Puszta, Ungarn
Author D. Selzer-McKenzie
Youtube-Video: https://youtu.be/BG5rAZgMLcI
In der Puszta ist die uralte Hirtenkultur nach wie vor
lebendig. Dort gibt es noch
Ur-Auerochsen und die weltweit größte Herde der seltenen
Przewalski-Wildpferde.
4 Der Fahrtwind
bläst wie ein heißer Fön über die Haut, während der Jeep durch die Steppe
rumpelt. Die Puszta ist erbarmungslos. Kein Baum, kein Busch in Sicht. Dafür
stehen am Himmel unschuldige Schäfchenwolken wie Wattebäusche. Je länger man
zum Horizont schaut, desto mehr und mehr verschwimmt er. Irgendwann meint man,
dort Bäume ohne Stämme in der Luft schweben zu sehen. Das Phänomen der Fata
Morgana ist sogar in man-chen Karten eingezeichnet.
Mutter von tierischen Waisen
„Dort hinten grasen sie", ruft Biologin Kristin
Brabender und zeigt auf eine Reihe schwarzer Flecken im hellen Gras. „Das sind
rückgezüch-tete Auerochsen." Jeder einzelne mit einem Hals so dick wie
fünf Männeroberschenkel und der Kraft einer Fußballmannschaft. Vor einiger Zeit
hatte Kristin so ein Exemplar noch in ihrer Ga-rage beherbergt. „Als ,Tihamer`
anfing, von in-nen gegen die Tür zu donnern und sie nicht mehr hielt, war es
Zeit für einen Umzug in die Wildnis", erklärt die Deutsche und lacht. Sie
ist
Mutter einer Reihe verwaister Jungtiere: von aus dem Nest
gefallenen Storchenkindern, Stein-käuzen und zwei verlassenen Rehkitzen.
Kristin Brabenders Herz schlägt besonders für die seltenen
Przewalski-Pferde, die in unmittel-barer Nachbarschaft zu den Ur-Stieren
grasen.
Sie hat ihre Diplomarbeit über die Wildpferde geschrieben
und war überglücklich, als man ihr gleich nach dem Studium die Leitung des
Wild-tierparks Hortobägy und des Wildpferd-Reser-vats Pentezug anbot. Man
könnte die Pferde mit ihrem gedrungenen Körperbau und der Iroke-senmähne fast
für Zebras halten, denn nur die Streifen fehlen. Einst besiedelten sie die
gesamte eurasische Steppe.
Das Reservat Pentezug umfasst nur einen klei-
nen Landstrich in der Puszta - Europas größter natürlicher,
zusammenhängender Grasheide. Ein weiterer Teil ist durch Ungarns ältesten
Na-tionalpark Hortobägy geschützt. Trotzdem wird hier wie seit Jahrhunderten
Tierhaltung betrie-ben, denn die Hirten haben eine ganz eigene
Kultur entwickelt, die bis heute lebendig und ein
Weltkulturerbe ist.
Die ungarische Pferderasse Nonius wird im Ge-stüt Mäta seit
300 Jahren gezüchtet und gehört zur Puszta wie Paprika ins Gulasch. Hier
starten im Sommer täglich Safaris in die Hirtenland-schaft. An diesem
Nachmittag zuckelt nur eine einzige Kutsche hinaus in die Weite. Dort gra¬sen
Zackelschafe mit gedrehten Hörnern und Wollschweine mit Fell. Eine Gruppe
Büffel badet
in einem Sumpf, die anderen stehen unter dem Schatten des
einzigen Baumes weit und breit. Dem Kutscher brennt die Sonne in den Nacken. Er
lenkt sein Gefährt vorbei an einem Zieh¬brunnen, an reetgedeckten Ställen,
deren Dä¬cher bis auf den Boden reichen, direkt vor eine Herde Graurinder. Die
Tiere wirken wie aus der Zeit gefallen - mit weißem Fell und Hörnern, die denen
der Auerochsen weit überlegen sind.
