HongKong China Reise Travel SelMcKenzie Selzer-McKenzie
HongKong China Reise Travel SelMcKenzie Selzer-McKenzie
Ein Reisebericht von D.Selzer-McKenzie
Hongkong trägt ein unübersehbares Etikett. „Zukunft" steht darauf. Daran hat auch die
Übergabe der Stadt an China nichts geändert. Die Metropole wird immer größer und wächst höher und höher. Und die Hongkonger wohnen gern in ihren Wolkenkratzern.
Da stehen wir nun und können nicht anders. Die chinesische Orchestermusik aus dem Rekorder quengelt feierlich, die Lehrerin blickt streng, ihre beiden Assistenten demonstrieren die nächste Bewe¬gungsfolge — und niemand von uns schaut auch nur hin. 20 Minuten im Tai-Chi-Kurs am ersten Morgen in Hongkong, gerade erst zwei Figuren ge¬lernt, „Nadel vom Meeresgrund aufheben" und „Weißer Kranich schlägt mit den Flügeln", und alle Aufmerksamkeit ist weg, wusch, aus, Ende, vorbei. Aber warum? Weil jetzt jeder da hinüberschaut. Weil da drüben, hinter der Promenade mit den Tai-Chi¬Lehrern und hinter dem Hafenbecken mit den Schiffen und Fähren und Dampfern — weil da soeben die Sonne aufgeht. Das heißt: Eigentlich macht sie das ein Stück weiter links, die Sonne —ihre Strahlen aber schleudert sie geradewegs auf die
zweitberühmteste Skyline der Welt. Zu Beginn unse¬res Crashkurses, den das Hongkong Tourism Board allen Besuchern kostenlos anbietet, damit der Jetlag nicht ganz so schlimm ausfällt, sahen die Wolken¬kratzer im opalen Morgenlicht noch aus, als hätte sie jemand in einen Pyjama aus grauem, zerknitter¬tem Stanniol gewickelt. Jetzt aber leuchten sie wie früher in der Reklame jener Zigarettenfirma, bei der immer alles golden war. Sogar die gestrenge Lehrerin schaut plötzlich milder.
Magische Momente
Jede Stadt hat ja ihre unwiderstehlichen Momente, in denen sie ihre Besucher packt. Darm hält sie die Zeit kurz fest und raunt so etwas wie: „Hey, hier bin ich — schau mal her!" Und das sind dann jene
Sekunden, in denen man alles stehen und liegen lässt. Um zu sehen, zu hören, zu fühlen, zu schme-cken und zu staunen. Dieser Sonnenaufgang am ersten Tag war so ein Moment: Als werde Hongkong genau an diesem Morgen zum ersten Mal über¬haupt geweckt, und zwar nur für uns. Als werde es frisch ausgepackt aus Hafendunst und Morgen¬nebel, ein bisschen gewienert und anschließend zur weiteren Verwendung zur Verfügung gestellt. Dann hupten im Victoria Harbor die Schiffe und irgendwo knatterte ein Presslufthammer. Und wir widmeten uns der nächsten Tai-Chi-Figur: „Den Schwanz des Vogels erhaschen".
Achja, Hongkong: So alt und vertraut — und trotz
dem immer noch so neu und überraschend. Das
Schöne an der — Achtung: Special Administrative
Region, „Kronkolonie" darf man nicht mehr sagen! — ist, dass man sie jedes Mal neu entde¬cken kann. Natürlich hat jeder von uns diese „Unbedingt!"-Liste im geistigen Handgepäck, die bei jedem Besuch erledigt werden will: hinauf auf den Peak, den Hausberg mit seinem umwerfenden Panorama. Und auf die Star Ferry, für die beste Fährfahrt der Welt, zwischen Hong Kong Island und Kowloon auf dem Festland. Mittags irgendwo Dim Sum probieren und auf der Rolltreppe fahren, die das Erkunden der steil am Berg liegenden Stadt¬viertel ziemlich bequem macht. Durch die Kunst¬galerien an der Hollywood Road bummeln und Räucherstäbchen im Man Mo Tempel anzünden. Auf dem Temple Street Market Souvenirs shoppen und in den hippen Cafes und Lounges sitzen und zusehen, wie die Zeit und die Models vorübergehen — alles ein Muss. Dann abends zum Essen und an¬schließend auf einen Drink ins von Phillippe Starck designte „Felix" — man glaubt gar nicht, was alles reinpasst in so einen Tag.
