiter Raubkatzenwächter von vorne, eine Raubkatze im Profil und eine Gottesanbeterin.
Die Phase 3, von 200 bis 100 v. Chr., ist durch schnelle Änderungen und rasches Wachstum an der ganzen Südküste geprägt. Zahlreiche Ansiedlungen der Phase 3 werden im ChincaTal nachgewiesen.
Die Niederlassungen von Phase 2 werden in Phase 3 weiterhin besetzt und schaffen so einen Typus kleiner und grosser Niederlassungen in jeder SubRegion des unteren Tales.
Während der Phase 3 erscheinen an der gesamten Südküste eindrucksvolle Bauten, die als ”Erdwerke« besser beschrieben sind, auf Grund der grossen Menge Erde und Scherben, die bei ihrer Errichtung verwendet wurden.
Das beste Beispiel dafür ist die Siedlung von Tajahuana, die im äussersten Norden des unteren IcaTales gelegen ist. Drei oder vier parallele Festungsmauern von einer Höhe zwischen 2 und 3 m folgen den oberen Hängen der Pena de Tajahuana, auf einer Strecke von ungefähr 1,2 km. Die Festungssmauern sind aus Erdschichten, gemischt mit Strohbündeln, gebaut. Die Aussenmauern weisen Spuren von Steinverkleidungen auf. Ein kleines Wohngebiet liegt im nordöstlichen Eck der Siedlung innerhalb der Mauern. Vier Pyramidenformen erheben sich an der Spitze der Mesa, innerhalb des Mauerumkreises. Mehrere Mauern klettern die niedereren Hänge der Formationen hinauf, was vermuten lässt, dass sie mit der Besetzung von Phase 3 zeitgleich sind.
Animas Altas (Ica), Eingeritzte Figuren mythischer Wesen. Paracas Phase 3
Öffentliche Bauwerke grösseren Massstabs erscheinen ebenfalls in den Küstensiedlungen von Carhua und El Chucho. Sie haben strategische Positionen inne und sind beide überhängend zu den geschützten Stränden in der Bahia de Independencia, zwischen den Tälern von Ica und von Pisco gebaut.
Bei diesen beiden Siedlungen wird das Interesse durch eine Reihe langer, paralleler Streifen geweckt, die aus Erde und Muscheln gemacht sind. Sie sind so angebracht, dass sie vor den heftigen Südwinden Schutz bieten, die am Nachmittag auf die Küste hereinbrechen. Behausungen halb unter der Erde, mit Kieselsteinen eingerahmt, sind in Reihen an der Nordseite der Streifen gebaut und führen weiter zu den Hängen mit einer leichten Erhebung. Carhua ist die grössere von beiden; auf Grund der enormen Sandablagerungen ist die Berechnung der genauen Ausmasse schwierig.
Im Gegensatz zum unteren Tal, wo Änderungen im sozialen Gefüge die Standortwahl der Siedlungen, die Bauweise und die Bautechniken bestimmen, hat das obere Tal keine besonderen Änderungen in der Art der Niederlassungen während der ParacasPeriode erfahren. Die Ansiedlungen waren fast ständig besetzt.
In der Phase 3 wird die Töpferproduktion an der Südküste immer spezialisierter. Obwohl es mehrere Arten verzierter Keramik gibt, ist die stilistische Vielfalt jeder Art weniger ausgeprägt. Nur einige spezialisierte Formen, hauptsächlich riesige Tonkrüge, sind der esoterischen Ikonographie vorbehalten. Die religiöse oder kulturelle Hauptfigur der Phase 3 ist unter dem Namen »Augenwesen« bekannt, die ihre Bezeichnung von den grossen Augen hat, die aus konzentrischen Ringen bestehen. Zwei lange Fortsätze schweben auf seinem Kopf, es trägt ein Griffmesser und Trophäenköpfe. Das Augenwesen ist auf Luxus und Ritualobjekten dargestellt, wie zum Beispiel auf riesigen Tonkrügen, mit Brandmalerei verzierten Kalebassen, Musikinstrumenten, Mumienmasken und auf Textilien. Während die Töpferwaren der Phase 3, die aus dem Ica und Piscotal kommen, von ähnlichem Stil sind, erscheinen Schalenformen, beeinflusst von Topara und verziert mit eingeschnittenen und nach dem Brand bemalten Motiven, in dem Tal von Chincha.
Die Phase 3 endet abrupt mit dem Sturz von Animas Altas, das anscheinend militärisch erobert wurde (Massey 1986). Ein sehr gewichtiges Argument, das für eine zentralisierte, regionale politische Organisation mit Animas Altas als Hauptstadt spricht, ist das Verlassen des Beckens von Callango in der Phase 4 und der Abstieg der subregionalen Zentren im unteren Tal von Ica und entlang der Küste IcaPisco.
Die Phase 4, von 100 v. Chr. bis 1 n. Chr., ist eine Periode des sozialen und politischen Übergangs. Zwei neue regionale Kräfte vereinen sich zum ersten Mal, und zwar die ToparaKultur und die alte NascaKultur. Die ToparaKultur entwickelt sich im Tal von Canete und dehnt sich so weit aus, bis sie die Täler von Chincha, von Pisco und das obere Tal von Ica während der Übergangszeit Phase 2 einschliesst.
Der Einfluss der ToparaKultur auf die lokale Organisation der Täler von Chincha und von Pisco während der Phase 4 konnte noch nicht zur Gänze geklärt werden.
Die Phase 4 weist erste Zeichen von Bevölkerungszuwachs und sozialer Streuung in den Tälern von Palpa und Nasca auf. Die Siedlung Cahuachi, die als Hauptstadt des ersten Staates Nasca betrachtet wird, war zum ersten Mal in Phase 4 besetzt.
KUNST UND IKONOGRAPHIE
Zwei wesentliche Fragen spalten die Archäologen in verschiedene Lager: Zuerst die Beziehung zwischen der Kultur von Paracas und Chavin de Huäntar und die Auswirkung der Ideologie Chavins auf die erste Entwicklung der Südküste. Vor kurzem noch wurde Chavin de Huäntar als Zentrum der ersten, gesamtperuanischen Kultur betrachtet, als Ausgangspunkt einer komplexen Religion, deren Symbolik in den Zeremonienzentren quer durch die Anden aufschien. Tello spekulierte als erster von zahlreichen Forschern mit der Ähnlichkeit zwischen dem CavernasStil und dem lithischen Stil von Chavin (Tello 1959, 1960; Kroeber 1944, 1953; Willey 1951; Rowe 1967; Roe 1974).
Neuere Forschungen, die in Chavin de Huäntar und in den Zeremonienzentren der Nordküste und der Zentralküste durchgeführt wurden, haben die Ansichten über die ChavinKultur geändert. Sie weisen nämlich darauf hin, dass der Aufstieg Chavins zu einer gesamtperuanischen Kultur eher dem Untergang grosser Küstenzentren gefolgt war, als ihr Vorläufer gewesen zu sein (Burger 1981). Der Einfluss des gesamtperuanischen Chavin erstreckte sich auf eine kurze Periode, von 380 bis 210 v. Chr. Der Grossteil der Monumentalarchitektur und der Steinskulpturen wurde in dieser Zeit geschaffen. Deshalb ist es unerlässlich, die Studien über die Kunst und die Ikonographie von Paracas in das Licht seiner Entdeckung zu stellen.
Die Inspiration, die die Ikonographie der Phase 1 von Paracas nährte, ist unklar. Der Grossteil der keramischen Verzierungen dieser Phase ist geometrisch und nicht figürlich. Die einzigen figürlichen Motive sind Raubkatzen und Menschendarstellungen, die alle Gefässe und einige Schalen zieren. Die Töpferwaren der Phase 1 weisen zahlreiche Züge auf, die man früher der Inspiration Chavins zuordnete, wie Raubkatzenmäuler, Raubkatzenmäuler mit Fangzähnen, die Flecken von Raubtierfellen in Form einer Acht, schrägkantige Ränder und schwarze, rauchige Oberflächen. Die Raubkatzenköpfe im Profil und von vorne haben ausgeprägte und gebogene Augenbrauen, eingefügte Eckzähne heben sich von einem abgerundeten Lippenband ab. Die menschlichen Figuren werden ohne Raubkatzenmaul dargestellt und unterstreichen im allgemeinen den mythischen Status seines Trägers. Einige Gefässe der Phase 1 haben einen Henkel in Form eines Steigbügels mit einem zwiebelförmigen oder abgeschrägten Rand. Die Ähnlichkeiten sind derartig frappant, dass so mancher in Versuchung kommt, die archäologische Evidenz ausser acht zu lassen und die Phase 1 der Expansionsperiode von Chavin zuzuordnen.
Die Messungen, die unabhängig voneinander mit der RadiokarbonMethode und mit Thermolumineszenz an den Abfällen einer Fundstätte der Phase 1 in der Siedlung von Cerrilos, im oberen IcaTal durchgeführt wurden, erbrachten Daten zwischen 459 und 439 v. Chr., d. h. deutlich vor der grossen Expansion von Chavin. Eine genauere Untersuchung an den Raubkatzen der Phase 1 weist stilistische Ähnlichkeiten mit einer näheren Einflussquelle der Zentralküste auf. Wallace (1962) fand mehrere Stücke kommerzieller Töpferwaren, die aus der Gegend der Zentralküste aus der Fundstätte von Cerrillos stammten. Die Langlebigkeit des Raubkatzensymbolismus innerhalb des AndenBereichs seit seinem Auftreten in den ersten Küstenzentren bis zu seiner Wiedergeburt in Chavin de Huäntar kann auch seine Präsenz in der Ikonographie des alten Paracas rechtfertigen.
Die Phase 2 entspricht der religiösen und stilistischen ChavinEinflussperiode auf die Südküste. Das komplette Repertoire der religiösen ChavinSymbole und der stilistischen Übereinstimmungen ist auf den bemalten Baumwollstoffen von Carhua und vom CallangoBecken zu sehen. Ihre Ausmasse und ihre Organisation zeigen, dass sie als didaktische Werkzeuge oder als ritueller Aufputz bei der Verbreitung der religiösen ChavinVorstellung gedient haben. Die technische Analyse ergibt, dass diese Textilien ausserhalb der Südküste, irgendwo im Bereich der Zentral oder Nordküste erzeugt worden waren (Wallace 1979).
Das Fehlen jeglicher, dem lokalen Kult eigenen Figur in der Keramik oder der Textilerzeugung von Paracas könnte bedeuten, dass die göttlichen ChavinFiguren, insbesondere der »Stabgott«, in der Theologie der Südküste integriert waren.
Bemalte Keramik mit Ritzornamentik, in fast reinem ChavinStil ausgeführt, wurde in den Ansiedlungen im Gebiet von Chiquerillo und im Becken von Callango, in der Gegend des unteren und oberen Tales entdeckt. Im wesentlichen stellt den »Stabgott« dar, zeigt aber nicht die stilistihe und symbolische Komplexität des ChavinStils Im Gegenteil, sie enthält die wesentlichen Züge, das heisst das Maul mit den Fangzähnen und die schlangenförmigen Fortsätze, die aus dem Kopf flattern. Obwohl die Darstellungen des »Stabgottes« scheinbar den Luxusprodukten und Grabbeigaben vorbehalten waren, setzen mehrere stilistische Übereinstimmungen und ikonographische Themen unbedingt direkte ChavinVorläufer voraus.
Zahlreiche keramische Formen aus der Phase 2 stellen ChavinVorläufer dar. Das deutlichste Beispiel dafür ist jenes einer stehenden Raubkatzenfigur, ohne Fesseln, deren Form, Details des Gesichts und Körperflecken mit den ChavinRaubkatzen der Steinmörser und der Gesimsornamente verglichen werden können. Eine andere Keramikform der Phase 2 ist häufig ein Wurm bzw. eine Schlange mit zwei Köpfen. Sie könnte den schlangenförmigen Stab mit dem Raubkatzengesicht des »Stabgottes« darstellen. Die spitzen Schnauzen der Raubkatzen mit den Fangzähnen, den Fellflecken in Achterform und konzentrischen Kreisen, mit der dreiteiligen Nase und den Augen mit rechteckigen Wulsten werden auf der Keramik der Phase 2 als Haupt und Sekundärmotive verwendet. Einige Formen aus dem Callangobecken zeigen menschliche Wesen mit Raubkatzenmäulern. Stoffe aus Wolle und Baumwolle, die in Carhua gefunden wurden, zeigen ebenfalls menschliche Personen mit Raubkatzenmäulern oder mit Tierköpfen, die mit einem Fell bedeckt waren und Lanzen oder Stöcke trugen. Stilisierte Raubkatzenköpfe mit mittlerem Eckzahn — eine Reminiszenz der Goldschmiedekunst von Chavin — schmücken die Ränder.
Das Ende der Phase 2 von Paracas fällt mit dem Niedergang von Chavin de Huäntar und dem direkten ChavinEinfluss auf die Südküste zusammen. Das Zusammentreffen der »ModulBreite« und der »doppelten Perspektive«, die menschlichen sowie Raubkatzendarstellungen mit mythologischen Symbolen sowie die Verwendung von katzenartigen Motiven haben ihren Ausgangspunkt in der Kunst von Paracas. Die Phase 3 ist durch das Erscheinen eines Hauptkults und einer göttlichen Figur lokalen Ursprungs gekennzeichnet, die auf religiösen oder Luxusgegenständen zu finden ist. Das »Augenwesen« schmückt riesige Tonkrüge, Musikinstrumente, mit Brandmalerei verzierte Kalebassen, Kleider und Mumienmasken aus gebranntem Ton sowie gewebte Textilien. Es ist verbunden mit Trophäenköpfen und trägt ein Messer mit Stiel und Lavaglasschneide. Zwei lange Schlangen fliessen aus seinem Kopf. Die Darstellung von Themen, die mit dem Tod stark verbunden sind, wie die Fardos (Mumienbündel), Messer, Lanzen und Trophäenköpfe, die alle in der Ikonographie der Phase 3 zu finden sind, sowie die hoch spezialisierte Erzeugung von Grabbeigaben, wie z. B. Mumienmasken, setzen eine intensive Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Leben im Jenseits voraus.
Das Augenwesen wird im allgemeinen als Einführung der Südküste, als erstes kulturelles Bild lokalen Ursprungs der Südküste betrachtet. Eine genauere Studie dieses mythologischen Wesens lässt vermuten, dass es auf eine Entwicklung aus der Phase 2, wahrscheinlich den »Stabgott« der ChavinKultur, zurückgeht. Darstellungen auf der Fassade von Animas Altas sowie auf Kalebassen mit Brandmalerei zeigen ein Wesen in Menschengestalt mit eindeutig raubkatzenartigen Attributen. Obwohl die Darstellungen auf den Gefässen vereinfacht sind, weisen auch sie eine Figur mit Raubkatzenzügen auf. Das »Augenwesen« aus der Phase 3 nimmt zwei Hauptposen ein: Die Pose von vorne zeigt es mit gestreckten Armen. Sie erscheint auf Figuren mit menschlichen Körpern und Raubkatzenköpfen. Die Pose von der Seite findet man bei einem Wesen in Tiergestalt, mit krummen Tatzen, mit einem Schwanz, der Körper ist mit geometrischen Fellflecken geschmückt. Die Raubkatzenköpfe auf der Fassade von Animas Altas sowie auf den Abbildungen des Augenwesens auf den Kalebassen haben die gebogene Raubkatzenschnauze, die dreigeteilte Nase und Fortsätze in Form von Backenbärten, die den Raubkatzen von Phase 2 gemein sind.
Die meisten bekannten Textilien aus der Phase 3 kommen aus Cavernas. Die wichtigsten Ausnahmen sind bemalte Mumienmasken aus Baumwolle, die in den Gräbern aus dem OcucajeBecken gefunden wurden. Die Textilien aus der Phase 3 gehen über die strukturelle Verzierung mit Kettgarn und Schussgarn hinaus. Die beliebtesten Techniken sind nun Gaze, doppelter Stoff, Gobelin, Brokat. Am häufigsten wurde für die Textilarbeiten Baumwolle als Faser verwendet. Wie die Keramik zeigen auch die Textilien der Phase 3 sehr oft das Motiv des »Augenwesens«. Als Sekundärmotive sieht man häufig Vögel, Raubkatzen und Schlangen; sie sind stilisiert, um einen dekorativen Effekt zu erzielen. Die Verwendung von Farben ist begrenzt, sie sollen das allgemeine, dekorative Modell unter streichen. Im Laufe der Phase 4 spiegeln Stil und IkonographieUnterschiede die Koexistenz von zumindest drei regionalen, voneinander unabhängigen Organisationen auf der Südküste wider. Der keramische Stil von Topara ist monochrom, er unterstreicht die technische Perfektion und die Entwicklung des Produktionsprozesses in Richtung auf dekorative Effekte. In der Phase 4 erscheint der ToparaStil zum ersten Mal in den Tälern von Pisco, Ica und Nasca, hauptsächlich in Form von Grabbeigaben. In der Phase 4 sind die Gefässe am dünnwandigsten. Kürbisse und Kalebassenformen werden naturalistisch wiedergegeben.
Während der Phase 4 liegt in diesem Becken der Ursprung der Verbreitung des »Augenwesens«. Es hat seine Raubkatzenmerkmale verloren, sich in ein Wesen in Menschengestalt verwandelt, mit herzförmigem Kopf, runden Augen und einem wurstformigen Mund. Es trägt weiterhin den sinnbildlichen Trophäenkopf und das Lavaglasmesser, daneben auch Lanzen oder Klappern. Das »Augenwesen« ist nicht mehr die dominante Figur der Ikonographie von Paracas, obwohl es das einzige dargestellte mythische Wesen ist. Die menschlichen Wesen erscheinen zum ersten Mal seit der Phase 2, versehen mit Symbolen ihres Ranges und ihrer Funktion, wie Stirn und Mundschmuck. Einige von ihnen haben ganz kleine Gesichter und Körper.
Die Textiltradition der Südküste änderte sich im Laufe der Phase 4. Die Erzeugung von Textilien mit gewebtem Dekor geht zugunsten von weicheren Stickereitechniken zurück. Die grossen, deckenden Motive, typisch für die Phase 3, stehen im Kontrast zu den Motiven der Phase 4, die sich auf Borten beschränkten. Die Änderungen textiler Motive und stilistischer Überlieferungen spiegeln die Änderungen wider, die gleichzeitig bei der Keramikerzeugung auftauchen. Das Thema hat gewechselt — es gibt nun eine Vielfalt von mythischen und nicht mythischen Darstellungen. Menschliche Figuren mit ihrem Ritualschmuck sind sehr beliebt. Als populäres Motiv hält sich das »Augenwesen« weiterhin und bewahrt einen konstanten Stil während der ganzen Tradition der gestickten Textilien. Es bleibt ein wichtiges religiöses Bild innerhalb eines immer komplexeren symbolischen Systems, wo die Verwendung von Sekundärmotiven den mythischen Status mehr als die Macht einer Person vermitteln sollte.
PUKARA – EINE ALTE KOMPLEXE GESELLSCHAFT IM NORDBECKEN VON TITICACA
DAS ALTIPLANO DES TITICACASEES
Das Altiplano von Titicaca liegt südlich des CuzcoTales. Es erstreckt sich von Vilcanota im Norden (14 Grad 30 Minuten südlicher Breite) bis zum PoopöSee im Süden (19 Grad südlicher Breite), was dem heutigen Südperu und einem Grossteil Boliviens entspricht. Es ist eine ausgedehnte ebene Grassteppe, die gelegentlich durch Hügelzüge unterbrochen wird. Die Höhe schwankt zwischen 3 812 m an den Ufern des Titicacasees und 5 000 m auf den verschneiten Berggipfeln, die ihn umgeben; sie beträgt durchschnittlich 4 000 m.
Heute zählt diese Gegend zu den trostlosesten und kargsten der Anden. Seit jeher führt man diese Situation auf die unwirtliche Umgebung zurück, die aufgrund der grossen Höhe eine Grenzzone für die Existenz von tierischem und pflanzlichem Leben darstellt; überdies kann es durch die Unregelmässigkeit der Regenfälle in einem Jahr zu Überschwemmung oder — bei ihrem Ausbleiben — im nächsten Jahr zu einer extremen Trockenperiode kommen; die starken täglichen Temperaturschwankungen lassen den Tag zum heissen Sommer und die Nacht zum eisigen Winter werden. All diese Faktoren verringerten jeweils die Produktionskapazität des Altiplano.
Dennoch können wir belegen, dass die »Verarmung« des Altiplano von Titicaca ein relativ junges Phänomen ist. Den ersten Beweis dafür stellen die spanischen christlichen Kirchen des 16. und 17. Jahrhunderts in der Umgebung des Sees dar, die das gehäufte Vorkommen von unermesslichen Reichtümern zu Beginn der Kolonialisierung widerspiegelten (Gutierrez u. a. 1979). Weiter wissen wir aus den Visitationsreisen im 16. Jahrhundert Diez de San Miguel 1567, Gutierrez Flores 1574, Gutierrez Flores & Ramirez Zegarra 1581 — 1583 dass diese Gegend bei der Ankunft der Europäer so unermesslich reich war, dass dieses Gebiet, das während der präkolonialen Epoche den Lupaqa gehörte, Eigentum der spanischen Krone wurde —zur selben Zeit wie die Insel von Punä im Golf von Guayaquil und Chincha an der peruanischen Küste. Ausserdem versichern spanische Chronisten wie Cieza de Leön (1553), Matienzo (1567) und Polo de Ondegardo (1571), dass es sich um eines der bevölkerungsreichsten Gebiete in der Neuen Welt handelte.
Zweifelsohne verwandelten die Menschen, die sich im Andenhochland niedergelassen hatten, diese Gegend mit ihrer offensichtlichen Unwirtlichkeit allmählich — während jahrhundertelanger dynamischer Entwicklung — in ein Gebiet, das der Entwicklung der Kulturen in hohem Masse entgegenkam; für dieses Ökosystem geeignete Tier und Pflanzenarten wurden domestiziert, es kam zur Entwicklung von neuen, auf die speziellen Umweltbedingungen abgestimmten Technologien.
Tatsächlich handelt es sich beim TiticacaBecken — wie von den Botanikern Hawkes (1956, 1967), Ochoa (1962) und Ugent (1970) bescheinigt wurde — mit grösster Wahrscheinlichkeit um das Zentrum der Kartoffelzüchtung (Solanum tuberosum). Sie stützen diese These auf das Vorhandensein der wilden Form (Solanum stenototum) und auf die Tatsache, dass die heutigen Bewohner dieser Region mehr als 400 Kartoffelarten kennen, eine Anzahl, die die Gesamtsumme der in den übrigen Teilen der Anden bekannten Arten überschreitet. Weiter wurde behauptet, dass die Quinoa (Chenopodium quinoa) und die Caihua (Chenopodium pallidicaule) im TiticacaBecken oder in seiner Umgebung domestiziert wurden (Simmons 1965; Heiser & Nelson 1974; Pikersgill & Heiser 1977); diese Gräser stellten zusammen mit der Kartoffel, der Oca (Oxalis tuberosa), der Mashwa (Tropeaolum tuberosum) und dem Olluco (Ullucus tuberosus) (Lumbreras 1967, 1970, 1971) die Basis für eine erfolgreiche Wirtschaft im Andenhochland dar.
Zudem war das TiticacaBecken wahrscheinlich eines der Zentren für die Domestikation der südamerikanischen Kameliden. Die Spanier stiessen auf die stärkste Konzentration von Kameliden (Murra 1964), darunter wilde Arten wie das Guanako (Lama guanicoe, Müller 1776) und das Vikunja (Lama vicugna, Molina 1782) und domestizierte wie das Lama (Lama glama, Linneaus 1758) und das Alpaka (Lama pacos, Linneaus 1758). Ricardo Latcham (1922: 82; 1936: 611) ist der Ansicht, dass sowohl das Lama als auch das Alpaka in eben diesem Becken domestiziert wurden, da es den Mittelpunkt ihrer geographischen NordSüdVerbreitung in den Anden darstellt. Carl Troll (1931: 277) stellte dieselbe Hypothese auf und wies unter anderem darauf hin, dass das TiticacaBecken die grösste Dichte an Weidemöglichkeiten bester Qualität aufweist (1931: 265).
PUKARA: EINE ALTE STÄDTISCHE KULTGESELLSCHAFT
4ach Tiahuanaco war Pukara die zweite bedeutende Kultur, die im Altiplano von Titicaca untersucht wurde. Die charakteristische Stätte von Pukara, die in 3950 m Höhe gelegen ist, befindet sichwi06 kM vön der heutigen Strasse 'entfernt, Puno, an den Ufern des Titicacasees, mit Cuzco verbindet. Die archäologische Ausgrabungsstätte erstreckt sich über eine Fläche von ungefähr 6 km'.
Panoramaaufnahme des heutigen Dorfes Pucarä Im untersten Teil befindet sich die Haupt oder QalasayaPyramide und links die Nordpyramide. Ansicht der QalasasyaPyramide vor den archäologischen Ausgrabungen. Rechts, auf dem Hügel, liegt die PucaorquoPyramide.
Die Forscher stellten von Anfang an grosse Ähnlichkeiten zwischen den Überresten von Pukara und jenen von Tiahuanaco fest, was den Ausgangspunkt für eine Serie von Hypothesen bezüg lich ihrer Geschichte bildete (Valcarcel 1925, 1932, 1935; Tello 1929, 1940, 1942, 1943). Als erster behauptete Julio C. Tello, dass sich in Pukara die Vorläufer von Tiahuanaco befänden; später wurde diese Hypothese von Kidder (1943, 1948), Kroeber (1944) und Bennett (1948) gestützt. Seit damals wurde die PukaraKultur als PräTiahuanacoKultur betrachtet und sollte in gewisser Weise den Ursprung von Tiahuanaco erklären.
Die späteren Ausgrabungen (Rowe 1958, 1963, 1969 —1970; Mohr 1969, Chävez & Mohr 1970; Lumbreras & Amat 1968; Lumbreras 1970, 1974; Wallace 1958) untermauerten die alten Hypothesen und wiesen zudem auf die Notwendigkeit hin, 1. Pukara als historisches Verbindungsglied zwischen dem Altiplano und anderen Regionen im Gebiet der Zentralanden und 2. Pukara selbst als ein städtisches Zentrum zu betrachten, das zu einer bestimmten Zeit — vor Tiahuanaco — eine gleichrangige und ebenso bedeutende Rolle wie das berühmte bolivianische Zentrum spielte. Tatsächlich weisen die letzten Ausgrabungen darauf hin, dass die Bedeutsamkeit von Pukara nicht nur in seinem höheren Alter im Vergleich zu Tiahuanaco liegt, sondern auch in seiner eigenen Grösse und Eigenart (Mujica 1978, 1979, 1985, 1988; Mujica & Wheeler 1981).
Heute wissen wir, dass Pukara im nördlichen Becken von Titicaca ein Beispiel für die völlige Beherrschung der Umwelt durch den Menschen darstellt, da er nicht nur alle verfügbaren natürlichen Ressourcen nützte, sondern auch neue erschloss. Die ersten Terrassenanlagen entstanden in dieser Zeit; ihre Form, ihre Grösse und ihre Lage weisen darauf hin, dass sie hauptsächlich für »rituelle« Ernten verwendet wurden. Die »camellones oder »huaruhuaru«, die sich für den Anbau in Überschwemmungsgebieten an den Ufern des Titicacasees eigneten, ermöglichten einen intensiven Ackerbau im Hochland (Erikson 1987, 1988).
DAS PUKARASIEDLUNGSMODELL
Das PukaraSiedlungsmodell im Altiplano besitzt eine hierarchische Struktur; neben dem Siedlungskern existieren verschiedene kleinere, aber gut geplante Zentren und über das nördliche Becken von Titicaca verstreute Weiler. Sein Einflussbereich reichte über die nördliche Sierra bis zum CuzcoTal und bis auf einige Kilometer in den Süden von Tiahuanaco. An der Pazifikküste waren Spuren von Pukara in den Tälern von Moquegua (im äussersten Süden von Peru) und Azapa (im äussersten Norden von Chile) identifiziert worden, wiewohl es auch Spuren seiner Existenz im Gebiet von Iquique und bis zur Mündung des LoaFlusses gibt.
PUCARA: DER SIEDLUNGSKERN
Die charakteristische Stätte von Pucarä — im heutigen gleichnamigen Dorf gelegen — stellt das Zentrum der Siedlungsform der PukaraKultur dar und steht an der Spitze der Hierarchie. War sie bereits früher mehrmals zumindest teilweise beschrieben worden (Franco Inojosa 1940; Lumbreras 1969, 1971, 1974; Mujica 1978, 1979, 1987; Rowe 1963), so bieten die letzten Studien ein komplexeres Bild ihrer Beschaffenheit. Sie besteht aus einer Reihe verschiedener Konstruktionselemente, und zwar a) aus einer Abfallhalde, wo Kidder kleine mit Lehmmörtel errichtete Steinhäuser mit kreisförmigem Grundriss entdeckte (Franco Inojosa 1940: 131), b) aus einer Gruppe von in geschlossenen Einfriedungen angeordneten komplexen Wohnhäusern, die über die alte Schwemmlandterrasse verstreut sind, c) aus drei Gruppen von mas siven und nicht zum Wohnen bestimmten Bauten, d) aus sechs massiven künstlichen Bauten mit der Form von treppenförmig abgestuften Pyramiden, die offensichtlich für Kultzwecke bestimmt waren, und e) aus einem letzten Teil mit Grabhügeln.
Die Existenz von Abfallhalden (a) in Pucarä weist auf das Vorhandensein von Wohnstätten mit rustikalem Charakter hin, und ihre Dichte deutet auf eine ständige und dichte Besiedlung hin. Die auf allen Deponien herumliegenden Rohstoffe sind ein Zeichen für die Existenz von handwerklicher Facharbeit, wenn auch diese Hypothese noch durch letzte Ausgrabungen bestätigt werden muss.
Das Vorhandensein komplexer, in geschlossenen Einfriedungen angeordneter Bauten (b) in der Ebene am Fuss der Pyramiden weist auf eine Spezialisierung und eine Hierarchie im Inneren der Siedlung hin; die Tatsache, dass sich die Wohnstätten von früheren Bauweisen unterscheiden, ist ein Zeichen für eine sehr ausgeprägte soziale Differenzierung.
Das dritte Element (c), das sind massive und komplexe, aber im Vergleich zu den traditionellen Pyramiden weniger sorgfältig ausgeführte Bauten, bleibt eine grosse Unbekannte; bis heute sind sie unerforscht geblieben. Da sie sich von den Einfriedungen und den Pyramiden der Gruppen (b) und unterscheiden, nehmen wir an, dass sie einem anderen Zweck dienten. Die Existenz einer zweifelsohne kultischen Monumentalarchitektur (d) bestätigt das Entwicklungsniveau der PukaraKultur. Einerseits stellt sie einen Hinweis auf das Vorhandensein einer Oberschicht dar, die auf die Ausübung von rituellen Handlungen spezialisiert war. Die deutliche Ausrichtung der Pyramiden gegen Osten weist auf astronomische Beobachtungen hin. Andererseits ist aus der Komplexität und der Grösse der Pyramiden (die grösste umfasst 300 m x 200 m x 32 m) zweifelsohne auf eine grosse Konzentration an Arbeitskräften und die Verfügbarkeit eines Nahrungsmittelüberschusses für deren Ernährung zu schliessen, weiter auf technische Kenntnisse, die ihre Errichtung ermöglichten, und auf eine soziale und politische Organisation für die Leitung des Unternehmens.
DIE QALASAYAPYRAMIDE
Diese Pyramide befindet sich zwischen dem Felsen von CusiHuasi (oder: kleiner Felsen) und dem Hügel Pucaorquo, Erhebungen, die die Läufe und die Pfoten einer »Katze« darstellen, deren Kopf und Körper der Felsen von Pucarä und deren Schwanz ein kleiner Nordausläufer ist (Abb. 58). Nach der Überlieferung wird die QalasayaPyramide von den Gliedmassen des Feliden praktisch umschlungen und geschützt (Abb. 59). Aus den an der Oberfläche sichtbaren Spuren zu schliessen, müsste sie 315 x 300 m gross sein; diese Grössenangaben sind allerdings durch künftige Ausgrabungen zu verifizieren.
Die QalasayaPyramide und ihre Umgebung und Nordpyramide von der QalasayaPyramide
Auf einem sanften Abhang gebaut, am Schnittpunkt der Hügel Calvario und Pukaorquo, die im Westen bzw. im Norden liegen, besitzt die QalasayaPyramide lediglich auf der Süd und Ostseite eine Anzahl künstlicher Plattformen, die ihr die Gestalt einer treppenförmig abgestuften Pyramide verleihen. Auf der Nord und Westseite verschmilzt die Pyramide mit den Hügeln, da sie sich auf derselben Höhe wie die Abhänge befindet und in die sie umgebenden Hügel genau eingefügt zu sein scheint (Abb. 60).
Im grossen und ganzen ähneln die stufenförmigen Plattformen den Ackerbauterrassen. Vom architektonischen Standpunkt aus bestehen sie aus einer Stützmauer, die mit grossen behauenen Steinen verblendet ist, wobei eine Neigung nach innen auszumachen ist.
Wenn wir auch die vollständige Zusammensetzung des Aufbaues der Plattformen noch nicht kennen, sind wir doch in der Lage festzustellen, dass sie im Oberteil kleine Steine in willkürlicher Anordnung enthalten. Anstelle von Mörtel werden sie mit Lehmerde zusammengefügt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt scheint alles darauf hinzudeuten, dass der künstliche innere Aufbau der QalasayaPyramide voll ist.
Dem Bau der Pyramide ging ein Planungsstadium voraus, das zusammen mit den architektonischen Besonderheiten darauf hinzuweisen scheint, dass die Pyramide in nur einer Epoche erbaut wurde. Diese Hypothese wird noch durch weitere Ausgrabungen genauer zu überprüfen sein.
Folgende Spuren lassen auf die planmässige Durchführung schliessen: Der bedeutendste Teil der Pyramide ist der obere, wo drei wahrscheinlich kultisch hintereinander im Norden, in der Mitte und im Süden liegende Einfriedungen nach Osten ausgerichtet sind. Jede von ihnen weist eine Reihe besonderer architektonischer Merkmale auf, wobei jene auf der Vorderseite, die die Haupt»fassade« der Pyramide bilden, am auffallendsten und relativ einfach auszumachen sind . Die nördliche Einfriedung ist mit einer grossen platzartigen Plattform von ungefähr 68 m Länge und 48 m Breite verbunden, die tiefer als die Einfriedung selbst liegt. Die beiden Teile stehen miteinander durch eine in der Mitte der Trennmauer errichtete Treppe in Verbindung. Im Osten wird der Platz von zwei Plattformen, oder langen und schmalen Terrassen, begrenzt, die gemeinsam mit dem oben beschriebenen Platz den nördlichen Block der Hauptfassade der Pyramide bilden.
Die mittlere Einfriedung, bekannt als Weisser und Roter Tempel, in der Kidder im Jahre 1939 Ausgrabungen durchführte, ist — ebenfalls auf der Ostseite — mit einer Gruppe von Plattformen, oder kurzen und breiten Terrassen, verbunden, die südlich des Platzes, der mit der nördlichen Einfriedung in Verbindung steht, gelegen sind. Die Spuren an der Oberfläche lassen auf die Existenz einer Treppe mit der Form eines umgekehrten L oder etwas ähnlichem schliessen, die zwischen diesen beiden Gruppen von Bauelementen liegt.