Tradition als Attraktion
Eine Fata Morgana später galoppieren drei Pfer¬dehirten
herbei. Sie wedeln mit Kreiselpeitschen und zeigen den Besuchern ihre
Kunststücke. Was oft als reine Touristenattraktion verstanden wird, ist eine
alte Tradition, die auf die Zeit der Puszta-Räuber zurückgeht. Damals hat man
die Pferde gelehrt, sich auf Befehl hinzulegen, damit
ken. Daraus entstand die noch heute übliche Re¬dewendung
„Pfingstkönigreich" für etwas, das viel bringt, aber von begrenzter Dauer
ist.
Pferdehirt Ernö Ticz fühlt sich gut vorbereitet. „Sanyi
scheut zwar vor allem, was er nicht kennt, aber es wird schon klappen",
hofft er und klopft dem Hengst auf den Hals. Ernö trägt die typische Tracht
eines Pferdehirten. Neun Meter Stoff ste¬cken in der Pluderhose, drei Meter im
Hemd. Der Umgang mit Tieren liegt Ernös Familie im Blut: Der Vater ist
Rinderhirt, der Großvater war ein Husar. Seine Frau arbeitet in der Pferdezucht
im Gestüt Mäta, auch sein Sohn will was mit Pferden machen - schließlich steht
der „Csikö" in der Hirtenhierarchie an oberster Stelle. „Ganz unten sind
die Schweinehirten, sie tragen die Hüte mit der breitesten Krempe", erzählt
Tier¬pfleger Szabo Sändor, der sich im Tierpark um Schafe, Graurinder und weiße
Wildesel küm-
unterwegs. „Langweilig war es nie. Jeden Tag entdeckt man
etwas Neues in der Landschaft oder im Verhalten der Tiere."
Baby-Otter Luttra darf mit nach Hause
Wenn am Abend die Sonne langsam als glühen¬der Ball hinter
den Horizont sinkt und endlich ein kühler Luftzug über die Steppe haucht, hat
Tiermutter Kristin Feierabend. Das heißt, so richtig noch nicht. Erst muss sie
noch den elf Monate alten Otter Luttra einfangen, der gerade einem
Plastikspielzeug hinterherflitzt. Jeden Abend nimmt sie ihn mit nach Hause.
Dort folgt er ihr wie ein kleines Kind auf Schritt und Tritt. „Er ist bei
Hochwasser in den See gefallen und konnte sich gerade noch an einem Ast fest- sie
von Weitem nicht gesehen werden. Dann stellte man sich auf deren Bauch und
knallte mit der Peitsche, um die Tiere „schusssicher" zu ma¬chen. Die drei
„Csikös" üben für die Pfingstfei-erlichkeiten. Mit Reitertagen und
Hirtentreffen ziehen sie tausende Besucher an. Die höchste Dressur ist die
„ungarische Post": Dabei galop¬piert ein Mann stehend auf einem
Fünfer-Ge-spann. Früher durfte der Sieger ein Jahr lang kostenfrei in den
Dorfschänken essen und trin-
Die Irokesenmähne lässt bei den Przewalski-Pferden
rückschließen, ob die Tiere gesund sind.
mert. Szabo liebt die alten Traditionen. In seiner Tracht
mit Kranichfeder am Hut sieht er aus wie aus einem Puszta-Bilderbuch. Sein
struppiger Schnurrbart würde glattgestrichen bis zu den Ohrläppchen reichen.
Regelmäßig streichelt er ihn in Form. Kürzlich hat er beim internationa¬len
Schnurrbart-Wettbewerb den vierten Platz in der Kategorie „natürlich"
gewonnen. Nun nen¬nen ihn alle „Mr. Hirtenschnurrbart". Als Kind war er
oft mit seinem Vater, einem Rinderhirten,
Pferdehirten schwingen die Kreiselpeitsche. Neben der
Tierhege beherrschen sie auch Kunststücke.
halten, als ihn Fischer mit ihrem Netz gerettet haben",
erzählt Kristin und hebt ihn in den Arm. „Besonders gern spielt er mit meinen
dre¬ckigen T-Shirts", sagt sie. Dennoch muss er sich langsam an Fischnahrung
gewöhnen. Schlie߬lich muss Kristin ihn - auch wenn es schwer fällt - eines
Tages wieder in die Wildnis entlas¬sen.
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