Sonntag, 22. Mai 2016

Puszta, Ungarn


Puszta, Ungarn

Author D. Selzer-McKenzie

Youtube-Video: https://youtu.be/BG5rAZgMLcI

In der Puszta ist die uralte Hirtenkultur nach wie vor lebendig. Dort gibt es noch

Ur-Auerochsen und die weltweit größte Herde der seltenen Przewalski-Wildpferde.

 

4         Der Fahrtwind bläst wie ein heißer Fön über die Haut, während der Jeep durch die Steppe rumpelt. Die Puszta ist erbarmungslos. Kein Baum, kein Busch in Sicht. Dafür stehen am Himmel unschuldige Schäfchenwolken wie Wattebäusche. Je länger man zum Horizont schaut, desto mehr und mehr verschwimmt er. Irgendwann meint man, dort Bäume ohne Stämme in der Luft schweben zu sehen. Das Phänomen der Fata Morgana ist sogar in man-chen Karten eingezeichnet.

Mutter von tierischen Waisen

„Dort hinten grasen sie", ruft Biologin Kristin Brabender und zeigt auf eine Reihe schwarzer Flecken im hellen Gras. „Das sind rückgezüch-tete Auerochsen." Jeder einzelne mit einem Hals so dick wie fünf Männeroberschenkel und der Kraft einer Fußballmannschaft. Vor einiger Zeit hatte Kristin so ein Exemplar noch in ihrer Ga-rage beherbergt. „Als ,Tihamer` anfing, von in-nen gegen die Tür zu donnern und sie nicht mehr hielt, war es Zeit für einen Umzug in die Wildnis", erklärt die Deutsche und lacht. Sie ist

 

Mutter einer Reihe verwaister Jungtiere: von aus dem Nest gefallenen Storchenkindern, Stein-käuzen und zwei verlassenen Rehkitzen.

Kristin Brabenders Herz schlägt besonders für die seltenen Przewalski-Pferde, die in unmittel-barer Nachbarschaft zu den Ur-Stieren grasen.

Sie hat ihre Diplomarbeit über die Wildpferde geschrieben und war überglücklich, als man ihr gleich nach dem Studium die Leitung des Wild-tierparks Hortobägy und des Wildpferd-Reser-vats Pentezug anbot. Man könnte die Pferde mit ihrem gedrungenen Körperbau und der Iroke-senmähne fast für Zebras halten, denn nur die Streifen fehlen. Einst besiedelten sie die gesamte eurasische Steppe.

Das Reservat Pentezug umfasst nur einen klei-

 

nen Landstrich in der Puszta - Europas größter natürlicher, zusammenhängender Grasheide. Ein weiterer Teil ist durch Ungarns ältesten Na-tionalpark Hortobägy geschützt. Trotzdem wird hier wie seit Jahrhunderten Tierhaltung betrie-ben, denn die Hirten haben eine ganz eigene

Kultur entwickelt, die bis heute lebendig und ein Weltkulturerbe ist.

Die ungarische Pferderasse Nonius wird im Ge-stüt Mäta seit 300 Jahren gezüchtet und gehört zur Puszta wie Paprika ins Gulasch. Hier starten im Sommer täglich Safaris in die Hirtenland-schaft. An diesem Nachmittag zuckelt nur eine einzige Kutsche hinaus in die Weite. Dort gra¬sen Zackelschafe mit gedrehten Hörnern und Wollschweine mit Fell. Eine Gruppe Büffel badet

in einem Sumpf, die anderen stehen unter dem Schatten des einzigen Baumes weit und breit. Dem Kutscher brennt die Sonne in den Nacken. Er lenkt sein Gefährt vorbei an einem Zieh¬brunnen, an reetgedeckten Ställen, deren Dä¬cher bis auf den Boden reichen, direkt vor eine Herde Graurinder. Die Tiere wirken wie aus der Zeit gefallen - mit weißem Fell und Hörnern, die denen der Auerochsen weit überlegen sind.

