Denisova Menschenart (ausgestorben)
Youtube: https://youtu.be/pq4o7NzAGys
Author D.
Selzer-McKenzie
Die Denisova-Menschen[1]
waren eine Population der Gattung Homo, die eng
verwandt ist mit den Neandertalern und wie diese den anatomisch modernen
Menschen (Homo sapiens) nahe steht, jedoch genetisch von
beiden Arten unterschieden werden kann. In der
englischsprachigen Fachliteratur werden sie Denisova hominins oder kurz Denisovans
genannt.
Johannes Krause und Svante
Pääbo vom Max-Planck-Institut
für evolutionäre Anthropologie in Leipzig gelang
es im Jahr 2010 zunächst, die DNA aus den Mitochondrien
(die mtDNA) eines Fingerknochens mit Hilfe der DNA-Sequenzierung
auszuwerten. Die Bekanntgabe der Ergebnisse dieser DNA-Analyse
sorgte für weltweites Aufsehen, da das Fossil als Beleg für eine bis dahin
unbekannte, den Neandertalern und den anatomisch modernen Menschen nahe
stehende Population der Gattung Homo interpretiert wurde. Einige Monate
später wurde auch die Analyse der DNA aus den Zellkernen des
Knochens publiziert; sie bestätigte die relative Eigenständigkeit der
Denisova-Population. Demnach hatte damals neben den bis dahin bekannten
Populationen des Neandertalers und des Homo
floresiensis noch eine dritte Gemeinschaft von entfernten (aber
eindeutig zur Gattung Homo gehörigen) Verwandten des anatomisch modernen
Menschen existiert. Am engsten verwandt sind die Denisova-Fossilien mit den
Neandertaler-Funden aus der Vindija-Höhle
und der Mesmaiskaja-Höhle.[2]
Auf die Zuordnung der Funde aus der Denisova-Höhle zu einer neuen Art oder zu
einer Unterart
wurde 2010 ausdrücklich verzichtet; 2011 wurden die Fossilien jedoch „einer
bisher unbekannten Art“[3]
zugeschrieben.
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Denisova-Menschen lebten bis vor 76.000–52.000 Jahren[4]
– während der Altsteinzeit – im Altai-Gebirge im
südlichen Sibirien
und vor rund 160.000 Jahren in Tibet. Sicher belegt ist die Existenz dieser Population bislang
nur durch wenige, kleine Fossilien aus der Denisova-Höhle: u. a. durch den Knochen eines kleinen
Fingers, durch zwei hintere Backenzähne und durch einen Unterkiefer
aus Tibet.
Die Ausgrabungen in der Denisova-Höhle (russisch
Денисова пещера – Denissowa peschtschera, eigentlich: „Höhle von Denis“) nahe
der Grenze zu Kasachstan wurden vom Naturkundemuseum von Nowosibirsk
durchgeführt[5]
unter der Leitung der beiden Archäologen
Michail
Schunkow und Anatoli Derewjanko von der Russischen Akademie der Wissenschaften.[6]
Die Höhle war seit den 1970er-Jahren intensiv erforscht worden, nachdem in ihr Steinwerkzeuge
im Moustérien-
und Levallois-Stil freigelegt worden waren, die
Neandertalern zugeschrieben wurden. Mehrere unterschiedlich alte Hinweise auf
eine Nutzung der Höhle durch vorzeitliche Menschen (Fundhorizonte) konnten gegeneinander
abgegrenzt werden.
