Dublin Ireland Reise Travel SelMcKenzie Selzer-McKenzie
Ein Reisebericht von D.Selzer-McKenzie
In Dublin gibt es Ecken, in denen die Zeit die Luft anzuhalten scheint. Und das schon seit Jahrhunderten. Die Kirchen und die Universität sehen aus, als käme gleich Jonathan Swift um die Ecke. Das Miteinander von Gestern und Heute macht Irlands Hauptstadt so besonders.
Vielleicht kann man diese Stadt ja tatsächlich
nur verstehen, wenn man für einen Augenblick in
der Zeit zurückgeht. Nicht bis in die Epoche der
Wikinger, die Dublin einst gegründet haben, und
auch nicht zu den Normannen oder den
Engländern — bloß bis ins Jahr 1988. Damals
feierte Irlands Hauptstadt ihren 1000. Ge
burtstag. Ein Millennium: Anderswo auf
der Welt hätten die Vorbereitungen für so
ein Ereignis schon Jahre zuvor begon
nen. In Dublin aber plante
man — nichts. Als das gro
ße Jubiläumsjahr dann
unversehens da war,
hängte man schnell
ein paar Fahnen auf
und beeilte sich,
die ein oder an
dere Sonderaus
stellung fertig
zu bekommen.
Aber sonst pas
sierte all das,
was auch
sonst hier passiert, jeden Tag in dieser stolzen Stadt — mehr nicht.
Morgens taucht die Sonne für kurze Zeit alles in Gold, bevor gegen Mittag dann meist die ersten Regenwolken aufziehen. Doppeldeckerbusse stehen geduldig im Stau, hinten am Horizont sieht die ele-gante Samuel Beckett Bridge aus wie ein Schiff, das Segel setzt. Die Obstverkäuferinnen auf dem Moore Street Market begrüßen jeden Kunden wahlweise mit „my dear" oder „my love".
Mittags ein Sandwich
Auf dem Rasen des Trinity College büffeln Studenten für ihre Prüfungen, drüben am Merrion Square präsentieren die Touristenführer im schnellen Stakkato die literarischen Größen der Stadt, „YeatsShaw-O'Casey Beckett¬Swift WildeStoker-Behan!" Die Liffey fließt träge, über ihr malen die Möwen perfekte Achten in den Himmel. Mittags essen die Dubliner ihr Sandwich auf einer Bank in St. Stephen's Green. Anschließend trifft
In der Grafton Street
spielt ein Straßen
musiker Gitarre.
man sie im Pub, wo sie über das Leben an sich sin¬nieren und über den Lauf der Zeit. Was sind schon 1000 Jahre? Was ist schon ein Tag? Und was bitte- schön ist überhaupt so wichtig an der Zeit? Von der habe der Herrgott nun wirklich genug gemacht, weiß man in Dublin.
Vielleicht wird man so, wenn man in einer Stadt aufwächst und lebt und alt wird, von der eine Aura der Zeitlosigkeit ausgeht. Dublin ist Dublin ist Dublin, und die 23 Jahre zwischen nonchalant ig¬norierter Millenniumsfeier und Gegenwart haben nicht wirklich etwas geändert. Es gibt Ecken in Dublin, in denen man den Eindruck hat, die Zeit halte die Luft an — und das schon seit ein paar Jahr- Oh hunderten. Dublins Kirchen atmen Geschichte, sei- diE ne Universität sieht aus, als käme gleich Jonathan Swift mit Perücke und dal Gehrock aus der Tür, und manch-kor mal fühlt man sich, als sei man irger eine andere Ära hineingelaufen.
Vor allem in der AbenddämmeruniA 1, kann einem das passieren, in je. nen Stunden, in denen DublilEs
sich verwandelt, langsam iwon ;o ung )ion >ilds teste ius, elci ann atio: mir indn prurt Ache int G
lerbe
Ausschank in der
der Zeit zurückrutscht. Dann werden Straßen wie die Fishamble Street zu einem Ort, auf dem die Jahrhunderte übereinandergeschichtet sind wie die Häute einer Zwiebel. Man ahnt, dass in dieser Stadt nichts wirklich verloren geht, jedenfalls nicht, so¬lange ihre Türme und Mauern Wache stehen. Dann ist es, als schere sich die Zeit hier einen Teufel um lineare Vorschriften. Als habe sie kleine Parallel¬universen eröffnet, aus denen die Epochen hinaus- und ineinandersickern. Und dann schlendert man zwei, drei Ecken weiter und entdeckt postmodern de¬signte Bars und Restaurants, Läden mit avantgar¬distischer Inneneinrichtung oder ein Caf6, in dem Nachwuchsliteraten vor ihren Laptops sitzen und am künftigen Ruhm arbeiten. Mal ganz abgesehen ten Räumen, in denen man in kleinen Nischen und Abteilen sitzen kann, die durch Glas- und Holz¬wände voneinander abgetrennt sind. In Hongkong oder Miami oder Recklinghausen ist der Irish Pub ja längst zur Partyzone verkommen, in der lausige Alleinunterhalter „Take me home, country roads" und ähnlichen Unfug schrammeln — zu Hause in Irland aber ist er den größten Teil des Tages noch das, was er schon immer war: ein Rückzugsort vor dem Unbill des Alltags. Eine Höhle, eine Insel. Eine Heimat auf Zeit für Virtuosen der Ziellosigkeit, philosophierende Melancholiker und Heilige Trin¬ker, die ihr Guinness hinunterstürzen wie ein Stück Traurigkeit. Nach Geschäftsschluss kommen dann die Ausgelassenen, die Partypeople, die sich den
glitzert, die See funkelt, und man hat das Gefühl, als habe einem soeben ein großer Zeigefinger auf die Schulter getippt, ganz leicht, ganz sanft. Manchmal ist es, als habe Irland auf einen gewartet.