Seitlich ist die im äussersten Süden des oberen Teiles der Pyramide gelegene Einfriedung mit Plattformen oder Terrassen verbunden, die sich von jenen, die mit der mittleren Einfriedung in Verbindung stehen, unterscheiden. Es handelt sich hierbei um lange, schmale Plattformen, die von jenen in der Mitte durch eine von Ost nach West (von oben nach unten) senkrecht zu den Plattformen verlaufende Mauer getrennt werden. Im unteren Teil der Pyramide, unmittelbar östlich der Plattformen des südlichen und mittleren Blocks, liegt eine grosse atriumähnliche Plattform mit den Massen 160 m x 60 m. Vom natürlichen Plateau der Stätte aus ist sie über eine eingefügte Treppe zu erreichen, deren Überreste leicht nördlich der Stützmauer der Ostfassade zu sehen sind. Ausserdem begrenzen — fast in der Mitte und ebenfalls leicht gegen Norden — fein geschliffene Platten in der Form eines Quadrates mit 55m Seitenlänge eine Vertiefung; hierbei könnte es sich um eine Art versenkten Innenhofes handeln, dessen Charakteristika noch nicht identifiziert sind.
Zum oberen Teil der Pyramide gelangt man über eine zentrale Treppe, die von der Mitte des Atriums ausgeht und bis in einen Sektor reicht, in dem sich ein störendes Bauwerk aus der Kolonialzeit zwischen der südlichen und mittleren Einfriedung befindet, störend deshalb, da die Grösse dieses Bauwerkes, das vorerst den Namen »Quinta,< trägt und eine sehr alte Kirche gewesen zu sein scheint, uns daran hindert, in diesem Sektor das PukaraModell zu erkennen. Die Tatsache, dass die Treppe unmittelbar zu diesem Bereich führt, legt die Vermutung nahe, dass sich hier irgendein bedeutender Teil im Zusammenhang mit der Pyramide befinden müsste. Diese Hypothese wird durch die Tatsache erhärtet, dass die Absicht der Kolonialmächte bekannt ist, einen früheren Kult dadurch zu bekämpfen oder auszulöschen, indem man ihm an den wesentlichsten Stellen ein Beweisstück der eigenen Macht (in diesem Fall: eine Kirche) entgegenstellt.
Das erste bekannte »Beweisstück« aus der PukaraEpoche — mit Ausnahme der ursprünglich fast völlig verschütteten Hauptpyramide — war die von Kidder im Jahre 1939 erforschte zentrale Einfriedung. Kennzeichnend dafür sind die schachbrettartig angeordneten Mauern aus roten und weissen behauenen Steinen. Sie umfasst einen viereckigen zentralen Platz, der 2 m tiefer gelegen ist und von einer Mauer aus weissen, mehr oder weniger viereckigen Steinplatten, die in einer einzigen Reihe angeordnet sind, begrenzt wird. In der Platzmitte stiess man auf Skulpturfragmente im PukaraStil und an jeder Ecke des Vierecks auf genau ausgeführte Grabkammern, die ausser den Überresten verschiedener Individuen einige Bruchstücke von Gold und Kupfergegenständen enthielten. In die Kammern gelangt man durch Türen mit doppeltem Gewände; das äusserste Gewände schmückt ein treppenförmiges Motiv, das direkt in den Stein graviert ist. Rund um diesen Platz befindet sich eine etwas höher gelegene Plattform, die man vom unteren Platz aus über eine südlich der Ostfassade liegende Treppe erreicht. Die Süd, West und Nordseiten dieser Terrasse werden von roten Steinmauern begrenzt, die neun kleine Räume bilden (drei auf jeder Seite) und die zweifelsohne eine rituelle Funktion hatten.
Von den Ausgrabungsarbeiten im Jahre 1975 unter der Leitung von Lumbreras wissen wir, dass sie grösser als die mittlere Einfriedung ist und elf Wohnstätten anstelle von neun zu umfassen scheint. Überdies weist die Existenz einiger Überreste darauf hin, dass die Ostseite von einem Hauptportal verschlossen wurde, das man vom vorderen Platz aus über die bereits erwähnte Treppe erreichte. Eine spätere Besiedlung dieses Ortes könnte auf eine Wiederverwendung von Platten aus der PukaraEpoche deuten, die von anderen Stellen der Pyramide stammen.
Die Einfriedung im äussersten Süden scheint am stärksten zerstört zu sein, wodurch die Identifikation ihrer genauen Form unmöglich wird. Der versenkte zentrale Platz ist noch in gutem Zustand und — was seine Charakteristika betrifft — mit dem von Kidder erforschten Platz identisch, inklusive der vier Türen mit doppeltem Gewände in der Mitte jeder Seite. Einige der westseitig gelegenen Räume beweisen zumindest das Vorhandensein einiger Bauten aus gelben und grünen, behauenen Steinen.
Wenn die südliche Einfriedung bislang auch am wenigsten erforscht ist, so konnten doch zwei äusserst interessante Feststellungen gemacht werden. Zunächst konnte bewiesen werden, dass die farbigen, behauenen Steine, die die Viertel des Schachbrettbodens bilden, lediglich die Fundamente sind. Auf ihnen erhoben sich aus Erde und groben Steinen gebaute Wände von unbekannter Höhe. Die zweite Feststellung ist, dass diese Wände von einer Art grobem »Stuck« aus Lehm und Stroh, verziert mit eingravierten geometrischen Motiven, versehen waren, wobei unklar ist, ob hierbei auch die Grundmauern betroffen waren.
Bemalte Skulpturen, die anlässlich der Ausgrabungen im Jahr 1979 gefunden wurden. Die erste ist ein lebensgrosser, abgeschlagener Kopf, ein Motiv, das auch häufig auf der Keramik zu finden ist oder mit »Kopfabschneider—Skulpturen assoziiert wird. Die zweite ist eine 10 cm hohe Statuette, die noch gelbe Farbspuren mit weissen Linien auf der Nase nach Art einer Tätowierung trägt.
Im Inneren des alten oder PukaraModells der Haupt oder QalasayaPyramide befinden sich zwei architektonisch bedeutsame Elemente und eine Skulptur, die erwähnenswert sind. Das erste Element ist eine kleine Erhebung in Form einer abgestuften Pyramide auf der Spitze der QalasayaPyramide, etwa 30 m westlich der südlichen Einfriedung. Obwohl sie relativ stark verschüttet ist, ist festzustellen, dass sie aus zwei übereinanderliegenden Plattformen und einer Haupttreppe auf der Ostseite besteht.
Beim zweiten Element handelt es sich um eine Art Einfriedung mit zweifelsohne kultischer Funktion, die sich am Fuss der QalasayaPyramide befindet und im Süden an das oben beschriebene Atrium grenzt. Momentan gleicht es einer Plattform von ungefähr 100 m Länge und Breite, wobei diese Masse bei späteren Ausgrabungen noch zu korrigieren sein werden. Heutzutage wird die Plattform landwirtschaftlich genutzt, aber die grossen behauenen Steine in derselben Anordnung wie in der von Kidder erforschten, zentralen Einfriedung sind dennoch nicht zu übersehen. Ihre tatsächliche Grösse und ihre Form sind uns unbekannt. Aber ganz offensichtlich stehen wir hier vor den Überresten einer noch grösseren und komplexeren Einfriedung, als es die anderen waren.
Aus dem figuralen Element, dem Fragment eines Monoliths und einer Platte in situ, kann mit grosser Sicherheit geschlossen werden, dass zumindest die Terrassen der Hauptfassade der QalasayaPyramide mit einigen der berühmten PukaraSteinskulpturen verziert waren. Im Aussenwinkel der zweiten Plattform, ziemlich nahe der Haupttreppe, haben wir das Beweisstück dafür (übrigens das erste dieser Ausgrabungsstätte) gefunden.
Die Stellung von Pucarä an der Spitze der Hierarchie der Kulturstätten ist nicht nur auf seine grössere Vielschichtigkeit und seine Ausdehnung im Vergleich zu den anderen Stätten jener Zeit zurückzuführen, sondern auch auf seine geographische Lage im Inneren des TiticacaBeckens, im Tal von AyavariPucarä, das nicht gerade durch seine Fruchtbarkeit herausragt. Vielmehr scheint seine Stellung an Faktoren gebunden zu sein, die über die direkte Produktion im Ackerbau und in der Viehzucht hinausgehen. Wie bereits erwähnt, stellt das Tal von AyavariPucarä die direkte natürliche Verbindung zwischen dem TiticacaBecken, in dem in bedeutendem Ausmass Viehzucht und Ackerbau betrieben werden, und dem VilcanotaBecken mit seinem mesothermischen Ackerbau dar. Dieses Ineinandergreifen von Hochlandackerbau, Viehzucht und mesothermischer Feldwirtschaft scheint während der ganzen Entwicklung des Altiplano grundlegend gewesen zu sein.
Ein zweiter Faktor ist die zentrale Lage, die Pucarä bezüglich des Zugangs zu verschiedenen Gebieten einnimmt. Im Norden befindet sich der Zugang zum Tal von Vilcanota und von Apurimac mit seinen zwei Hauptstädten Velille und Livitaca; im Süden umgeben der Titicacasee und die Berge die Stätte; im Osten befindet sich der Streifen der Selva am Osthang der Anden und im Westen der Zugang zu den Küstentälern und zur Pazifikküste. Andererseits gelangt man unmittelbar zu den höhergelegenen Anbaugebieten; das Weideland ist für die Kameliden aus der Umgebung ideal.
El Degollador de Pukara (Der Kopfabschneider von Pukara) ist die repräsentativste Skulptur. Die Figur trägt eine Katzenmaske, hält eine Axt in der rechten und einen abgeschlagenen Kopf in der linken Hand. Fragment einer Skulptur: Der Kopf wurde wahrscheinlich von den GötzendienstGegnern in der ersten Kolonialzeit abgehackt. In den Händen hält die Figur ein abgeschlagenes Haupt — ein damals häufig reproduziertes Motiv.
Ein dritter wesentlicher Faktor betrifft die Lage von Pucarä im Zentrum unterschiedlicher Produktionszonen. Wie bereits erwähnt, lässt sich die Produktion im Altiplano von Titicaca aufgrund der täglichen Temperaturschwankungen und der unregelmässigen jährlichen Niederschlagsverteilung nur schwer vorhersehen. Die Zone an den Flussufern und bis zum Osten des Altiplano ist produktiver als jene im Norden und Westen, die weniger ertragreich ist. Durch die Lage des grossen Zentrums von Pucarä im Schnittpunkt dieser beiden Achsen befinden sich beide Alternativen in unmittelbarer Reichweite; den Produktionsschwächen, die auf die klimatische Unbeständigkeit (lange Trockenzeiten oder Überschwemmungen der seenahen Gebiete) zurückzuführen sind, kann so abgeholfen werden, und die Risiken bleiben auf ein Minimum beschränkt .
DIE NEBENZENTREN UND DIE WEILER
In der Umgebung des städtischen Kultzentrums von Pucarä befinden sich — über das Altiplano von Titicaca verteilt — andere Stätten mit unterschiedlichen Charakteristika, die demselben politischen Gefüge angehören. Einerseits haben wir an strategischen Punkten die Stätten, die wir »semiurbane Zentren« oder »Nebenzentren« nannten, wie Maravillas, Taraco und Incatunuhuire, die sich durch eine komplexe und ausgeklügelte Architektur auszeichnen, ohne jedoch jemals die Ausmasse von Pucarä zu erreichen. Hier finden sich beinahe immer Steinskulpturen und erlesene PukaraKeramik, mit einer Ikonographie, die lediglich in dieser Art von Bauten vorkommt .Auf der anderen Seite umfasst die dritte Art von PukaraNiederlassungen über das Altiplano verstreute Stätten, deren materielle Überreste auf eine geringe Bevölkerungskonzentration und das Fehlen von Monumentalarchitektur schliessen lassen. Die Ähnlichkeit dieser Niederlassungen mit jenen, die für die vorangehende Periode (Qaluyu) typisch waren, weist darauf hin, dass es sich um kleine Weiler handelt, die in Gebieten errichtet worden waren, wo Wasser, Rohstoffe und Acker sowie Weideland zur Verfügung standen. Der PukaraSiedlungstyp im Altiplano von Titicaca lässt also auf eine dreistufige hierarchischeOrganisation schliessen. Wir stellen die These auf (die durch archäologische Ausgrabungen zu stützen sein wird), dass die Hauptaufgaben der Weiler in der Rohstofförderung und in der Herstellung von Grundnahrungsmitteln lag; die »Nebenzentren — zwischen den Weilern und Pucarä — erfüllten wahrscheinlich eine Sammlungs und Umverteilungsfunktion; das grosse städtische Kultzentrum verarbeitete die Rohstoffe weiter und gewährleistete die Produktion bzw. Umverteilung von Gütern und städtischen Dienstleistungen. Aus der zweifelsohne erfolgten Vermehrung der Stätten ist auf ein beträchtliches Bevölkerungswachstum und auf eine Aufteilung der Bevölkerungsgruppen zu schliessen, verbunden mit dem Wunsch, über eine grössere Anzahl von Ressourcen in verschiedenen ökologischen Nischen zu verfügen. Zum ersten Mal in der historischen Entwicklung des Altiplano stösst man auf eine Gesellschaft,die dermassen viele Höhenzonen, landwirtschaftliche Ressourcen in den Tälern und Waldgebiete sowie die Ufer und Inseln des Titicacasees nutzt und somit das erste regionale Integrationsmodell im ganzen Nordbecken begründet.
PUKARA AN DER PERIPHERIE DES ALTIPLANO
Das Modell regionaler Integration und gleichzeitiger Nutzung zahlreicher ökologischer Nischen, das in der PukaraEpoche seinen Ursprung hatte, steht in krassem Gegensatz zur Mikroanpassung der früheren Kulturen, deren Entwicklung auf der Stufe des Weilers oder Dorfes stehenblieb. Mit einiger Wahrscheinlichkeit sind die wesentlichsten Indikatoren für die Veränderung, die während dieser Epoche im TiticacaBecken eintrat, die Existenz von Niederlassungen auf dem Hochplateau ausserhalb ihrer Kernzone.
Verzierte Huanca eines Fisches Dieser Stein wurde 1937 auf dem Südbau an der Spitze der QalasayaPyramide entdeckt.
Es gibt verschiedene Spuren von PukaraVölkern, die ihre Kernzone in der hohen andinen Sierra verlassen haben. Im Norden überquerten sie das Tal von Vilcanota und stiessen bis zur Stätte von Batan Urqo, in der Nähe des heutigen Dorfes Huaro (Cusco) vor, die von T. Paterson im Jahre 1965 (1967) entdeckt wurde. Die zum gegenwärtigen Zeitpunkt von Archäologen aus Cusco an dieser Stätte durchgeführten Ausgrabungen könnten über die Natur der PukaraPräsenz in diesem vom Altiplano weit entfernten Gebiet und über die Art und Weise, in der die Bevölkerungsgruppen die spätere kulturelle Entwicklung im CuscoTal beeinflussen konnten, Aufschluss geben.
Blitz oder Wasserstele: Monumentalwerk, das zusammen mit der zuvor präsentierten Skulptur zu den bekanntesten Skulpturen der Epoche zählt
Südlich des Sees existieren Beweise für eine PukaraPräsenz auf dem Gebiet einer teilweise zeitgenössischen Gesellschaft (Mujica 1985) mit dem Namen Qeya (oder Tiahuanaco III oder altes Tiahuanaco). An der Stätte von Kallamarca (oder Qallamarka) (Portugal Zamora & Portugal Ortiz 1975; Portugal Ortiz & Portugal Zamora 1977), die in nur 12 km Entfernung südöstlich des grossen städtischen Zentrums von Tiahuanaco gelegen ist und von dem Archäologen Portugal im Jahre 1971 entdeckt wurde, stiess man auf bedeutende Funde von PukaraKeramik, ein Beweis für die Verbindung zwischen der ältesten TiahuanacoKeramik und Merkmalen des PukaraStils, wobei die PukaraKultur in ihrer Gesamtheit zweifelsohne vor der TiwanakuKultur anzusetzen ist (Lumbreras 1974: 61). Sehr bedeutend war auch der Zugang zur Küste. Die ersten prätiahuanakischen Spuren, die von den Hochplateaus stammen, wurden auf der Anlage Azapa 70 (Arica) von den Archäologen Focacci und Erices (1971) entdeckt.
Fragment einer aus Qaluyu (4 km nördlich von Pucart1 gelegen) stammenden Skulptur
Die jüngeren Ausgrabungen im Tal von Moquegua im äussersten Süden von Peru lieferten eine überzeugendere Information (Feldman, im Druck; Goldstein & Feldman, im Druck). Im Gegensatz zu »isolierten« PukaraElementen, wie sie im obigen Absatz erwähnt werden, die lediglich auf Handelsbeziehungen zwischen Völkern des Altiplano und der Küste deuten könnten, handelt es sich hierbei um Niederlassungen mit vielfältigen Komponenten in fruchtbaren Talgebieten, wodurch in der Chronologie der Südküste eine kulturelle Phase mit dem Namen Trapiche definiert werden konnte. Auch wenn das Tal nicht dicht besiedelt war, finden sich hier zumindest drei Wohngebiete mit PukaraKeramik und PukaraTextilien, die — in diesem Fall — auf eine ständige Besiedlung hindeuten. Chävez, ein Archäologe von Arequipa, bezeichnete und zeigte PukaraKeramik, die von einer Anlage in Las Salinas, auf den Anhöhen von Arequipa, stammt und wies darauf hin, dass er in Chiguata, am Westhang der Kordillere, beim Abstieg nach Arequipa eine ähnliche Keramik gefunden hatte.
Gefäss im PukaraStil Die abgebildete Figur hält einen Stock in der linken und ein Alpaka in der rechten Hand und Typisches PukaraKeramikfragment.
Das Vorhandensein von PukaraKulturgut an der Peripherie weist auf drei wesentliche Tatsachen hin: einerseits das Erreichen komplementärer, mehrere Tagesmärsche entfernter Ökologien seitens der Bevölkerung des Hochplateaus, was nur durch das Lösen ihrer Bindung an das ursprüngliche Umfeld und durch den Aufbau einer politischen und sozialen Struktur möglich war, wodurch die organisierte Bevölkerungsbewegung unterstützt wurde; an zweiter Stelle die Verschiedenheit der Kulturgüter an der Peripherie, wie z. B. vereinzelte Textilien in bestimmten Fällen oder in ständigen Siedlungen wiederentdeckte Textilien, die die Anwendung von zwei verschiedenen, aber komplementären Wirtschaftsmechanismen reflektieren. Einerseits bestand die Möglichkeit, durch den Handel an entfernte Ressourcen heranzukommen, andererseits war ein direkter Zugang dank der ständigen Niederlassungen gegeben; drittens ist die Entstehung komplexer Gesellschaften in Cusco wie in Tiahuanaco durch die Präsenz von PukaraVölkern (bis nach Cusco im Norden und Tiahuanaco im Süden) zu erklären.
DAS ENDE VON PUKARA
Das Ende von Pukara naht um 380 n. Chr. Aus den Baudenkmälern geht hervor, dass sich die charakteristische Anlage sowie ein grosser Teil des nördlichen TiticacaBeckens auf friedlichem Wege entvölkerten. Wenn wir auch nicht die Gründe dafür kennen, so können wir doch die Konsequenzen nennen.
In den Ausgrabungen, die zwischen zwei der Kultbauten an der Spitze der Hauptpyramide von Pucarä durchgeführt wurden, konnte das Ereignis dokumentiert werden. Ursprünglich existierte eine Gruppe von sehr sorgfältig ausgeführten, mit grossen Steinplatten gepflasterten Patios, die eine direkte Verbindung zwischen den beiden Tempeln darstellten und deren Pracht auch mit rituellen Funktionen in Zusammenhang stand. Diese Patios waren mit einer feinen roten Lehmschicht bedeckt, die offenbar vom Putz der Wände der Kultbauten stammte und durch Regenfälle abgewaschen wurde. Der ursprünglich gepflasterte, unter dieser Schicht völlig verborgene Boden weist keinerlei Brandspuren oder Zeichen sonstiger Verwüstung auf.
Später wurden die Patios wiederbesiedelt, die alten Bauten wurden teilweise weitergenutzt: Einige Türen wurden zugemauert, andere in die Mauer gebrochen — an den ursprünglichen Ecken des Tempels wird jedoch nichts geändert. Die erste —wenn auch leichte — Zerstörung der Anlage geht auf die Zeit zurück, als die gesamte Anlage von einer Abfallschicht bedeckt war.
Gefäss im PukaraStil. Jüngere Phase als obige Exemplare Der Fehde mit aufgesetztem Kopf und im Profil eingraviertem Körper stellt ein im PukaraStil häufig reproduziertes Motiv dar. Gefäss im PukaraStil.
Die Bewohner verwendeten weiter die Keramik aus der PukaraTradition, aber mit ausgeprägten Varianten: Neue, einfachere Formen werden eingeführt; die Motive werden beibehalten, aber ihre Ausführung erscheint einfacher und gröber; die Ausführung ist von geringerer Qualität — insbesondere was die Intensität der Farben betrifft.
Ursprünglich bezeichneten wir diese Phase als »dekadentes Pukara«, da sie den Niedergang des Stils und der Kultur illustriert; jetzt ziehen wir die Bezeichnung »Pukara« vor, da nicht auszuschliessen ist, dass es sich hierbei um PukaraVölker handelt, die ursprünglich die Weiler im TiticacaBecken bewohnt hatten und schliesslich das alte Zentrum wiederbelebten, nachdem es seine kultischen Funktionen verloren hatte und von der Oberschicht verlassen worden war. Jedenfalls handelt es sich nicht um Fremde, sondern um Angehörige der PukaraTradition, die die Anlage während zwei oder drei Regenzeiten bewohnten,
Um 380 v. Chr. wurde die Anlage endgültig verlassen und erst gegen 1250 n. Chr. wieder besiedelt. Dies ist stratigraphisch aus allen Grabungen in Pukara ersichtlich, woraus zu schliessen ist, dass die Zerstörung erst ab diesem Zeitpunkt weiter fortschreitet.
DIE IKONOGRAPHIE VON MOCHE
Mehr als 1000 Jahre vor Beginn der Inkaherrschaft entfaltete sich in der Küstenebene im Norden Perus ein Volk, das wir heute Moche nennen. Die Moche kannten keine Schrift, in ihrer Kunst_ allerdings hinterliessen sieDarstellungen ihres Lebens und ihrer Umgebung in besonders lebendiger Art und Weise. Durch ihre Wirklichkeitsnähe und ihre Sujets ist die MocheKunst eine der anziehendsten Stilarten der vorkolumbischen Zeit.
Der Ausdruck der MocheKünstler ist erstaunlich vielfältig. Männer, Frauen, Tiere, Dämonen und vermenschlichte Götter werden bei der Ausübung mannigfaltiger Tätigkeiten wie Jagd, Fischfang, Kampf, Ausführung einer Bestrafung, sexuellen Handlungen und komplizierten Zeremonien gezeigt. Tempel, Pyramiden und Häuser werden ebenso dargestellt wie Kleider und Schmuck. Die gemalten und modellierten Sujets sind detailliert, verständlich und überaus realistisch dargebracht.
Diese abwechslungsreiche und komplexe Kunst scheint Geschichten zu erzählen und quälende Visionen aus dem Leben, den Zeremonien und der Mythologie der Menschen vorzuführen. Dadurch bietet sich die Möglichkeit, in die innere Natur dieser alten Kultur Einblick zu erhalten.
SYMBOLISCHE MITTEILUNG
Die MocheKunst verkörpert in sich ein System von Symbolen, das in seinen zahlreichen Erscheinungsformen dem Symbolsystem einer Sprache ähnelt. Sowohl in der Kunst als auch in der Sprache ist die Verständigung nur dann möglich, wenn völliges Verständnis und überlegtes Einverständnis mit den Gesetzen des Ausdrucks besteht.
Man kann die MocheKunst deuten, indem man die Modelle beobachtet, die aus der Arbeit der diese Gesetze respektierenden Künstler entstehen. Der logische Zusammenhang von Details liefert den Schlüssel der eigentlichen Botschaft. Eine bestimmte Person kann zum Beispiel identifiziert werden, indem man eine immer wiederkehrende Kombination von Zügen, eine charakteristische Kleidung — und indem man den Bereich der Hand lungen zur Kenntnis nimmt, die mit dieser Person in Beziehung gebracht werden.
Wie sich jeder Anwender einer Sprache auf bestimmte Weise ausdrückt, so hatte auch jeder MocheKünstler einen eigenen Stil, der sich übrigens im Laufe seines Lebens änderte. Auch wenn die Beschreibung derselben Szene oder Person je nach dem persönlichen Stil eines Künstlers verschieden sein mochte, gelingt die Vermittlung der Botschaft. Es ist gelegentlich schwierig, die stilistischen Unterschiede und die Variationen im Inhalt der Botschaften auseinanderzuhalten, aber das Wissen um diese Parameter ist von entscheidender Bedeutung. Zwischen der MocheKunst und der gesprochenen Sprache besteht noch eine letzte Analogie: Auch wenn die von jedem System gebrachte Information theoretisch unbegrenzt ist, beschränkt sie sich in der Praxis tatsächlich nur auf eine gewisse Anzahl von Themen. In der Sprache sind die Themen durch die Art der Beziehung zwischen den Individuen oder durch die Funktion, die die Mitteilung erfüllen soll, begrenzt. In der MocheKunst umspannt die zu überbringende Information nur ein geringes Themeninventar, und diese Themen hängen untereinander wieder so zusammen, dass es sich um eine spezifische und auf die Kunst selbst reduzierte Funktion handelt.
MITTEL DES KÜNSTLERISCHEN AUSDRUCKS
Die Keramik ist das bekannteste Ausdrucksmittel der MocheKunst. Mehr als 90 % der erhaltenen Kunstgegenstände dieser Kultur sind Keramiken. Bei der Herstellung von Gefässen wurden verschiedene Techniken verwendet. Direktes Modellieren, SpiralwulstTechnik, Pressen, oder die Herstellung in der zweischaligen Form wurden, teilweise kombiniert, zur Erzeugung der Gegenstände benutzt. Bemalt wurden sie mit weisser und/oder roter Farbe. Mehrfarbige Verzierungen sind so gut wie nicht existent. Durch das Brennen, das oxydierend erfolgte, erhielt der Ton eine rotbraune oder beige Färbung. Einige Gefässe, die absichtlich reduzierend gebrannt wurden, zeigten eine graue bis schwarze Gesamttönung. Auf vielen Gefässen wurde nach dem Brennen ein schwarzes organisches Pigment aufgesetzt und dieses nochmals leicht erhitzt, um Details in der Zeichnung der Gesichter, Schnurrbärte oder Verzierungen an den Gewändern besser zum Ausdruck zu bringen.
Metallverarbeitung war die zweite bedeutende Technik der MocheKunst. Gold, Silber, Kupfer und die jeweiligen Legierungen wurden in verschiedenen Kombinationen verwendet, viele Gegenstände waren vergoldet. Metallplättchen wurden gehämmert und geglüht, getrieben, gekerbt, geprägt oder ziseliert. Oft wurden bei der Herstellung eines Gegenstandes zwei oder mehrere dieser Techniken kombiniert. Beim Metallgiessen wurde gewöhnlich das Verfahren der verlorenen Form angewendet, wobei man gelegentlich einen nichtmetallischen Kern einsetzte. Die Metallgegenstände der Moche zeigen ein hohes Mass an Geschicklichkeit und eine absolute Beherrschung der Technik.
Auch die Textilien stellen eine Hauptform des künstlerischen Ausdrucks der Moche dar. Weben war weit verbreitet, wobei Baumwollfäden für die Kette und Wollfäden für den Schuss gemischt wurden. Andere aufgefundene Textilien zeigen Wollstickereien auf einem Untergrund aus Baumwolle. Die Verzierungen auf den Gewändern der auf der Keramik dargestellten Personen weisen auf eine Vorliebe für aufgenähte Metallplättchen hin.
Auch zahlreiche Wandmalereien wurden entdeckt. Die meisten stellen menschliche oder menschenähnliche Figuren dar, bei denen die Umrisse eingeritzt und polychrome Pigmente auf vorbereiteten Flächen aufgetragen wurden. Geometrische und tierähnliche Motive wurden auch als Flachrelief ausgeführt und mit mineralischen Pigmenten koloriert.
Die Ikonographie der Moche zeigt sich auch bei den Bildhauerarbeiten auf Knochen, Stein und Holz. Bei der Bearbeitung all dieser Materialien lässt sich eine beträchtliche Kunstfertigkeit erkennen. Meist sind diese Werke als Hochrelief ausgetührt. wobei Details eingeschnitten oder eingelegt 'wurden. Die Technik der Einlegearbeit wurde in der MocheKunst besonders zur Darstellung bestimmter Einzelheiten eingesetzt. Kleine Teilchen aus Stein, Muscheln oder Metall wurden sorgfältig geformt und mit Hilfe eines pflanzlichen Harzes auf Knochen, Stein, Holz, Metall, Keramik und Muscheln aufgeklebt. Mit Brandmalerei verzierte Kalebassen, die als Schalen, Tassen oder Teller verwendet wurden, waren mit einfachen geometrischen Motiven, aber auch mit komplizierteren Figuren verziert.
Andere Formen des künstlerischen Ausdrucks waren die Tätowierung und die Körperbemalung. Häufig erscheinen auf den Unterarmen und den Gesichtern sehr präzise Zeichnungen. Viele in der MocheKunst dargestellte Figuren weisen sehr kompliziert ausgeführte Körperbemalungen auf; andererseits fand man bei Ausgrabungen in MocheGräbern öfter rote, mineralische Pigmente auf Teilen der Skelette.
Drei künstlerische Formen dienen in der MocheKunst zur Verzierung verschiedener Untergrundmaterialien, und zwar entweder jede für sich oder aber gemeinsam: die zweidimensionale Darstellung, das Flachrelief und das Hochrelief. Jede Form hat ihre Gesetze, die die Art der Sujetdarstellung, unabhängig von der Natur des Untergrunds, regeln. Aus diesem Grund erscheint eine auf einem Gefäss zweidimensional gezeigte menschliche Figur nahezu identisch mit der gleichen Figur, die in ein Metallplättchen ziseliert, auf eine Mauer gemalt, in einen Stoff eingewebt oder auf die menschliche Haut tätowiert ist. Dies gilt auch für eine dreidimensionale Darstellung: Ein aus Metall gegossener Uhukrieger hat eine aussergewöhnliche Ähnlichkeit mit der gleichen Figur, die aus Lehm geformt oder aus Holz, Stein oder Knochen geschnitten ist.
Abwicklung der Szene
Abwicklung: Szene einer Hirschjagd
Abwicklung der Szene
DIE REGELN DER KUNST
Der hervorstechendste Zug der MocheKunst ist ihr stark ausgeprägter Naturalismus, der in der Schöpfung individueller Portraits gipfelt. Fast alle dargestellten Objekte fand der Künstler in seiner unmittelbaren Umgebung. Selbst die phantastischen, übernatürlichen Geschöpfe waren aus Teilen zusammengesetzt, die es in der Nähe des Künstlers zu sehen gab. Die Umformung dieser Objekte in andere Gestalten, deren Bedeutung sie dann annahmen, unterlag mehreren spezifischen Kanons, die von den Künstlern, die die jeweiligen Grundformen bearbeiteten, eingehalten wurden.
Gabelhalsgefäss. Die gemalte Szene stellt Bestrafung und Behandlung von Gefangenen dar. Höhe: 31,8 cm (mit freundlicher Genehmigung des American Museum of Natural History, New York). Kalebassengefäss mit Flachreliefdarstellung der »Präsentation,. Höhe: 27 cm (mit freundlicher Genehmigung des American Museum of Natural History, New York)
DER MASSSTAB
Mit Ausnahme einiger weniger MocheKünstler erzeugten die meisten von ihnen Gegenstände, die zwischen 1 und 30 cm hoch waren; die Mehrzahl lag zwischen 5 und 20 cm, unabhängig vom verwendeten Material. Auch die meisten ikonographischen Darstellungen der MocheKultur liegen in diesem Bereich. Grössere Gegenstände, wie Textilien , waren so dekoriert, dass um eine zentrale Figur ein grosser Freiraum gelassen wurde, oder die Fläche wurde mit vielen kleinen Figuren bedeckt. Auch bei diesen Unterlagen massen die eigentlichen Figuren nicht mehr als 5 —20 cm. Die einzige bemerkenswerte Ausnahme stellen die bunten Wandbilder dar, auf denen die Figuren manchmal bis 120 cm gross sein konnten. Schliesslich findet sich in der MocheKunst nichts, das einer kolossalen Steinfigur, einem riesigen Gefäss oder einer lebensgrossen Statue ähneln könnte. Diese Beschränkung der Masse hat natürlich zur Folge, dass das dargestellte Sujet kleiner als in Wirklichkeit ist. Ein weiteres Kennzeichen der MocheKunst ist die leichte Transportierbarkeit der Gegenstände, was zweifelsohne zur Gleichförmigkeit dieser Kunst in ihrem gesamten Einflussbereich beigetragen hat.
Rekonstruktion der Szene als Flachrelief. Gabelhalsgefäss mit dem »Präsentationsthema« Höhe: 27,5 cm
Relative Masse
Wenn die MocheKünstler mehr als eine Figur in einer Szene darstellten, entspricht das Grössenverhältnis von z. B. Mensch zu Hirsch, oder Hirsch zu Hund, im allgemeinen dem natürlichen Verhältnis. Eine menschenähnliche Figur ist in Menschengrösse wiedergegeben. Berge, Häuser und grosse Bäume sind die einzigen Elemente, die ständig verkleinert scheinen. Wenn mehrere Hirsche, Seelöwen oder andere Kreaturen auf einer Zeichnung vorkommen, haben alle Tiere derselben Gattung normalerweise auch dieselbe Grösse. Dies gilt auch für Menschen oder menschenähnliche Gestalten. Dennoch gibt es drei Ausnahmen. Die erste wird auf Gefässen sichtbar, deren Dekor spiralenförmig angeordnet ist, so dass die erste Figur am Boden der Ausbauchung kleiner als die anderen ist, und zwar wegen des kleineren verfügbaren Platzes. Die zweite Ausnahme betrifft die Tiefenwirkung, die dadurch erzielt wird, dass die Figuren im Hintergrund kleiner abgebildet werden als jene im Vordergrund (Abb. 79). Die dritte Ausnahme ist die häufigste, sie setzt die Grösse einer bestimmten Figur zur Bestimmung ihres Ranges ein.
Die Vergrösserung von Händen und Köpfen ist bei Darstellungen von Menschen, Tieren und menschenähnlichen Gestalten eine normale Erscheinung. Die Geschlechtsorgane sind gelegentlich ebenfalls vergrössert, gewöhnlich sind sie aber proportioniert oder gar nicht sichtbar.
Verdrehung
Die dreidimensionale Skulptur zeigt die Objekte in ihrer natürlichen Art, auch wenn bestimmte Verdrehungen üblich sind, besonders vergrösserte Hände und Köpfe. Flächige Darstellungen oder Flachreliefs weisen grössere Distorsionen auf und folgen damit mehreren spezifischen Regeln der Kunst. Darstellungen menschlicher und menschenähnlicher Wesen vereinigen in sich oft Seitenansicht, Vorderansicht und Aufriss. Schräg oder Dreiviertelansichten sind unbekannt. Arme und Beine, Köpfe und Füsse sind meist im Profil dargestellt, Körper, Augen und Hände von vorn. Dennoch erscheinen die Hände manchmal verformt, die angezogenen Finger beider Hände sind zum Betrachter hin gewendet (Abb. 78). Weil der Daumen oberhalb der Hand dargestellt ist, vermitteln die Gestalten oft den Eindruck, als hätten sie zwei rechte oder zwei linke Hände.