Im Jahr 2000 legten Mitarbeiter der russischen
Forschergruppe den ersten Backenzahn frei, das Fossil Denisova 4; man
konnte ihn jedoch nicht mit Gewissheit einer bestimmten Homo-Art
zuordnen. Das 48.000 bis 30.000 Jahre alte Fingerglied
(das Fossil Denisova 3, ein Phalanx distalis), das vermutlich von einem
fünf- bis siebenjährigen Kind stammt, wurde 2008 entdeckt. 2011 gab die
Forschergruppe den Fund eines äußeren Zehengliedknochens
vom linken Fuß
bekannt, das 130.000 bis 90.900 Jahre[7]
alte Fossil Denisova 5[8],
das jedoch später als von einem Neandertaler stammend erkannt wurde.[9]
2015 schließlich erfolgte der Fund eines weiteren
Backenzahns, das Fossil Denisova 8.[10]
Im März 2017 wurden in Science
zusammengehörige Fragmente von zwei Schädelkalotten
aus Lingjing (灵井), Xuchang (许昌), Volksrepublik China, beschrieben, die 125.000
bis 105.000 Jahre alt und aufgrund ihrer Merkmale möglicherweise den
Denisova-Menschen zuzuordnen sind.[11][12]
Die Fundstelle ist seit 2008 international bekannt;[13]
die ersten, 2007 entdeckten Schädelfragmente wurden bislang in China als Xuchang-Mensch
bezeichnet.
Anfang 2019 wurden in der Fachzeitschrift Nature zwei
Studien mit Datierungen zur Besiedelung der Höhle auf Basis der optisch stimulierten Lumineszenz und einer
Variante der Massenspektrometrie (ZooMS) publiziert.[14][15]
Demnach sind die ältesten Belege für Denisova-Menschen mindestens 200.000 Jahre
alt. Das „Mischlingskind“ Denisova 11 ist der Analyse zufolge rund 100.000 Jahre
alt. Der jüngste Knochenfund (Denisova 14) ist zwar 46.300 ± 2600 Jahre alt,
seine Zuschreibung zu den Denisova-Menschen gilt allerdings nicht als
gesichert,[16]
so dass der jüngste Beleg für die Existenz der Denisova-Menschen 76.000–52.000
Jahre alt ist. Die Höhle war den Befunden zufolge nicht kontinuierlich, sondern
episodisch – insbesondere während der Zwischeneiszeiten
– besiedelt.
Der 2019 vorgestellte Unterkiefer aus Tibet ist rund 160.000
Jahre alt.[17]
Analyse der mtDNA
aus dem Fingerknochen
Johannes Krause, ein Experte für die Analyse von
Neandertaler-DNA, hatte aus 30 Milligramm pulverisierten Materials des
Fingerknochens genügend DNA aus Mitochondrien
gewonnen, um deren Bauplan (die Nukleotidsequenz
der mtDNA) vollständig rekonstruieren zu können.[18]
Danach wurde diese mtDNA-Sequenz mit jener von 54 heute lebenden Menschen (Homo
sapiens) verglichen, ferner mit der mtDNA-Sequenz eines jungpleistozänen
Menschen aus Kostjonki 14 am Don (Südrussland),[19]
mit den vollständigen mtDNA-Sequenzen von sechs Neandertalern sowie – als
sogenannte Außengruppe, weil bislang keine DNA von Homo
erectus / Homo heidelbergensis gewonnen werden
konnte – mit der mtDNA je eines Schimpansen und eines Bonobos. Während
sich Neandertaler und anatomisch moderne Menschen im Durchschnitt an 202 Nukleotid-Positionen
der mtDNA unterscheiden, ist die Anzahl der Abweichungen zwischen dem Fund aus
der Denisova-Höhle und dem anatomisch modernen Menschen mit 385 fast doppelt so
groß.
Aus dem Vergleich dieser Daten mit den Abweichungen zwischen
Mensch und Schimpansen (1462 Positionen) wurde abgeschätzt, dass sich die
Entwicklungslinien des Denisova-Menschen und des anatomisch modernen Menschen
bereits vor 1.314.000 bis 779.000 Jahren getrennt haben, während sich die
Entwicklungslinien von Homo sapiens und Neandertaler erst vor 618.000
bis 321.000 Jahren endgültig trennten. Daraus wurde geschlossen, dass es im
Altai vor rund 60.000 Jahren neben Homo sapiens und den Neandertalern
noch eine dritte, unabhängig von diesen beiden Arten dorthin eingewanderte
Population der Gattung Homo gegeben hat.