Tradition als Attraktion

Eine Fata Morgana später galoppieren drei Pfer¬dehirten herbei. Sie wedeln mit Kreiselpeitschen und zeigen den Besuchern ihre Kunststücke. Was oft als reine Touristenattraktion verstanden wird, ist eine alte Tradition, die auf die Zeit der Puszta-Räuber zurückgeht. Damals hat man die Pferde gelehrt, sich auf Befehl hinzulegen, damit

 

ken. Daraus entstand die noch heute übliche Re¬dewendung „Pfingstkönigreich" für etwas, das viel bringt, aber von begrenzter Dauer ist.

Pferdehirt Ernö Ticz fühlt sich gut vorbereitet. „Sanyi scheut zwar vor allem, was er nicht kennt, aber es wird schon klappen", hofft er und klopft dem Hengst auf den Hals. Ernö trägt die typische Tracht eines Pferdehirten. Neun Meter Stoff ste¬cken in der Pluderhose, drei Meter im Hemd. Der Umgang mit Tieren liegt Ernös Familie im Blut: Der Vater ist Rinderhirt, der Großvater war ein Husar. Seine Frau arbeitet in der Pferdezucht im Gestüt Mäta, auch sein Sohn will was mit Pferden machen - schließlich steht der „Csikö" in der Hirtenhierarchie an oberster Stelle. „Ganz unten sind die Schweinehirten, sie tragen die Hüte mit der breitesten Krempe", erzählt Tier¬pfleger Szabo Sändor, der sich im Tierpark um Schafe, Graurinder und weiße Wildesel küm-

 

unterwegs. „Langweilig war es nie. Jeden Tag entdeckt man etwas Neues in der Landschaft oder im Verhalten der Tiere."

Baby-Otter Luttra darf mit nach Hause

Wenn am Abend die Sonne langsam als glühen¬der Ball hinter den Horizont sinkt und endlich ein kühler Luftzug über die Steppe haucht, hat Tiermutter Kristin Feierabend. Das heißt, so richtig noch nicht. Erst muss sie noch den elf Monate alten Otter Luttra einfangen, der gerade einem Plastikspielzeug hinterherflitzt. Jeden Abend nimmt sie ihn mit nach Hause. Dort folgt er ihr wie ein kleines Kind auf Schritt und Tritt. „Er ist bei Hochwasser in den See gefallen und konnte sich gerade noch an einem Ast fest- sie von Weitem nicht gesehen werden. Dann stellte man sich auf deren Bauch und knallte mit der Peitsche, um die Tiere „schusssicher" zu ma¬chen. Die drei „Csikös" üben für die Pfingstfei-erlichkeiten. Mit Reitertagen und Hirtentreffen ziehen sie tausende Besucher an. Die höchste Dressur ist die „ungarische Post": Dabei galop¬piert ein Mann stehend auf einem Fünfer-Ge-spann. Früher durfte der Sieger ein Jahr lang kostenfrei in den Dorfschänken essen und trin-

 

Die Irokesenmähne lässt bei den Przewalski-Pferden rückschließen, ob die Tiere gesund sind.

mert. Szabo liebt die alten Traditionen. In seiner Tracht mit Kranichfeder am Hut sieht er aus wie aus einem Puszta-Bilderbuch. Sein struppiger Schnurrbart würde glattgestrichen bis zu den Ohrläppchen reichen. Regelmäßig streichelt er ihn in Form. Kürzlich hat er beim internationa¬len Schnurrbart-Wettbewerb den vierten Platz in der Kategorie „natürlich" gewonnen. Nun nen¬nen ihn alle „Mr. Hirtenschnurrbart". Als Kind war er oft mit seinem Vater, einem Rinderhirten,

 

Pferdehirten schwingen die Kreiselpeitsche. Neben der Tierhege beherrschen sie auch Kunststücke.

halten, als ihn Fischer mit ihrem Netz gerettet haben", erzählt Kristin und hebt ihn in den Arm. „Besonders gern spielt er mit meinen dre¬ckigen T-Shirts", sagt sie. Dennoch muss er sich langsam an Fischnahrung gewöhnen. Schlie߬lich muss Kristin ihn - auch wenn es schwer fällt - eines Tages wieder in die Wildnis entlas¬sen.


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