Dünne und flache Gegenstände sind von vorne gezeigt, wahrscheinlich zur schnelleren Identifizierung. Schmuck an Köpfen, Nasen und Ohren sowie Umhängetaschen sind generell so dargestellt. Bei der flächigen oder flach erhabenen Darstellung nichtmenschlicher Kreaturen halten die MocheKünstler das Prinzip der Seitenansicht viel strikter ein. Trotzdem ist das Auge immer von vorne gezeigt, ebenso die Barthaare der meisten Tiere. Der Schnabel der Moschusente ist besonders interessant, weil er von oben, der übrige Körper des Vogels im Profil gezeigt wird. Krabbe, Spinne, Krake, Rochen und Tausendfüssler sind eher im Aufriss als im Profil zu sehen, weil sie so leichter zu erkennen sind. Vier dieser Tiere — die Krabbe, der Krake, die Spinne und der Rochen — sind oft ungewöhnlich vermenschlicht dargestellt. Da sie keinen deutlich erkennbaren Kopf besitzen, wurde ein menschlicher Kopf angefügt, so dass das Tier zwei Gesichter hat: eines auf dem Körper, das andere auf dem menschlichen Kopf.
Bei den zweidimensionalen Abbildungen sind Pflanzen immer von der Seite zu sehen, jedoch mit einer bemerkenswerten Ausnahme: Die Blüten einer oft dargestellten Süsswasserpflanze sind in der Draufsicht gezeigt.
Perspektive
Im Flachrelief und in der zweidimensionalen Darstellung verwenden die MocheKünstler zwei besondere Methoden, um den Eindruck der Perspektive zu erzielen. Bei der ersten werden kleine Figuren oder Gegenstände im oberen Teil der Szene so eingefügt, dass sie weiter entfernt zu sein scheinen (Abb. 79.a). Bei der zweiten Methode wird die Szene in zwei oder mehrere horizontale Bahnen unterteilt, von denen jede eine Gruppe von Figuren enthält. Auf Abb. 79.b stellen die einzelnen Bahnen zwei deutlich verschiedene Ebenen dar, die vom Betrachter unterschiedlich weit entfernt sind.
RANG
Der Rang menschlicher und menschenähnlicher Figuren wird durch verschiedene künstlerische Regeln sichtbar gemacht, von denen die meisten wahrscheinlich von den damals in der MocheGesellschaft verwendeten Statussymbolen abgeleitet sind. Ein hoher Rang wird dargestellt, indem die Figur prächtige Kleider trägt, von einem lebenden Katzenraubtier begleitet wird, auf einer Bühne sitzt oder in einer Sänfte getragen wird.
Personen niedrigeren Standes tragen relativ einfache Kleider, es fehlen die Statussymbole, und sie sind oft mit häuslichen Arbeiten beschäftigt. Der Rang spiegelt sich auch im Grössenverhältnis der Figuren einer Ebene und einer Szene wider. Bei vielen Darstellungen von Feierlichkeiten, in denen die wichtigste Figur auch die grösste ist, sind die Krieger um ein geringes kleiner, die Essenträger noch kleiner und die unterste Schicht am kleinsten dargestelft.
WÜRDE
Szenen, die den Kampf oder die Behandlung von Gefangenen darstellen, lassen an das Vorhandensein einer Reihe von Regeln denken, die die Niederlage im Kampf bzw. den Verlust der Würde kennzeichnen. Auch diese stammen wahrscheinlich aus den Bräuchen der MocheGesellschaft. Die besiegten Gegner werden an den Haaren gehalten. Man hat ihnen die Kleider weggenommen, sie tragen einen Strick um den Hals, die Hände sind hinter dem Rücken gefesselt, und oft rinnt Blut aus der Nase. Eine Gestalt, die mit einem oder mehreren dieser Kennzeichen dargestellt ist, hat offenbar ihre Würde, aber nicht immer ihren Rang verloren. Die dargestellten Personen sind zwar entkleidet, sie werden aber trotzdem noch in einer Sänfte getragen. Man kann daher logischerweise annehmen, dass jemand, dem man die Kleider auszieht, gerade eine Schlacht verliert; sind die Kleider bereits abgelegt, hat er auch schon die Schlacht verloren.
KÜNSTLERISCHE THEMEN
Auch wenn die MocheKunst den Eindruck vermittelt, als würde eine nahezu unbeschränkte Zahl von Themen behandelt, so zeigt die genaue Analyse eine eher begrenzte Anzahl von Grundthemen. Um den Begriff des Grundthemas zu klären, wollen wir eine Parallele zur christlichen Kunst ziehen. Bei der Untersuchung einer grossen Anzahl christlicher Werke fallen gewisse Themen durch die Häufigkeit ihrer Darstellung auf.
Darunter sind die Geburt Christi, das Letzte Abendmahl und die Kreuzigung. Bei sorgfältigem Studium der zahlreichen Illustrationen eines dieser Themen wäre es möglich, eine besondere Gruppe charakteristischer Symbolelemente zu identifizieren. Bei der Geburt Christi zum Beispiel würden die symbolischen Elemente bestimmte Personen —das Kind, die Jungfrau, Josef, die Heiligen Drei Könige, die Hirten usw. — und bestimmte Attribute umfassen — die Krippe, den Ochs, den Esel, den Stern. Jede Person in der Szene erfüllt bestimmte traditionelle Aufgaben. Da diese Aufgaben eng mit der Geburt Christi verbunden sind, können wir sie — indem wir sie erkennen — als verschiedene Darstellungen dieses Ereignisses und somit als Beispiele für das Thema der Geburt identifizieren. Wenngleich die symbolhaften Elemente, die das Thema der Geburt kennzeichnen, einen Hinweis darstellen, so variiert doch die Art ihrer Zusammenstellung. Auf manchen Bildern sieht man vielleicht nur ein Element: entweder das neugeborene Kind oder den Stern oder die Krippe. Viel öfter aber wählt der Künstler eine Kombination von Elementen. Es gibt daher viele Bilder, die die Jungfrau und das Kind zeigen oder die Jungfrau, das Kind und Josef. Andere Künstler verbinden das Kind, die Krippe und den Stern zu einem einfachen Bild oder stellen die Heiligen Drei Könige, den Stern und das Kind dar. Die Zahl der möglichen Anordnungen ist unbegrenzt. Wir wollen aber dennoch festhalten, dass der gesamte Bestand an symbolischen Elementen selten auf einem einzigen Bild dargestellt ist.
Eines der beliebtesten Themen in der MocheKunst ist die rituelle Darreichung eines Bechers an eine wichtige Persönlichkeit, daher »Präsentation« genannt. Auf Abbildung 79, einer idealen Darstellung dieser Szene, scheinen folgende Figuren und die ihnen eigenen Symbole auf:
A. ein PriesterKrieger, mit aus Kopf und Schultern austretenden Strahlen, üblicherweise von einem Hund begleitet;
B. eine menschengestaltige Vogelfigur;
C. eine Frau mit langen Zöpfen;
D. eine Person, geschmückt mit Bändern mit gezackten Rändern, die von den Schultern hängen, sowie mit einer Art Sack, dessen Rand mit Scheiben verziert ist;
E. ein nackter Gefangener, gefesselt und blutend;
F. Zauberer, der eine ein Mensch, der andere eine menschengestaltige Raubkatze.
Andere Symbole, die oft bei der »Präsentation« auftreten:
G. Schlangen,
H. ein Fuchs, ein Vogel oder als Krieger verkleidete Raubkatzen,
1. Waffensammlungen mit Keulen und Schildern, J. UlluchuFrüchte.
Eine einfache Version der »Präsentation« verziert als Flachrelief die Vorderseite eines Kalebassengefässes. Ein PriesterKrieger (A) nimmt die linke obere Ecke ein. Ihm gegenüber der menschengestaltige Vogel (B), der ihm den Becher reicht; darunter ein nackter und gefesselter Gefangener (E), der von einem Katzenzauberer (F) festgehalten wird. Der untere linke Bereich wird von einem menschengestaltigen Vogelkrieger (H) zwischen Waffensammlungen (I) ausgefüllt. Der Künstler hat in diese Szene auch Schlangen (G) und Ulluchus (J) eingebunden, die um die Hauptperson schweben. Mit Hilfe des Grundbestandes an Figuren und dem Erkennen der mit der »Präsentation« zusammenhängenden Handlungen ist es möglich, viele Symbole auch dann zu erkennen, wenn sie in der MocheKunst isoliert auftreten. So können zum Beispiel die Einzelfiguren der gefesselten Gefangenen, die von Katzen gehalten werden , als zur »Präsentation« gehörend identifiziert werden.
Gabelhalsgefäss Gefangener mit katzenartigem Räuber, die Szene entstammt dem Thema der »Präsentation«. Höhe: 27,3 cm
Auf diese Weise gestattet uns die Identifizierung grundlegender Themen der MocheKunst auch die Auslegung vieler Bilder, die ohne dieses Wissen wenig Sinn ergäben. Wenn man die Tatsache akzeptiert, dass der Künstler öfter ein komlexes Motiv nur durch ein Symbol darstellen konnte oder durfte, könnte dies die heutigen Forscher, die sich mit der Ikonographie der Moche befassen, ermutigen, über eine einfache Erklärung eines gegebenen Stückes hinauszugehen und das Grundthema zu suchen, dem dieses Stück angehört.
DIE PROFANE KUNST
Die Begriffe »religiös« und 'profan« oder »übernatürlich« und »natürlich« lassen an eine Einteilung denken, wie sie in der westlichen Kultur üblich ist, deren Unterscheidung jedoch dem Geist vieler Völker, die keine Schrift haben, nicht klar sein kann: Es gibt wenig Grund zur Annahme, dass dies nicht auch bei den Völkern des Alten Peru der Fall gewesen ist. Ganz im Gegenteil, diese Menschen fassten die Welt wahrscheinlichals ein Ganzes auf, ohne Grenze zwischen dem, was wir als natürlich und tibernatürliaals profan oder religiös einordnen. Ein Bauer, der seine Ernte einbrachte, musste nicht unterscheiden zwischen Bewässerung und Kultivierung einerseits und Gebet und Ritual andererseits. Diese Handlungen waren mit dem ganzen Prozess verbunden, der zu einer reichlichen Ernte führte. Dennoch — auch wenn diese Trennung von Profanem und Religiösem dem Weltbild der Moche fremd zu sein schien — ist sie für uns nützlich, weil wir damit die wesentliche Bedeutung oder die fundamentale Botschaft der MocheIkonographie verstehen können. Man glaubte, dass diese MocheIkonographie sämtliche Aspekte des Lebens erfasst habe. Unter Berücksichtigung des weiten Bereiches der eingesetzten Sujets fällt auf, dass in den Darstellungen keine der vielen alltäglichen Begebenheiten und Handlungen verwendet wurde. Es gibt zum Beispiel keine einzige Szene, die den Ackerbau, die Viehzucht oder den Bergbau zum Inhalt hätte. Ebenso fehlen Tätigkeiten, die mit der Küche in Zusammenhang stehen, das Waschen, das Weben, das Töpfern, das Behauen der Steine oder die Herstellung von Kalebassen. Man sieht viele Darstellungen der Architektur, aber die eigentliche Bautätigkeit ist nirgends zu sehen. Alle diese Handlungen, die im täglichen Leben eine wichtige Rolle spielen, hätten in andere Handlungen eingebunden werden müssen, wenn die MocheKunst eine profane Kunstform gewesen wäre.
Zahlreiche Darstellungen, die profaner Natur sind, erweisen sich bei genauer Analyse als offensichtlich rituell. So könnten zum Beispiel jene Szenen mit der Jagd auf Seelöwen auf den ersten Blick als durchaus profane Handlungen gelten; in Wirklichkeit aber sind sie unmittelbar mit dem Schamanentum verbunden. Die Heilkundigen im heutigen Peru, die noch viele der präkolumbischen Heilungsrituale ausüben, glauben, dass die von den Seelöwen verschlungenen kleinen Strandkiesel starke Heilkräfte besitzen. Beim Töten der Seelöwen werden die Steine gesammelt. Daher sieht man auf den Darstellungen einer Seelöwenjagd kleine Steine, die in der Nähe der Seelöwen, in oder vor ihren Mäulern angeordnet sind. Folglich stellen die von den MocheKünstlern gemalten Jagdszenen mit Seelöwen keine profane, sondern eine rituelle Jagd auf der Suche nach diesen heilkräftigen Steinen dar.
Andere Jagdszenen in der MocheKunst zeigen menschliche Wesen, die einen Hirsch verfolgen (Abb. 78). Hier ist die Feststellung wichtig, dass die mit der Verfolgung des Wildes beschäftigten Jäger reich gekleidet sind. Ihre Anzüge, die Gesichtsbemalung, der Ohrschmuck, die gewaltigen, mit Schmuck besetzten Kopfbedeckungen, die prächtig gefalteten Tuniken, die Halsketten und Armbänder sind nicht gerade eine bequeme Ausstattung für die Verfolgung und Tötung eines Hirsches. Wenn diese Darstellungen so sorgfältig ausgeführt sind, ist es doch viel wahrscheinlicher, dass wir Zeuge einer möglicherweise religiösen Zeremonie sind, bei der die Jagd von der Elite der Gesellschaft ausgeübt wird.
Die erotische Kunst der Moche hat bei den Kunsthistorikern und Archäologen eine gewisse Berühmtheit erlangt und war zudem Gegenstand aller möglichen Auslegungen. Man ist allgemein der Ansicht, dass die erotische Kunst eine Vielfalt sexueller Praktiken darstellt; in Wirklichkeit beschränkt sie sich auf eine sehr genaue Reihe von Beziehungen und Stellungen. Keine dieser sexuellen Handlungen zeigt eine Stellung, die zu einer Befruchtung und in der Folge zu einer Geburt führen würde. In allen jenen Fällen, in denen die Details ausreichend deutlich zu erkennen sind, ist zu sehen, dass nur der Analkoitus (Sodomie) ausgeübt wird. Die übrigen dargestellten Handlungen sind die Fellatio, die Masturbation, das Streicheln der Brust und der Kuss. Das Fehlen jeglicher Hand lung, die eine Geburt als Folge hätte, widerspricht der Deutung der erotischen MocheKunst als einer mit der Fruchtbarkeit verbundenen Praktik; man denkt viel eher an ein Ritual in Verbindung mit einer Zeremonie. Dies wird durch historische Angaben bestätigt, die die eingeborene Bevölkerung an der Nordküste Perus zur Zeit des Aufeinandertreffens mit den Europäern beschreiben. Nach diesen betrieben die Eingeborenen die Sodomie und veranstalteten Feiern mit sexuellen Orgien.
Jedesmal, wenn die Archäologie, die Geschichte oder die Völkerkunde ausreichende Informationen liefern, helfen sie bei der Deutung eines spezifischen ikonographischen Themas. Es wird auch klar, dass das, was im ersten Augenblick als profaner Akt ausgelegt wird, in Wirklichkeit direkt mit der Religion, mit Riten oder schamanistischen Handlungen dieser alten Bevölkerung zusammenhängt. In den meisten Fällen ist es so, dass, je komplexer die Szene oder je genauer eine Gestalt dargestellt ist, es um so leichter zu beweisen ist, dass die Szene im übernatürlichen oder religiösen Bereich spielt. Sitzende rudimentäre menschliche Figuren sind schwierig zu deuten, ebenso einzelne Tiere oder Vögel. Trotzdem ist es möglich, dass auch diese Gestalten religiöse Symbole in der MocheKultur darstellen.
Die MocheKünstler haben eindeutig Objekte und Handlungen aus ihrer Umgebung abgebildet. Sie haben eine erstaunlich vollständige Malerei hinterlassen, mit deren Hilfe man auf einzigartige Weise diese alte Kultur, ihre Welt und ihre besondere und wunderbare Art, diese Welt zu sehen, verstehen kann.
DIE SEXUALITÄT IM ALTEN PERU
Es gibt für die Historiker, die sich mit dem Alten Peru befassen, überhaupt keinen Zweifel, dass nahezu alle mythischen Handlungen auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Vorteile ausgerichtet waren. Man muss daher festhalten, dass die Sexualität der Vorinka und InkaKulturen eine wichtige Rolle spielte und dass sie notwendigerweise den magischreligiösen Werten ihrer ideologischen Struktur gleichzusetzen ist.
Wenn auch die Chroniken ausgezeichnete Informationsquellen sind und bestimmte Aspekte des täglichen Lebens im Alten Peru gut erklären, so ist doch offensichtlich, dass diese Berichte im Hinblick auf die religiösen und besonders die sexuellen Aspekte durch kulturelle, ideologische, philosophische, moralische und andere Vorurteile verfälscht sind.
Die vollständigste Information wurde vom Chronisten Cieza de Leön in seiner »Crönica del Peru« zusammengetragen. Von ihm wissen wir, dass die Sexualität an der Nordküste am meisten Bedeutung hatte, nicht nur als Akt, sondern auch unter den verschiedensten Formen. Puerto Viejo, Santa Elena, die Insel Puna, Tumb€s und ganz allgemein die Nordküste werden oft im Zusammenhang mit der erotischen Aktivität ihrer Bewohner erwähnt. Was einem als erstes auffällt, ist die Tatsache, dass Cieza de Leön die Fakten, die er beobachtete, sehr deutlich beschrieb, und das unter Berücksichtigung seiner eigenen Prinzipien und Gewohnheiten: »...noch ehe sie sich verheirateten, verdarben sie diejenigen, die einen Ehemann haben mussten, indem sie an ihnen ihre Lust ausübten« .
In den alten peruanischen Kulturen und auch heute noch in manchen Andengebieten bestand und besteht der Brauch der «Probeehe«, eher bekannt unter der Bezeichnung »Servinacuy«. Diese Einrichtung bestätigt, dass die Inka ausgezeichnete Familienplaner und somit auch Sozialplaner waren. Die Lebensinstrumente, die sie schufen, und die Mittel, lie sie ins Bewusstsein der Männer und Frauen einpflanzten, waren für die Stärkung ihrer Einigkeit, der Bindungen zwischen dem Paar und der Nation und der Erzielung eines besseren Lebenssystems essentiell.
Cieza de Leön versichert: »...es gab daher viele Frauen, manche von ihnen sehr schön, und die meisten praktizierten offen (so hat man es mir versichert) die unselige Sünde der Sodomie, derer sie sich auch noch brüsteten...« Diese bemerkenswerte Beschreibung fährt fort mit der Erzählung über »...ihre Ess und Trinkgelage, und ihre Unkeuschheiten mit den Frauen, die Tage und Nächte währten, ohne dass sie ermüdeten...«, und er fügt noch hinzu, dass es auch »Freudenhäuser« gab.
Auch der Chronist Bernabe Cobo schreibt in seiner »Historia del Nuevo Mundo«, dass »...die Eltern ihren Kindern, solange diese noch klein waren, eine Frau gaben, die sie wusch und ihnen diente, bis sie erwachsen waren, und bevor sie sich verheirateten, lehrten diese Ammen sie die Laster und schliefen mit ihnen«. Er behauptet auch, dass »die Sitte herrschte, dass kinderlose Witwen Waisen aufziehen konnten und später gemeinsam mit ihnen lebten, bis sich der junge Mann verheiratete, oder bis er die Kosten für seine Erziehung zurückgezahlt hatte...«.
Ohne hier soweit gehen zu wollen, subjektive und verstiegene Überlegungen zu äussern, muss man dennoch auf einen wichtigen Punkt verweisen. Die Sexualität der alten Peruaner war in ihrem religiösen oder magischen Aspekt grundlegend von den Mythen der Vermehrung und Befruchtung geleitet. Dies wird von 13re Avila in seinem »Dioses y Hombres de Huarochiri« meisterhaft ausgedrückt und später von Jitnnez Borja kommentiert, als er die Geschichte von Runa Coto und Chaupi Namca, zwei heiligen Steinen, erzählt. Runa Coto war männlich und Chaupi Namca war weiblich. In den alten Zeiten konnten diese Huacas menschliche Gestalt annehmen und gehen. In der Geschichte Avilas wird berichtet, dass Runa Coto einen grossartigen Phallus besass. Männer, die ein zu kleines Glied besassen, kamen zu ihm und baten, auch sie zu begünstigen. Runa Coto und Chaupi Namca trafen einander, und Runa Coto »erfüllte sie reichlich, dank seines grossen männlichen Gliedes«. Deswegen bevorzugte sie ihn vor allen anderen Huacas und lebte auf ewig mit ihm. Die Priester, Huacasas genannt, feierten zu Ehren von Chaupi Namca viele Feste. Sie führten viele Tänze auf, darunter einen besonderen der Casayaco hiess: »Um ihn zu tanzen, legten sie ihre Kleider ab.« »Die Männer bedeckten ihre Schamteile mit einem kurzen Baumwolltuch.« Sie sagten: »Chaupi Namca freut sich sehr, wenn sie unsere Schamteile sieht«. »Und während sie sangen und tanzten, begann die Welt und die Erde zu reifen.
Die Polarität der Geschlechter war immer und wird ewig bestehen, darin wohnt ihre Anziehung. Das sexuelle Leben im Alten Peru hat immer universellen Gefühlen und Prinzipien entsprochen. Die alten Peruaner, und besonders jene, die zur Zeit der InkaKultur lebten, hatten schon damals ein Dualitätsprinzip aufgestellt, nach dem die Sonne männlich und die Erde weiblich ist, und ihre Riten der Liebesvereinigung dienten dazu, dass die Erde zum Wohl der Menschheit überreichlich Früchte trug.
Mit der Invasion der HuariKultur im 7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung verschwinden diese Ideen und ihre plastischen Darstellungen, oder sie sind zumindest nicht so häufig zu beobachten wie während der Phase I, II und III der MocheKultur. Im Zuge der regionalen Unabhängigkeit und mit dem Untergang des Reiches der Ayacucho ist eine Rückkehr zu den lokalen Überlieferungen und deren freiem Ausdruck zu bemerken. Besonders in der Metallurgie und der Keramik der ChimüKultur manifestieren sich erneut phallische Szenen und Darstellungen. Trotz einer Zwischenzeit von zwei Jahrhunderten hatte diese magischreligiöse Tradition überlebt, auch wenn deutlich wird, dass die Künstler der ChimüEpoche die Kenntnisse ihrer MocheVorgänger über Tonmischungen, Brennvorgänge oder die Verwendung farbgebender Oxydierungen verloren hatten. Ihre Werke zeigen sich als unproportionierte schwarze Keramiken, ohne die Harmonie und den Realismus der Mochica.
Dieser Hinweis führt uns zur Keramikkunst der MocheKultur an der Nordküste Perus. Ihre Erzeugnisse umfassen ungezählte Stücke aus Keramik oder Metall, die eine grosse Anzahl sexueller Themen darstellen — von der Sexologie als normal oder a' 1 Ausdruck der Spontaneität geschätzt. Diese Stücke, schamvoll betrachtet, manchmal eifersüchtig als Gegenstände der Sünde versteckt oder aus den gleichen Gründen nur heimlich gezeigt, wurden einfach als Pornographie eingestuft. Tatsächlich aber müssen diese Stücke mit sexuellen Motiven mit einem Rechtsprinzip in Ver bindung gebracht werden: Zu keinem Zeitpunkt haben die Künstler sie als unmoralische oder tabuisierte Gegenstände angesehen, sondern vielmehr als völlig normale Darstellungen in Verbindung mit dem Entstehen neuen Lebens.
Bei der Gesamtheit der sexuellen Darstellungen sind männliche und weibliche Geschlechtsorgane für sich auf den Gefässen abgebildet. Später, als sich die Bildhauerkunst so meisterlich entwickelte, sind die Darstellungen von Phallus und Vulva mit dem Körper verbunden. Sie sind immer absichtlich unproportioniert, damit sie durch diese Übertreibung im Verhältnis zum menschlichen Körper zur Geltung kommen.
Dennoch beschränkt sich die sexuelle Darstellung nicht nur auf die Menschen, sie umfasst gleichermassen die Tierwelt, mit verschiedenen Darstellungen von Kröten, Fröschen, Hunden, Eichhörnchen, aber auch die Pflanzenwelt mit vergöttlichtem oder vermenschlichtem Mais oder Knollenpflanzen. Dann kommen noch die geschlechtlichen Aktivitäten der Götter, wie man bei dem Bild sich paarender Pumas sehen kann. Es handelt sich um ein kosmogonisches Gleichgewicht, das von der zentralen Idee der Reproduktion oder der Fruchtbarkeit bewegt wird und aus dem abgeleitet wird, dass der Mensch kein isoliert oder einzeln für sich stehendes Wesen ist, sondern sehr wohl ein ergänzendes Element in der animistischen und theogonischen Auffassung der Mochica. Daher zeigen sich Liebe und Sex mit transzendentalen Gefühlen und Praktiken, im Bereich einer Denaturalisierung, die uns in einen niedrigeren Rang verweist.
IKONOGRAPHIE VON NASCA
Für die Menschen der alten NascaKultur, welche die Täler der Südküste Perus zwischen 200 v. Chr. und 600 n. Chr. beherrschten, war das Leben in der regenlosen Wüstenregion besonders hart. Obgleich alle bedeutenderen, im Andenraum domestizierten Nahrungspflanzen vorhanden waren, bildete die Unsicherheit der Wasserversorgung eine ständige Bedrohung ihrer Existenz. Dennoch entwickelten die NascaLeute eine hohe Kultur, die ein Gebiet umfasste, das sich vom PiscoTal im Norden bis zu den Tälern von Yauca und Acari im Süden erstreckte. Während 800 Jahren brachten sie vielerlei kunsthandwerkliche Gegenstände hervor, darunter feingewebte Textilien, brandverzierte Kalebassen und Schmuck aus Gold und Kupfer. Am besten bekannt ist die NascaKultur jedoch durch ihre vorzügliche polychrome Keramik, die sowohl mit realistischen als auch mit mythischen Themen verziert worden ist. Hier soll die Ikonographie dieser Keramik erläutert und der Versuch unternommen werden, ihre Bedeutung im sozialen Gefüge zu erklären.
Seitdem die ersten NascaGefässe nach der Mitte des 19. Jahrhunderts in europäischen Sammlungen auftauchten, wurden sie wegen ihrer Schönheit und komplexen Verzierungen hoch geschätzt (Macedo 1881; Hamy 1882; Wiener 1880; Seler 1893 u. a.).
Der deutsche Archäologe Max Uhle war der erste, der NascaGräber in kontrollierter Spatenarbeit freilegte. Dies geschah 1901 auf dem Gebiet der Hacienda Ocucaje im IcaTal, wo er den Stil 'entdeckte« und damit seine Herkunft an der Südküste lokalisierte (Uhle 1906; 1913; 1914). Uhles sorgfältige Ausgrabungen in den von ihm entdeckten Gräberfeldern sowie seine genauen Aufzeichnungen über den Inhalt jedes einzelnen Grabes sind von grosser archäologischer Bedeutung. Max Uhle bestimmte auch das zeitliche Verhältnis dieses neuen Stils zu den späteren Stilen im IcaTal. Seine Anwendung von Stratigraphie und Seriation bildete die Grundlage für das heute in der peruanischen Archäologie verwendete chronologische Schema (Rowe 1954; Proulx 1970). Spätere Arbeiten von Tello und Kroeber zeigten, dass das Zentrum dieser Kultur im NascaTal südlich von Ica lag. Weitere Grabinhalte wurden 1922 von Farabee und 1926 von Kroeber ausgegraben. Heute finden sich Tausende von NascaGefässen verstreut in den Sammlungen peruanischer, nordamerikanischer und europäischer Museen. Leider wurden die meisten Stücke durch Kauf von Huaqueros (Raubgräbern) und Sammlern erworben, ohne verlässliche Informationen hinsichtlich ihrer Herkunft. Während das Fehlen von Daten über die Fundzusammenhänge gewisse Fragen unbeantwortet lässt, ist die grosse Zahl der Gefässe ideal für Studien des Kunststils, seiner Eigenart und seiner Variabilität.
Ikonographie ist jener Zweig der Kunstwissenschaft, der sich mit dem Darstellungsinhalt oder der Bedeutung von Kunstwerken befasst (Panofsky 1939: 3). Betrachten wir die Werke einer alten, schriftlosen Kultur wie Nasca, die fast 2000 Jahre vor unserer Zeit existierte und deren Weltbild uns fremd ist, so kann das Problem der Interpretation, ja sogar die Erkennung der Hauptthemen ihrer Kunst äusserst schwierig sein. In dieser Studie werden Methoden der Archäologie, der ethnographischen Analogie und der »thematische Ansatz« angewandt, um eine Beschreibung und Deutung der Bilderwelt von Nasca zu versuchen.
Eine Kenntnis der zeitlichen Abfolge ist ein wesentliches Element jeder ikonographischen Analyse. Kunststile sind im Zeitablauf Veränderungen unterworfen; die Bedeutung von Symbolen kann sich ebenfalls ändern.
Der NascaStil hielt sich mehr als 800 Jahre. Während dieses Zeitraumes nahm die Kunst eine Entwicklung, ausgehend von im wesentlichen realistischen oder konventionellen Motiven, zu sehr ornamenthaft oder abstrakt wirkenden Wiedergaben, um schliesslich eine Endphase abgekürzter Vereinfachung zu erreichen. Die grundlegende Sequenz für den NascaStil wurde durch die Seriation entwickelt, welche als Methode zur Anordnung von Artefakten nach ihrer Ähnlichkeit miteinander definiert werden kann. In der Archäologie können wir eine Reihe von Tongefässen in ihrer richtigen Abfolge ordnen, indem wir kleinste Änderungen in Gefässform und dekor sorgfältig untersuchen. Aufgrund dieser Evidenz haben die Archäologen die NascaSequenz in neun Phasen unterteilt.
Die ersten sieben Phasen dieses Schemas fallen in die Zeit, welche Frühe Zwischenperiode (200 v. — 600 n. Chr.) genannt wird, während die beiden letzten Phasen dem folgenden Mittleren Horizont (600 — 1000 n. Chr.) angehören. Ein einfacheres Schema, das von Sawyer (1968) und anderen verwendet wird, teilt die NascaSequenz nur in eine frühe, eine mittlere und eine späte Phase. Die meisten auf das Andengebiet spezialisierten Archäologen verwenden jetzt die neun Phasen unterscheidende Sequenz von DawsonRowe.
Perioden
Zeit (ca.)
Stilrichtungen
Phasen nach
Dawson
Phasen nach
Sawyer
Mittlerer
Tendenz zur Auflösung
9
NascaHuari
Horizont
600 n. Chr.
der Formen (disjunctive)
8
550 n. Chr.
Tendenz zu wuchernden
7
Nasca
425 n. Chr.
Formen (proliferous)
6
Nasca
Frühe
300 n. Chr.
Übergang (transitional)
5
Zwischenzeit
175 n. Chr.
Monumentale
4
Nasca
50 n. Chr.
Tendenz
3
75 v. Chr.
(monumental)
2
ProtoNasca
200 v. Chr.
1
Ein anderer Weg, Stiländerungen im Zeitablauf zu betrachten, besteht darin, Gruppen von Phasen in »Stilrichtungen« zusammenzufassen, die Veränderungen in der Art der Zeichnung und der Abbildung von Themen widerspiegeln. Die Phasen 2 bis 4, zum Beispiel, werden als 'Monumentale Stilrichtung« klassifiziert, welche durch die Wiedergabe von relativ deutlich und realistisch gemalten Themen charakterisiert wird. Die Figuren haben einfache Umrisse, die grosse Farbflächen einschliessen (Roark 1965: 2). Häufig dargestellt werden Pflanzen und Tiere mit soviel Details, dass die einzelnen Arten identifiziert werden können. Auch mythische Wesen sind in ihrer klaren und konventionellen Zeichnung leicht erkennbar.
Die Phasen 6 und 7 gehören zu einer durch wuchernde Formen gekennzeichneten Stilrichtung (»Proliferous Strain«), deren Motive oft abstrakte Elemente als Teil des Dekors enthalten. Strahlen und Quasten sind vielen Motiven angefügt, besonders denjenigen, welche sich auf mythische Themen beziehen (Roark 1965: 2). Andere Darstellun gen werden in zunehmendem Masse ornamental ausgestaltet und ihre Elemente zur Flächenfüllung mehrfach wiederholt. Anatomische Verhältnisse folgen weniger dem Naturvorbild; eine Tendenz, Schmuckelemente und Körperteile zu vervielfachen, ist unverkennbar (Roark 1965: 54). Kleinere Elemente wie Mundmasken oder Stirnschmuck erlangen eine zentrale Bedeutung und weitere Ausgestaltung. Gleichzeitig ändern sich auch Zahl und Art der Motive, wobei kriegerische Themen (Krieger, Waffen, Trophäenköpfe) und geometrische Formen in der Kunst häufiger erscheinen.
Die Phasen 8 und 9 fallen in die durch Tendenzen zu einer Auflösung der Formen bestimmte Stilrichtung (»Disjunctive Strain«). In dieser Zeit nimmt die künstlerische Qualität merkbar ab, möglicherweise unter äusserem Druck infolge der Entwicklung des HuariReiches im Hochland. Der Dekor wird immer abstrakter, inhaltlich ärmer, auch schlechter gezeichnet. Die meisten Motive sind geometrisch, viele davon wahrscheinlich symbolische Abstraktionen älterer konventioneller Themen. Grossenteils verschwunden sind die früheren religiösen und realistischen Motive.
Schliesslich ist noch zu vermerken, dass in der NascaKunst lokale Unterschiede zwischen Talsystemen und sogar zwischen einzelnen Fundplätzen und Gebieten innerhalb von Talsystemen existierten (Proulx 1968). Besonders während der Phasen 5 und 7 scheinen zwei oder mehr zeitgleiche, jedoch in der Bildwiedergabe und Themenwahl voneinander abweichende «Substile« vorhanden zu sein. In der Phase 5 sind diese Substile als »konservativ«, »progressiv« und »bizarr« bezeichnet worden (Blagg 1975; Wolfe 1981; Carmichael 1988).
Ähnliche Substile sind für die Phase 7 erkannt, jedoch noch nicht definiert worden.
Die in der keramischen Kunst dargestellten
1, 1 Themen lassen sich in drei Hauptkategorien ein
31'
teilen: 1. realistische Motive wie Vögel, Landtiere,
Blumen und Pflanzen, Reptilien und Amphibien, Fische und andere Seetiere etc.; 2. religiöse und mythische Motive einschliesslich des »Anthropomorphen mythischen Wesens«, des »Mythischen Mörderwals«, der »Gefleckten Katze«, des »Schrecklichen Vogels«, des »Schlangenwesens«, des »Mythischen Bringers der Lebensmittel« und der »Harpyie«; 3. geometrische Muster wie Kreise, Bänder, Kreuzschraffur.
Wichtig ist auch, welche Themen in der NascaIkonographie fehlen. Bei diesem Kunststil gibt es keine Porträts oder Darstellungen bestimmter Individuen; menschliche Wesen werden in steifer Haltung wiedergegeben. Individuelle Züge fehlen fast gänzlich; ausser Gesichtsbemalung oder Ohrschmuck sind wenige Anzeichen für soziale Rangunterschiede erkennbar. Relativ selten sind Darstellungen aus dem Alltagsleben, und diese beschränken sich auf Kampfszenen und rituelle Vorgänge auf Gefässen der Phasen 6 und 7. Wiedergaben von Himmelserscheinungen wie Sonne und Mond fehlen, nur Sterne mögen durch geometrische Muster dargestellt worden sein. Häuser und andere Bauten erscheinen ab und an, öfter in Form der relativ seltenen modellierten Gefässe. Offenbar war die NascaKunst mehr symbolisch als deskriptivabbildend orientiert.