Wie zuverlässig die Datierung von verwandtschaftlichen
Verhältnissen allein anhand der mtDNA ist, ist jedoch umstritten, da die
Mitochondrien ohne Rekombination ausschließlich über die
Mutter vererbt werden. Sie sind daher in besonderem Maße zum Beispiel Gendrift und Genfluss
ausgesetzt, das heißt, es können in kurzer Zeit relativ viele Veränderungen
vorkommen;[2]
im Unterschied hierzu weist die Zellkern-DNA zehntausende Genloci auf,
die „evolutionsneutral“ sind
und sich daher weniger rasch (und weniger diskontinuierlich) verändern.
2019 gelang es, die mtDNA eines Knochenfragments zu gewinnen
und mit der mtDNA des Fossils Denisova 3 zu vergleichen, mit dem Ergebnis, dass
dieses Fragment als Denisova 3 zugehörig erkannt wurde. Eine virtuelle
Rekonstruktion ergab, dass dieser Fingerknochen demjenigen eines anatomisch
modernen Menschen sehr ähnlich ist, nicht aber demjenigen eines Neandertalers,
sodass den Bau des Fingers ein plesiomorphes
Merkmal zu sein scheint.[20]
Analyse der DNA aus
Zellkernen des Fingerknochens
Die Leipziger Forscher hatten bereits im März 2010
angekündigt, im Anschluss an die mtDNA auch die vollständige DNA aus Zellkernen
des Fossils zu sequenzieren.[21]
Fest stand seinerzeit bereits, dass das von den Leipziger Forschern inoffiziell
„X-Woman“ genannte und als „Mädchen“ beschriebene Fossil kein Y-Chromosom
besaß, also ein weibliches Kind war.[22]
Die gesamte Genomsequenz aus dem Zellkern der
Denisova-Menschen publizierte das Leipziger Forscherteam schließlich am 8.
Februar 2012 online und damit für jedermann frei zugänglich.[23]
Die Zellkern-DNA des Fingerknochens erwies sich dabei als ungewöhnlich gut
erhalten. Eine Verbesserung der Untersuchungstechnik hatte es möglich gemacht,
jede Base innerhalb des Denisova-Genoms dreißigmal zu sequenzieren. Die dafür
benötigte DNA wurde aus weniger als zehn Milligramm des Fingerknochens
gewonnen. Die jetzige Auflösung zeigt sogar jene Unterschiede zwischen
den Genkopien, die das Individuum von seiner Mutter beziehungsweise von seinem
Vater geerbt hatte.[24][25][26]
Verwandtschaft mit
den Neandertalern
Schon im Dezember 2010 war berichtet worden,[2]
die DNA-Unterschiede zwischen Neandertalern und Denisova-Menschen deuteten auf
eine endgültige Trennung beider Populationen vor 640.000 Jahren hin sowie auf
eine endgültige Trennung ihrer gemeinsamen Vorfahren von den Vorfahren des Homo
sapiens vor rund 800.000 Jahren. Diesen Daten zufolge sind die
Denisova-Menschen – deutlich abweichend von der Interpretation der
mtDNA-Befunde – enger mit den Neandertalern verwandt als mit dem anatomisch
modernen Menschen, dem Homo sapiens. Die Ergebnisse solcher Berechnungen
sind in Fachkreisen jedoch umstritten, denn für die exakte Ganggeschwindigkeit
der molekularen Uhr, also für die Häufigkeit von Mutationen in
vergangenen Epochen, gibt es nur Schätzwerte.[27]
Ein Vergleich der DNA von Neandertaler-Funden aus der Vindija-Höhle
und der Mesmaiskaja-Höhle ergab eine ungewöhnlich große
genetische Nähe beider Funde und einen relativ großen genetischen Abstand
beider Funde zum Denisova-Fossil. Daraus wurde zum einen geschlossen, dass
Neandertaler und Denisova-Menschen zwei über längere Zeit hinweg genetisch isolierte Populationen waren, dass
sie jedoch miteinander enger verwandt sind als mit Homo sapiens; zum
anderen, dass die Neandertaler nach der Trennung von den Vorfahren der
Denisova-Population durch einen genetischen Flaschenhals gegangen sind –
eine starke genetische Verarmung war zuvor bereits aus der Analyse der mtDNA
von Neandertalern abgeleitet worden, da deren genetische Variabilität wesentlich geringer
als die genetische Variabilität des anatomisch
modernen Menschen ist. Aufgrund dieser Besonderheiten wurde erstmals eine
vorzeitliche Population der Gattung Homo allein anhand
molekularbiologischer Daten von verwandten Populationen – in Analogie zu Neandertalern