Sitz der Hochkönige
Der berühmteste Ort des Landes, der Hill of Tara, war bis ins 11. Jahrhundert hinein Sitz der Hochkönige, spirituelles Zentrum, Nabel der irisch-keltischen Welt. Der Platz hat eine eigentümliche Ausstrah¬lung. Man kann über die Wiesen auf eine kleine Anhöhe laufen, während um einen herum die Krä¬hen krächzen, und dann steht man da, sieht zu, wie der Wind in langen Schüben über das Gras streicht,
Die Häuserfassaden spiegeln sich im glatten Wasser. Denn auch In den Pubs ziehen sich die Iren zurück und er- Abends kommen die jungen Leute in die
die Liffey hat die Ruhe weg und fließt träge durch Dublin dahin. holen sich vom Unbill des Alltags. Pubs und plaudern über Gott und die Welt.
davon, dass man sich hier selbst ziemlich alt vor-kommen kann: Über die Hälfte der Dubliner ist jün-ger als 30. Ein Drittel ist zwischen 20 und Mitte 30.
Alt und Jung in Harmonie
Es ist dieses absolut selbstverständliche Miteinander von Vergangenheit und Gegenwart, das diese Stadt so besonders macht. Das Harmonisieren von Alt und Jung, von 400-jährigen Wirtshäusern mit Cham¬pions-League-Übertragungen auf gewaltigen Flach¬bildschirmen, von altehrwürdigen Bibliotheken und gestern eröffneten Clubs. Manchmal sieht Dublin so aus, als reibe es sich die Augen und frage sich, in welcher Epoche es denn gerade gelandet sei. Und dann fährt man zehn Minuten später am neuen National Convention Centre mit seinen tollkühn il¬luminierten Glasfassaden vorbei und hat den Eindruck, Irlands Hauptstadt befinde sich auf dem Sprung in einen Science Fiction-Roman.
Solche Dinge bespricht man am besten bei einem Pint Guinness, dem Lebenselixier Dublins. Und am allerbesten in einem Pub wie dem O'Donoghue's in der Merrion Row, einem Labyrinth aus verschachtel
Bürofrust von der Seele reden wollen oder den Ärger über die jüngsten Sparmaßnahmen der Regierung. Und noch später all jene, denen überhaupt die gro¬ße Last der Welt auf den Schultern liegt. Die allein in der Ecke sitzen, Whiskey zum Guirmess trinken und über den Rand eines großen, frischen Kummers in die Leere blicken. Ganz am Ende kommt ein Musiker und singt. Mehr für sich als für die Handvoll anderer Gäste, die noch da sind.
Am nächsten Tag im Cabrio fegt der Wind die Reste der Nacht aus dem Kopf bis auf eine Handvoll Melodien, die sich irgendwie festgeklammert haben und partout nicht loslassen wollen.
Dublin liegt am Meer, das vergisst man ja gerne. In weniger als einer halben Stunde ist man weit weg von der Stadt an der Küste. Zwischen Arklow und Wicklow gibt es die schönsten Strände des irischen Südwestens, lange, fein ziselierte Sicheln, über die man Richtung Horizont schlendern und Muscheln suchen kann. Nach einem Sturm findet man oft er-staunlich große, solche, in denen man das Meer hö-ren kann, wenn das Meer nebenan nicht allzu un-gestüm auf den Sand rauscht. Irgendwann fräst sich die Sonne einen Spalt in den Himmel. Der Strand
und spürt die Macht der Vergangenheit. Man ver-sucht, seine Gefühle in Worte zu fassen, aber irgend-wie funktioniert das nicht. Also lässt man es bleiben und schlendert zu seinem Cabrio zurück.
Auf dem Weg retour in die Stadt denkt man an kel-tische Druiden, Wikingerschiffe und normannische Eroberer. Und die Epochen ziehen einem so schnell durch den Kopf wie die Landschaft draußen vorbei. Irgendwann beschließt man, es wie die Dubliner zu machen: Die kümmern sich auch nicht um die Zeit. Die sind im Hier und Jetzt zuhause. In der Hotel-garage gibt es einen Stellplatz. Und ein paar Schritte weiter mit Sicherheit einen Pub.
Widersprüchliche Funde
Übrigens hätte Dublin sein Millennium gar nicht zwingend 1988 feiern müssen: Es gibt so viele wider-sprüchliche archäologische Funde, dass man den 1000. Geburtstag der Stadt auch schon 1972 hätte begehen können. Oder auch erst 2018, auch für die-ses Datum gibt es entsprechende Belege. Vielleicht versuchen sie es ja noch einmal. Und packen die Zeit am Schlafittchen, dieses eine Mal
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