Die Ikonographie der NascaKeramik entwickelte sich direkt aus den Bildern auf ParacasKeramik und Textilien des Frühen Horizonts (900 — 200 v. Chr.). Realistische Motive wie der Fuchs, der Kondor, die gefleckte Katze, der Affe und verschiedene andere Vogel, Fisch und Reptilienformen waren in der späten ParacasKunst sämtlich vorhanden (siehe Dwyer 1979; Sawyer 1961). Das in der religiösen Ikonographie von Nasca so bedeutLi:de »Anthropomorphe mythische Wesen« erscheint bereits voll entwickelt auf späten ParacasTextilien. Die Ursprünge des »Mythischen Mörderwals« lassen sich auf ParacasKeramiken erkennen. Paracas und Nasca bilden so eine ununterbrochene kulturelle Tradition während fast 1500 Jahren. Die Anfänge dieser Tradition gehen teilweise auf religiöse Einflüsse der ChavinKultur des nördlichen Peru auf Paracas zurück; die lokale religiöse Ideologie der Südküste blieb in diesem Synkretismus jedoch vorherrschend.
Der Beginn der NascaAbfolge wird nicht durch einen scharfen Bruch mit früheren Traditionen markiert, sondern durch zwei künstlerische Neuerungen: 1. Nach dem Brand aufgetragene Harzfarben bei Keramik werden ersetzt durch bereits vor dem Brand angebrachte Schlämmung und Malerei; 2. Tongefässe ersetzen die Textilien als Hauptmedium der Wiedergabe religiöser Ikonographie.
Die Monumentale Stilrichtung (»Monumental Strain« der Phasen 2 bis 4) umfasst zahlreiche realistische wie auch mythische Themen, charakterisiert durch die Klarheit ihrer Wiedergabe und die Einfachheit ihrer Form. Die Geschöpfe der natürlichen Umwelt — Vögel, Fische und Landtiere ebenso wie Pflanzen — sind ausserordentlich häufig in diesen Phasen, während derer sie mit solcher Genauigkeit gezeichnet werden, dass einzelne Arten erkennbar sind. Einige stellen die Hauptquellen der Nahrung dar: Mais, Jiquima, Achira, Chili, Lücuma und Bohnen. Es ist auffallend, dass manche Pflanzen fehlen, vor allem Knollenfrüchte wie die Kartoffel, aber auch Cocablätter. Vielleicht waren diese aus dem Hochland kommenden Erzeugnisse noch nicht an der Küste verbreitet. Vögel treten besonders hervor, wie Kolibris, Schwalben, Kondor und Wasservögel wie der Reiher. Die in der Kunst dargestellten Meerestiere reichen vom Mörderwal bis zu kleinen Mollusken und Elritzen. Landtiere, Reptilien und Amphibien sind relativ selten in der Monumentalen Stilrichtung. Zu den abgebildeten Landtieren zählen Füchse und die Pampakatze (felis colocolo). Schlangen, Eidechsen, Spinnen, Ameisen, Mäuse, Kaulquappen und Schnecken finden sich in kleiner Zahl. Alle diese Motive zeugen von der guten Beobachtungsgabe der frühen NascaLeute.
Realistische Motive werden in der Kunst der Phasen 6 und 7 (»Proliferous«) sowie 8 und 9 (»Disjunctive«) zunehmend seltener, und wenn sie abgebildet werden, beschränken sie sich auf kleinere, mit mythischen Wesen verbundene Elemente. Die mythische Ikonographie wird in den späteren Phasen stärker betont bei geringerem Interesse an der Wiedergabe von Themen, die der natürlichen Umwelt entlehnt sind.
Geometrische Muster bilden während der gesamten NascaSequenz einen Grossteil der Motive. In den früheren Phasen scheinen viele davon rein geometrische Elemente zu sein (Kugeln, Halbmonde, Spiralen, Stufenmuster etc.), einige können aber auch als Symbole für Pflanzen oder andere Formen in der Natur angesehen werden. Die Häufigkeit des geometrischen Dekors nimmt im Laufe der Zeit zu und wird in den Phasen 5 und 6 sehr hoch. In den Phasen 8 und 9 (der zur Auflösung tendierenden Stilrichtung) machen sie einen Grossteil der Motive aus, doch sind viele dieser späten »geometrischen« Formen in Wirklichkeit geometrisierte Verkürzungen mythischer Wesen oder ihrer Bestandteile. Weitere Untersuchungen werden nötig sein, um rein geometrischen Dekor von symbolischen Abstraktionen zu unterscheiden.
Die mythische oder religiöse Ikonographie offenbart am besten, wie die NascaLeute ihre Welt gesehen haben. Der Begriff »mythisches Wesen« wird auf jedes anthropomorphisierte Tier oder auf menschengestaltige Wesen angewandt, deren besondere Charakteristika vermuten lassen, sie seien übernatürlicher Art. Das am häufigsten auftretende «mythische Wesen« in den frühen Nasca, Phasen ist das »Anthropomorphe mythische Wesen«. Dieser Terminus bezieht sich auf verschiedene halbmenschliche, maskierte Gestalten mit FelidenAttributen, die gewöhnlich auf Gefässen mit zwei Gussröhren, auf Schalen und weniger oft auf anderen Gefässformen zu finden sind. Das »Anthropomorphe mythische Wesen« hat einen menschlichen Körper, der mit einem Hemd und einem Lendenschurz bekleidet ist, es wird mit einer charakteristischen Mundmaske und einem Stirnschmuck dargestellt (Abb. 82. a). Seler nannte es den »Katzendämon«, in der Meinung, dies sei primär eine Tiergestalt mit menschlichen Merkmalen. Blasco und Ramos (1980) andererseits nennen es ein »phantastisches (Menschen) Wesen«, indem sie seine anthropomorphen Züge betonen und darin die Wiedergabe eines Menschen mit Merkmalen eines übernatürlichen Tieres sehen. Bestätigt wurde diese Ansicht durch archäologische Funde von Mumien an der Südküste, welche aus Gold gefertigte Mundmasken und Stirnschmuck trugen, was darauf hindeutet, dass männliche Angehörige der Elite, vielleicht Priester, sich als Abbild dieser mythischen Wesen kleideten.
Am häufigsten wird das »Anthropomorphe mythische Wesen« horizontal um die Wandung einer Tonflasche mit zwei Gussröhren oder eines hohen Bechers gelegt dargestellt. Der Körper kann entweder ausgestreckt oder nach unten gewandt sein; gewöhnlich findet sich in der einen Hand eine Keule und ein menschlicher Trophäenkopf in der anderen. Hinter dem Kopf des Wesens erstreckt sich ein mantelartiger Anhang («signifer«). Der Rand dieses Anhangs ist gewöhnlich mit Spitzen oder Stacheln besetzt, zwischen denen Trophäenköpfe oder Pflanzen erscheinen. Das Endstück dieses Anhangs kann verschiedene Formen annehmen, darunter die eines Felidenkopfs mit Tatzen, die eines Vogels, eines Landtiers, eines Fisches oder einer Pflanze . Der Terminus »signifer«, wie er von Roark (1965) verwendet wird, weist darauf hin, dass dieser Teil des Motivs zur näheren Bezeichnung von Art und Identität der auf das Gefäss gemalten Variante gedient haben kann, vergleichbar christlichen Heiligen, die in der europäischen Kunst durch ihre Attribute identifiziert werden können. Andere Formen des »Anthropomorphen mythischen Wesens« schliessen die Variante einer stehenden, mehr menschenähnlichen Figur ein, die Keule und Trophäenkopf in ihren Händen hält. Eine vogelartige Variante mit Flügeln wird abgebildet, wie sie einen menschlichen Trophäenkopf verzehrt , während eine andere vogelähnliche Variante eher konventionell dargestellt wird .
Anthropomorphes mythisches Wesen«, Phase 3 (nach Proulx 1968, Fig. 19). »Anthropomorphes mythisches Wesen«, Phase 5 (nach Roark 1965, Fig. 40) »Anthropomorphes mythisches Wesen«, Phase 6 (nach Roark 1965, Fig. 37) Stehendes »Anthropomorphes mythisches Wesen«, Phase 3 (nach Seler 1923). Anthropomorphes mythisches Wesen• als Vogel oder »TrophäenkopfKosten«, Phase 3 (nach Seler 1923). Anthropomorphes mythisches Wesen« mit Flügeln in konventionellerer Art, Phase 5 (nach Seler 1923)
Das »Anthropomorphe mythische Wesen« geht auf die Textilkunst von Paracas zurück und hält sich im NascaStil bis Phase 6, nach welcher Zeit seine Einzelzüge, wie die Mundmaske, ein Eigenleben führen; sie werden in der Folgezeit stark verkürzt und abstrahiert wiedergegeben. Nach der Geometrisierung in Phase 5 kommt es zu den grössten Veränderungen dieses Motivs in der durch wuchernde Formen gekennzeichneten Stilrichtung (Phase 6), wenn die anthropomorphen Elftente den Einzelzügen untergeordnet werden, die wiederum eine Ausgestaltung erfahren. barocke oder wuchernde Formen annehmen .
Realistischer ”Schrecklicher Vogel« beim Fressen eines menschlichen Trophäenkopfes (nach Seler 1923)
Der »Mythische Mörderwal«, der das mächtigste Meerestier darstellt, nimmt in seiner Bedeutung hinter dem »Anthropomorphen mythischen Wesen« die zweite Stelle ein. Ebenfalls aus der ParacasKunst hervorgehend, erscheint dieses Wesen in der NascaPhase 1 realistisch mit Ausnahme des menschlichen Armes, der an der Bauchseite ansetzt. Bald jedoch werden Mörderwale dargestellt, die Messer oder menschliche Trophäenköpfe in ihren menschlichen Händen halten , und diese Verbindung mit Trophäenköpfen und Blut setzt sich durch die ganze NascaSequenz hindurch fort.
In der NascaPhase 5 sind grundlegende Veränderungen in der Wiedergabe »Mythischer Mörderwale« zu beobachten. Es erscheint eine abgekürzte Form, eine Frontalansicht des Kopfes, für die offene Kiefer und ein Blutfleck (Symbol eines Trophäenkopfes) charakteristisch sind. Roark (1965) hat für diese Variante den Begriff »Blutiges Maul« geprägt . Die Sonderform mit dem blutigen Maul tritt vor allem in Phase 5 auf, setzt sich jedoch in Phase 6 fort; in den Phasen 7 und 8 wird sie abgelöst von einer Seitenansicht mit ausgezackter Zahnreihe im Maule. In der Zwischenzeit sind Attribute des Mörderwals dem »Anthropomorphen mythischen Wesen« in der Form von »signifers« angefügt, die in der Gestalt eines MörderwalSchwanzes enden).
Mit der Zeit werden die Darstellungen des »Mythischen Mörderwals« häufiger und übertreffen schliesslich die Anzahl der Darstellungen des »Anthropomorphen mythischen Wesens«. Für unser Verständnis der NascaReligion ergeben sich aus diesen Veränderungen keine klaren Folgerungen, man könnte jedoch einen langsamen Wechsel in der Bedeutung und Beliebtheit einzelner mythischer Wesen annehmen.
Früher Mythischer Mörderwal« mit menschlichem Trophäenkopf, Phase 3 (nach Yacovleff 1932) Anthropomorphisierter »Mythischer Mörderwal« Phase 5 (nach Seler 1923). Das »Blutige Maul« als Form des Mythischen Mörderwals«, Phase 5 (nach Roark 1965) Später ,Mythischer Mörderwal«, Phase 7(nach Yacovleff 1932) Mythischer Mörderwal« mit Fächerkopf, Phase 6(nach Seler 1923) »Lächelnder Kopf« als Form des »Mythischen Mörderwals«, Phase 8 (nach Seler 1923)
Der »Schreckliche Vogel« ist ein anthropomorphisierter Raubvogel, wahrscheinlich eine Verbindung von Kondor und Falke, der die mächtigsten Himmelskräfte repräsentiert. In den frühesten Phasen wird der »Schreckliche Vogel« als realistischer Raubvogel wiedergegeben, oft damit beschäftigt, menschliche Körperteile zu fressen. Von der Phase 3 an wird das Motiv durch Hinzufügung menschlicher Beine anthropomorphisiert. Seine Form wird stärker stilisiert, ausgestattet mit einem langen, in weissen Spitzen endenden Schnabel, der einen menschlichen Trophäenkopf packt, und mit flächiger Wiedergabe der Flügel, die auch Trophäenköpfe zeigen. Noch weitere Veränderungen mit bizarren Neuerungen erscheinen in der Phase 5, in der der »Schreckliche Vogel« seinen Höhepunkt erreicht. Das Motiv verschwindet plötzlich und unerklärlich am Ende der Phase 5; es gibt keine Darstellungen des »Schrecklichen Vogels« in der durch wuchernde Formen gekennzeichneten Stilrichtung.
Einem anderen mythischen, vogelähnlichen Wesen wurde der Name ›Earpyie« nach einer ähnlichen Form in der altgriechischen Kunst gegeben. Die »Harpyie« hat einen Menschenkopf und einen Vogelkörper. Der Kopf, bekrönt von zwei oder drei schwarzen Buckeln, trägt häufig die Zeichnung des Falken um die Augen und hat eine herausgestreckte Zunge. Schwarze »Haarsträhnen« fallen zu beiden Seiten des Kopfes herab. Wie beim »Schrecklichen Vogel« zeigen die Flügelflächen der »Harpyie« oft menschliche Trophäenköpfe. Die »Harpyie« hat im NascaStil nur ein kurzes Leben, sie erscheint in der Phase 3, erreicht ihren Höhepunkt in Phase 5 und verschwindet dann wieder aus dem Repertoire.
Die »Mythische gefleckte Katze« kann bis auf ihre realistischen Prototypen im ParacasStil zurückverfolgt werden. Einstmals als Fischotter oder »gato de agua« von Yacovleff (1932) identifiziert, besteht jetzt kein Zweifel, dass ein kleiner lokaler Felide dargestellt ist, die Pampakatze (Felis colocolo), charakterisiert durch ihre halbmondförmige Fellzeichnung, quergestreiften Schwanz und kleine Ohren, die durch eine »Kappe« getrennt sind. Beginnend in der Phase 2, erscheint eine mythische Variante mit Mundmaske, und in der Phase 3 werden dem Körper Pflanzen angefügt, ein Zug, der dieses Wesen mit Feldbau und Fruchtbarkeit verbindet. In der Phase 4 wird die »Gefleckte Katze« eckiger, oft sind die Augen von der Falkenzeichnung umgeben. So wie der »Schreckliche Vogel« verschwindet praktisch auch die »Gefleckte Katze« gegen Ende der Phase 5.
Das »Schlangenwesen« setzt sich zusammen aus einem schlangenartigen Körper und einem Menschen oder Felidenkopf, manchmal mit einer Mundmaske. Dieses mythische Wesen scheint mit Vegetation und Fruchtbarkeit in Beziehung zu stehen. Seine Ursprünge gehen auf die ParacasKultur zurück, in der Darstellungen dieser Gestalt auf Textilien als dem »Anthropomorphen mythischen Wesen« angefügte Annexe oder Bänder zu finden sind. Das »Schlangenwesen« ist in der Monumentalen Stilrichtung ein geläufiges Thema, es verschwindet jedoch während der Phase 5, welche zu der durch wuchernde Formen gekennzeichneten Stilrichtung überleitet.
Harpyie«, Phase 5 (nach Seler 1923) »Mythische gefleckte Katze, Phase 3. Maskiertes »Schlangenwesen“, Phase 3 (nach Seler 1923). «Bringer der Lebensmittel«, Phase 5
Phase 5 war eine Zeit grosser Experimente und Neuerungen im NascaStil. Wie bereits erwähnt, verschwanden viele traditionelle Motive der Monumentalen Stilrichtung während dieses Zeitabschnitts und eine Anzahl neuer Züge trat hervor. Untersuchungen von Roark (1965), Blagg (1975) und Wolfe (1981) weisen darauf hin, dass zwei, vielleicht auch drei kontemporäre Substile in der NascaKunst der Phase 5 existierten. Einerseits gibt es den konservativen oder traditionellen Substil, der viele alte Motive besonders aus der religiösen Ikonographie weiterführt. Dies ist im wesentlichen eine Fortsetzung der Monumentalen Stilrichtung, mit kleineren Veränderungen in der Anordnung des Dekors wie dem Zusammenziehen der Dekorfläche, so dass ein ganzes Motiv sichtbar wird, ohne dass man das Gefäss drehen muss ).
Der progressive Substil andererseits enthielt Elemente, die — wie Pfeile und Pflanzen — den mehr traditionellen Motiven angefügt wurden . Die Dekorfläche wird durch die beigefügten Elemente stärker ausgefüllt. Die Bedeutung dieses Substils liegt darin, einen Prototyp für die Verwendung und Entwicklung kleinerer Dekorelemente zu schaffen, was für die durch wuchernde Formen gekennzeichnete Stilrichtung in der nächsten Phase grundlegend war.
Der bizarre oder radikale Substil wird nicht nur durch die Einführung neuer Motive charakterisiert, sondern auch durch Veränderungen im Kanon der Zeichnung. Dazu gehört die ungeordnete Zusammenstellung von Körperteilen, eine Neuorientierung traditioneller Muster auf der Gefässoberfläche, die Ausgestaltung kleinerer Motive und die Hinzufügung ausufernder Elemente zu den mehr traditionellen Motiven. Die Ausgestaltung kleinerer Züge des Dekors zusammen mit der Unterordnung oder dem Verschwinden grösserer Motive lassen darauf schliessen, dass die symbolische Bedeutung des ganzen Motivs den Mitgliedern der Gemeinschaft offenkundig war, so dass nunmehr Teile der Darstellung genügten, ein Thema zu verdeutlichen.
Nach Blaggs Meinung gibt es eine radikale Neuinterpretation des Stils nahe dem Ende von Phase 5, vielleicht bewirkt durch eine religiöse Revolution von geringer Dauer (1975: 68). Nach ihrer Ansicht ist dies mehr als nur eine Abweichung von einem ansonsten homogenen Stil, es war ein Erneuerungsversuch, eine Zwischenstufe in der Herausbildung des »Proliferous Strain« in Phase 6. Obgleich einige Innovationen des bizarren Substils in der durch wuchernde Formen gekennzeichne ten Stilrichtung erhalten blieben, gab es eine Rückkehr zur vertrauten Ikonographie und eine offensichtliche Ablehnung des neuen Kults durch die Gesellschaft.
Zu den Neuerungen der Phase 5 zählt eine starke Zunahme von kriegerischen Themen. Dabei erscheint eine neue Art von »Anthropomorphem mythischem Wesen“, gewöhnlich horizontal um den Gefässkörper gezeichnet, von dessen Kopf und Armen Speere oder Pfeile ausgehen, die auch an den Körper angehängt sind . Abbildungen von Kriegern, die es im NascaStil auch früher gibt, erscheinen nun viel häufiger und erreichen ihre grösste Verbreitung während Phase 7 mit mehreren Varianten, die sich in der Art ihrer Zeichnung und Gesichtsbemalung unterscheiden. Wenige, seltene Kampfszenen finden sich auf den Gefässen der Phase 7. Sie zeigen rivalisierende ethnische Gruppen im Kampf (erkennbar durch Unterschiede in der Gesichtsbemalung, Bekleidung und Hautfarbe) einschliesslich Enthauptungsszenen (Carmichae11988: Illustrationen 18 und 19). Die NascaKultur erreichte ihre grösste Ausdehnung während der Phase 7, in der sich ihr Einfluss vom CarieteTal im Norden bis zu den Tälern von Acari und Yauca im Süden und bis zur Gegend von Ayacucho im Hochland erstreckte. Ferner gibt es Hinweise auf Kontakte zwischen den zeitgleichen Nasca und MocheKulturen in der Phase 7 (Paulsen 1986).
Zusammengesetzte Figur, RadikalSubstil, Phase 5. Anthropomorphes mythisches Wesen« mit anhängenden Pfeilspitzen, Phase 5
Menschliche Trophäenköpfe sind ein Hauptthema der NascaKunst, das auf die früheren Paracas und ChavinStile zurückgeht. An der Südküste, wo dank des trockenen Klimas die Erhaltungsbedingungen hervorragend sind, wurden an Paracasund NascaFundplätzen mehr als 100 Trophäenköpfe entdeckt (s. Proulx 1989). Diese Köpfe wurden präpariert, indem man durch ein vergrössertes Loch an der Schädelbasis das Gehirn entfernte, die geschlossenen Lippen mit Dornen feststeckte und die Stirn zur Anbringung einer Tragschnur durchbohrte. Das Kopfabschneiden war in erster Linie rituell begründet. Ethnographische Analogie, welche sich an den heutigen JivaroIndianern im östlichen Peru und Ekuador orientiert, lässt vermuten, dass Köpfe abgeschnitten und auf die beschriebene Weise präpariert wurden, um einen im Kopfe wohnend gedachten Rachegeist daran zu hindern, dem Krieger zu schaden (Proulx 1971; 1989). Andere Autoren meinten, dass die Köpfe bei rituellen Menschenopfern als Gaben für die Götter dienten (Baraybar 1987). Es gibt jedoch genügend archäologische Indizien für die Annahme, dass manche Köpfe tatsächlich im Kampfe erbeutet und danach öffentlich ausgestellt wurden. Die Kopftrophäen stehen in engem symbolischen Zusammenhang mit der Fruchtbarkeit. Bei einigen spriessen Pflanzen aus dem Mund des Opfers. Bei anderen Beispielen finden sich Trophäenköpfe und Blut verbunden mit Darstellungen von Pflanzen. Menschliche Trophäenköpfe zählen zu den häufigsten Motiven in der gesamten Sequenz des NascaStils von Phase 1 an. Sie erscheinen sowohl als selbständige Motive wie auch in Verbindung mit mythischen Wesen. Im »Proliferous Strain« erreichen sie den Höhepunkt ihrer Popularität entsprechend einer zunehmend kriegerischen Tendenz, die sich in anderen Motiven dieser Zeit ausprägt. Viele Arten von Trophäenköpfen lassen sich erkennen, von strahlenförmigen bis zu mehr realistischen Gesichtern. Der »Bringer der Lebensmittel« (»Harvester«) ist ein anderes, die Idee der Fruchtbarkeit betonendes Motiv. Der »Bringer der Lebensmittel« stellt einen Bauern dar, der einen konischen Hut trägt, dessen Vorderseite vertikal zusammengenäht und hinten mit einem Nackenschutz versehen ist. Er wird in Vorderansicht gezeigt, mit ausgestreckten Händen, in denen er Pflanzen hält . Die meisten Darstellungen dieses Wesens finden sich in Phase 5, nach der es schnell und gänzlich verschwindet. Frühere modellierte Figuren des »Bringers der Lebensmittel« gibt es in den Phasen 2 und 3, wo er an der gefleckten Gesichtsbemalung und den gemalten Pflanzen, die er in den Händen hält, erkennbar ist. Eine mythische Variante dieser Gestalt wird durch das Vorhandensein »übernatürlicher« Züge charakterisiert, wie SpondylusMuschelHalsketten, bemalte oder gefleckte Gesichter und Mundmasken. Die durch wuchernde Formen gekennzeichnete Stilrichtung, die teilweise aus den radikalen
Neuerungen der Phase 5 hervorging, brachte nicht nur tiefgreifende Veränderungen in der Darstellungsweise, sondern auch viele neue Motive. Das »Anthropomorphe mythische Wesen« verliert seinen überlieferten Menschen/Felidenkopf, der jetzt eine Vielzahl von Formen annimmt, manche mit Felidenzügen, während andere mit grossen, grotesken gelb oder schwarz umgebenen Augen im wesentlichen dem Mörderwal zu entsprechen scheinen. Gleichzeitig wird der ausgestreckte menschliche Körper beibehalten, aber der »signifer« auf Stäbe mit Voluten und einer Art Rollwerk reduziert . Es hat den Anschein, dass der Kopf des Wesens nun die Funktion des »signifer« der früheren »Anthropomorphen mythischen Wesen« zur Bestimmung einzelner Varietäten übernommen hat. Zu weiterer Verkürzung des ”Anthropomorphen mythischen Wesens« kommt es in Phase 7, in der der menschliche Körper verschwindet und durch ein grosses, fächerförmiges Element ersetzt wird. Die Betonung liegt jetzt gänzlich auf dem Kopf, der das Wesen insgesamt symbolisiert . Andere neue mythische Wesen, die im »Profiferous Strain« auftauchen, sind der »Zackenstabgott« (Jagged Staff God«), eine Menschenfigur, die »Blitz 94. «Bringer der Lebensmittel«, Phase 5 strahlen« in den Händen hält; der Jäger«, ein (nach Roark 1965, Fig. 54) menschlicher Krieger mit besonderer Gesichtsbemalung, der Speere und Speerschleudern in seinen Händen hält, und ein ››Anthropomorpher Affe« (Schlesiers »Affendämon«), der ebenfalls Zackenstäbe hält. Der »mythische Mörderwal« in seinen zahlreichen Erscheinungsformen gewinnt in der Religion seit Phase 5 an Bedeutung. Das MörderwalMotiv behauptet sich bis in Phase 8 hinein, zu welcher Zeit es auf die Form eines »Lächelnden Kopfes« vereinfacht worden ist.
Krieger und Trophäenköpfe, Phase 6. Geometrisierte abstrakte Figuren, Phase 9
Die Ausgestaltung kleinerer Motive wie Mundmasken und Stirnschmuck bestimmt die Kunst der durch wuchernde Formen gekennzeichneten Stilrichtung. In vielen Fällen steht die Hauptfigur nicht im Mittelpunkt und verbirgt sich hinter der barocken Wucherung der Mundmasken, Reihen von Köpfen, Strahlen und Voluten. Während der NascaSequenz erlangen lie Zungen mythischer Wesen grosse Bedeutung, oft verbinden sie direkt ein Dekorelement mit einem anderen. Bisweilen wird ein zungenartiges, aus dem Munde hervorkommendes Element zu einem Dekorfeld verbreitert, das eine Anzahl von Themen zeigen kann, von Kaulquappen bis zu menschlichen Feldbauern. Strahlenförmige Gesichter, manche Trophäenköpfe, die Harpyie und viele andere Wesen werden mit ausgestreckten Zungen abgebildet. Vielleicht ist dies in der NascaKunst noch ein weiteres Symbol für Fruchtbarkeit.
Katzengesichtiges »Anthropomorphes mythisches Wesen mit »BlitzstabSignifer«, Phase 6. Anthropomorphes mythisches Wesen« mit Fächerkopf, herausragender Zunge und verkürztem Körper, Phase 6/7
In der durch Tendenzen zur Auflösung der Formen bestimmten Stilrichtung (»Disjunctive Strain«, Phasen 8 und 9) zu Beginn des Mittleren Horizonts (600 — 1000 n. Chr.) zerfällt der Stil in eine Reihe geometrisierter abstrakter Symbole. Viele dieser »geometrischen Muster« sind abstrahierte Vereinfachungen mythischer Wesen oder ihrer Teile, die für ein ungeübtes Auge nun praktisch unerkennbar werden . Ein starker Einfluss aus der Gegend von Ayacucho im Hochland machte sich an der Südküste geltend, in entgegengesetzter Richtung als in der Phase 7. Politisch gesehen brach die NascaMacht zusammen, was sich in der Kunst und in den archäologischen Befunden dieser Zeit widerspiegelt.
INTERPRETATION
In einer schriftlosen Gesellschaft wie bei Nasca sind visuelle Wiedergaben das hauptsächliche Hilfsmittel zur Kulturübertragung durch die Zeiten hindurch. >In einem ikonographischen System sind die Bildelemente Symbole; sie beziehen sich auf Ideen oder dienen als Begriffsträger, (Allen 1981: 45). Um die Ikonographie einer schriftlosen Gesellschaft interpretieren zu können, müssen wir Techniken verwenden, die verschiedenen Disziplinen entstammen, wie Kunstgeschichte, Ethnologie, Archäologie und Ethnohistorie.
Erwin Panofsky beschrieb (1939) drei Stufen ikonographischer Analyse. Die erste Stufe ist im Grunde beschreibend: Identifizierung und Beschreibung der verschiedenen Motive des betreffenden Stils. Die zweite Stufe verbindet Motive oder Motivkombinationen mit Themen und Vorstellungen. Nun ist oft der »thematische Ansatz« hilfreich zur Identifizierung von Einzelzügen. Der »thematische Ansatz,» versucht eine Interpretation der Kunst durch das Studium konventioneller Darstellungen, die dadurch entstanden, dass der Künstler bestimmten, ihm von der Gesellschaft vorgegebenen Regeln folgte (Donnan 1976: 5 — 10; 1978). Verbindungen bestimmter Züge kommen immer wieder vor, wie zum Beispiel menschliche Trophäenköpfe mit einer Gruppe mythischer Wesen oder Pflanzen mit einer anderen Gruppe. So können bestimmte mythische Wesen durch ihre ständige Verbindung mit speziellen Bildelementen identifiziert und definiert werden. Die dritte Stufe der Analyse, die den tieferen Sinn und Gehalt der Kunst zu rekonstruieren versucht, ist die schwierigste, vor allem dann, wenn es sich um eine schriftlose Kultur handelt. In unserem Fall schliesst sie den Versuch ein, Symbole zur Feststellung der Werte oder der Grundhaltung des NascaVolkes zum Verständnis seiner Religion und seiner Sicht der Welt heranzuziehen.
Die ethnographische Analogie kann für das Erreichen der dritten analytischen Ebene von Nutzen sein. Gehen wir von der Annahme aus, dass die Träger der alten Kultur von Nasca sich ähnlich verhielten und ihre Umwelt ähnlich verstanden wie rezente schriftlose, Feldbau treibende Gruppen, für die Totemismus, Schamanismus und vielfach der Gebrauch halluzinogener Drogen zur Kommunikation mit den Geistern typisch sind, so ergeben sich Anhaltspunkte für die Interpretation der NascaDarstellungen. Es ist nicht verwunderlich, dass in der NascaIkonographie die mächtigsten Wesen der verschiedenen Naturbereiche, von Land, See und Himmel, dominieren: Feliden (»Mythische gefleckte Katze« und »Anthropomorphes mythisches Wesen«) und Schlangen, der Mörderwal, der Kondor (»Schrecklicher Vogel«). In vielen Stammesgesellschaften des heutigen Südamerika behaupten die Menschen, von bestimmten Tieren abzustammen (Totemismus). Unter der Einwirkung starker halluzinogener Drogen »verwandeln« sich Stammesmitglieder in mächtige Tiere. Bei den Jivaro, zum Beispiel, werden die jungen Männer ermutigt, einen »arutam wakani« zu erwerben, eine Seele, die man sich als ein Paar riesiger Anakondas oder Jaguare vorstellt (Harner 1972: 138).
Die mythischen Wesen in der NascaKunst sind oft so wenig realistisch und in Kombinationen gezeichnet, dass sich die Schlussfolgerung ergibt, die Betonung habe auf der symbolischen Bedeutung gelegen. Der »Mythische Mörderwal«, zum Beispiel, besitzt einen w, iartigen Körper, Haiflossen und einen Menschenarm mit Hand. Oft wird er wiedergegeben, indem er einen abgeschnittenen Menschenkopf hält oder, in den späteren Phasen, diesen auffrisst. Die Bilder verkörpern die Begriffe Macht, Menschenopfer und Meer. Andererseits weist die »Mythische gefleckte Katze« mit ihrer Verbindung zu Pflanzen auf die Fruchtbarkeit der Nahrungspflanzen hin. Auch in abgekürzter Form wie bei den Wiedergaben des »Blutigen Mauls« beim »Mörderwal« der Phase 5 war die Symbolik den NascaLeuten deutlich. Eine weitere, auf ethnogra phischer Analogie beruhende Interpretation dieser Wesen ist die, dass sie als Herren der Tiere in ihren jeweiligen Bereichen über andere Wesen wachten und herrschten. Einige südamerikanische Stämme glauben an den »Herrn der Fische«, von dem angenommen wird, dass sämtliche Wassertiere seiner Fürsorge und Kontrolle unterworfen sind.
Ich habe die religiösen Motive als «mythische Wesen« bezeichnet, weil ich glaube, dass sie zusätzlich zu ihrer eigentlichen symbolischen Bedeutung auch als Basis für viele allegorische und metaphorische Mythen dienten. Das »Anthropomorphe mythische Wesen'< mit seinen vielfältigen Erscheinungsformen und veränderlicher Gestalt des »signifer« kann an eine ähnliche Art komplexer religiöser Bilder erinnert haben wie die Geburt oder die Kreuzigung in der christlichen Kunst. Vielleicht kleideten sich Priester in die Ausstattung dieser mythischen Wesen. Die Archäologie hat Mumien zutage gebracht, die mit goldenen Mundmasken, Stirnschmuck und Halsketten aus SpondylusMusbheln ausgestattet sind, welche auch in der Kunst abgebildet wurden.
Das NascaUniversum und die Hierarchie der darin wohnenden Geister und Wesen sind für uns schwer zu verstehen, aber sie stimmen mit traditionellen Mustern andinen Denkens und andiner Symbolik überein. Vielleicht werden wir nie in der Lage sein, Religion und Ideologie der alten NascaKultur in all ihren Einzelheiten und Zusaihmenhängen zu rekonstruieren, doch mögen künftige Forschungen, vor allem archäologische Grabungen, ein klareres Bild erschliessen.
Der mittlere Horizont
Ab 600 n. Chr. wird das politische und wirtschaftliche Leben in den meisten der unabhängigen Königreiche kräftig durcheinandergeschüttelt. Moche, Cajamarca, Recuay, Lima, Paracas und Nasca müssen die Konsequenzen der expansionistischen Politik von Huari tragen, einem Stadtstaat nahe der heutigen Stadt Ayacucho.
Es entstand zum ersten Mal ein peruanisches Reich, das für alle Gebiete geltende, einheitliche Lebensweisen und einheitliche künstlerische Regeln diktierte. Diese Ausdehnung scheint das Ergebnis eines politischen Systems gewesen zu sein, das von einer starken Kriegerklasse getragen wurde. Ganze Städte hat man verlassen und neue errichtet. Zudem veränderte der Städtebau sein Aussehen: Die Städte schlossen sich hinter Mauern ein, sie wuchsen in quadratischen Vierteln, was sich wiederum auf die kommenden Zivilisationen auswirkte.
Zu Beginn der HuariKunst findet man noch die Charakteristiken der NascaKunst; die Polychromie und Ikonographie der Kultur der Frühen Zwischenperiode gelangen zur Stadt Huari, die ihrerseits ihre künstlerischen Visionen auf die Kultur der Küste überträgt. Eine zweite geistige Strömung verdrängte die NascaKultur, nun bedecken der Stabgott und Flügelwesen aus Tiahuanaco die Gefässe.
Der für die Keramik aus Tiahuanaco so typische eckige Stil wird nicht nur von den HuariTöpfern imitiert, sondern auch in den vom neuen Reich unterworfenen Gebieten. Manchmal entsteht daraus eine Mischkultur, wie der MocheHuariStil, wo die MocheKultur die Form und Ikonographie der Gefässe und die HuariKultur die von den Nasca überlieferte Polychromie beisteuert. Eigenartigerweise sind solche Arbeiten nicht sehr zahlreich, sie finden sich hauptsächlich in Piura im äussersten Norden Perus, wo sich der MocheVicüsStil entwickelt hatte.
Auch die Textilkunst unterliegt tiefgreifenden Änderungen. Die Gewebe sind mit typischen Motiven aus Huari und Tiahuanaco geschmückt, die ebenso eckiggeometrisch bis abstrakt wie die Verzierungen der Tongefässe sind. Eine Entdeckung veränderte dieses Gewerbe grundlegend: die Cochenillefarbe. Kürzlich durchgeführte Analysen der zum Färben von pflanzlichen und tierischen Fasern verwendeten Farbstoffe haben ergeben, dass die Farbe Rot, die bisher aus einer Muschel gewonnen wurde, miL ler Ankunft der Huari durch einen roten Farbstoff ersetzt wurde, der von der Cochenillelaus gewonnen wird, einem auf der Opuntie lebenden parasitären Insekt.