auf Englisch als Denisovans bezeichnet – separiert.[28]
Die errechnete, langanhaltende genetische Isolation der
Neandertaler-Populationen von denen der Denisova-Menschen verhinderte jedoch
nicht, dass es vor mindestens 50.000 Jahren noch zur Zeugung von gemeinsamem Nachwuchs
kam. Dies zumindest geht aus einer Studie hervor, die 2018 publiziert wurde.[29]
Demnach gelang es, aus dem Fossil Denisova
11 – einem kleinen Fragment eines Röhrenknochens,
das 2012 in der Denisova-Höhle entdeckt worden war[30]
– DNA zu gewinnen und zu sequenzieren. Das Fossil gehörte zu einer vermutlich
mindestens 13 Jahre alten Jugendlichen, deren Mutter eine Neandertalerin und
deren Vater ein Denisovaner war. Weitere Analysen des Genoms ergaben, dass auch
der Vater der Frau wenigstens einen Neandertaler unter seinen Vorfahren hatte.
Die Forscher stellten ferner fest, dass die Mutter genetisch näher mit
Neandertalern verwandt war, die in Westeuropa lebten, als mit einem Neandertaler,
der zu einem früheren Zeitpunkt in der Denisova-Höhle gelebt hatte. Dies zeige,
dass die Neandertaler Zehntausende von Jahren vor ihrem Verschwinden zwischen
West- und Ost-Eurasien migrierten.[31]
Möglicherweise kam es in Asien zudem zu einer Verpaarung von
Neandertaler-Denisova-Mischlingen mit den aus Afrika zuwandernden Gruppen des Homo
sapiens.[32]
Genfluss zu Homo
sapiens
→ Hauptartikel: Genfluss archaischer
Menschen zu Homo sapiens
Bereits im Mai 2010 war eine Studie veröffentlicht worden,
die einen Genfluss von den Vindija-Neandertalern zu Homo sapiens
belegte.[33]
Daher wurde auch die genetische Distanz des Denisova-Fossils zu heute lebenden Ethnien
analysiert, wobei auf Daten von 938 Menschen aus 53 Populationen
zurückgegriffen wurde. Den Befunden zufolge steht das Denisova-Fossil den heute
lebenden europäischen, asiatischen und afrikanischen Menschen ferner als die
Neandertaler.[34]
Hingegen wurde eine signifikante Nähe zur DNA von Menschen aus Melanesien
(Papua und Bewohner von Bougainville)
festgestellt. Dies führte zur Aussage, dass das Genom der Melanesier
– wie das aller nicht-afrikanischer Menschen – zu 2,5 ± 0,6 Prozent von
Neandertalern stamme, dass zusätzlich aber weitere 4,8 ± 0,5 Prozent von
Denisova-Menschen beigesteuert wurden; zusammengerechnet wären dies laut Studie
7,4 ± 0,8 Prozent des Genoms der Melanesier, die von einer früheren Vermischung
mit archaischen Homininen stammen. Aus der rein regionalen Verbreitung der
Denisova-DNA wurde abgeleitet, dass es keine häufige Vermischung gegeben haben
kann.[35]
Im September 2011 wurden weitere genetische Befunde
publiziert, die nunmehr auf einem Vergleich der DNA von 33 heute lebenden
Populationen aus Asien und Ozeanien mit denen des Denisova-Fossils beruhten.[36]
Demnach konnten DNA-Spuren der Denisova-Menschen auch bei den Aborigines
in Australien, bei den Mamanwas auf den Philippinen
sowie im Osten von Indonesien nachgewiesen werden, nicht aber im Westen von
Indonesien und nicht bei den Onge auf den Andamanen, bei den Jehai in Malaysia und
bei Bevölkerungsgruppen in Ostasien. Die Autoren dieser Studie interpretierten den
Nachweis von Denisova-DNA in Ost-Indonesien, Australien, Papua-Neuguinea,
Fidschi und Polynesien
als Beleg dafür, dass die genetische Vermischung in Südostasien
stattgefunden habe, was bedeuten würde, dass die Denisova-Menschen ein Gebiet
zwischen Sibirien und den Tropen besiedelt hätten. Diese Deutung ist jedoch
umstritten, da frühe Wanderungen von Vorfahren der untersuchten Volksgruppen
nicht ausgeschlossen werden und die sexuellen Kontakte daher auch weiter
nördlich – im asiatischen Kernland – stattgefunden haben könnten.[37]
Eine weitergehende Analyse der Denisova-DNA ergab im Jahr
2012 unter anderem, dass Allele nachgewiesen werden konnten, „die bei heute lebenden
Menschen verbunden sind mit dunkler Haut, braunem Haar und braunen Augen“.