Gegen 1000 n. Chr. scheint das Reich von Huari plötzlich zu zerfallen. Die Hauptstadt Huari wird von ihren Bewohnern verlassen. Heute noch fragt man sich, welche Gründe es für diesen plötzlichen Zusammenbruch gegeben haben mag.
Vielleicht hatte sich das Los der politischen Machthaber gewendet und damit deren Sturz bewirkt. Vielleicht aber traf eine Bevölkerungszunahme mit einer Reihe von Missernten aufeinander, so dass eine Hungersnot die Bevölkerung zwang, in fruchtbarere Gebiete auszuwandern, wie zum Beispiel zur Ostseite der Anden. Gerade hier findet man zu dieser Zeit Zuwanderungen von Völkern aus der Sierra. Man darf auch keineswegs die Auswirkungen ungünstiger Klimaänderungen oder anderer Naturereignisse ausser acht lassen. Wahrscheinlich war ein Zusammenspiel aller dieser möglichen Gründe das auslösende Moment für das Verlassen der Stadt.
DAS HUARIREICH _ URSPRUNG
In der HuarpaPhase (200 v. Chr. bis 500 n. Chr.) kam es im Gebiet von Ayacucho zu Veränderungen, die eine vermehrte und bessere Nutzung der vorhandenen Ressourcen mit sich brachten; so waren zum Beispiel die Anbauflächen damals viel grösser als heute. Diese Veränderungen und verschiedene andere Aktivitäten führten zur Entstehung des ersten andinen Reiches etwa im 6. Jahrhundert unserer Zeit. Die Periode ist auch unter dem Namen Mittlerer Horizont« bekannt. Die oben angeführten Aktivitäten betrafen den Tauschhandel mit den Bewohnern der Küstengegend von Nasca, wo man sich vor allem eine Reihe von Rohstoffen beschaffte, die zur mehrfarbigen Bemalung der Keramik aus der Gegend von Ayacucho verwendet wurden, oder auch den Tauschhandel mit dem Altiplano von Tiahuanaco, der ideologische Elemente mit sich brachte, die auf den ritualen Gegenständen wiederzufinden sind.
Nach den verschiedenen Stilen in der Keramik und an deren Elementen wird die HuariKultur in drei verschiedene Epochen unterteilt:
Frühes Huari: Epochen lA — 1B
Mittleres Huari: Epochen 2A —2B
Spätes Huari: Epochen 3— 4
Jede dieser Phasen repräsentiert unterschiedliche KeramikStile, was für die HuariKultur typisch ist; das heisst, dass das gleichzeitige Bestehen unterschiedlicher künstlerischer Stilrichtungen mit zwei Traditionen zusammenhängt, nämlich einer lokalen und einer o''ziellen, reichsbezogenen Tradition. Die sozialen Unterschiede kommen in den verschiedenen architektonischen Stilen, in den Bestattungsformen und in der Keramikproduktion deutlich zum Ausdruck.
Das Tal von Ayacucho hat ein relativ trockenes Klima, mit einer Niederschlagsmenge zwischen 500 und 1 000 mm pro Jahr; von August bis November herrscht gemässigtes Klima; die Regenzeit beginnt im November und dauert bis April. Die durchschnittlichen Jahrestemperaturen schwanken zwischen 12 und 18 Grad Celsius.
Oberhalb des Tales in einer Höhe von 3500 bis 4000 m liegt die Puna, die mit Weiden bedeckt ist und sich für die Haltung von Lamas und Alpakas und für den Anbau von Pflanzen eignet (Kartoffel. Olluco, Mashua, Oca). In dieser Zone ist die Landwirtschaft nur beschränkt möglich, da die Humusdecke sehr dünn ist; ausserdem reicht das von der benachbarten Stadt Huari kommende Wasser nur für die Bewässerung einiger Hektar in Nähe der Stadt und ermöglicht — wie auch heute — nur einen Ackerbau ohne künstliche Bewässerung.
Im Tal von Huanta herrschen im unteren Teil des Beckens auf Grund des geringen Gefälles sowie der Wasservorräte bessere Bedingungen für einen Ackerbau mittels Bewässerung. Die Entwicklung und das Wachstum dieser Region ermöglichte den Bewohnern, neue Gebiete zu erforschen, was für die Beschaffung neuer Ressourcen diente.
Parallel dazu führte ein grosser Bevölkerungsüberschuss im Gebiet von Ayacucho zu einer verstärkten Suche nach neuen Siedlungsgebieten. Dies bewirkte eine Expansion der HuariGesellschaft in den ZentralAnden, vor allem durch kriegerische Eroberungen. Dieser Prozess spielte sich aller Voraussicht nach zwischen dem 6. und 9. Jahrhundert ab, wo sich im Grossraum der Anden eine Lebensweise entwickelte, die gleiche Merkmale aufwies.
Veränderungen zeigen sich in Kunst, Religion und Architektur und vor allem im Handwerk, das einen sichtlichen Fortschritt zu verzeichnen hatte. Dies führte zur Entstehung einer Wirtschaft mit einer verstärkten städtischen Produktion und bedeutenden Überschüssen, die für den Austausch benötigt wurden.
Die Hauptstadt dieses Reiches war die Stadt Huari (in 25 km Entfernung von der heutigen Stadt Ayacucho und in 2800 m Höhe) , die seit ungefähr 200 v. Chr. bewohnt war. Diese Zeit ist bekannt unter den Bezeichnungen »Regionale Kulturen« oder »Frühe Zwischenperiode«; jedoch die Stadt erlangte ihre grösste Bedeutung — sowie auch ihre grösste Ausdehnung und ihren Höhepunkt —ungefähr 500 bis 800 n. Chr. Damals nahm sie eine Fläche von ungefähr 1000 bis 1500 ha ein und hatte eine Einwohnerzahl von ungefähr 35 000 — 70 000 (Isbell 1984: 100).
Eine Expansion dieser Grössenordnung lässt sich nicht durch eine Organisation erklären, die nur Kontakte zwischen den Stämmen pflegte; die Planung der Orte, die als Folge der Expansion auftrat, sowie ihre spezifischen Merkmale sind trotz der Meinungsverschiedenheiten zwischen einigen Forschern der klare Beweis für eine städtische Planung. Mit dieser Expansion hat sich die Stadt in ein Reich umgewandelt, das die unterschiedlichen Sprachgemeinschaften und Gesellschaftsformen entlang der ZentralAnden in sich vereinte.
Während dieser Expansion kam es nicht nur zu kriegerischen Auseinandersetzungen, sondern auch zu diplomatischen Verhandlungen, was sich in den späteren Reichen der ZentralAnden fortsetzte. Die Symbologie/Ideologie spielte eine bedeutende Rolle, da sie zu einer weltoffenen Anschauung führte, was den Eroberern nur recht war, und speziell auch den hochrangigen Regierungsbeamten, die die oben angeführte Expansion leiteten, die Aufgaben innerhalb der Gesellschaft überwachten und damit betraut waren, die Ideologie zu definieren und die dem Reich unterstehenden, tributpflichtigen Arbeitskräfte zu lenken.
Der Charakter dieser Expansion ist schwer zu definieren. Es gibt Unterschiede vor allem in den Merkmalen der dem Reich unterstehenden Gesellschaften. Zum Beispiel sind im Gebiet von Carhuarazo (Provinz Locanas, Ayacucho) Veränderungen in den Siedlungsmodellen zu verzeichnen, die unter anderem die Errichtung von landwirtschaftlichen Terrassen auf Hügeln und den Bau von Wegen unter Berücksichtigung dieser Terrassen mit sich brachten.
An der Nordküste treten ebenfalls einige Veränderungen auf, aber die Existenz kultureller Elemente, die von Ayacucho stammen, lässt sich nicht klar feststellen. Einige Autoren sprechen vom Fortbestand örtlicher Traditionen — und sogar von autonomen Organisationsformen —, die parallel zur Entstehung von HuariSiedlungen im Süden von Peru beibehalten wurden (Menzel 1968; Topic & Topic 1986; Bauer 1988). Tatsächlich mangelt es an Untersuchungen, an Hand derer die Präsenz des HuariReiches im nördlichen Territorium von Peru festgestellt werden könnte.
An der Zentralküste hingegen wurde Pachacamac — beinahe wie die Stadt Huari — ein Zentrum höchster Bedeutung; es scheint sogar, dass das grosse Heiligtum von Pachacamac, das zur Zeit der spanischen Eroberung noch immer in Verwendung war, einen speziellen Einfluss an der Zentralküste gehabt hatte, indem es während des »Mittleren Horizonts« zum panandinen Orakelzentrum wurde. Das Tal von Nasca stand im Schatten von Pachacamac, und auch Ica gelangte unter den starken Einfluss von Pachacamac. Dies sind zwei zusätzliche Entwicklungsprozesse, die sich während des »Mittleren Horizonts IIb abspielten.
Die Fundstätte von Maranga im Tal von Rimac wurde praktisch verlassen, als die HuariBewohner Cajamarquilla im selben Tal bauten. Die südlichen Grenzen dieser Expansion scheinen sich bis Moquegua (Cerro Baul) und Sicuani zu erstrecken; im Norden sind die Grenzen nicht klar festgelegt, es scheint aber, dass sie zwischen Lambayeque und Piura und zwischen dem Norden von Cajamarca und dem Süden des Amazonas verlaufen; im Osten bildet die schwer zugängliche Selva eine natürliche Grenze. Innerhalb dieser Grenzen entstanden grosse Verwaltungsstädte, wie Pikillaqta (Dep. Cusco) und Huiracochapampa (Dep. La Libertad).
Die Stadt Pikillaqta befindet sich in einer Entfernung ron 25 km von Cusco und liegt auf 3200 m Höhe. Dank einer schlagkräftigen Organisation, in der es aller Wahrscheinlichkeit nach einen auserlesenen Personenkreis gab, der mit der Verwaltung des südlichen Gebietes betraut war und auch für den Schutz der örtlichen Bevölkerung zuständig war, besitzt die Stadt Pikillaqta eine sehr ausgefeilte Architektur.
Auf einer Fläche von ungefähr 750 x 630 m befinden sich Überreste von mehr als 700 Bauten; einige Mauern, die auch heute noch stehen, errei chen eine Höhe von 12 m (Abb. 281). Die Fundstätte ist nach einem relativ regelmässigen Verlauf in einzelne Abschnitte unterteilt .
Pikillaqta: Noch erhaltene Mauer der Fundstätte.
Huiracochapampa (La Libertad) erstreckt sich über eine Fläche von ungefähr 560 x 580 m; ihr Grundriss ist ähnlich dem von Pikillaqta, aber ihre Abmessungen sind kleiner. Es scheint, dass sie niemals fertiggestellt wurde (McEwan 1987: 73) (Abb. 283). Es existieren weitere grosse Städte, die in derselben Epoche errichtet wurden: Huarihuillka im Tal von Mantaro, Honco Pampa und Huillcahuain im Callejon von Huaylas, Cajamarquilla im Tal von Rimac, San Nicolas in Supe etc.
Im Gebiet von Ayacucho wurden ebenfalls einige Verwaltungszentren errichtet, wie zum Beispiel Cerro Churo und Tahuacocha im Westen von Huari, Jincamocco in der Mitte zwischen Ayacucho und Nasca, Azangaro im Gebiet von Huanta. Im letzteren konnte man beachtliche Unterschiede zwischen den staatlichen und lokalen Konstruktionen feststellen (Anders 1986). Alle diese Städte waren untereinander durch ein grosses Strassennetz verbunden, das nötig war, um der Verwaltung die Überwachung über die verschiedenen eroberten Städte zu ermöglichen. Es ist wahrscheinlich, dass das Strassennetz der Inka auf diesen ältesten Wegen errichtet wurde, da zahlreiche Anlagen mit den typischen Merkmalen von Huari entlang dieses neuesten Netzes zu finden sind.
DIE KERAMIK: EINIGE ALLGEMEINE MERKMALE
Die stilistische Einordnung der Keramik, die von Dorothy Menzel (1986) aufgestellt wurde, zeigt, dass die oben genannten provinziellen Zentren hauptsächlich während der Periode des »Mittleren Horizonts« 1B errichtet wurden, obwohl die grössten Erneuerungen in Kunst und Religion während des »Mittleren Horizonts« 1A (Isbell 1987: 91) auftraten; aber diese Hypothesen müssen noch an Ort und Stelle überprüft werden. Die Keramikproduktion des »Mittleren Horizonts« ist bemer kenswert auf Grund der Homogenität der Motive, der Formen und der Verwendung der Farben. In dieser Epoche erreichte die Keramik einen gewissen Grad an Homogenität in den ZentralAnden, zumindest was die zeremonielle Keramik betrifft. In der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts traten im Gebiet von Ayacucho verschiedene Keramikstilrichtungen auf, wie zum Beispiel Chaquipampa und Ocros, die eine Fortsetzung der älteren Keramiktradition des Gebietes waren, Conchopata und Robles Moqo mit genaueren Motiven und Merkmalen aus dem Altiplano. Andere Stilrichtungen traten ebenfalls in Erscheinung.
Die Keramik von Chakipampa ist eine Fortsetzung der lokalen Keramik von Huarpa mit Elementen, die offensichtlich aus der Gegend von Nasca stammen. Diese Keramik ist vor allem durch die Verwendung einer bläulichroten Engobe gekennzeichnet und besteht hauptsächlich aus kleinen Gefässen mit relativ dünnen Wänden. Die zoomorphen und phytomorphen Motive sind in roter und grauer Farbe gemalt und schwarz umrahmt; ein Band mit Fischgrätenmuster sowie ein Oktopus sili— die häufigsten Motive dieser Gruppe. Der OcrosStil ist auch eine lokale Variante und verwendet eine leuchtend orange Engobe, die die gesamte Fläche des Gefässes bedeckt und das hervorstechendste Merkmal ist. Typische Formen dieser Gruppe sind Schalen und Näpfe, die Verzierung besteht vor allem aus gekreuzten Bändern. Bis heute wurde diese Keramik an keinem anderen Ort gefunden, mit Ausnahme einiger Einzelstücke, wie im Fall von Socos im Tal von Chillon (Isla & Guerrero 1987: 26). Ein anderer charakteristischer Stil der ersten Epoche des »Mittleren Horizonts« wird auf Grund der schwarzen Engobe der häufig polierten Gefässe »schwarz. verziert« genannt. Offene Formen sind in dieser Gruppe vorherrschend. Die Motive sind rot und weiss und enthalten Zickzack oder waagrechte Linien sowie kleine rote und weisse Punkte.
Der ConchopataStil, entsprechend der Epoche 1A von Menzel, gehört zur zeremoniellen Keramik, die man hauptsächlich in Form von Fragmenten grosser Urnen an der eponymen Stätte wiederfindet.
Auf dieser Keramik ist derselbe Gott wie auf dem «Sonnentor« von Tiahuanaco dargestellt. Er hält zwei Stöcke, hat einen raubkatzenhaften Kopf und ist mit geflügelten Wesen umgeben, die dieselben Abmessungen wie der Hauptgott haben (1968: 66). Es handelt sich um eine männliche Gestalt, deren Kopf mit einem haarähnlichen Gebilde versehen ist. Die Keramik von Conchopata ist exakt ausgeführt, gut poliert, die Farben variieren von Orange bis Ockergelb.
Die Phase nach dieser Periode ist nach Menzel der »Mittlere Horizont« 1B, gekennzeichnet durch die Existenz zeremonieller Keramik vom Typ Robles Moqo, wovon man Spuren — im Gegensatz zum ConchopataStil, der nur in Ayacucho gefunden wurde — in einer grossen, zusammengehörigen Menge von Opfergaben in Pacheco entdeckt hat, ausser einigen Fragmenten an der Fundstätte des Hügels von Robles Moqo in Huari und anderen Einzelfragmenten, die neben dem Flughafen der Stadt Ayacucho gefunden wurden. Dieser Stil beinhaltet sowohl kleine als auch grosse Gefässe, was auf verschiedene Funktionen innerhalb jeder Gruppe schliessen lässt.
Der Hauptunterschied zur Keramik von Cochopata liegt in der Verzierung, deren Motive zahlreicher sind und die gesamte Aussen und Innenfläche bedecken. Die Endbearbeitung scheint auch sorgfältiger durchgeführt worden zu sein, was vielleicht auf eine bessere Oberflächenbehandlung zurückzuführen ist.
Die auf den grossen Gefässen dargestellten Figuren ähneln jenen von Conchopata, da zweifelsohne »ein männlicher und ein weiblicher Gott« zu erkennen sind. Man findet auch neue Elemente in der Verzierung, wie Mais, Oco, Quinoa; nicht zu vergessen sind die Colcas, die auch zu diesen Pflanzen gehören.
Neben dieser feinbearbeiteten Keramik findet man in der gesamten Gegend gröbere Keramik, deren Oberfläche nie ausreichend poliert wurde. Sie wird Huamanga genannt. Es scheint, dass es sich um die lokale HuariKeramik handelt. Typische Formen sind Näpfe; die Motive sind geome:lisch (parallele Linien, Dreiecke etc., oft mit weissen oder schwarzen Linien umrandet).
Zoomorphes Gefäss, das ein Lama darstellt S:il Robles Moqo (M.N.N.A — Lima)
EINIGE ARCHITEKTONISCHE MERKMALE
Das architektonische Modell von Huari weist ausreichend definierte Merkmale auf. Dieses Modell wurde natürlich perfektioniert, kurz nachdem die Stadt Huari eine gewisse Komplexität erreicht hatte; das Modell zeichnet sich durch die Errichtung von Stadtzentren aus, die von Mauern umgeben und gut geplant waren und sich an strategischen Punkten befanden, wo dies die koloniale Expansion erforderte. Dasselbe Modell umfasst ausserdem eingefriedete Flächen rund um einen zentralen »Patio«. Innerhalb der Siedlungen bildeten diese Teile trapezförmige Einheiten mit Türen, die die Verbindung von einem Teil zum anderen darstellten. Wir können behaupten, dass diese Anlagen einen Zusammenhang mit Wasserquellen (Puquiales) oder Tälern hatten. In der Sierra fand man sie im allgemeinen in Form einer ökologischen Zwischenstufe, wodurch sie Zugang sowohl zur Puna als auch zu den tiefer gelegenen Teilen der Täler hatten. In den meisten dieser Städte — wie zum Beispiel in Huari — wurden Abschnitte mit grossen Gebäuden und hohen Mauern (5 bis 6 m) entdeckt. Stellenweise konnten Zugangsöffnungen oder Türen nicht klar identifiziert werden. Es gibt somit grosse Mauern, die mit Verkehrsflächen in der Art von Wegen in Verbindung stehen, auf denen man sich bewegen kann. Im allgemeinen führen sie zu grossen Plätzen und erreichen manchmal eine Länge von 200 m.
Es gibt auch Gebäude mit konischem Dach, die mit zentralen Lagersystemen in Zusammenhang gebracht werden können und in den grossen Urnen des Stiles Robles Moqo gut zum Ausdruck kommen. Trotzdem sind unsere Kenntnisse diesbezüglich sehr gering.
Städte mit gleichen Merkmalen findet man entlang der ZentralAnden im »Mittleren Horizont«.
Nur einige Abschnitte der Stadt Huari sind wirklich gut bekannt, da für den Grossteil Ausgrabungen fehlen und keine Gesamtuntersuchung durchgeführt wurde. Die Konstruktionen wurden mit einfachen, unregelmässigen oder manchmal zugeschnittenen Steinen, die mit Lehmmörtel verbunden wurden, gebaut. Es existieren verschiedene Bauwerke, wo sich die unterschiedlichen Bautechniken abzeichnen. Manchmal sind Reihen von relativ flachen, unregelmässigen Steinen in die Mauern eingebunden. Es kann sein, dass diese zur Unterstützung des Daches dienten, da ja gewisse Gebäude aus zwei bis drei Stockwerken bestanden. Wir wissen nicht genau, mit welchem Material die geneigten Dächer gedeckt waren; es wird angenommen, dass man Materialien aus pflanzlichen Stoffen verwendete. Nach Lumbreras (1974: 127) waren die Mauern nicht mit den Dachkonstruktionen verbunden; um ihre Stabilität zu ge währleisten, mussten sie daher mittels grosser Seile aus Pflanzenfasern verbunden werden.
Die verschiedenen, in der Stadt Huari entdeckten Abschnitte konnten anhand architektonischer Details sowie anhand der kulturellen Einrichtungen, die im Inneren dieser Abschnitte gefunden wurden, unterschieden werden.
Der Sektor von Moradochayoq nimmt eine Fläche von ungefähr einem halben Hektar ein. Die Spuren (dekorative Keramik, Fehlen von Produktionselementen) scheinen den Nachweis zu erbringen, dass es sich um ein Viertel handelt, das für hochrangige Personen gebaut wurde oder für solche, die Staatsfunktionen innehatten (Reste von Lapislazuli, Trophäenköpfe, Kupfergegenstände. SpondylusSchnecken sind ein Beweis dafür). Es wurde wahrscheinlich während des »Mittleren Horizonts« 1B errichtet und zu Beginn des 'Mittleren Horizonts« 2A verlassen.
Im Sektor Cheqowasi findet man unterirdische Gebäude aus bearbeiteten Steinen, die sich perfekt ineinander einfügen und mit Lehm beschichtet wurden; sie bilden Kammern, die häufig mit kleinen Öffnungen — ähnlich Lüftungsschlitzen — versehen waren, deren wirkliche Funktion aber nicht bekannt ist. Es scheint, dass diese Kammern Bestattungszwecken dienten. Sie sind mit Wänden, bestehend aus exakt angeordneten Steinen, umgeben; sollte es sich um Grabstätten handeln, dann waren diese für bedeutende Persönlichkeiten bestimmt. In einigen Fällen haben die Kammern die Form eines runden oder viereckigen Walles. Ausserdem gibt es Beweise, dass einige dieser Kammern aus zwei oder drei Niveaus bestanden. Es muss auch gesagt werden, dass es bei diesen Kammern eine Hierarchie gab. Dies würde bedeuten, dass es Unterschiede in der Bestattung der einzelnen Personen gab.
Capillapata ist ein Komplex, bestehend aus Mauern, die mittels mit Ton verbundenen, langen Steinen aufgestellt wurden und deren Abmessungen 8 bis 12 m betragen. Der Grossteil dieser Mauern ist teilweise zerstört. Es lässt sich jedoch feststellen, dass sie ausgehend von einer Doppelmauer, deren Sockel bis zu 3 m Dicke erreichte und deren Höhe 0,8 bis 1,2 m betrug, aufgezogen wurden. Ihr Querschnitt ist trapezförmig, und die Länge kann bis zu 400 m betragen. Es ist möglich, dass innerhalb dieser Mauern Gruppen von Personen wohnten, die spezielle Tätigkeiten verrichteten.
Das Vorhandensein von Monolithen in der Stadt Huari ist ein Beweis für die Existenz ritueller Funktionen; diese Aktivitäten werden durch Ausgrabungen im Abschnitt Vegachayoq Moqo eindeutig nachgewiesen, wo man einen zeremoniellen Komplex entdeckte, der sich auf einer pyramidenförmigen Erhebung, umgeben von Plätzen und hohen Mauern, befand und mit zwei Haupteingängen und einer grossen »Strasse«, die Zugang zum Tempel gewährte, versehen war; auf der Vorderseite hatte der Tempel zwei Plattformen, deren Wände weiss und rot bemalt waren, und Stufen; im Unterteil des Gebäudes befinden sich verschiedene »Altäre“ mit Seitenwänden, in denen Nischen enthalten sind. Einige Flächen im unteren Teil, die mit Nischen und Feuerstellen versehen sind, grenzen an die mittlere Plattform; alle haben Zugang zu einer kreisförmigen Konstruktion, die sich im untersten Teil auf der Innenseite befindet. In den hohen, den Tempel umgebenden Mauern befinden sich auf der Innenseite Hohlräume, die für die Bestattung mehrerer Personen dienten (3 bis 4 Personen mit deformiertem und manchmal trepaniertem Schädel). Auf der Aussenseite dieser Mauern gegenüber dem rituellen Zentrum fand man ebenfalls bestattete Personen, aus der Zeit der neueren Keramik von Chanka (1100 bis 1300 n. Chr.). Ihre Schädel waren nicht deformiert.
Andere Plätze wie der Tempel von Monjachdyoq waren rituelle bzw. zeremonielle Zentren.
ENTSTEHUNG DES REICHES
Die Entstehung des Staates und das Auftreten der Reiche in den verschiedenen Regionen der ZentralAnden waren in den letzten Jahren ein viel diskutiertes Thema.
Conchopata, ein wichtiges Forschungsgebiet, nimmt eine Sonderstellung ein; es handelt sich um ein Handwerksu trum, das sich auf die intensive Produktion bestimmter Produkte spezialisierte und von einer Gruppe mächtiger Personen überwacht werden musste. Ausserdem liegt Conchopata in einem Gebiet, wo eine Vielzahl von Tonen und Magerungsstoffen vorkommt, nämlich im heutigen Gebiet von Ayacucho (Provinz von Huamanga) in 2700 m Höhe, ähnlich der Gegend von Huari. Die Fundstätte nimmt nur eine Fläche von 4 Hektar ein. Ein anderer grosser Teil wurde bei Arbeiten während der letzten Jahre zerstört. Anhand von Luftaufnahmen und vorher durchgeführten Nachforschungen wissen wir, dass es grosse landwirtschaftliche Kulturen sowie einige Terrassen, die heute praktisch verschwunden sind, in der Umgebung gab.
Die ersten Informationen über die Fundstätte gehen auf das Jahr 1927 zurück. Jedoch erst 1942 wurden die ersten Ausgrabungen unter der Leitung von Julio C. Tello durchgeführt; sie führten zur Entdeckung grosser, zeremonieller Urnen, die er Conchopata nannte. Die gleichen Gefässe fand auch Lumbreras bei Untersuchungen im Jahr 1962, ebenso das Instituto Nacional de Cultura d'Ayacucho und das Huari Urban Prehistory Project im Jahr 1976.
Die Ausgrabungen, die 1982 abgeschlossen wurden, führten zu einer allgemeinen Aufnahme des Sektors A, aus der zu erkennen ist, dass die Konstruktionen keinem eindeutig festgelegten Modell entsprechen, da es sich anscheinend um einen ländlichen Komplex handelt, der aufgrund eigener Bedürfnisse ein grosses Wachstum zu verzeichnen hatte. Es ist wahrscheinlich, dass das der Grund war, warum Conchopata nicht dem typischen HuariSchema entspricht.
Nach Lumbreras (1980: 81) »beginnt der HuariProzess mit Marktplätzen — wie jenem in Conchopata —, die eine grosse Bevölkerungsdichte aufwiesen und auf denen Gebäude aus Stein und Erde nach einem einheitlich rechteckigen Modell angeordnet waren und die Paläste, Zugangswege und eine Kanalisation für die Wasserversorgung und offensichtlich auch für die Entwässerung und Ableitung der Abwässer besassen«.
Es ist jedoch zu beachten, dass man bei den Ausgrabungen von 1982 auf mindestens zwei verschiedene Sektoren stiess: einen für Wohnzwecke, der von hochrangigen Personen bewohnt wurde und sich nördlich des untersuchten Gebietes befand; den anderen ebenfalls für Wohnzwecke, aber offensichtlich verbunden mit Keramikwerkstätten, im Süden.
Während dieser Arbeiten beschäftigte man sich nur mit einem Teil der Originalfundstätte. Isbell spricht auch von der Existenz eines Tempels an dieser Fundstätte. Laut seiner Aussage musste dieser Tempel existiert haben, da sich Conchopata »dank seines neuen Tempels und einer neuen Religion schnell vergrösserte« (1987: 104 —105). Ausserdem musste er »für ein spezielles Ritual, das die Zerstörung grosser Tonkrüge mit Abbildungen beinhaltete«, errichtet worden sein (Isbell 1987: 100).
Abschliessend sollte erwähnt werden, dass es einen Tauschhandel über grosse Entfernungen gab. Die Beweise dafür sind aufgefundene Mollusken, SpondylusSchnecken, Gegenstände aus Kupfer, Gold und Türkis etc.
Wenn Conchopata ein besonderer Marktflecken gewesen ist, der von Keramikern bewohnt wurde, dann ist die Fundstätte von Azangaro im Tal von Huanta ein Beweis für eine unterschiedliche Rangordnung innerhalb der lokalen Organisation, die von der Regierung festgelegt wurde. Dieser Ort kann als Verwaltungszentrum betrachtet werden, das speziell für die Wahrung der Staatsinteressen errichtet wurde und relativ kurz bewohnt war. Spuren einer späteren Wiederbesiedlung sind nicht vorhanden. Diese Situation gilt für den Grossteil der Fundstätten aus der HuariKultur, die anscheinend abrupt verlassen worden sind. Die C14Daten von Azangaro variieren zwischen 760 ± 75 und 990 ± 65 n. Chr.
Keine Spur weist darauf hin, dass Azangaro ein Produktionszentrum gewesen ist; zweifelsohne lässt die Existenz zweier Gebäudearten — regelmässig und unregelmässig — zwei Arten von Funktionen vermuten: in den unregelmässigen Gebäuden fand man landwirtschaftliche sowie andere, für die Metall und Holzbearbeitung bestimmte Werkzeuge. Jedoch entdeckte man in allen Gebäuden Gegenstände, die mit häuslichen Tätigkeiten in Zusammenhang standen.
Die Fundstätte ist ein Beweis für eine Vielzahl von Tätigkeiten: Landwirtschaft, Jagd, Zubereitung von Nahrung, Keramikproduktion etc.
In Azangaro hatte die Art der Eroberung eine relative Autonomie der Lehnsherren gegenüber dem zentralen Staat bedingt; dies würde eine Erklärung ""'r die Errichtung dieses Zentrums durch sie selbst sowie für die Koexistenz zweier Autoritäten in dieser Region sein. Die erste Autorität stände in Verbindung mit den unregelmässigen Gebäuden und landwirtschaftlichen Tätigkeiten, während sich die zweite Autorität, die den zentralen Sektor bewohnte, rituellen Funktionen und der Führung eines dualistischen SonneMondsystems gewidmet hätte. Die Anlage wurde abrupt verlassen, und das Ende ihrer Besiedlung würde dem jähen Verfall des HuariReiches am Ende des »Mittleren Horizonts« 2B entsprechen.
DER VERFALL DES REICHES
Der Verfall und das Aussterben des HuariReiches werfen Fragen auf, die bis heute noch unbeantwortet sind. Das plötzliche Ende der HuariAnlagen ist frappierend. Einige Forscher bekräftigen die Möglichkeit, dass es Naturkatastrophen gab, die der Anlass für das Verlassen der HuariZentren waren; aber tatsächlich fehlen konkrete Beweise für diese Behauptung.
Unabhängig davon registriert man im Gebiet von Ayacucho in Epoche 3 eine starke Abnahme der Bevölkerungszahl sowie das Verlassen zahlreicher Siedlungen rund um die Stadt Huari seit Epoche 2. Im gesamten zentralandischen Gebiet beobachtet man eine markante, wirtschaftliche Rezession; somit scheint Nasca an der Südküste zum ersten Mal unter dem Einfluss der Region von Ica zu stehen; an der ZentralKüste werden Cajamarquilla und Maranga verlassen, während Pachacamac den Grossteil der früheren Bedeutung verliert; Pikillaqta ist gänzlich verlassen.
Man nimmt an, dass die Krise im Reich zum Auftauchen neuer Machtzentren oder wirtschaftlicher Achsen führte, die sich entwickelten, als Huari verschwand.
Abschliessend ist zu sagen, dass die politische Struktur von Huari in relativ kurzer Zeit verschwunden ist und dass die während der Existenz dieses Reichs errichteten Orte zum Grossteil niemals wieder von jenen Gruppen benutzt wurden, die den durch das Verschwinden des Reiches freigewordenen Raum bewohnten. Es ist offensichtlich,dass das Verschwinden der politischen Struktur nicht zur Auslöschung zahlreicher Elemente führte, die zum Beispiel für die Entwicklung späterer imperialer Formen, wie jene der Inka, wesentlich sind; so sind das Kommunikationsnetz, das Tributsystem gegenüber dem Staat, die Lagersysteme und die Städteplanung einige der wesentlichen Elemente, die man bei den Inka wiederfindet und die das erste Mal dank des HuariReiches während des »Mittleren Horizonts« auftraten.
SPÄTE ZWISCHE PERIODE CA. 10001450 N. CHR.
Durch den Sturz des ersten gesamtperuanischen Reiches gelang es den alten Königreichen, sich wieder zu erheben und ihre alten Traditionen aufzunehmen. Gleichzeitig aber traten neue Dynastien auf — die der Späten Zwischenperiode. Im Gegensatz zur Frühen Zwischenperiode, bei der das gleiche Phänomen der territorialen Zerstückelung auftrat, ist hier die Aufteilung des Landes weniger bedeutsam. In der Zwischenzeit haben die neuen Staaten ihre Lehren aus dem HuariReich gezogen. Die neuen Städte wirken geplant und regelmässig. Überdies bietet die Erfindung der Bronze im Mittleren Horizont und deren Anwendung in den neuen Königreichen die Möglichkeit für neue Bautechniken.
Unter all diesen Königreichen erscheint jenes von Chimü als das mächtigste. Sein Gebiet erstreckte sich über jenes der Moche und noch über deren Grenzen hinaus. Einige Historiker sind der Ansicht, dass die Führer der Chimüs den verschiedenen, unter ihrer Herrschaft liegenden Küstentälern eine gewisse wirtschaftliche und kulturelle Freiheit liessen.
Dennoch zwangen die klimatischen Verhältnisse die Herrscher von Chimü, ein Verwaltungssystem durchzusetzen, das den Ackerbau kontrollierte und ganz besonders die Verteilung von Wasser regelte — ein in diesem Wüstenstrich kostbares Gut. Es hat den Anschein, dass auf Grund dieser Wasserbewirtschaftung die Ackerflächen in jener Zeit doppelt so gross waren wie heute. Diese Ausdehnung sowohl in demographischer als auch in territorialer Hinsicht hatte zur Folge, dass nicht nur die alten Städte der Huari grösser, sondern auch neue gebaut wurden.
Unter diesen Städten ist ChanChan diejenige, die den Besucher am meisten beeindruckt. Auch wenn sie durch Winderosion und wilde Besitznahme durch die Einwohner des 20. Jahrhunderts zerstört ist, erstrecken sich immer noch 20 km' Ruinen über ein Gebiet, das wieder zur Wüste geworden ist. Mit dieser Ausdehnung war die Stadt die grösste im prähispanischen Südamerika.
Der von den ChimüHerrschern eingeführte Städtebau richtet sich nach einem ganz besonderen und eigenen Plan, wie er im übrigen Peru unbekannt war. Ein weitläufiger städtischer Komplex mit neun »Ciudadelas« oder »Palästen« liegt im Herzen des archäologischen Gebietes. Jede Einheit wird von einer beeindruckenden Mauer umgeben, die 9 m hoch, an der Basis 4 m dick ist und nur einen einzigen Eingang aufweist. Im Inneren dieser Ummauerung liegen die Paläste, die Tempel, die Wohnungen, die Zisternen, die Getreidespeicher, der Friedhof. Ein Strassennetz ermöglicht den Verkehr in diesem Häusergewirr, das manchmal von grossen Plätzen unterbrochen ist (Bild 302). Die wichtigeren Gebäude sind auch mit besonderer Sorgfalt errichtet: die meisten sind mit Friesen aus Adobe verziert, die Vögel, Fische oder mythische Wesen darstellen.
Was war der Grund, warum diese Zitadellen so voneinander isoliert waren? Von den vielen Hypothesen ist keine wirklich fundiert, trotz der in den siebziger Jahren intensiv durchgeführten Ausgrabungen des Projektes ChanChan. Nach Ansichten der einen handelt es sich um Paläste, die nacheinander von den jeweiligen Königen erbaut wurden, ähnlich wie bei den Inkas, die alle ihre eigenen Paläste errichteten. Diese Annahme basiert auf der offenkundigen Autonomie eines jeden dieser Paläste, die jeweils sämtliche wirtschaftlichen und religiösen Funktionen in sich vereinigten. Andere Autoren vertreten die Meinung, dass diese Unterteilung einer Stadt in getrennte Einheiten einen leichteren Überblick und damit eine leichtere Kontrolle über wichtige Standesgruppen erlaubte, nämlich die der Priester, Amtspersonen, Krieger und Künstler. Die übrigen Einwohner lebten in eher bescheidenen Quartieren an der Peripherie der Paläste, wo sich auch die verschiedenen Huacas (Tempel) erhoben, wie die Huaca del Dragön oder die Huaca Esmeralda.
Eine weitere Hypothese nimmt an, dass jeder Palast einem Clan oder einem Geschlecht zu eigen war, etwa wie die Panacas von Cusco.
WahrscheinlichkeitsRechnungen haben übrigens ergeben, dass in diesem Gebiet 20 000 bis 30000 Menschen wohnten.
Paradoxerweise weist das übrige Kunsthandwerk von Chimü bei weitem nicht die Qualität wie die Architektur auf. Nach der Unterbrechung durch die HuariKultur, die der Form die Polychromie vorzog, stellten die Töpfer der Chimü wieder monochrome Keramik mit Hochreliefarbeiten oder Flachreliefverzierungen her. Leider erreichte die Qualität dieser Keramik niemals wieder die jener Stücke, die in den Händen der Töpfer von Moche entstanden sind. Es genügt, wenn man sich bei einem Rundgang durch Säle oder Depots in Musen von der Reichhaltigkeit dieser Produkte überzeugt. Wir stehen hier nicht mehr einer Kunst, sondern einer echten Industrie gegenüber. Nur die Gefässe, die für die herrschende Klasse gefertigt wurden, scheinen in manchen Fällen mit besonderer Sorgfalt hergestellt worden zu sein.
Die Bescheidenheit der Keramikkunst wird durch die Schönheit der Goldschmiedearbeiten aufgewogen, die in grossen Mengen erzeugt und auch ausserhalb der Grenzen des Königreiches Chimü geschätzt wurden.
Die von den Chimüs geübte Expansionspolitik ermöglichte ihnen zu Beginn des 15. Jahrhunderts die Herrschaft über ein Territorium von 40 000 km2, das von Tumbes bis zum Tal von Chancay reichte.
Gegen die Mitte des Jahrhunderts wurde die Bedrohung durch die Inka fühlbar. Zuerst stellte sich Capac Yupanqui, dann, gegen 1463, Topa Inca an die Spitze des Widerstandes der Bewohner gegen das Königreich von Chimü, indem sie das gesamte Bewässerungssystem zerstörten und die Wasserversorgung unterbanden. Wir befinden uns nunmehr unter der Regierung von Minchancaman; zum ersten Mal kennen wir dank der spanischen Chronisten, die uns über die Dynastien der damaligen Königreiche informieren, den Namen eines Herrschers.
An der mittleren Küste, gerade südlich der Grenze des Königreiches Chimü, herrschte die ChancayKultur im Gebiet der jetzigen Hauptstadt Lima. Der Herr von Cuismancu (unter dieser Bezeichnung scheint die ChancayKultur in manchen Dokumenten aus dem 16. Jahrhundert auf) konnte dem Druck der Chimü über das Tal von Pativilca hinaus standhalten. Der Herr von Chuquimancu regierte über die Region südlich von Lima, während der Herr von Chincha das alte Territorium von Nasca beherrschte.
Leider hat — wie wir bereits im Zusammenhang mit der Frühen Zwischenperiode vermerkt haben —das urbane Wachstum von Lima die Zerstörung von zahlreichen Überresten nach sich gezogen. Plünderungen archäologischer Stätten, fast schon im gewerblichen Stil, haben die Nekropole von Chancav unwiederbringlich zerstört. Trotzdem kann man sich noch immer ein Bild von der künstlerischen Leistung dieser Kultur machen; die Keramik, mit schwarzen Motiven auf cremefarbigem Grund, zeigt zoomorphe Figuren sowie menschliche Wesen — Männer und Frauen — dargestellt in Form von Gefässen (Chinas) oder Statuetten (Cuchimilcos). Die besonders üppigen Textilien sind in ihrer Qualität mit jenen aus Paracas vergleichbar, auch wenn die beiden Stilarten nicht die geringste Ähnlichkeit aufweisen.
Auf der Ostseite der Anden erbauten die Chachapoyas zwischen 1000 und 1400 n. Chr. die mächtige Festung von Kuelap. Am Fluss El Abiseo stehen Ruinen, deren Entstehung auf 1400 n. Chr. zurückgeht. Sie waren einst Rundhäuser, die mit Friesen von Vogelmenschen und Vögeln verziert sind.
Im Süden bewohnten die Collas die Ufer des Titicacasees, eine Gegend, die einst von Pukara, dann von Tiahuanaco beherrscht wurde. Sie waren die Erbauer der Chullpas von Sillustani, von Bestattungstürmen, die besonders am Umayosee auffallen.
Während der Späten Zwischenperiode lebte in Cusco eine Gruppe von Bergbewohnern, die allmählich aus ihrer Abgeschiedenheit heraustraten: die Inkas. Im Laufe des 13. und 14. Jahrhunderts eroberten sie langsam die umliegenden Gebiete und beherrschten schliesslich unter Inca Roca und dann unter Viracocha Inca das gesamte Tal von Cusco. 1400 traten die Inkas erstmals auf der Bühne der Weltgeschichte auf.
PACATNAMÜ, EINE TEMPELSTADT AN DER MÜNDUNG DES RIO JEQUETEPEQUE _ DER GEOGRAPHISCHE UND KULTURELLE HINTERGRUND
Der Jequetepeque ist einer von vielen Wasserläufen, die in den Kordilleren entspringen und im Pazifik münden. Nördlich von ihm folgen die Flüsse Zaria, Reque, Lambayeque und Leche, südlich Chicama und Moche. Alle bilden fruchtbare Oasen im sonst wüstenartigen peruanischen Küstenstrei fen. Im Gegensatz zu den Regionen von Lambayeque und Moche sowie zu dem im Hochland gelegenen Tal von Cajamarca hat es am Rio Jequetepeque nie eine grosse bekannte Kulturzone gegeben. Es war vielmehr stets Grenz oder Durchzugsgebiet. Aufgrund der hervorragenden, sowohl der Pazifikküste folgenden als auch in die Sierra führenden Kommunikationsmöglichkeiten ergaben sich nicht nur aus ökonomischer Sicht durch regen Güteraustausch erhebliche Vorteile, sondern es waren auch kulturelle Wechselbeziehungen unausbleiblich, die diesen Landstrich für die gesamte nördliche Küstenzone zu einem Knotenpunkt von vielfältiger Bedeutung werden liessen. Im Zusammenwirken mit beachtlichen, die Ausweitung der Feldbauflächen fördernden hydrotechnologischen Fortschritten entstanden im unteren Talbereich zum Teil ausgedehnte Siedlungsgebiete. In deren Folge stieg Pacatnamü allmählich zum religiösen Zentrum auf — trotz seines fernen Standortes, weit ab der interzonalen, die Flussoasen verbindenden Landverkehrswege. Es liegt nördlich der Mündung des Jequetepeque auf einem felsartigen, ca. 40 m über dem Pazifischen Ozean aufragenden Plateau, das an dieser Stelle eine schmale, südwärts weisende, im Westen zum Meer und im Südosten zur Talsohle steil abfallende Landzunge bildet (Abb. 303). Nördlich schliesst eine ebene und vegetationslose, stellenweise durch Ausspülungen zerfurchte Pampa an. In Richtung Nordosten und Osten liegen im fernen Dunst die Ausläufer der Anden.
ENTSTEHUNGS UND ENTWICKLUNGSZEIT
Welche Funktion Pacatnamü zur Zeit seiner ersten Nutzung besass, ist noch nicht bekannt; möglicherweise wurden dort anfangs nur Tote begraben. Es gibt aber auch Schichten, die Brandstellen, Artefakte und Abfälle enthalten, wie sie bei einer Besiedlung anfallen. Massive Baumaterialien wie Steine oder Adobes (Lehmziegel) waren zumindest dort, wo gegraben wurde, für die untersten Strata nicht nachzuweisen. Einige Holzkohleproben, die aus Schichten nahe dem gewachsenen Boden entnommen wurden, sind durch C14Analysen in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts n. Chr. datiert worden. Man geht daher wohl nicht fehl, wenn man diese ersten, ungefähr im Stadtzentrum vorgefundenen Zeugnisse menschlicher Gegenwart etwa dem 4. Jahrhundert n. Chr. zuschreibt. Bezüglich der gebräuchlichen relativen Chronologie entspricht dies ungefähr der zweiten Hälfte der Frühen Zwischenperiode. Diese Zuordnung wird durch die ältesten, annähernd datierbaren Keramikfunde bestätigt, die diesem Zeitabschnitt angehören. Es handelt sich um eine derb gearbeitete, lokalspezifische Haushaltsware, die in zahlreichen Exemplaren im Jequetepequetal anzutreffen ist und deren Entwicklung sich mindestens ab dem Frühen Horizont verfolgen lässt. Die Nutzungsweise dieses Areals scheint über längere Zeit etwa gleichbleibend gewesen zu sein. In höher liegenden Schichten, jedoch immer noch unterhalb der ersten massiv errichteten Bauten, tauchten Fragmente einer Töpferware auf, die etwa den Phasen III oder IV der Mochekultur, das heisst dem letzten Drittel der Frühen Zwischenperiode zuzuordnen ist. Offenbar waren Angehörige anderer Ethnien aus den südlichen Nachbartälern zugezogen, die ihr Formenrepertoire mitbrachten.
In diese kulturell wahrscheinlich sehr fruchtbare Epoche dürften auch die ersten Sakralbauten zu datieren sein, die in Pacatnamü entstanden. Der älteste bisher nachgewiesene, aus Adobes errichtete Bau, die sogenannte Huaca 31, befindet sich annähernd im Stadtkern. Sie war zumindest zeitweilig zweistufig, wurde aber mehrfach verändert. Die erste Konstruktionsphase könnte dem beginnenden Mittleren Horizont, also dem Anfang des 7. Jahrhunderts n. Chr. zuzuschreiben sein, die letzte Umbauphase vermutlich dem Ende der Späten Zwischenperiode, gegen 1400 n. Chr. Wie viele solcher Gebäude in dieser für den Ort noch frühen Zeit entstanden sind, ist nicht bekannt. Ihre Anzahl war jedoch mit Sicherheit nicht gross, denn keine Grabung hat bisher weitere Hinweise auf Bauten aus dieser Periode geben können, obwohl nahezu an allen Stellen, an denen man in diese Kulturschichten gelangte, kontemporäre Gefässfragmente zutage traten.
Mit dem Ende der Macht der Moches, ausgangs des Mittleren Horizonts, flaute offenbar die Wertschätzung für Pacatnamü ab. Ob das mit der beginnenden Dominanz der Huaris zusammenhing, ist zwar anzunehmen, bislang jedoch nicht zu klären gewesen. Zu spärlich sind sowohl in Pacatnamü als auch im gesamten Jequetepequetal entsprechende Fundobjekte dieser Kultur, als dass man ihr ausser einem organisatorischen und ökonomischen auch einen ausgeprägten stilistischen Einfluss auf die lokalen Traditionen zubilligen könnte. Auffällig ist indessen, dass in Pacatnamü wohl zunächst keine neuen Bauten entstanden. Der Zerfall bestehender Anlagen und Sandverwehungen kennzeichnen diese Periode. Das legt zumindest den Schluss nahe, dass ein Wechsel in der herkömmlichen religiösen Vorstellung erfolgte, der auf Fremdeinwirkung beruht haben muss. Und in der Tat zeigen sich auf Keramiken und speziell auch Textilien nun Darstellungen von Göttern oder Dämonen, die unmissverständlich auf derartige Veränderungen hinweisen. Und in diesem religiösen Umfeld könnten motivtypologische Beziehungen zu Vorbildern aus dem HuariKulturkreis evident werden, denn die beiden nun auftretenden Hauptnumina — und von ihnen insbesondere die mit Vogelcharakteristika ausgestattete Figur — gehen vermutlich auf solche Ursprünge zurück (s.w. u.). Doch auch ein Naturereignis scheint schliesslich zum zeitweiligen Niedergang der Stadt beigetragen zu haben. Bei spielsweise sind ältere Bauteile der Huaca 31 von einer Schwemmschicht aus Lehm überdeckt, die, wie man annimmt, ungefähr um 1100 durch verheerende Regengüsse, einen sogenannten Nifio, hervorgerufen wurde. Die katastrophalen Auswirkungen sind auch an anderen Küstenorten Nordperus und in der Sierra festgestellt worden. In dem seinerzeit wohl grösstenteils verlassenen Pacatnamü sind wahrscheinlich nur wenige der vormals zahlreichen Bewohner zurückgeblieben.
PACATNAMÜ IN DER SPÄTEN ZWISCHENPERIODE
Den Angaben Donnans folgend, könnte etwa um 11001150 n. Chr. eine Blütezeit mit anderen Architekturformen und neuen Adobeformaten eingesetzt haben (Donnan und Cock, 1986). Pacatnamü entwickelte sich als sakrales Zentrum, das etwa mit Pachacamac an der mittleren Küste vergleichbar war. Die grosse Masse der heute noch sichtbaren Bauten und die letztendlich erreichte Ausdehnung der Stadt entstanden anscheinend im Verlauf der dann folgenden zwei Jahrhunderte. Die Nordzone besass an der breitesten Stelle in der Ostwestrichtung eine Abmessung von knapp 2000 m. Dieses Areal betrifft einen Teil von Pacatnamü, der bislang kaum beachtet wurde, weil er nur wenige herausragende Bauten aufweist. Dennoch ist er zweifellos einst ein urbaner Bestandteil gewesen (Hecker, 1985). Erst in der Späten Zwischenperiode wurde er von dem südlichen Gebiet durch eine Stadtmauer separiert (s.w. u.), in deren Bereich die Ostwestausdehnung etwa 1430 m betrug. Das Terrain innerhalb der Mauern war annähernd 0,85 km' gross und wurde durch zwei von Osten nach Westen verlaufende Strassen in drei Sektoren geteilt. Ein dritter, nordsüdlich verlaufender wichtiger Verkehrsweg befand sich im äussersten Westen; er bildete anscheinend einst die alleinige, jetzt noch erkennbare grössere Verbindung nach ausserhalb in Richtung Norden. Im mittleren Stadtteil lag, ziemlich zentral, ein rechteckiger ausgedehnter Platz. Alle drei innerstädtischen Bezirke waren mehrheitlich in unterschiedlich grosse, unregelmässig konturierte religiöse Komplexe gegliedert, die meist von Adobemauern umschlossen wurden. Offenbar gehörten nur kleinere Flächen und ebenso auch nur wenige Bauten nicht zum kulturellen Nutzungsbereich.
DIE STADTMAUERN
Die beiden frei zugänglichen Seiten der Tempelstadt, im Norden vor der Pampa und im Süden vor der flach abfallenden Plateauspitze, erforderten offenbar Schutzmassnahmen. Die Mauer im Süden (auf Abb. 303 nicht erfasst) ist durch die klimatisch bedingte starke Verwitterung schlecht erhalten und bisher nicht untersucht worden. Die Anlage im Norden, von der besonders die Osthälfte gut erhalten ist, war bis zu 8,50 m dick und massiv aus Adobes gebaut. Es markieren sich mehrere Durchgänge in nahezu regelmässigen Abständen. An der Aussenseite wurde die Anlage von einem stellenweise 8 m breiten Trockengraben begleitet, der die mehr als 4 m betragende Höhe der Mauer um weitere eineinhalb Meter vergrösserte. An einer Bresche, die in den vergangenen Jahrzehnten für eine breite Pistenführung durch die Befestigung geschlagen wurde, erkennt man im Mauerprofil eine nach innen doppelt abgestufte Konstruktionsweise. Dadurch entstand eine Art Wehrgang. In einer späteren Bauphase wurde die Abstufung durch Ausmauerung beseitigt, eine Massnahme, die nach der Eroberung der Stadt durch die Chimüs im 14. Jahrhundert getroffen worden sein könnte.
DIE RELIGIÖSEN ANLAGEN
Die Anzahl der religiösen Komplexe in Pacatnamü lässt sich mit knapp 50 beziffern. Im nördlichen und mittleren Stadtteil wurden sie, mit sehr wenigen Ausnahmen, in Ostwestrichtung aneinandergereiht; im südlichen Bezirk, der eine etwa dreieckige Grundfläche hat, lagen sie unsystematisch verteilt. Alle bestanden ausser aus einem Hauptbau aus mehreren Nebenbauten und Hofgruppen (Abb. 304, Huaca 1 als Beispiel). Ihre Gestalt und Grösse waren bei den einzelnen Anlagen zwar sehr unterschiedlich, indessen setzten sie sich stets aus den gleichen Komponenten zusammen, von denen aber gelegentlich aus Platzmangel manche fehlten.
Das jeweilige Hauptbauwerk (die »Huaca«) und somit der religiöse Brennpunkt fast eines jeden dieser Komplexe war ein nordwärts zwei oder dreifach abgestufter Baukörper, auf dessen oberster und kleinster Stufe (oder Terrasse bzw. Plattform) der Tempel stand, der das eigentliche Heiligtum bildete. Alle Terrassen waren durch Rampen miteinander verbunden, welche mehrheitlich von Norden nach Süden anstiegen. Offenbar bestand für diese Hauptbauten, die den Tempel trugen, ein gewisser Planungs und Baukanon, der freilich so oft variiert wurde, wie es Huacas in Pacatnamü gab, denn es ist kaum ein solches Bauwerk zu finden, das mit einem anderen gleicher Zweckbestimmung in allen Einzelheiten identisch wäre ( Hecker, 1985: Fig. 13). Die Tempel waren nach Norden offen und in der Regel verhältnismässig klein. Aufgrund einer 1962/63 von uns durchgeführten Grabung an der Huaca 16 in Pacatnamü konnte nachgewiesen werden, dass das dortige Heiligtum anscheinend grösser war als üblich. Es öffnete sich ebenfalls nach Norden und hatte sechs runde Stützen (Hecker, 1991). Diese Tempel waren mit einem aus einer Holzkonstruktion bestehenden Dach versehen (Abb. 305). Die Eindeckung setzte sich aus einem Rohrgerüst mit darauf befestigten Matten und sich überlappenden Flechtstreifen aus Schilfblättern mit losen Enden zusammen.
Ausschnittszeichnung eines Rekonstruktionsversuches vom Tempel der Huaca 16, basierend auf dem vollständig ausgegrabenen Grundriss, aufgefundenen Resten der Dacheindeckung und typischen Tempeldarstellungen auf Tongefässen. Religiöser Komplex der Huaca 1 in Pacatnamü
Dem Hauptbau war fast immer ein Nordhof vorgelagert, in welchem häufig ein oder zwei Altä re vorhanden waren. Von diesem Nord oder Altarhof führte in Richtung Süden eine Rampe auf die untere Terrasse der Huaca. Sofern der Komplex mit einer Nordmauer versehen war, befand sich in ihr häufig ein Eingang gegenüber der unteren Rampe der Huaca, wobei in vielen Fällen eine Übereinstimmung der Längsachsen zu beobachten ist.
Die Ostseite des Nordhofes wurde oft durch einen Bau begrenzt, der aufgrund seiner Plazierung die Bezeichnung Ostanlage erhielt. Diese in der Nordsüdrichtung zumeist langgestreckten Bauten erreichten selten die Höhe der Huaca, der sie zugeordnet waren, doch scheint eine gewisse Typisierung auch für sie bestanden zu haben. Es konnte eine einfache Plattform oder auch ein zweistufiges Bauwerk sein, welches — wie die Huaca — über Rampen zugänglich war. Die Ostanlagen waren jedoch westwärts ausgerichtet, und ihre Rampen, die ebenfalls im Nordhof begannen, stiegen daher nach Osten an. Bei vielen von ihnen koinzidierte die Rampenlängsachse mit der Ostwestachse des Altars. Das traf auch dann zu, wenn dieser Aufgang nicht in der Frontmitte der Ostanlage lag, sondern grösstenteils nordwärts verschoben war.
An der Huacawestseite befand sich nahezu immer ein besonders abgegrenzter Hof, der gelegentlich mit einem Nord und Südtor versehen war. In manchen Komplexen hatte in diesem Gelände auch eine vielfach gegliederte, ausgedehnte Hofgruppe Platz. Bei einigen Huacas konnte dort hingegen aus Raumnot nur ein schmaler Gang angeordnet werden, der die Verbindung vom Nordhof zu der sogenannten Südanlage gewährleistete.
Dieser letztgenannte Bestandteil der Komplexe beschloss fast bei jeder Huaca unterhalb ihrer Rückseite das ihr zugeordnete Terrain. In vielen Fällen gliederte sich die betreffende Fläche in unterschiedlich dimensionierte Räume und Höfe, die durch Passagen oder Korridore erreichbar waren. Meistens wurde dieses Südareal von besonders markanten Mauern umfasst. Als herausragendes Beispiel sowohl für die mögliche Vielfalt der Raumgruppierungen als auch für die auffallend starke Umgrenzung ist die Südanlage der Huaca 1 anzusehen .
Verschiedene Komplexe besassen, wenn das umliegende Gelände es zuliess, östlich der Huaca oder im Südosten zusätzliche Hofgruppen, doch war das nicht die Regel.
Was die Orientierung der Huacas angeht, haben Untersuchungen ergeben, dass — abgesehen von einer Ausnahme und unwesentlichen Abweichungen einiger Bauwerke — alle Kultanlagen nach Norden ausgerichtet sind. Über die eventuelle Motivation wurden unterschiedliche Spekulationen geäussert, beispielsweise, dass ein Bezug auf einen bestimmten Berg im Norden vorliege, der als magischsakraler Richtpunkt angesehen worden sei. In einem solchen Fall würden aber einige Huacas zu starke Abweichungen aufweisen. UbbelohdeDoering äusserte zum Thema (1959): »Fast alle Pyramiden von Pacatnamü sind nach Norden gerichtet, ebenso wie die Toten in den Gräbern. Der Norden war die heilige Richtung...« Dem steht wiederum entgegen, dass viele ähnliche Tempelanlagen an anderen Stellen des Jequetepequetals nicht nordwärts ausgerichtet sind und folglich vermuten lassen, dass eine bestimmte Richtung nicht zwingend erforderlich war.
Ohne eine der Meinungen verwerfen zu wollen, sind zumindest für Pacatnamü auch praktische Gründe nicht ausser acht zu lassen. Ein gravierender Aspekt sind die dort herrschenden klimatischen Verhältnisse. Während bestimmter Jahresund Tageszeiten wehen aus südlicher Richtung ausserordentlich kräftige Winde, deren Entstehung mit der vormittäglichen Erwärmung des Bodens zusammenhängt und die viel Sand mit sich führen.
Es ist nicht vorstellbar, dass die offenen Tempelseiten diesen Witterungseinflüssen ausgesetzt wurden, und mit Sicherheit hätte bei einer derartigen Orientierung keine noch so robuste Dachkonstruktion lange standgehalten.
DIE BEWOHNER UND IHRE UNTERKÜNFTE
Obwohl Pacatnamü eine Stadt der Heiligtümer war, lebte dort sicher nicht nur Tempelpersonal. In der Späten Zwischenperiode könnte die Anzahl der Bewohner sogar beträchtlich gewesen sein. Einige Anzeichen sprechen dafür, dass sie ihre eigenen, wenn auch eventuell nur mässig ausgedehnten Wohnbezirke hatten. Zum einen befand sich an der Ostseite des zentralen Platzes ein solches Viertel eng aneinandergeschachtelter kleiner Räumlichkeiten, die eindeutig Wohncharakter zu erkennen gaben (Herdstellen, Nahrungsreste, Fragmente von Kochtöpfen und anderen Gebrauchsgefässen), und zum anderen lag anscheinend im Nordwesten der Stadt ein ähnlicher Bezirk, wie sich auch dort anhand von Siedlungsresten feststellen liess.
Die Unterkünfte waren aus leichten Materialien hergestellt. Für die Wände bevorzugte man Qincha , eine Konstruktion aus Rohr oder Bambus, die an beiden Seiten mit einer dicken Lehmschicht verstrichen wurde. Holzpfosten stützten die Dächer, welche die gleiche Eindeckung besassen wie weiter oben für die Tempel angegeben.
Über die Menschen der damaligen Zeit gaben Untersuchungen des Skelettmaterials, das 1937/38 von UbbelohdeDoering aus den von ihm freigelegten Gräbern nördlich der Huaca 31 geborgen worden war, einige aufschlussreiche Informationen. Bezüglich der Körpergrösse liess sich beispielsweise sagen, dass sie bei den Frauen im Durchschnitt 148 cm und bei den Männern 160 cm betrug. Zur künstlichen Schädeldeformation wurde ermittelt, dass nur wenige der analysierten Schädel keine Deformierung aufwiesen. Die Behandlung, mit der bei beiden Geschlechtern im frühen Kindesalter begonnen wurde, entsprach der in der nördlichen Küstenregion üblichen frontooccipitalen Form. Bei dieser Methode wurde am Hinterhaupt und auf der Stirn je ein Brettchen aufgelegt und beide zusammen festgeschnürt. Dadurch entstand allmählich an beiden Schädelpartien, je nach angewendetem Druck, eine mehr oder minder ausgeprägte Abplattung.
Ein natürliches somatisches Merkmal, das an den Kieferskeletten besonders auffiel, betraf die häufige Prognathie (vorgeschobener Kiefer). Sie erstreckte sich allerdings in keinem Fall auf den gesamten Kiefer, sondern lag hauptsächlich im Alveolarbereich. Der Anteil der prognathen Frauen lag um gut 11% höher als der der Männer, und allgemein war die Vorkiefrigkeit bei Erwachsenen merklich stärker vertreten als bei Kindern und Jugendlichen; sie bildete sich offenbar erst mit zunehmendem Alter.
Die Lebenserwartung überstieg nur in seltenen Fällen das vierte Jahrzehnt, wie sich anhand der Altersbestimmungen der Bestatteten ermitteln liess. Der weitaus grösste Anteil an Verstorbenen gehörte der Altersgruppe zwischen 20 und 40 Jahren an, mit einigem Abstand gefolgt von den Kindern bis zu 14 Jahren. Die wenigsten Toten waren Jugendliche zwischen 14 und 20 Jahren und Erwachsene zwischen 40 und 60 Jahren. Personen, die bei ihrem Ableben mehr als 60 Jahre alt waren, wurden überhaupt nicht angetroffen.
DIE BESTATTUNGEN
Eine Anzahl von Friedhöfen, die im Stadtbereich und in unmittelbarer Nachbarschaft angelegt worden sind, zeugt davon, dass Pacatnamü nicht nur ein Anziehungspunkt für zeremonielle Aktivitäten, sondern auch ein geschätzter Begräbnisplatz war. Leider wurden die entsprechenden Stellen fast ausschliesslich von Grabplünderern entdeckt. Einer dieser innerstädtischen Bestattungsplätze war das nördliche Vorfeld der Huaca 31 sowie auch das Bauwerk selbst. Sein Zentrum ist von Huaqueros total zerstört worden. Es weist einen ungefähr 5 m tiefen Krater auf, der die unglaublichen Abmessungen von etwa 25 x 30 m besitzt. Wenn man sich nicht scheute, derartige Erdbewegungen per Schaufel durchzuführen, dann sind dort mit Sicherheit nicht nur Tote mit ärmlicher Beigabenausstattung gefunden worden.
Doch es sind auch bei kontrollierten Grabungen in diesem und einem anderen religiösen Komplex ungestörte Bestattungen mit in situ befindlichen Beigaben freigelegt worden. Dabei wurden mehr als 135 Tote angetroffen. Die ältesten datierten etwa aus der Zeit der Wende von der Moche IIIzur Moche IVPhase (UbbelohdeDoering, 1983), die jüngsten aus der frühen Kolonialzeit (Hecker, 1991). Von den aus der frühesten Besiedlungszeit und der zweiten Hälfte der Frühen Zwischenperiode stammenden Gräbern waren drei wegen ihrer Beigaben für die Kenntnis bestimmter, in den alten Kulturen praktizierter handwerklicher Fertigkeiten besonders bemerkenswert. Sie gaben ausserdem interessante Einblicke in die religiösen und magischen Vorstellungen in Verbindung mit dem Totenkult jener Epoche. Alle drei Gräber (E I, M XI und M XII) lagen etwa 4 m tief unter der Geländeoberfläche und besassen einen senkrechten Einstiegsschacht, der zu einer horizontal abgewinkelten Kammer führte. Es waren durchweg Kollektivbestattungen, und die meisten der Toten wurden dorsal und gestreckt, in rechteckigen, aus einer Rohrart gefertigten Särgen beigesetzt.
Im Grab E I erregten vor allem die seltenen MocheTextilien Aufsehen, die in damals noch leuchtenden Farben zum Teil mythische Szenen zeigten. Die religiösmagischen Vorstellungen der Küstenmenschen der Frühen Zwischenperiode bewegten sich in einem wahren Pantheon göttlicher und halbgöttlicher Wesen sowie menschen, tier und sogar pflanzengestaltiger Dämonen, die in komplexen Bildfolgen und in unzähligen Varianten auf vielen Tongefässen und gelegentlich auch auf Geweben wiedergegeben worden sind. Keine andere als die MocheKultur hat mit ihrer Formenund Dekorsprache so tiefgreifend und nachhaltig auf alle motivgeschichtlichen Entwicklungen der nachfolgenden Stile eingewirkt, was auch in Pacatnamü an den entsprechenden Keramiken und Textilien erkennbar war.
In dem obengenannten Grab wurde zudem eine Anzahl Gefässe geborgen, die aus der Frühen Zwischenperiode und dem Mittleren Horizont datierten (Hecker, 1984). Viele gehörten zur groben typischen Jequetepequeware; andere, recht derb gearbeitete Töpfe sind in ihrer Art bisher überhaupt nur in Pacatnamü gefunden worden. Auch einige stilreine Mochebehälter waren vorhanden, wie sie aus dem MocheKerngebiet bekannt geworden sind, und ausserdem solche, die offensichtlich einer stilistischen Beeinflussung ausgesetzt waren, deren Ursprung noch nicht zu ermitteln war. Die sonst unüblichen Merkmale an derartigen Gefässen waren einerseits bis zu 2 cm hohe Ringfüsse, andererseits enge und hohe Ausgüsse mit Ösenhenkeln. Viele Töpfe waren reduziert (unter Drosselung der Sauerstoffzufuhr) gebrannt worden, wodurch ihre Oberflächen eine tiefschwarze Farbe annahmen.
In allen drei Gräbern wurden überdies Kupferbeigaben angetroffen, die verdeutlichten, dass dieses Metall zu jener Zeit einen hohen symbolischen Stellenwert besass. Eine Zeremonialrassel, Mundund Nasenmasken, Schmuckplatten, Armreifen, sogar Sandalen und viele weitere Objekte aus diesem Metall waren den Toten auf ihre Reise ins Jenseits beigegeben worden. Und für die Bestatteten dieser Kulturphase sind Skeletteile, die von früher Verstorbenen stammten, und Teile von rituell geopferten Kameliden (Alpakas, Lamas, Guanakos) offenbar von ausserordentlicher Wichtigkeit gewesen, denn solche menschlichen und tierischen Überreste fanden sich in grosser Menge sowohl innerhalb von Särgen als auch darauf und daneben oder, bei den sarglos Bestatteten, in engem Kontakt mit ihnen.
In der direkt auf die MochePeriode folgenden Phase wurden zwar keine schuhförmigen Tiefgräber mehr angelegt, aber die alte Grablegungsform mit Rohrsärgen wurde noch eine Zeitlang beibehalten, obwohl veränderte Beigaben einen deutlichen kulturellen Wandel erkennen lassen. Kupferobjekte und Kamelidenknochen wurden seltener, menschliche Skeletteile bald gar nicht mehr als Totenbeigaben dargebracht. Nun tauchten hingegen die weiter unten zitierten (s. Abschnitt Weberei und Töpferei) blauweissen Streifengewebe sowie geometrische Gewebemotive und modifizierte Webtechniken auf, und den Toten wurden Kochgefässe mit den gleichfalls weiter unten beschriebenen einfachen Dekoren beigegeben. Diese Situation war bei vier Bestattungen zu beobachten (UbbelohdeDoering, 1983: Gräber D VI, L III, M II, M IX). Die Übergangsphase ist kulturhistorisch äusserst bemerkenswert, denn sie beweist eine kontinuierliche Weiterbesiedlung der Stadt und eine nur allmähliche Veränderung der Bestattungsbräuche ohne abrupten Bruch.
Mit grosser Wahrscheinlichkeit erreichte das Jequetepequetal zwischen 800 und 900 n. Chr. aus dem Lambayequegebiet eine Welle generellen Einflusses, die vermutlich sogar weit darüber hinausführte und aufgrund eines Gestaltwandels einen neuen Kulturabschnitt einleitete. Die Rohrsärge verschwanden; die Toten wurden in mehrere, häufig aussen verschnürte Gewebe gehüllt und in wannenartigen, flachen Mulden beigesetzt. Die ge streckte Rückenlage wurde dennoch beibehalten. und auch die Beine waren meistens gestreckt. Gelegentlich wurden sie aber trotz der Rückenlage angewinkelt, und zwar entweder zur Seite geneigt nebeneinanderliegend oder — mit weit nach oben gezogenen Unterschenkeln — gekreuzt. Auch einige wenige Hockergräber wurden in diesem Horizont angetroffen. In diesen Fällen lag vielleicht eine Anlehnung an HuariBestattungstraditionen vor.
WEBEREI UND TÖPFEREI
Den Berichten der spanischen Chronisten kann man entnehmen, dass die Weberei für das gesamte Jequetepequetal, welches anscheinend ein bevorzugtes Baumwollanbaugebiet war, ein Charakteristikum gewesen ist. Die Grabungen an den Huacas 16 und 31 haben besonders für diesen Handwerkszweig eindrucksvolle Zeugnisse erbracht, was sich durch die unterschiedlichsten Fertigungsweisen manifestierte. Zweifellos war die Leinenbindung die häufigste Webmethode, aber es sind auch zahlreiche andere belegt wie zum Beispiel die für geometrische Musterungen bevorzugte Ableitung der Leinenbindung oder die für Hemden benutzte einfache und komplizierte Dreherbindung sowie die zu gleichen Zwecken angewendeten verschiedenen Ajour und Durchbruchtechniken; weiterhin die lancierten Dekore und vor allem die Schlitzwirkerei für Schmuckbänder und — als Höhepunkt dieser Technik — für szenenhafte Darstellungen.
Die Bekleidung für die Bevölkerung wurde generell aus Baumwolle hergestellt; Reste von gänzlich aus Wolle gearbeiteten Gewändern sind nur in äusserst seltenen Fällen angetroffen worden. Dagegen diente Wolle häufig als Schussmaterial für Schlitzwirkereien.
Ein charakteristisches Novum der Späten Zwischenperiode war unter anderem ein Dekor, der unzählige Varianten gestattete: auf weissem oder hellem Untergrund liegende, aus blauen Kettfäden gebildete Streifen, die in beliebigen Breiten sowie einzeln, paarweise oder in Gruppen zusammengefasst und in verschiedenen Zwischenräumen angeordnet werden konnten. Diese Farbkombination wurde, obwohl seltener, auch umgekehrt — weisse Streifen auf blauem Grund — angewandt und ebenso modifiziert. Diese blauweisse Musterungsart ist geradezu als Leitform für das Ende der MocheEpoche und den Beginn einer neuen Kultur zu bezeichnen. Zwar gab es auch vorher Streifengewebe, aber für sie benutzte man eine Skala von Erdtönen von Weiss über Beige mit allen Ockerund Braunnuancen und mit gelegentlich verwendetem Grün und Rot oder Orange. Diese Streifendekore sind offenbar zu allen Zeiten hauptsächlich grossen Umschlagetüchern und gelegentlich Hemden vorbehalten gewesen.