Ferner gelang es, Teile der von Vater und Mutter stammenden Erbanlagen getrennt
auszuwerten. Hieraus wurde auf ein sehr geringes Ausmaß von nur 0,022 % an
Heterozygotie
geschlossen; dies entspricht „annähernd 20 % des Wertes von heutigen Afrikanern,
rund 26 bis 33 % heutiger Eurasiern und 36 % bei den Karitiana, einer in Brasilien
lebenden indigenen Population mit extrem niedriger Heterozygotie“.[38][39]
Eine bei den Inuit
von Grönland
nachgewiesene Anpassung, die es ihnen ermöglicht, Fett besser zu verwerten und
leichter in Körperwärme umzuwandeln als dies den Menschen anderer heutiger
Populationen möglich ist, wurde 2016 als mögliche Introgression
interpretiert.[40]
Die Interpretation der Befunde aus Neandertaler-DNA als
Genfluss von Neandertalern zu Homo sapiens wurde 2012 allerdings anhand
von Modellrechnungen wiederholt kritisiert: Die größere Übereinstimmung des
Genoms der außer-afrikanischen Populationen von Homo sapiens mit dem
Genom der Neandertaler könne auch dadurch erklärt werden, dass zufälligerweise
eine Population des Homo sapiens Afrika verlassen habe, die noch eine
besonders große genetische Ähnlichkeit mit dem gemeinsamen Vorfahren der
anatomisch modernen Menschen und der Neandertaler hatte.[41][42][43]
Diese Einwände sind auf die Denisova-Menschen übertragbar.
Im Februar 2020 wurde eine Studie publiziert, der zufolge es
bereits vor 600.000 Jahren zum Genfluss von einer bislang nicht
identifizierten, archaischen Homo-Population zu den gemeinsamen
Vorfahren von Neandertalern und Denisova-Menschen gekommen ist, deren
genetische Marker heute – infolge von späteren Genfluss zu Homo sapiens
– auch beim anatomisch modernen Menschen nachweisbar sind.[44]
Morphologie und DNA
der Backenzähne
Der im Jahr 2000 entdeckte, fast vollständig erhaltene
Backenzahn (ein Molar M3 oder M2 aus dem linken Bereich eines Oberkiefers)
wurde 2010 aufgrund seiner mtDNA ebenfalls den Denisova-Menschen zugeordnet,
jedoch einem anderen Individuum als der Fingerknochen.[2]
Der Zahn ist außergewöhnlich groß, größer als die Backenzähne der Neandertaler
und des anatomisch modernen Menschen: mesiodistal (von vorn
nach hinten) 13,1 mm, bukkolingual 14,7 mm
(von außen nach innen; bei Homo sapiens: mesiodistal ca. 10–10,5 mm;
bukkolingual ca. 9,5–10 mm[45]).
Sollte es ein Molar M2 sein, wäre er ähnlich groß wie der entsprechende
Backenzahn von Homo erectus und Homo
habilis; sollte es ein Molar M3 sein, wäre er ähnlich groß wie der
entsprechende Backenzahn von Homo habilis oder Homo
rudolfensis und vergleichbar dem Molar M3 eines Australopithecus.