Einen viel prächtigeren Schmuck wiesen andere Kleidungsstücke auf, die aus einem ungemusterten Hemd und aufgenähten, gesondert gefertigten Webteilen bestanden. Dies waren zum einen schmale, mit verschiedenfarbiger Wolle meist geometrisch gemusterte Bänder, die grösstenteils an beiden Längskanten Schlaufenfransen besassen. Sie wurden senkrecht wie waagerecht in bestimmten Abständen auf das Hemd genäht, so dass sich rechteckige oder quadratische Felder bildeten. Zum anderen wurden in Schlitzwirkerei vielfarbige Applikationsstücke gewebt, die menschengestaltige Figuren wiedergaben, bei denen es sich vorwiegend um göttliche Wesen und/oder deren Begleiter handelte. Solche Gewebe wurden in den Feldern zwischen den Bändern auf der Vorder und Rückseite der Hemden befestigt.
Auf Textilien der Postmochezeit sind zwei Persönlichkeiten absolut dominierend: Der sogenannte »Stabgott« wurde stehend frontal mit ausgebreiteten Armen dargestellt, einen langen Stab oder ein anderes Attribut in jeder Hand haltend. Die andere Gestalt, welche oft nur angedeutete kleine Flügel an Schultern oder Oberarmen aufwies, bildete man entweder stehend frontal oder im Profil und laufend ab . In diesem sogenannten »geflügelten Gott« vermutet man Naymlap, den legendären Gründer der LambayequeDynastie, wie er auf dem berühmten Tumi (Zeremonialmesser) aus Ilimo oder auf Wandmalereien einer Ruine nahe Ucupe erscheint. Beide genannten Götterfiguren waren reich gekleidet, mit Ohrpflöcken und gelegentlich auch Halsschmuck versehen und mit grossem Federbusch gekrönt. Ein derartiges kleines Gewebe mit dem »Stabgott« zeigt die Abb. 307. Das Fundstück stammt, wie auch die beiden folgenden Objekte, aus dem Schutt von Raubgrabungen nördlich der Huaca 31 und zeigt eine in Pacatnamü oft anzutreffende Gestaltungsweise. Die Götterfiguren sind aber oftmals nicht komplett dargestellt, sondern auf wesentliche Details reduziert worden, ohne dass nach früheren Vorstellun gen die Klarheit des Wiedergegebenen gemindert wurde oder verlorenging. So zeigte man statt der gesamten Gestalt in manchen Fällen nur die Kopfbedeckung mit der Federkrone sowie einige kleine Symbole (s. Abb. 308). Es gibt auch Applikationen, die nur aus einem stilisierten Antlitz mit grosser, aus freistehenden Fransen gebildeter, halbkreisförmiger Krone und vom Gesicht herabhängenden. mehrstufigen Troddeln bestehen.
Vielfarbiges Applikationsgewebe in Schlitzwirkerei Darstellung einer Gottheit. Vermutlich für Pacatnamü typischer LambayequeStil. . Eingeritzter Dekor auf einer kleinen Kalebasse Darstellung einer geflügelten, laufenden Gottheit und typischer, geometrischer Textilmuster
Von herausragender Qualität unter den altperuanischen Textilien sind die vielfarbigen Exemplare mit auf kleinstem Raum angeordneten Darstellungen komplizierter Szenen. Sie zeigen mit diversen menschlichen Figuren, häufig in mehreren Bildebenen übereinander und in horizontalen Wiederholungen, ganze Abläufe zeremonieller Handlungen. Sie sind meist extrem fein gefertigt und von hohem ikonographischem Aussagewert. Ein Teilstück eines derartigen Bildgewebes fanden wir 1962 während der Grabung an der Huaca 16 (Abb. 306). Einem seltenen Glücksfall war es zu verdanken, dass sich die unvollständige Abbildung durch die eines fast identischen Exemplars ergänzen liess, welches Donnan nahezu 20 Jahre später etwa 500 m entfernt in der Südanlage der Huaca 1 antraf. Die gesamte, in drei Ebenen gegliederte Szenerie hat eine Folge von Ritualen zum Thema, die mit dem für die LambayequeKultur typischen »geflügelten Gott« in Verbindung stehen, der auf der obersten Stufe einer Huaca Platz genommen hat. Besonders anschaulich ist das mit Schilfstreifen gedeckte Dach des Tempels dargestellt. Das leichte Material wurde überaus überzeugend durch Reihen hellbrauner hängender Wollfäden imitiert.
Doch nicht nur auf Geweben erscheint dieses geflügelte göttliche Wesen. Auf einer Kalebassenschale, die bei der Huaca 31 in einem der lambayequezeitlichen Hockergräber gefunden wurde(UbbelohdeDoering, 1983: Grab 0 I), ist er im Lauf befindlich zu sehen). Auf diesem Napf ist darüber hinaus als trennendes Motiv zwischen die figürlich dekorierten Felder je eine geometrische Streifengruppe eingefügt worden. Sie gibt eines der typischen Textilmuster dieser Periode wieder, zu denen auch eckige oder gerundete, mäandernde Wellen oder Voluten, wie bei den schmalen Seitenstreifen auf der Kalebasse, mit oder ohne gestuftem Kamm gehörten. Hinsichtlich der Keramikherstellung sind für die Zeit nach dem Ende der MocheKultur, während der Späten Zwischenperiode, an Töpferware in Pacatnamü hauptsächlich drei Kategorien belegt (Zeremonialkeramik bisher jedoch ausschliesslich in Fragmenten), und zwar 1. zahlreiche Gefässe der LambayequeKultur (soweit erkennbar jedoch kein »Classico«), 2. eine besondere, von uns »Pacanga« genannte Keramik des Jequetepequetales, deren Aufkommen in den Mittleren Horizont datiert, die sich aber Anfang der Späten Zwischenperiode noch eine Zeitlang hielt, und 3. einige Bruchstücke von CajamarcaWare. Gegen Ende der Periode kamen ausserdem Erzeugnisse der ChimüKultur auf. Objekte, die den so überaus eindeutigen HuariStil erkennen lassen würden, sind bisher für Pacatnamü nicht nachweisbar. Es hat den Anschein, als hätten sich die Träger dieser Kultur darauf beschränkt, ihre religiösen Sinngehalte und Ideen nach Norden zu verbreiten, ohne auch nur den Versuch zu machen, anderen Ethnien ihr sehr eigenes, zu intensiven Abstraktionen neigendes Dekorationsrepertoire zu vermitteln.
Die Zeremonialkeramik dieser Zeit, soweit sie bisher in Pacatnamü in Erscheinung trat, liess offenbar die Darstellung der für die LambayequeKeramik charakteristischen Königsfigur (»el Rey«) völlig vermissen — ein Faktum, das generell für das Jequetepequegebiet zutrifft. In Pacatnamü waren vor allem Gefässe für den Hausgebrauch vorherrschend, von denen die Kochtöpfe in den meisten Fällen einfache Dekore besassen. Für die Späte Zwischenperiode wurden zwei Verzierungsarten kennzeichnend: 1. die Schulterpartie bandförmig umlaufende Flachreliefs aus Modeln gepresster linearer Motive in Wellen oder Zickzackform oder als Geraden, mit eingestreuten Punkten; 2. mit Schlegeln aus Holz oder gebranntem Ton aufgeklopfte, sogenannte Paddle markMuster (spanisch: paleteado). Die einfachsten dieser Dekore zeigten Gitter, Quer, Längs oder Diagonalstreifen, Rauten und ähnliche Ornamente.
Die zuvor als Postulat angegebenen Daten für den Beginn des LambayequeEinflusses in Pacatnamü werden annähernd durch die Grabungen UbbelohdeDoerings von 1962/63 bestätigt. Er fand, bis zu 1,50 m tief unter der Schwemmschicht des weiter oben genannten Nilios (um 1100), Kochtöpfe, die denen aus den postmochezeitlichen Gräbern entsprachen, und ausserdem Fragmente dunkelgrauer Gefässe aus der gleichen Zeit. Dadurch ist nachgewiesen, dass der Gebrauch die ser Töpferwaren vom Ende der letzten MochePhase bis um 1100 n. Chr. üblich gewesen ist. Schüsseln mit Ringfüssen, die gelegentlich eine Innenbemalung aufwiesen, gehörten in der Späten Zwischenperiode gleichfalls zum Standardrepertoire der Haushaltsgeschirre. Die Chimüs verwendeten sie nicht mehr — sie bevorzugten Schüsseln ohne Standringe.
DAS ENDE DER SPÄTEN ZWISCHENPERIODE IN PACATNAMLI
Die Okkupation des unteren Jequetepequetales durch die Truppen des Königs von Chimor, dessen Metropole Chan Chän etwa 120 km südlich im Mochetal lag, dürfte in Pacatnamü das Ende der Blütezeit eingeleitet und im gesamten nördlichen Küstengebiet den Abbruch der Lambayequevorherrschaft verursacht haben. Donnan vermutet diese militärische Aktion um 1370 n. Chr., und auch er schliesst spekulativ nicht aus, dass die Tempelstadt dadurch allmählich ihre religiöse Bedeutung verlor. Dennoch wurden die Bautätigkeiten und die Wahrnehmung kultischer Handlungen fortgesetzt, wenn auch anscheinend in verringertem Masse. Zu den kultischen Anlagen dieser Epoche zählt beispielsweise die im Westteil der Stadt gelegene Huaca 16; sie datiert teils aus der Späten Zwischenperiode und teils aus dem Späten Horizont. Nach den Oberflächenfunden in der nördlichen Vorstadt zu urteilen, dürften ausserdem zumindest von den dortigen Bauwerken viele ebenfalls aus dieser späten Zeit stammen.
DER SPÄTE HORIZONT CA. 14501533 N. CHR.
Nach dem Sieg über die Chancas, gegen 1440, nahm Inca Yupanqui den Namen »Pachacütec« an, das bedeutet »der Reformator der Welt«. Bis 1490 konnten der Herrscher und seine Nachfolger die Grenzen des Reiches bis nach Kolumbien im Norden und bis zum Fluss Maule (Chile) im Süden ausdehnen. Zu diesem Zeitpunkt bedeckte das Gebiet eine Fläche von 950 000 km'.
Machu Picchu: Gesamtansicht. InkaKultur, Später Horizont Sacsayhuaman:Blick auf Zyklopenmauer. InkaKultur, Später Horizont
Um ihre Macht zu stützen, bedienten sich die Inkas diverser Methoden. Sie zögerten nicht, die Bevölkerung mittels Deportationen zu vermischen, das Runasimi (Quechua) als offizielle Sprache einzuführen und das ganze Land mit einem Strassennetz zu überziehen, das die Spanier während ihrer Eroberung in grösstes Erstaunen versetzte. Das Reich wurde durch eine Armee von Beamten organisatorisch erfasst und kontrolliert. Die Beamten überwachten die Durchführung von gemeinnützigen Aufgaben, zählten die in den königlichen Speichern abgelieferten Güter und führten Volkszählungen durch.
Die Architektur der Inka hat im ganzen Reich Spuren ihrer Monumentalität hinterlassen. Noch heute beeindruckt sie den Besucher, der diese Werke zum ersten Mal sieht — wie könnte man auch nicht fasziniert sein von den Zyklopenmauern von Sacsayhuaman (Bild 406), angesichts der regelmässigen Grösse der Blöcke aus rosa Sandstein in den Zeremoniengebäuden von Pisac oder von der grossartigen Landschaft, die von Machu Picchu beherrscht wird.
Andererseits weisen die übrigen künstlerischen Formen wenig Neues auf. In der Keramik ist der Aribalo, ein grosser Tonkrug mit spitzem Boden, die einzige neue Erfindung. Was die Metalle betrifft, nun — der Hunger der Spanier nach Gold, dem »Schweiss der Sonne«, hat dazu geführt, dass fast die gesamten Goldschätze der Inka verschwunden sind; es sind nur einige Figürchen aus Gold oder aus Silber und die Beschreibungen der spanischen Chronisten übriggeblieben, so dass man sich eine Vorstellung vom Reichtum dieser Kunst machen kann.
Nach dem Tod von Huayna Capac, der zweifellos an den Pocken gestorben ist, stritten seine Söhne Huascar und Atahualpa um die Herrschaft. Francisco Pizarro landete daher im Jahr 1532 mitten in einem Bürkerkrieg. Die alte Weissagung wurde wahr — der weisse, bärtige Gott Viracocha ist zurückgekehrt. Pizarro liess Atahualpa gefangennehmen, Lösegeld erpressen und am 29. August 1533 erdrosseln. Eine InkaMarionette, Manco II., wurde auf den Thron gesetzt. Er versuchte ein letztes Mal, die Fremden aus dem Reich zu vertreiben, und musste sich ergeben, nachdem ihm der Versuch fast geglückt wäre. Das war im Jahre 1536. Das prähispanische Peru war tot, eine neue Ära begann.
DIE INKA_GESELLSCHAFT
Die InkaGesellschaft war — wie auch die ihr vorangegangenen — stark hierarchisch organisiert. Eine führende Klasse, welche sich aus den Gründerfamilien (»Panaca«) rekrutierte, nahm im InkaStaat eine privilegierte Stellung ein. Sie wurde von einzelnen Gruppen, die auch schon den ehemaligen Führern verbunden gewesen waren, unterstützt.
Die Priester der Sonnengottheit, hohe Militärs, Verwaltungsbeamte usw. wurden aus dieser Klasse ausgewählt. Auf einer hierarchisch niedrigeren Stufe waren jene Edelmänner diverser ethnischer Grup pen angesiedelt, die vom InkaReich erobert wurden. Im Zusammenhang mit diesen ist interessant anzumerken, dass die älteren Stämme im Vergleich zu den jüngeren eine viel grössere Macht besassen.
Der Inka Manco Capac. Der Ciya, Gattin (und auch Schwester) des Inka
Das politische System der Inka hat sich nach dem Vorbild einer Reihe schon existierender soziopolitischer Schemata gebildet. In den Anden fand man als verbreitetste Organisationsform jene der MakroVolksgemeinschaften vor. Unter der Führung eines Edelmannes von höchstem Rang waren Herrschaften zusammengefasst, die ihrerseits wiederum aus einer Reihe von kleinen lokalen Cacicazgos oder Curacazgos aufgebaut waren.
Das Vokabular der einheimischen Sprachen wies eine Menge von Termini auf, die alle verschiedene soziale Ränge bezeichneten. Von den politischen Führern kleiner Volksgruppen bis hin zu den »Hatun Curaca« — hohen Persönlichkeiten, die über grosse Gebiete herrschten — war alles abgedeckt.
Die Charakteristika der hierarchischen Ordnung in der InkaGesellschaft spiegeln sich im Sonnenkult wider — einer elitären Religion par excellence. Der Herrscher wurde als Sohn der Sonne angesehen. Dies zog jedoch keinerlei religiös motivierte Auseinandersetzungen nach sich, da man allgemein anerkannte, dass der Herrscher in eine Klasse mit diesem erblichen Privileg hineingeboren wurde. Dennoch gab es manchmal auch Fälle, wo die Inka per Sonderrecht erwählt wurden. Die wenigen der Sonne geweihten Tempel haben immer einen besonderen Kult beibehalten. Neben der InkaElite und den Herren über grosse Herrschaften wurde — je nach Laune des Herrschers —eine grosse Anzahl verschiedener anderer wichtiger Persönlichkeiten bestellt: Verwaltungsbeamte, Aufsichtsbeamte, die verschiedenen Klassen von Priestern beiderlei Geschlechts, Wahrsager, Orakeldeuter etc.
Neben diesen privilegierten Klassen gab es selbstverständlich auch andere — nämlich die den Grossteil der Bevölkerung repräsentierenden Volksklassen«, welche auch Zeugnis über die verschiedenartigen Berufsstrukturen abgaben. Die meisten Bewohner von Tahuantinsuyu gehörten der Klasse »Hatun Runa«, der »grossen Menschen«, an. Die Mehrheit der in den Anden lebenden Personen — Bauern, Landarbeiter und Hirten — erreichte diese Kategorie der »Hatun Runa« zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit. Das Paar stellte ab sofort eine häusliche Einheit dar und wurde in allen planerischen Unternehmungen des Staates auch als solche gewertet.
Aus den Reihen der »Hatun Runa« wurden auch Soldaten, die an den Grenzen des Reiches kämpften, weiter die verschiedenen »Mitmag«, welche damit beauftragt waren, die Grenzregionen in eroberten Gebieten zu überwachen, und nicht zuletzt die Bauern, die in Regionen mit Arbeitskräftemangel geschickt wurden, rekrutiert. Die »Mitmag« brachen nie die Bande zu ihrer Heimat ab, und sie wurden auch immer von ihren eigenen Anführern begleitet.
Schliesslich waren da noch die »Yang«, Diener,' die für den Inka, die Coya (Königin), die Sonne, die Götter oder irgend einen hohen Herrn arbeiteteten. Im Unterschied zu den »Mitmag« brachen die »Yana« jeglichen Kontakt zu ihrer Heimat ab, um fortan ihren neuen Herren zu dienen. Es muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden, dass im Zuge der territorialen Ausbreitung die Situation der Mitmag sich jener der Yana mehr und mehr anglich. Die Entfernungen waren so ,gross geworden, dass es ersteren zunehmend erschwert und schliesslich unmöglich gemacht wurde, mit ihren früheren Landsleuten Kontakt zu pflegen.
Musizierende Frauen (»taqui aclIa») spielen auf der Trommel (nach Guaman Poma de Ayala). Ausgewählte Frauen arbeiten im »Acclahuasi« für den Inka (nach Guaman Poma de Ayala).
Kleine Mädchen zwischen acht und zehn Jähren wurden als »Mamacona« — das weibliche Pendant zu den »Yana« — zur Teilnahme an den »Acllahuasi« ausgewählt . Ihre wichtigsten Aufgaben bestanden darin, Kleider zu nähen und bei Feiern und Zeremonien Getränke zuzubereiten. Auch sie teilten sich in verschiedene Kategorien: So gab es die »Yurac Aclla« (= Schwestern oder Töchter von InkaHerrschern), die als Priesterinnen der Sonnengottheit ihren Dienst im Tempel versahen. Die »Huaycur Aclla« waren dazu be• stimmt, Zweitfrauen der Inka oder aber als Ausdruck guter gegenseitiger Beziehungen wichtigen einflussreichen Persönlichkeiten übergeben zu werden. Hierbei griff man jedoch nur auf die allerhübt schesten Mädchen zurück. bie dritte hier zu nennende Kategorie umfasst die »Paco Aclla« —Mädchen, welche als zukünftige Ehefrauen rangniederer Führer als Anerkennung für besondere Dienste bestimmt waren.
Diejenigen Mädchen schliesslich, die sich weder auf edle Geburt noch auf Schönheit stützen konnten, die »Yang Adla«, mussten allen hier Genannten dienen. Ein Chronist erwähnt auch noch die »Taqui Acllatt, die aufgrund ihres musikalischen Talents bei Festen mit Flöten oder Tamburinspiel unterhielten (Abb. 411). Den untergeordnetsten Rang in der Gesellschaft nahmen die »Piria« = Kriegsgefangene ein. Da letztere von den Chronisten nicht erwähnt wurden, wissen wir von deren Existenz nur aus Wörterbüchern der Eingeborenensprache.
Was die Klassen des Volkes betrifft, so unterscheidet man vor allem in den Kulturen, die an der Küste angesiedelt waren, zwei wichtige Kategorien — jene der Fischer bzw. jene der Handwerker. Die entlang der Küstenstriche lebenden Fischer stellten eine von den restlichen gesellschaftlichen Gruppierungen, vor allem von den Bauern, getrennte Klasse dar (Rostworowski 1981). Sie wohnten in der Nähe grösserer und kleinerer Häfen, in der Umgebung von Küstenmooren, welche damals in allen Tiefländern zu finden waren. Die Strände waren nicht für alle im gleichen Umfang zugänglich — jede Gruppe oder Sippe besass einen Küstenabschnitt, über welchen sie frei verfügen konnte. Die Fischer besassen keine landwirtschaftlich nutzbaren Flächen — eine Situation, die sich erst im Zuge der kolonialen Epoche änderte. Dennoch unterhielten die Fischer, deren Dörfer in unmittelbarer Nähe des Meeres — umringt von Mooren — lagen, enge Beziehungen zu der in den Tälern ansässigen bäuerlichen Bevölkerung. Obwohl die Fischer während des 16. Jahrhunderts ihre eigenen Anführer hatten — dies galt zumindest bis zu den Unruhen, welche durch Verfügungen des Vizekönigs entstanden, hingen sie dennoch von den Herren der jeweiligen Gutsherrschaften ab. Zwischen den küstennahen Ansiedlungen der Fischer und jener der Bauern bestand eine Wechselbeziehung bzw. gegenseitige Ergänzung.
Die Handwerker stellten vor allem innerhalb der Gesellschaften an der Küste eine wichtige Gruppe dar. Aufgrund der herrschenden Spezialisierung im Handwerk kam es in einigen küstennahen Tälern vor, dass Gruppen von Handwerkern eine Reihe von Dingen produzierten, deren Herstellung in anderen Gegenden nicht zu beobachten war — eine Praxis, die wiederum in den Kulturen der Sierra unbekannt war. Zumeist lebten Schmiede und Töpfer der Sierra in Dörfern, ohne sich aber einzig und allein ihren erlernten Tätigkeiten zu widmen. Von einigen Dörfern weiss man, dass alle jene Menschen, die einer Herrschaft angehörten, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt versammelten, um gemeinsam Stoffe oder Keramikgegenstände herzustellen.
Die Handwerker genossen einen Sonderstatus Obwohl auch sie für den Staat arbeiten mussten, geschah dies jedoch immer nur in ihrer Eigenschaft als Schmied, Töpfer usw. Niemals mussten sie als Landarbeiter oder Soldaten zur Verfügung stehen. Die Regierung verlangte indes nach einer immer grösseren Zahl von Luxusgegenständen und von handwerklich gefertigten Gütern, deren Herstellung Spezialkenntnisse erforderte. Um diese Bedürfnisse des Staates zu befriedigen, schickte man fortan Handwerker nach Cusco bzw. in alle wichtigen Verwaltungszentren .
Die von staatlicher Seite am stärksten umworbenen Handwerker waren Goldschmiede der Küstenregionen. Archivdokumente beweisen, dass die in Cusco lebenden angesehensten Familien aus den Küstentälern stammten. Dies wird beispielsweise durch die Tatsache belegt, dass man im nicht weit von der Hauptstadt entfernten »Zurite«, auf den Ländereien des Inka Huayna Capac, Mitglieder der ursprünglich vom Äquator stammenden HuancavilcaGruppen ansiedelte, damit diese Gegenstände aus Silber fertigten. Andere — wie etwa eine grosse Zahl von Handwerkern, die ursprünglich in Atico an der Südküste beheimatet waren — wurden ebenfalls nach Cusco geschickt.
Unter den zahlreichen spezialisierten Handwerkern der Küste fallen jene Maler auf, die die Kleidungsstücke verzierten. Diese reisten von Tal zu Tal und behielten diese Praxis bis zum Ende des 16. Jahrhunderts bei. Wenige Informationen liegen über die Handwerker der Sierra vor. Einige waren auf die Herstellung von Keramikgegenständen oder Sänften für den Inka spezialisiert. Dennoch sind sie keiner spezifischen Volksgruppe zuteilbar, sondern waren Bauern. Ausserdem muss man sie als zahlenmässig unbedeutend werten — verglichen mit den in Zünften zusammengeschlossenen Handwerkern der Küste.
DIE DUALITÄT DER MACHT
Um die Gesellschaftsstruktur der Inka besser verstehen zu können, ist es nötig, ein früheres dualistisches System der Andenregion näher zu beleuchten. Zahlreiche Hinweise in den Archiven —richterliche Urteile, Steueraufzeichnungen und andere spanische Beweisstücke aus dem Bereich der Verwaltung — zeugen von der Existenz einer dualistischen Machtstruktur nicht nur innerhalb der Armee, sondern auch innerhalb der Einflusssphäre lokaler Herrscher. Diese Dualität war bereits im ursprünglichen Cusco zu finden, existierte also schon vor dem Aufschwung der InkaKultur. Da man dualistische Modelle und Schemata innerhalb der soziopolitischen Strukturen der Herrschaften nachweisen konnte, ist es wahrscheinlich, dass die Führer von Cusco sich in diesem Punkt nicht von anderen Volksgruppen unterschieden.
Huayna Capac (nach Guaman Poma de Ayala. Die privilegierten Handwerker, befreit von anderen Frondiensten (nach Guaman Poma de Ayala)
Jede Herrschaft im InkaStaat teilte sich in zwei Hälften, was der autochthonen Vorstellung von Hoch und Tief, von Links und Rechts entsprach. Jede dieser Hälften wurde von einem Curaca oder Herrn regiert. Interessant ist, dass eine der beiden Hälften immer eine untergeordnete Stellung einnahm, wenn auch dieses Abhängigkeitsverhältnis von Ort zu Ort variierte. Das heisst, dass in einigen Gegenden das Hoch wichtiger war als das Tief und umgekehrt.
Dieses Organisationsmodell blieb jedoch nicht statisch an diesem Punkt stehen, sondern wies eine sehr grosse Komplexität in seiner Entwicklung auf. Eine Untersuchung über die Stadt La Paz (Relaciones Geograficas de Indias, 1885, Band 1172) bezieht sich auf die klassische dualistische Machtverteilung, welche für jede Gebietshälfte nicht nur einen Herrscher, sondern auch noch einen sozial schlechter gestellten Kaziken vorsah. Diese Personen — »Gehilfen« oder »Assistenten« des Herrschers (Yanapaq) — formten das dualistische System in eine viergeteilte Organisation um.
Diese Feststellung findet sich durch ein Dokument bestätigt, welches von einem Besuch in Capachica im Jahre 1575 berichtet (Rostworowski 1986). Es erwähnt die Existenz zweier Herrscher pro Hälfte — was für jede Herrschaft vier Herren bedeutete. Eine Analyse der Tasa General des Vizekönigs Toledo (Cook 1975) zeigt, dass in sehr vielen Gegenden das Viermächteschema für Gutsherrschaften Gültigkeit besass.
Wenn man zum Konzept der Machtverteilung auch noch das Konzept der räumlichen Organisation hinzufügt, erkennt man die wiederkehrende Dominanz der Zahl vier — dies gilt zumindest für grosse Teile der Andenregion. Während früherer Epochen von Cusco — als es noch den Namen Acamama trug (Guaman Poma 1936, f. 84) — war das Dorf in vier Abschnitte geteilt — in das Viertel des Kolibri, Quinti Cancha, jenes der Weber, Qhumbi Cancha, weiter in das Tabakviertel, Sairi Cancha, und schliesslich in das Yarambuy Cancha. Letzteres bezeichnet ein Wohnviertel, das unzweifelhaft von Mischlingen der Quechuas und Aymares (Yaruntatha bedeutet: sich vermengen, Bertonio 1956) bewohnt war. Interessant ist, dass das Wort selbst in der QuechuaSprache nicht vorkam, sondern allein bei den Aymaras verwendet wurde.
Die politische Stärkung bzw. der Anstieg der MancoCapacGruppe vergrösserte den Zwist um die Verteilung des Raumes, wobei die Existenz der vier verschiedenen Viertel des Dorfes die Situation gut widerspiegelte. Der Viermächtestatus blieb jedoch dank folgender vier Herrscher, welche die Teilung der Macht im Zuge der zweiten Epoche aufrechterhielten, bestehen: Manco Capac, Tocay Capac, Pinahua Capac und Colla Capac.
Später, als der InkaStaat entstand, vergrösserten sich die vier Sektionen des Gebietes und trugen die Namen: Chinchaysuyu, Antisuyu, Cuntisuyu und Collasuyu. Sie schlossen sich zum Tahuatinsuyu — »den vier untereinander geeinten Regionen« — zusammen. So blieb — den Notwendigkeiten der soziopolitischen Lage Rechnung tragend — die Vierteilung nicht nur im Bereich des Organisationsschemas der Macht, sondern auch im räumlichen Bereich fortbestehen.
DIE WAHL DES INKA UND DIE ARTEN DER ERBFOLGE
In der Andengesellschaft gab es ein entscheidendes Kriterium, das letztlich in der Frage der Erbfolge den Ausschlag gab. Ging es nun um die Bestimmung des Nachfolgers eines lokalen Führers oder um die Besetzung des InkaThrones selbst, entscheidend war, den tüchtigsten Aspiranten auf den Thron herauszufinden. Dabei war zweitrangig, ob es sich bei den Bewerbern um den Bruder, den Sohn der Schwester oder um den Sohn des verstorbenen Herrschers handelte. Interessant ist, dass sich die Chronisten immer von' der europäischen Vorstellung der Nachkommenschaft leiten liessen, wobei sie in diesem Zusammenhang auf zahlreiche Widersprüche stiessen. Das erklärt wiederum die Tatsache, dass auch heute noch Experten in der Frage der Nachfolge an der Präferenz der Erstgeborenen und an der Praxis des direkten Erbes an eheliche oder uneheliche Kinder festhalten, ohne jedoch diese Vorstellung im prähispanischen Umfeld näher zu betrachten.
Die staatliche Einführung eines Vizekönigs schrieb in der Frage der Erbfolge den kastilischen Modus vor. Dieses neue System, das in späteren Texten erwähnt wurde, zog bei den Einheimischen langwierige juristische Diskussions und Entscheidungsprozesse nach sich.
Dank diverser Archivdokumente konnten einige Studien die verschiedenen Arten der Erbfolge in den Anden darlegen (Rostworowski 1961, 1962, 1983). An der Küste — sei es in den nördlichen oder zentralen Teilen — und in einigen Regionen der Sierra wurde dem Bruder und nicht dem Sohn des Verstorbenen der Vorzug gegeben, da man zuerst auf ein und dieselbe Generation zurückgreifen wollte, bevor man zur nächsten überging.
In anderen Gegenden war der Sohn der Schwester der Auserwählte. Untersuchungen über die Erbfolge bei den lokalen Herrschern geben uns Auskunft über den Modus der Machtübergabe bei den Inka. Dies ist umso aufschlussreicher, als man bedenken muss, dass die Entstehung des InkaStaates spät erfolgte und die Inka vorher nur eine Volksgruppe unter vielen darstellten. Die Tradition, welche darin bestand, den »Tüchtigsten« seiner Söhne — das heisst anders ausgedrückt denjenigen, dem es gelang, die meisten einflussreichen Fürsprecher auf sich zu vereinen — an die Macht zu bringen, führte unweigerlich zur Günstlingswirtschaft, zu Intrigen und Gewaltverbrechen. Die Wahlen waren nicht so sehr von den besonderen Verdiensten als vielmehr von geheimen Machenschaften der Kandidaten und deren Familien geprägt. Die Chronisten berichten, dass das Nachfolgerverzeichnis der Inka von zyklisch aufflammenden Gewaltakten, die in Cusco stets nach dem Tod des Inka auftraten, zeugt. Sie stellen das Nachfolgeschema: Vater — Sohn nach europäischer Sitte dar, ohne sich bewusst zu werden, dass auch diese Unruhen und negative Emotionen auslösten. Wenn wir — ohne ins Detail zu gehen — in die von den Chronisten erwähnte Liste der Herrscher von UnterCusco Einblick nehmen, stellen wir fest, dass mehrere Persönlichkeiten nach ihrer Nominierung zurücktraten. Dies galt etwa für Manco Sapaco —den Nachfolger von Sinchi Roca — oder für Tarco Guaman, der Mayta Capac nachfolgen sollte. Die Chronisten berichten auch von Fällen, wo Inka ermordet (etwa Capac Yapanqui) oder vergiftet (Tupac Yapanqui) wurden (Cobo, Anello Oliva, Acosta). Die Inka von UnterCusco bewohnten alle den Sonnentempel, und es ist sogar möglich, dass sie dessen »HauptPriester« waren. Molina (1943) beschreibt den »HauptPriester« als »Diener oder Sklaven der Sonne«, während der Herrscher als »Sohn der Sonne« angesehen wurde.
Dagegen verfügte jeder Herrscher von OberCusco über einen eigenen Palast, was ihn jedoch nicht vor ähnlichen Ausschreitungen schützte. Der Inka Roca wurde auf Wunsch der Sippen zum »Beschützer« erkoren (Samiento de Gamboa, 1943). Dessen Sohn wurde von den Sippen der Ayarmacas entführt, um sich an der Verlobten ihres Herrschers zu rächen, die diesen verliess, um den Inka von Cusco zu ehelichen. Als der Inka Roca seinen Sohn wieder befreite, nahm er diesen in die Regierung auf, um damit die Nachfolge zu sichern. Später — zur Zeit der Regentschaft Yahuar Huacac wollte der Herrscher seinen eigenen Sohn zum Mitregenten ernennen. Dieser Plan wurde jedoch vereitelt, da der junge Inka von einer der Frauen seines Vaters, die wiederum ihrem eigenen Sohn diese Ehre angedeihen lassen wollte, ermordet wurde. Kurze Zeit später wurde Yahuar Huacac selbst Opfer einer Verschwörung. In der allgemeinen Verwirrung, die diesem Verbrechen folgte, erwählten die nun Geeinten auf Anraten einer Frau aus OberCusco Viracocha zum Herrscher (Cieza de Leön 1942, Kap. XL). Als dieser älter wurde, machte er seinen Sohn Urco zum Mitregenten. In den letzten Jahren seiner Herrschaft verstärkte sich in Cusco die Bedrohung, die von der ChancaGruppe ausging. Um die territoriale Vorherrschaft selbst zu erlangen, war diese Bewegung mit Sicherheit schon seit langem in kriegerische Auseinandersetzungen Auseinandersetzungen mit den Inka verwickelt. Viracocha und sein Sohn überliessen Cusco schliesslich seinem Schicksal und dem jungen Cusi Yapanqui die Würde der Verteidigung. Nach mehreren Siegen nahm dieser dann das Puyllu — das Insignum der Macht — an sich. Er betrachtete sich selbst als den 'Tüchtigsten« von allen und änderte, wie es auch Brauch war, seinen Namen, wobei er fortan Inka Pachacütec Yapanqui hiess. Obwohl der Krieg gegen die Chancas sicherlich als legendenhaft gewertet werden kann, ist der Sieger — dessen Erfolge am Beginn des 15. Jahrhunderts anzusiedeln sind — als erster historischer Inka zu betrachten .
Die Herrschaft von Pachacütec war lang. Er nominierte zuerst den Prinzen Amaru Yupanqui zum Mitregenten, der aber — als er sich als zu wenig kriegerisch erwies — zugunsten eines jüngeren Sohnes Tupac Yupanqui wieder abgesetzt wurde. Letzterer wurde ein grosser Eroberer und Initiator der territorialen Expansion. Als er Mitregent wurde,heiratete. Tupac Yupanqui eine seiner Schwestern, womit er auch die Tradition der inzestuösen Verbindungen bei den Inka aufnahm. Kurz nach Antritt der Herrschaft versuchte ein Bruder, ihm diese wieder streitig zu machen (Sarmiento de Gamboa, Santillän).
Die inzestuöse Heirat konnte die Intrigen und Machtkämpfe in der Frage der Nachfolge von Tupac Yupanqui nicht ausser Kraft setzen. Anfangs beschloss der Inka, dem Sohn der Königin den Thron zu überlassen (Sarmiento de Gamboa), kurz vor seinem Tod änderte er jedoch seine Meinung und favorisierte nun Capac Guari, den Sohn einer seiner anderen Frauen.