Ähnlichkeiten mit Zahnfunden mittelpleistozäner Homininen aus China bestehen
ebenfalls weder hinsichtlich der Größe noch der Form der Zahnkrone,
und selbst die 350.000 bis 600.000 Jahre alten Zähne aus der Sima de los Huesos in Spanien weisen „modernere“
Merkmale auf. Die Morphologie des Zahnfundes unterstützt somit
die aus der Analyse der mtDNA abgeleitete, relativ große genetische Distanz der
Denisova-Fossilien zu anderen ähnlich alten Populationen der Gattung Homo.
2015 wurde der Fund eines zweiten Backenzahns (Denisova 8)
bekannt gegeben und zugleich dessen Zellkern-DNA sowie seine mt-DNA mit den
jeweiligen Daten des zunächst entdeckten Zahns (Denisova 4) verglichen.[10]
Der Oberkieferzahn Denisova 8 ist ebenfalls recht groß, stammt aber aus
einer etwas tieferen Fundschicht als Denisova 4 und ist daher vermutlich
älter als der zunächst entdeckte Zahn; Denisova 8 ist den Daten zufolge
älter als 50.000 Jahre, Denisova 4 ist maximal 50.000 Jahre alt. Beide
Zähne unterscheiden sich deutlich von allen bekannten Neandertaler-Funden und
können künftig möglicherweise als Referenz für das Identifizieren von
Denisova-Fossilien aus anderen Fundstellen dienen.
Die Analyse der Zellkern-DNA von beiden Zähnen ergab eine
enge genetische Nähe zur DNA aus den Zellkernen des Fingerknochens und
bestätigte zudem die genetische Distanz der Fossilien zu den Neandertalern. Die
gleichen Befunde ergaben sich aus der Analyse der mt-DNA beider Zähne, sodass
nunmehr Belege für drei Individuen der Denisova-Menschen als gesichert gelten.
Zudem belegt der Altersunterschied der Zähne die Existenz der Population über
eine längere Zeitspanne.
Morphologie und DNA
des Zehenknochens
Zehenknochen des Neandertalers (Original)
Der 2011 erstmals beschriebene distale Zehenknochen
stammt entweder von der 4. oder von der 5. (der kleinen) Zehe eines erwachsenen
Individuums. Der Knochen ist auffallend lang und hat einen sehr kräftig
gebauten, sehr breiten Schaft; das Verhältnis von großer Breite zu
vergleichsweise geringer Höhe gleicht eher dem Verhältnis bei älteren pleistozänen
als bei modernen Vertretern der Gattung Homo und übertrifft die
entsprechenden Maße bei Neandertalern. Insgesamt wirken die Merkmale des
Knochens daher altertümlich, einige Merkmale liegen jedoch in der Spannweite
zwischen den Neandertalern und dem frühen modernen Menschen, heißt es in der
wissenschaftlichen Beschreibung des Knochens.[8]
Die größte Ähnlichkeit bestehe zum Neandertaler-Fossil Shanidar-4 und
zum Homo-sapiens-Fossil Tianyuan 1.
Bereits 2011 war darauf hingewiesen worden, dass erst eine
Analyse seines Genmaterials Klarheit über die stammesgeschichtliche Einordnung
des Knochens geben könne.[46]
2013 berichtete die Forschergruppe um Svante Pääbo, dass die DNA des Knochens
zu 60 Prozent der eines Neandertalers entspreche. Ferner sei die DNA der
jeweils homologen Chromosomen so weitgehend identisch, dass der ehemalige
Besitzer des Knochens vermutlich das Kind von Cousin und Cousine ersten Grades
war.[47][9]
Zugleich wurde aus den Daten geschlossen, dass 0,5 bis 8 % der DNA des
Denisova-Menschen vor rund 300.000 Jahren[48]
von einer bislang unbekannten Population der Gattung Homo ins
Denisova-Genom eingebracht wurde; diese Population habe sich vor mehr als 1
Million Jahre von den gemeinsamen Vorfahren der Neandertaler, der
Denisova-Menschen und der anatomisch modernen Menschen abgespaltet.[49]
Verbreitung
Das Verbreitungsgebiet der Denisova-Menschen ist aufgrund
der wenigen bisher bekannt gewordenen Funde ungeklärt. In der im Dezember 2010
publizierten Studie wird jedoch erwähnt, dass diese Population möglicherweise
„zu jener Zeit in großen Teilen von Ostasien
lebte, als die Neandertaler in Europa und im westlichen Asien anwesend waren“.
Diese Mutmaßung wurde zum einen aus dem Befund abgeleitet, dass es einen
Genfluss zu den Vorfahren der Melanesier gegeben habe, der sich jedoch
„wahrscheinlich nicht im südlichen Sibirien“ zugetragen habe. Zum anderen
spricht die – im Vergleich mit dem Neandertaler – höhere genetische
Variabilität für ein relativ großes Verbreitungsgebiet.[50]
Spurensuche in China
Bereits seit 2008 unterhält das Team von Svante
Pääbo in Peking
ein Labor, in dem nach Fossilien-DNA aus chinesischen Beständen gesucht wird.[51]
Als Ergebnis dieser deutsch-chinesischen Kooperation wurde Anfang 2013
berichtet, dass das – vergleichbar mit den Denisova-Funden – rund 40.000 Jahre
alte Homo-sapiens-Fossil Tianyuan 1
aus der Nähe von Peking keinen größeren Anteil an Neandertaler- oder
Denisova-DNA aufweise als die heute in Nordchina lebenden Menschen.[52]
Aus anderen Fundstücken konnte bislang (Stand: Frühjahr 2019) jedoch keine
weitere aDNA
nachgewiesen werden.[53]
Die Besiedelung Ostasiens durch diese Population reicht
möglicherweise zurück bis in die Zeit vor 300.000 Jahren.[8]
Im Juli 2011 bezeichneten es sowohl Chris
Stringer als auch Milford H. Wolpoff als möglich, dass einige in
China entdeckte Fossilien, die bislang weder eindeutig Homo erectus noch
den anatomisch modernen Menschen zugeordnet werden konnten, den
Denisova-Menschen zuzuschreiben seien; erwähnt wurden in diesem Zusammenhang
der Dali-Mensch
und der Jinniushan-Mensch.[54][55]
2012 wies Chris Stringer weitergehend darauf hin, dass neben den Funden aus
Dali und Jinniushan möglicherweise auch Funde aus Yunxian
sowie aus Narmada in Indien den
Denisova-Menschen zuzurechnen seien.[56]
Erstbesiedelung von
Tibet
Ein Vergleich der Denisova-DNA mit DNA-Proben heute lebender
Tibeter und Han-Chinesen
hatte 2014 Hinweise auf eine mögliche Introgression
von Denisova-DNA in die DNA der Tibeter und in wesentlich geringerem Maße in
die DNA der Han-Chinesen ergeben. Den Gen-Analysen zufolge wurde durch eine
Variante des Gens EPAS1, die identisch mit einer sonst nur bei den
Denisova-Menschen nachgewiesenen Variante sein soll, eine Anpassung der Tibeter bewirkt, die ihnen das
Atmen in großen Höhen erleichtert.[57]
Im Mai 2019 wurde in der Fachzeitschrift Nature
bekannt gegeben, dass ein bereits 1980 im Hochland von Tibet entdeckter, fossiler rechter
Unterkiefer mit zwei gut erhaltenen, sehr großen Molaren
M1 und M2[58]
und mehreren vorderen Zähnen ohne Kronen den
Denisova-Menschen zuzuschreiben ist.[17][59][60][61]
Hervorgehoben wurde, dass der Xiahe-Unterkiefer
sich von Homo erectus-Unterkiefern unterscheide, aber Ähnlichkeiten mit
den Xujiayao- und Xuchang-Fossilien
sowie dem Fossil Penghu 1 von den Penghu-Inseln
aufweise. Die Forscher äußerten in diesem Zusammenhang die Hoffnung, dass
künftig – aufgrund ihrer Ähnlichkeit zum Fund von Xiahe – weitere chinesische
Urmenschen-Fossilien dem Denisova-Menschen zugeordnet werden können.[59]
Zwar konnten keine DNA-Proben aus dem Fossil gewonnen werden, wohl aber gelang
es, Proteine aus Dentin
zu analysieren, deren Aufbau sich als ähnlich den Nachweisen aus der
Denisova-Höhles erwies und eindeutig von modernen Proteinen unterscheidbar war.