Obwohl Capac Guari der Auserwählte war, wurde er nicht einmal Mitregent. Möglicherweise ereignete sich der Tod von Tupac Yupanqui zu rasch nach dessen Nominierung. Man kann sogar annehmen, dass der Inka, um den Wechsel in der Nachfolge zu verhindern, vergiftet wurde. Diese Palastintrige wurde von einem »Onkel« des Erbprinzen — vielleicht dem Bruder der Coya — aufgedeckt, und somit trat Huayna Capac die Nachfolge an. Der indianische Chronist Guaman Poma (1936: f. 113) deutet an, dass Huayna Capac für die Erlangung der Macht die Ermordung von zweien seiner Brüder anordnete.
Der Inka Pacha citec und Topa Inca Yupanqui
Der Bruderzwist, der erneut beim Tode Huayna Capacs auftrat, ist uns nun schon hinlänglich bekannt. Jener fiel einer Pocken, Masern und Grippeepidemie zum Opfer. Den Erbprinzen Ninan Cuyuchi ereilte das gleiche Schicksal.
Der Krieg zwischen Huascar und Atahualpa wies in der Andengegend weder eine Novität auf, noch war er irgendwie ungewöhnlich, denn diese Art von Auseinandersetzungen wiederholte sich stets beim Ableben jedes Inka. Der einzige Unterschied bestand darin, dass es sich nun um einen Staat von kontinentalem Ausmass und nicht mehr wie früher um irgendeine Herrschaft handelte.
Der »Tüchtigere« von zwei Anwärtern auf den Thron sollte der künftige Inka werden. Die Probleme dabei häuften sich jedoch, so dass man versuchte, die Institution der Mitregentschaft als Mittel zur Reduzierung der Kämpfe um die Macht zu installieren. Diese Vorgangsweise beobachtete man nicht nur bei den Inka, sondern auch in den kleinen Herrschaften von Lima an der Zentralküste. Mit der Gründung von Lima durch die Spanier regierte dort der Kazike mit einem seiner Söhne. Eine zweite Methode, die Nachfolgezwistigkeiten besser in den Griff zu bekommen, bestand darin, den Erben am Tage der Machtübernahme mit einer seiner Schwestern zu verheiraten — dies, um den Thron durch die Einbringung des »männlichen« und des »weiblichen Teiles« der Nachkommenschaft zu stärken.
DIE EXPANSIONSPOLITIK DER INKA
Die rasche Expansion des InkaStaates wurzelte im System der »Wechselbeziehung« und der »Wiederverteilung« bzw. in geringerem Ausmass im »Tausch«, welcher vor allem in der Küstenregion praktiziert wurde. Zu Beginn gehörten die Inka nur einer Curacazib unter einigen anderen an. Ihre Machtposition bildete sich erst im Zuge der aufeinanderfolgenden Siege über die Chancas aus. Der Chronist Betanzos erklärt, dass die ersten Schritte der Inka auf dem Weg zur Macht darin bestanden, den von ihnen besiegten Herrschern das System der »Wechselbeziehung« zu offerieren und sich mit ihnen durch Blutsbande zu vereinen. Dabei versammelte der Inka die Herren, bot ihnen öffentlich veranstaltete, rituelle Mahlzeiten und Geschenke an und verlangte schliesslich von ihnen, verschiedene Arbeiten für das Gemeinwohl in Bereichen, in denen Arbeitskräftemangel herrschte, zu verrichten. Diese Vorgangsweise hatte oft die territoriale Annexion auf friedlichem Weg zur Folge, da den Edelmännern das Angebot zur »gegenseitigen Unterstützung« annehmbarer erschien als ein Krieg mit unsicherem Ausgang und fürchterlichen Auswirkungen für den Besiegten.
Huascar (nach Guaman Poma de Ayala). Atahualpa (nach Guaman Poma de Ayala)
So verwirklichte sich die blitzschnelle Expansion der Inka, welche die regierenden Kreise auch zwang, pausenlos neue Versorgungskanäle aufzutun, um die besiegten Herren mit Produkten zu versorgen. Die enorme territoriale Ausweitung wies aber eine sehr zerbrechliche Basis auf, was auch den schnellen Zerfall des Reiches anlässlich der Okkupation durch die Soldaten Pizzaros erklärt.
Die lokalen Herrscher litten unter der Vorherrschaft der Inka, die sie um ihre besten Böden brachten, um sie der staatlichen Nutzung zuzuführen. Eine grosse Zahl ihrer Bevölkerung wurde zu »Mitmag« oder »Yana«, die den Regierenden dienen mussten, »degradiert«. Diese Entwicklung führte dazu, dass in der Provinz zumeist sozial höhergestellte Persönlichkeiten fehlten. Den »Volksklassen« wurde verboten, in ihren Dörfern zu bleiben. Man schickte sie als Emigranten oder »Mitmag« weg, damit sie künftig ihre Dienste dem Staat zur Verfügung stellten. Die Unzufriedenheit darüber war gross und mündete letztendlich in das Streben nach Unabhängigkeit. Die spanische Präsenz und nicht zuletzt die schrecklichen Kriege wurden von den Herren der »Provinzen« als geeignete Möglichkeit betrachtet, die Befreiung von der Knechtschaft der Inka voranzutreiben — eine Konstellation, die den Zerfall des Reiches in Gang setzte. In der Tat konnte die blitzschnelle Expansion der Inka nie ein nationales Identitätsgefühl wecken. Die verschiedenen Völker fühlten sich vielmehr ihren eigenen Dörfern, Herren, traditionellen Führern bzw. ihren eigenen Göttern verbunden und bauten nie eine positive Beziehung zum zweifelhaften und noch dazu weit entfernten Sohn der Sonne auf. Sie unterstützten also die spanischen Eroberer, was den Sturz der Inkaherrschaft stark beschleunigte. Selbst die später unter Manco II. angezettelte Rebellion schaffte es nicht, die einheimischen Völker wiederzuvereinigen.
Erst als auch diese das Elend und die Hoffnungslosigkeit unter der Regentschaft des VizeKönigs spürten, verbreitete sich eine nostalgische Stimmung, die Sehnsucht nach dem vergangenen InkaReich.
DIE ARCHITEKTUR DER INKA
Die Architektur, deren Spuren sich fast im gesamten Bereich des InkaTerritoriums finden, ist der Lieblingsbereich der InkaKunst. Sie entnimmt den frühen Andenkulturen zahlreiche technologische Elemente, aber sie ist durch ihren strengen und sehr einheitlichen Stil, der sie manchmal schon von weitem erkennen lässt, einzigartig.
Der auffällige Charakter der noch bestehenden InkaStätten liegt in der hohen Qualität der Bauwerke sowie in der Tatsache, dass sie nach archäologischen Massstäben neuzeitlich sind. Selbst bei den ältesten unter ihnen sind seit der Zeit ihrer Entstehung und unseren Tagen nicht mehr als 6 Jahrhunderte vergangen.
Obwohl die meisten nach der Conquista verlassen worden waren, wurden sie doch nach wie vor in Ehren gehalten, mit Ausnahme einiger Bauten, die abgerissen wurden, damit man die behauenen Steine wiederverwenden konnte, aber auch um das Bild einer vergangenen Macht auszulöschen.
TECHNOLOGIE
Bei der Errichtung von Gebäuden aus Lehm, eher ein Charakteristikum der Küstenarchitektur als eines der Sierra, wird der rohe Ziegel (Adobe) eingesetzt, den die früheren Zivilisationen in reichem Masse für ihre Architektur verwendeten.
Zum Schneiden vorbereiteter Stein Das Verfahren besteht darin, dass in den Stein eingetriebene Holzpflöcke mit Wasser begossen werden, sodann anschwellen und dadurch den Stein sprengen. Füllmaterial aus Erde und Lehm zwischen zwei Steinmauern mit Stossfugen.
Die Bauten, die die Inka an der Küste errichteten, wie Tambo Colorado, Incahuasi oder der jüngste Trakt des grossen Zeremonienzentrums von Pachacamac, nehmen diese jahrtausendalte Tradition des Rohziegels wieder auf. Dieser wirkt durch seine Mörtelbindung und die trapezförmigen Öffnungen und Nischen des »imperialen Stils« als eher strenge Architektur. Auch in manchen Gegenden der Sierra findet man den Adobeziegel als hauptsächliches Baumaterial, wie zum Beispiel im berühmten »Tempel des Viracocha« in Racchi, südlich von Cusco. In diesem Fall sind die Ziegelschichten über einer kleinen Grundmauer aus Stein angeordnet, die die Adobe vom Boden trennt. Sehr oft sind die Adobemauern mit einer feinen Schicht Tonerde verputzt, die ihnen sowohl schöneres Aussehen als auch Schutz verleiht. Es hat nicht den Anschein, als ob dieser Verputz jemals geschmückt oder vielleicht sogar gleichmässig aufgetragen worden wäre.
Obwohl die Lehmarchitektur einen wichtigen Teil der Inkabauten darstellt, sind doch die Gebäude aus Stein, besonders jene aus behauenen Steinen, die bemerkenswertesten und berühmtesten.
Die grossen Blöcke wurden aus den Steinbrüchen mit einfachen Hilfsmitteln ausgebrochen, indem man sich die Diaklase, den natürlichen Felsbruch, zunutze machte. Sodann wurden sie aufgeladen und zu den Baustellen transportiert. Der Transport vom Steinbruch zur Baustelle erforderte eine grosse Anzahl von Hilfsarbeitern; man schätzt, dass zum Bewegen der grössten Blöcke 2000 bis 2500 Menschen benötigt wurden.
Wie bei den anderen alten Zivilisationen benutzte man Ziehwege, die man mit nasser Erde oder mit Kieselsteinen für den Transport der mehrere Tonnen schweren Blöcke ausreichend gleitfähig machte. Wahrscheinlich verwendete man zur Erleichterung des Transports auch Holzschlitten oder Rundhölzer. Trotzdem darf man bei den auf diese Weise zurückgelegten Entfernungen nicht übertreiben. Gewiss kennt man Bauten, die aus Material errichtet wurden, das über mehrere Kilometer herangeschafft worden war; aber die ungefähr 35 Kilometer zwischen Rumiqolqa (Andesitsteinbruch) und Cusco gehören zu den längsten der bekannten Strecken.
Die Bauten von Sacsayhuaman oberhalb von Cusco, deren Mauerabsätze die Hauptstadt des Reiches überragten, wurden aus Blöcken errichtet, die grösstenteils aus den Steinbrüchen von Huacay Pata stammen — aus einigen hundert Metern Entfernung. Das gleiche gilt für Machu Picchu und die umliegenden Bauten: Die Steine kommen aus demselben Granitmassiv, das im Herzen der Kordillere einen grossen Einschluss bildet. Heute noch sieht man im oberen Teil der Anlage von Machu Picchu einen Steinbruch mit Blöcken, die noch im ursprünglichen Zustand vor dem Verladen herumliegen. An einem dieser Blöcke erkennt man eine Reihe von Löchern, die in einer geraden Linie gebohrt wurden. Mit dieser Technik wurde der Stein entlang der gewünschten Bruchstelle gesprengt.
In den letzten Jahren konnten durch experimentelle Untersuchungen zu diesem Thema die Hypothesen über die Vorbereitung der Blöcke bestätigt werden. Man benötigt ungefähr anderthalb Stunden, um einen Andesitblock mittlerer Grösse (ca. 25 x 25 x 30 cm) mit Hilfe von Pflöcken und harten Steinen, die als Schlagwerkzeuge verwendet werden, in Form zu bringen. Das übrige, nämlich das Einsetzen jedes Elements, erfolgt durch fortschreitendes Anpassen mittels kleiner Nacharbeiten, damit die Blöcke so genau wie möglich aneinanderpassen (Protzen 1986).
Um hohe Mauern zu errichten, bedienten sich die Inka schiefer Ebenen aus Erde, die sie rampenförmig aufschütteten und nach Fertigstellung des Baus wieder abräumten. Die ersten Spanier konnten diese Technik beobachten, als sie von den eingeborenen Maurern, die man für den Bau der Kolonialkirchen von Cusco beschäftigte, angewen det wurde. Zu den Gerüsten hatten diese nämlich wenig Vertrauen.
Dieselben Chronisten beobachteten noch andere Einzelheiten in der Organisation von Bauten. Der Inkastaat hatte seine eigenen Architekten und Baustellenleiter, die den Baufortschritt überwachten, ebenso Steinbrucharbeiter und Maurer, die ganztags arbeiteten. Die Arbeiter, die die Trassierungs und Instandhaltungsarbeiten durchführten, waren einfache Bauern, die dem Staat Arbeitsleistungen schuldeten. Diese Andenbauern, die ihre Häuser und Pflanzungsterrassen selber zu errichten pflegten, waren daher auch imstande, diese nicht sehr spezialisierten — aber unentbehrlichen — Aufgaben bei den Inkabaustellen auszuführen. Die auffallendsten Inkabauten sind aus behauenen Steinen errichtet, die manchmal mit Stossfugen zusammengesetzt waren. Oft wurde eine besondere Technik eingesetzt, mit der man diese »Stossfugenkonstruktion« perfekt imitieren konnte. In diesen Fällen wurden die Steine mit den Sichtflächen — und nur diese waren nach Fertigstellung des Bauwerkes sichtbar — nach aussen genau und gerade übereinander angeordnet, während der innere Teil der Mauer mit Trümmern, Erdreich und grob zerschlagenem Gestein hinterfüllt wurde. Dieses vereinfachte, aber sehr ausgearbeitete Verfahren ermöglichte die Verkürzung der Bauzeit und gewährleistete dennoch den guten Zusammenhalt der Mauer . Die Inka verwendeten für diese Bauten sehr harte Steine, wie den Andesit, und gaben den sichtbaren Seiten eine rechteckige oder polygone Form. Es sind die Gebäude dieses Typs, die die Bewunderung der Konquistadoren hervorriefen und die auch heute noch die grossartigen Fähigkeiten ihrer Erbauer bezeugen.
Jedenfalls bedienten sich die Inka bei den meisten ihrer Häuser und besonders bei den Bauernhäusern einfacherer Techniken. Die hier verwendeten Blöcke sind unbehauene Bruchsteine mittlerer Grösse, auf einfachste Weise zerkleinert und mit Mörtel aus tonhaltigem Lehm verbunden.
Maccu Picchu: Nach innen geneigte und nach oben verjüngte Mauern. Restauriertes Haus mit wiederhergestelltem Dach aus Pflanzen.
Die Mauern der Inka sind fast immer niedrig; offenbar hielt man hohe Bauten wegen der häufigen Erdbeben für zu gefährlich und liess sie daher gar nicht zu. Diese Mauern weisen eine Eigentümlichkeit auf: Sie sind nach innen geneigt und sind oben etwas weniger breit als an der Basis, offensichtlich aus Gründen der Stabilität . Bei manchen einfachen Konstruktionen mittlerer Grösse sind die Mauern mehr als 80 cm dick, was ihnen eine nahezu unverwüstliche Festigkeit verleiht. Nur das Verlassen der Häuser und das Fehlen jeglicher Instandhaltung scheint der Grund für den jetzigen Zustand dieser mit so viel Sorgfalt errichteten Häuser zu sein.
Heute fehlen an fast allen Inkagebäuden die Abdeckungen. Nur einige wenige wurden restauriert und mit einer Art Grasdach gedeckt, ähnlich wie die ursprünglichen Dächer und die Dächer der traditionellen Bauernhäuser; man denkt bei ihrem Anblick an unsere Dächer aus Stroh oder Schilf. Tatsächlich verwendeten die Inka für ihre Dächer aus verschiedenen Gründen kein festes oder dauerhaftes Material. Sie verfügten für den Bau stabiler Gerüste nur über ganz wenig Holz, da die Zentralanden nur wenig bewaldet und die peruanische Küste wüstenartig und trocken ist. Ausserdem stellen in einem Land, das von häufigen Erdbeben heimgesucht wird, »harte« Dächer eine wirkliche Gefahr dar. Hingegen sind die aus Pflanzen geflochtenen Dächer nicht nur leicht und isothermisch, sondern entsprechen auch den klimatischen Bedingungen der Anden. Nach den Beschreibungen der Chronisten ruhten die Dächer der Inkahäuser auf Gerüsten aus leichten Stangen, die untereinander mit Stricken oder Lianen verbunden waren. Die Abdeckung bestand aus Ichu, einer Pflanze aus den Hochregionen der Anden, die auch heute noch zum Abdecken der Häuser in der Sierra verwendet wird.
DIE MORPHOLOGIE DER BAUTEN
Die Bauten der Inka waren in der Regel nach einem einfachen viereckigen Grundriss errichtet, mit einer Hauptfassade an der langen Mauerseite. Sehr selten nur war dieser Raum durch Trennwände in verschiedene Zimmer unterteilt. Diese Art findet man gelegentlich bei einigen grösseren Gebäuden oder bei einem bestimmten Grundriss, wo eine Mauer das Gebäude der Länge nach in zwei Teile teilt. In diesem Fall bilden die beiden Mauern zwei gleiche Fassaden. Die einfachen Bauten umfassten fast niemals mehrere Stockwerke: Sie sind ebenerdig, mit gestampften Fussböden. Oberhalb der Wohnebene gibt es oft einen Raum unter dem Dach, eine Art rudimentärer Plattform oder Gitterrost aus Stäben, der als Lagerraum diente.
Dieser Grundriss entspricht einer bäuerlichen Wohnanlage par excellence und findet sich auch heute noch, wenn auch leicht verändert, bei den der Tradition verhafteten Bauerngemeinden der Anden. Die Tätigkeiten der Bauern spielen sich fast immer im Freien und bei Tageslicht ab, so dass dieses Bauernhaus der Anden hauptsächlich als Unterstand dient, wo sich die Familie für die Nacht zusammenfindet. Ausserdem gibt es noch sehr viel weitläufigere, sehr langgestreckte Gebäude (in der Quechuansprache oft Kallankas genannt), mehrere Dutzend Meter lang und rechteckig angelegt und durch mehrere Türen an der Fassadenseite zugänglich gemacht. Ihr Hauptzweck scheint darin bestanden zu haben, als zeitweilige Unterkunft für Durchreisende zu dienen, zum Beispiel für Truppen auf dem Weg zu einer anderen Garnison oder für Saisonarbeiter. Kreisförmige oder abgerundete Grundrisse sind selten: Einige solcherart errichtete Bauten sind sorgfältig erhalten. Sie stehen häufig an einem ausgewählten Platz, und dann immer nur einzeln an einem Ort. Die am häufigsten ausgesprochene Hypothese besteht darin, dass es sich um Bauten im Zusammenhang mit dem Sonnenkult handelt . Andere runde Bauten, die jedoch eher, roh erscheinen, dienten als Getreidespeicher und Zwischenlager. Die runden Qollqas waren besonders für die Aufnahme von Mais gedacht, während die viereckigen eher für andere Güter bestimmt waren. Diese Speicher sind im allgemeinen in einer Reihe an der Peripherie eines Ortes errichtet. Die Platzwahl erfolgte äusserst sorgfältig im Hinblick auf eine gute Konservierung ver derblicher Waren. Ausserdem sorgten genauestens angebrachte Öffnungen für natürliche Belüftung.
Machu Picchu: Der Torreon, ein seltenes Beispiel für einen Grundriss mit Rundungen
Eine letzte Art von Rundbauten ist von den Chullpas beeinflusst, das sind Begräbnistürme, die von Menschen, die nicht zum Kulturkreis der Inka gehörten, in den Hochebenen des Gebietes um den Titicacasee errichtet worden waren. Die Inka übernahmen diese Form für denselben Zweck, ohne sie allerdings im gesamten Reich einzusetzen. Das Interessante an diesen Türmen —vom architektonischen Standpunkt gesehen — ist, dass sie beweisen, dass die Inka das Prinzip des falschen Gewölbes kannten und es mit Erfolg, wenn auch nicht sehr oft, einsetzten.
Charakteristikum der Inkabauten sind die Türen und manchmal auch die Fensteröffnungen in Trapezform. Die Überlager können monolithisch sein oder auch in bescheidenerer Form als Reihe von ineinanderverschachtelten Holzblöcken. Die Anzahl dieser Türen variiert; bei den einfacheren Bauten ist in der Fassade nur eine einzige Öffnung vorgesehen. Bei den wichtigeren Gebäuden sind mehrere Türen entlang der Fassade verteilt. Diese Eigenheit ist zweifelsohne durch die technische Notwendigkeit bedingt, den Druck auf das Überlager zu verringern. Man findet dieselbe Trapezform auch bei den in Reihen angeordneten Nischen an der Innenseite der Mauern, die zum Aufbewahren von Gegenständen dienten. Ihre grosse Anzahl erklärt sich aus der Tatsache, dass die Inka keine der üblichen Möbel besassen, ausser ganz wenigen Sesseln und einigem Prunkmobiliar. Obwohl die Verwendung der Trapezform nicht von den Inka eingeführt worden war, wurde sie das für die InkaArchitektur charakteristische Element.
In jenen Gebieten, die wärmer sind als die Sierra, findet man auch Gebäude, die über die gesamte Fassadenbreite offen sind. Vielleicht unterstützt hier und da eine Säule oder ein kurzes Mauerstück die Dachkonstruktion. Diese Bauten, die Masmas genannt werden, dienten für die täglichen Aktivitäten und nicht als ständige Behausung.
Die architektonischen Formen sind daher eher unbeschränkt und zeigen auch keine Varianten. Infolge des kurzen Bestandes des Inkareiches gab es auch gar keine Möglichkeit irgendeiner stilistischen Entwicklung. Genauso wie die anderen Künste musste sich auch die Architektur den strengen Regeln des Staates beugen.
DIE ANLAGEN
Die Grundrisse reflektieren vor allem das Bestreben, den umbauten Raum in praktischer und wirksamer Weise zu organisieren. Die Organisation wussten die Inka vorteilhaft in ihrer Wirtschaft wie auch bei ihren Eroberungszügen einzusetzen. Das bedeutet nun keineswegs, dass die Anlage ihrer Städte und Dörfer monoton gewesen wäre. Sie war lediglich von einer strengen, oft geometrischen Norm geleitet, die sich harmonisch in die Topographie einfügte und die Elemente ihrer natürlichen Umgebung mit einband.
Maccu Picchu:Plan der Anlage und Ollantaytambo Plan der Anlage und Plan der Wohnviertel
Die übereinanderliegenden Terrassen passten sich den Krümmungen der Höhenlinien an. Gewisse Felsvorsprünge, die sicher als heilig angesehen und verehrt wurden, hat man in situ umbaut oder behauen. Wasserläufe wurden eingefangen und in Kanäle geleitet, um die Kulturterrassen zu bewässern oder das Wasser mit Hilfe von übereinander liegenden Brunnen in die Dörfer zu verteilen. Anlagen wie Cusco, Sacsayhuaman oder Ollantaytambo sind durch ihre gewaltigen Bauten und ihre Zyklopenmauern ein Beweis dafür, dass man ganz sicher nach einer auffälligen Wirkung suchte. Jedenfalls erregen auch die grossen Bauwerke in den verschiedenen Provinzen mehr Bewunderung durch ihre Anordnung und ihre Strenge als durch ihre heroische Architektur.
Im allgemeinen bestehen die Inkaanlagen aus einer Ansammlung kleiner, einfacher und niedriger Gebäude, die oft in geschlossenen Vierteln, den Canchas, zusammengefasst sind, was sehr gut die Suche nach Rationalisierung des städtischen Raums beweist. Eine Cancha, oder Kanka, bildet eine im allgemeinen geschlossene Einheit, bei der mehrere Bauten um einen nicht verbauten, viereckigen Platz angeordnet sind. Der CanchaTyp, den man bei vielen Anlagen findet, umfasst zwei Gruppen zu je vier identischen oder analogen Konstruktionen, die durch eine symmetrische Querachse verbunden sind, die durch die Hinterwand einer dieser Bauten verläuft. Durch eine Vervielfältigung dieser Canchas, die als eine Art Basismodul für den Städtebau dienen, entstehen die Viertel oder Sektoren der InkaDörfer und Städte.
Bei manchen Anlagen kann man eine etwas komplexere Version erkennen: Der CanchaTyp wird entlang einer zweiten, senkrecht zur ersten errichteten Symmetrieachse verdoppelt. Eine aussergewöhnliche Anwendung dieses Prinzips wird durch die Gruppe der »drei Türen« in Machu Picchu verkörpert (Abb. 433), wo drei einfache Canchas aneinandergereiht und zu einer Einheit verbunden wurden, die allerdings infolge der Anordnung der drei Türen an den Seiten ein wenig atypisch ist.
Cusco war die tatsächliche Hauptstadt des Inkareiches, bis zu dessen letzter Phase, als Huayna, der sich an der Eroberung der südlichen Anden beteiligte, es vorzog, sich in Tumibamba niederzulassen. Trotz dieser Verlagerung der Macht behielt Cusco den Status einer Hauptstadt bei, und die Bewohner Cuscos erhoben immer noch den Anspruch auf dieses Vorrecht.
Cusco war nicht wie die früheren Hauptstädte aus der VorInkazeit eine von hohen Mauern umgebene Stadt, bei der das Wohngebiet von der natürlichen Umgebung abgetrennt war. Cusco umfasste ein Gebiet mit einem Radius von ungefähr 50 km, das von Grenzen oder Bezugspunkten (wie dem Tor von Rumi Qollqa im Süden) markiert war und mehrere konzentrische Sektoren einschloss. Im zentralen Kern, dem ältesten Teil, waren um die Plätze des Huacaypata und des Cusipata die Paläste der Inka, die wichtigsten Kultbauten und die Wohnungen des höchsten Adels gruppiert. Von diesen Plätzen gingen die Ceques aus, symbolische, in den Raum gezogene Linien, die das Reich teilten. Um diesen Kern herum lag der periphere Raum, bestehend aus bebautem Land und Terrassen. Dieser nicht verbaute Bereich trennte das Herz der Hauptstadt von einem urbanen Kranz, in dem die übrigen Edlen und Würdenträger des Inkareiches wohnten.
Verstreut im ländlichen Milieu, das an diese Stadtgebiete anschloss, befanden sich inmitten von Kulturland die Residenzen der regionalen Kaziken und die Wohnungen der aus allen Reichsgegenden gesandten Tributpflichtigen. Dieser Tribut bestand in Arbeitsleistungen, genannt Mita, die für jeden Erwachsenen Pflicht waren. Dieser Bereich repräsentiert in verkleinertem Massstab sämtliche der Hegemonie der Inka unterworfenen Territorien.
Schliesslich erstreckt sich noch über diesen Vorortebereich hinaus ein letzter bäuerlicher Siedlungsring, mit bebautem Land und kleinen Dörfern.
Man schätzt, dass die Gesamtbevölkerung dieses »GrossCusco« ungefähr 300 000 Einwohner umfasste, die wie folgt verteilt wohnten:
— Kerngebiet: 15 000 bis 20 000 Einwohner — periphere Viertel: 50 000 und mehr — Vororte: 50 000 bis 110 000
— Landgebiete: 110 000 und mehr.
Trotz der unvermeidlichen Zerstörungen infolge des zunehmenden Wachstums der Stadt findet man die Überreste zahlreicher Gebäude dieser Reichshauptstadt, oftmals überbaut durch die Architektur der Kolonialherren. In den meisten Fällen handelt es sich um die Unterbauten höherer Gebäude, an die sich die Kolonialbauten anklammern. Man muss daher woanders nach einem unverfälschten Bild dieser InkaArchitektur suchen.
Das Tal von VilcanotaUrubamba, ',Heiliges Tal«, in der Nähe von Cusco, wurde von den Inka sehr schnell einverleibt, da diese sein günstiges Klima infolge der geringen Höhenlage schätzten.
Sie errichteten imponierende Kulturterrassen, indem sie die am günstigsten exponierten Hänge ausnützten. Ausserdem erbauten die regierenden Inka weitere Residenzen für ihre Panacjas, die Verwandten des InkaHerrschers, die die besondere Aufgabe hatten, nach seinem Tod seine Erinnerung zu ehren. Die Anlagen von Pisac und Huchuy Cusco (auch Xaqui Xahuana genannt) sind die wichtigsten Beispiele für solche Einrichtungen, an denen sich die Inka ansiedelten und richtige Wohn und Ackerbaukomplexe gründeten. Die Gesamtzahl der in jeder dieser Anlagen erbauten Häuser ist relativ gering, was zu der Annahme führt, dass es sich hier wohl um besondere Einrichtungen handelt, die man nicht mit den herkömmlichen Dörfern vergleichen kann. Bei der Anlage Pisac sind vielleicht hundert Häuser in kleine Gruppen aufgeteilt errichtet worden, in Huchuy Cusco, das die »Residenz« der Panaqa des Herrschers Viracocha war, sind es noch weniger. In der selben Gegend befinden sich viele kleine ländliche Dörfer, die sich von diesen im weitesten Sinn »staatlichen« Einrichtungen sehr wohl unterscheiden.
Einige Dutzend Kilometer talabwärts, am Eingang einer Region, die den Übergang zwischen der Sierra und der Ceja de Montana bildet, schliesst die Anlage von Ollantaytambo des »Heilige Tal« ab.
Der untere Teil der Anlage umfasst eine Gruppierung, die oft als das Stadtmodell der Inka betrachtet wird. Sie besteht aus einigen nebeneinander liegenden Canchas und nimmt eine weite viereckige, ebene Fläche an den Ufern des Flusses ein. Darüber bezeugt eine eindrucksvolle Festung, die sicher einige religiöse Bauten enthält, die strategische Bedeutung, die die Inka diesem Ort beimassen, der den unteren Zugang zum Tal beherrscht.
Hinter Ollantaytambo wird das heilige Tal enger, und der Fluss nimmt den Charakter eines Wildbaches an. Auch die Sierra veränderte sich allmählich und verschwindet vor der Piemontfläche Amazoniens. Hier in diesem Gebiet der Ceja de Montana, was wörtlich »Augenbraue des Waldes« bedeutet, gründeten die Inka eine Art »Ostmark« mit Doppelfunktion. Sie mussten zuallererst den oberen Teil des Tales und das eigentliche Gebiet um Cusco vor möglichen Einfällen nicht unterworfener Waldvölker schützen. Überdies bot ihnen diese Region, die wärmer war und tiefer lag, die Möglichkeit zur Kultivierung verschiedener »tropischer« Pflanzen, die sehr geschätzt waren, sich in der Höhe aber nicht akklimatisieren konnten. Sie schufen hier ein Netz von Städten und Dörfern, darunter das berühmteste von allen, Machu Picchu.
Ollantaytambo:Die Gesamtansicht des Dorfes stammt noch aus der InkaZeit.
Nach fast vier Jahrhunderten der Vergessenheit wurden diese Stadt und die umliegenden Dörfer, die die Kolonialisationsfront bildeten, 1911 entdeckt. Sie zeigt einen etwas anderen Aspekt der InkaArchitektur, der an die Bedingungen von Natur und Umgebung angepasst ist. Man erkennt den »imperialen« Stil, aber er findet sich in einer ungewohnten, üppigen, von der Feuchtigkeit und der Wärme begünstigten Pflanzenwelt.
Einige Details verraten diese Anpassung an das regnerische und warme Klima, wie die steileren Giebel oder die grössere Anzahl der Öffnungen, anders als in der Sierra. Diese Anlagen, denen die Natur einen geheimnisvollen und zugleich grandiosen Anblick verleiht, zeigen auf vollkommene Weise, mit welcher Genialität die InkaBauherren in einer bestimmten Region auch mit schwierigen Bedingungen fertig wurden.
Die Ausdehnung der eroberten Gebiete bewog die Inka sehr schnell, einen Teil der in Cusco, der Hauptstadt, konzentrierten Macht zu dezentralisieren und regionale Verwaltungszentren zu schaffen, von denen aus die neuen, dem Reich einverleibten Provinzen leichter regiert werden konnten. Solche Verwaltungszentren entstanden oft aus bereits existierenden Städten, noch häufiger aber wurden sie von den Inka sowohl in der Sierra als auch an der Küste im ganzen errichtet.
Kurz vor der Eroberung durch die Spanier entwickelte sich aus diesen Zentren Tumibamba im Norden des Reiches sogar zum zweiten Sitz der Reichsmacht. Vilcashuaman, Jauja, Cajamarca, Huaytara und Huänuco Viejo in den peruanischen Anden und Tambo Colorado an der Küste waren die wichtigsten Zentren, ebenso wie Incallacta in Bolivien. Einige davon sind aussergewöhnlich gut erhalten. Das Zentrum von Huänuco Viejo, eines der am meisten erforschten, kann als Beispiel für die Architektur in den Verwaltungszentren der Inka gelten.
Diese regionalen Metropolen stellen ein theoretisches Modell dar, das die Gegenwart des Inka verkörpert, selbstverständlich mit lokalen Abweichungen, die sich aus der Anpassung der Architektur an das natürliche Milieu ergeben. Im Zentrum stehen die »offiziellen« Gebäude der Macht und der Verehrung, die die eroberten Völker respektieren mussten, auch wenn ihr eigener Stand und ihr eigener Glauben im allgemeinen von den Inka toleriert wurde.
Ollantaytambo: Bau aus Monolithen
Um diese mit grosser Sorgfalt nach Art der schönsten Häuser in Cusco errichteten Bauten sind die Wohnungen der mit der Verwaltung der Region betrauten »Funktionäre« angeordnet. Hier findet man auch die Werkstätten, in denen die in jeder Region produzierten Rohmaterialien in Fertigprodukte umgewandelt wurden (zum Beispiel Stofftücher, die bei den Inka sehr stark in Gebrauch waren, als Gewänder oder auch als Ehrengeschenke oder als Opfergaben für die Götter ihres Pantheons).
Machu Picchu: Der Tempel mit den drei Fenstern.Mit Ausnahme der Türen findet man in Inkabauten nur sehr selten Öffnungen.
Der übrige Bereich dieser Zentren wird von den Quartieren der Garnison eingenommen, die die militärische Kontrolle ausübt, sowie von Lagerhäusern für die Zwischenlagerung der verschiedenen regionalen Produkte. Die Inka verfügten somit über wichtige Kontrollpunkte, die entlang der Verbindungsstrassen aufgeteilt waren.
Zwischen diesen grossen regionalen Verwaltungszentren übernahmen kleine Kontrollposten, Tambos, an denen auch Garnisonen stationiert waren, die Bewachung der Strasse und dienten zugleich als Zwischenrelaisstationen. Konvois und durchziehende Truppen machten hier Station, ebenso die Chasquis, die Boten, die die Verbindung zwischen Cusco und den regionalen Hauptstädten aufrecht erhielten. In einigen Regionen des Reiches, die schwierig zu erobern und zu kontrollieren waren, findet man auch Festungen, Pukaras genannt. Es sind dies militärische Bauwerke in strategischer Anordnung und von Verteidigungsmauern geschützt, in denen die Soldaten des Inka stationiert waren. Oft überragten sie Talgründe und ermöglichten so die Überwachung von Truppenverlegungen.
Pisac: Das Heilige Viertel mit dem Intihuatana der Stein, an dem die Sonne angehängt wird), der auch als Opferstein diente
Die Bauten der Inka entsprechen ganz gewiss den häufigsten Anforderungen an die Architektur: Wohnen, Verteidigen oder, noch häufiger, Festlegung eines heiligen, den Göttern geweihten Ortes. Wenn man aber die Meisterwerke dieser Architektur betrachtet, so spürt man, was sie eigentlich bewirken sollte: Respekt und Bewunderung für einen mächtigen Staat einflössen, der dachte, unzerstörbare Häuser als Kennzeichen seiner Herrschaft errichten zu können.
Donnerstag, 6. März 2014
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