Das Ergebnis wurde von der Max-Planck-Gesellschaft, deren Experten den
Unterkiefer gemeinsam mit chinesischen Forschern untersucht hatten, wie folgt
kommentiert: „Unsere Proteinanalyse hat ergeben, dass der Xiahe-Unterkiefer zu
einer Population gehörte, die eng mit den Denisova-Menschen aus der
Denisova-Höhle verwandt war.“[62]
Die Uran-Thorium-Datierung der Kalkkrusten auf dem
Unterkiefer ergab ein Alter von annähernd 160.000 Jahren, was das Fossil zum
bisher ältesten bekannten Beleg für die Anwesenheit eines Vertreters der Hominini im
Hochland von Tibet macht. Es ist zugleich das erste hominine Fossil, dessen
Zugehörigkeit zu einer bestimmten Population einzig anhand einer
Protein-Bestimmung nachgewiesen wurde.[63]
Die Forscher interpretierten den Fund als Beleg dafür, dass Denisova-Menschen
das Hochland von Tibet im Mittelpleistozän besiedelt und sich dort erfolgreich
an die Sauerstoff-Mangelversorgung angepasst haben,
lange bevor die Region durch den anatomisch modernen Menschen besiedelt wurde.
Der Unterkiefer war 1980 von einem Mönch in der Baishiya-Höhle[64]
auf 3280 Meter Höhe in Ganjia, Xiahe (Provinz Gansu, Volksrepublik China) entdeckt und von diesem
dem 6. Gungthang Rinpoche des Klosters Labrang
übergeben worden, der ihn der Lanzhou-Universität in Lanzhou übergab.
Forscher der Lanzhou-Universität untersuchten das Fossil seit 2016 in
Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie.
Bei Ausgrabungen in der Höhle wurden zudem Steinwerkzeuge
und Tierknochen mit Schnittspuren geborgen.[65]
Genetische Spuren in
Ozeanien
Der Genfluss zu den Vorfahren der Melanesier und anderer
Populationen in Ozeanien ereignete sich vermutlich unabhängig von jenem in
Ostasien.[66][67]
Aufgrund von DNA-Fragmenten wurde sogar vermutet, dass zwei Linien der
Denisova-Menschen, die sich vor über 300.000 Jahren getrennt haben, Erbgut an
die Vorfahren der Papua weitergaben. Eine der beiden Denisova-Linien
unterscheide sich von der anderen so sehr, dass es sich bei ihr um eine
eigenständige Linie handeln könnte.[68][69]
Zudem legen die genetischen Spuren nahe, dass die Denisova-Menschen erst vor
etwa 30.000 Jahren ausgestorben sind.[69]
Genetische Spuren in
Spanien
Als „verblüffend“[70]
erwies sich Ende 2013 ein Befund aus einer Höhle (der Sima de los Huesos) im Norden von Spanien: Aus
einem anhand der molekularen Uhr auf ein Alter von rund 400.000 Jahre
geschätzten Oberschenkelknochen (Femur XIII) eines Homo heidelbergensis war es gelungen, mitochondriale DNA (mtDNA) zu gewinnen und zu sequenzieren.[71]
Diese mtDNA weist ein hohes Maß an Gemeinsamkeiten mit der mtDNA der
Denisova-Menschen auf, woraus geschlossen wurde, dass die Population, zu
welcher der ehemalige Besitzer des Knochens gehörte, 300.000 Jahre zuvor
gemeinsame Vorfahren mit den Denisova-Menschen hatte. Der Leiter der
mtDNA-Studie, Matthias Meyer, vermutete daher, dass die spanische Population
des Homo heidelbergensis eine Vorfahren-Population besaß, „aus der
später sowohl die Neandertaler als auch die Denisova-Menschen hervorgegangen
sind“.[72]
Chris
Stringer verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass die von spanischen
Forschern als Homo antecessor bezeichneten Fossilien als
mögliche Kandidaten für diese Vorfahren-Population infrage kommen könnten.[70]
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