Hongkong boomt
Das ist natürlich Hongkong — und doch nicht Hong¬kong. Die Stadt hat viel mehr Aspekte, unbekannte, übersehene und neue. Wer gedacht hat, nach der Übergabe an China wäre hier alles in einen kollek¬tiven Halbdämmer gefallen, hat sich getäuscht. Hongkong boomt, Hongkong baut, Hongkong wird größer und wächst immer höher, als wolle es alle Rekordmeldungen von der Großbaustelle Shanghai überbieten. Der „Duftende Hafen" (das ist die Über¬setzung des Namens) gehörte schon immer zu jener Handvoll Metropolen, an denen ein unübersehbares Etikett mit der Aufschrift „Zukunft!" pappte.
Die kühnsten Architekten, die verwegensten De-signer, die „Blade Runner"-Visionäre und Städte¬bau-Futuristen: Wo wirkten die? Richtig. Und wo ar¬beiten die gerade? Auch richtig. Lord Norman Foster zum Beispiel will Kowloons Waterfront umbauen —und das Resultat unter ein gewaltiges Glassegel set
zen. Wo Theater, Konzerthallen und Oper stehen sol-len, schwappte bis vor kurzem noch Wasser, aber auf die Landgewinnungserfolge der Hongkonger sind die Holländer ja schon länger neidisch. Und weil 90 Prozent aller Einwohner bestätigt haben, dass sie am liebsten in einem Wolkenkratzer wohnen oder wohnen würden, recken sich überall in den New Territories schlanke, überdimensionierte Bleistifte in Pastelltönen in den Himmel. Fast immer wachsen sie in Gruppen aus dem Boden: So lohnt sich dann gleich auch der Anschluss an das Bahnsystem.
Panoramablick aufs Meer
Jetzt muss man aber nicht glauben, es gäbe keine Natur mehr in der Sonderverwaltungsregion. 70 Prozent der Gesamtfläche Hongkongs sind Wald und Wiese, und 40 Prozent von diesen 70 Prozent sind Country Parks unter Naturschutz. Besucher aus Übersee wissen das nicht unbedingt und tauchen auf den Küstenpfaden dementsprechend sporadisch auf. Und weil der Hongkonger an sich natürlich ar-beiten muss, ist man unter der Woche hier draußen meist völlig allein. Auf Lantau zum Beispiel, wo alle zwar die Treppen zum Big Buddha erklimmen, aber anschließend niemand mehr Zeit für einen Spazier-gang mit Panoramablick aufs Meer zu haben scheint. Oder auf der Sai Kung Peninsula im Osten, einem Wunderland aus Wäldern, Buchten und Stränden. Allein die Fischrestaurants am Hafen des gleichnamigen Städtchens lohnen den Weg. Da sitzt man dann bei fangfrischem Lobster, schaut hinaus auf die Inseln und Inselchen und fragt sich, warum um alles in der Welt nicht schon bei der ersten Hongkong-Reise dieses Sai Kung auf dem Pro-gramm stand.
Und jetzt? Muss man endlich was essen. Essen ist ganz wichtig im Alltag der Stadt. Ein richtiger Hong-konger isst mindestens fünf Mal am Tag plus den ein oder anderen Snack zwischendurch. Wenn er ge-rade nicht isst, diskutiert er die Qualität neuer Restaurants mit seinen Arbeitskolleeen. die er mor
gens übrigens mit einem „Heute schon Reis geges-sen?" begrüßt, dem Äquivalent für „Guten Morgen". Die besten Restaurants sind meist die, an denen man in der Regel ahnungslos vorbeimarschiert. In denen gibt es zum Beispiel „stir-fried assorted mush¬rooms", leicht angebratene Pilzvariationen an mit Kürbis gefüllten Bambusstückchen — unglaublich gut. Oder „lobster with egg white an noddles", ein Eiweiß-Hummer-Potpoure'e auf knusprigen Nudeln. Romantische Vorstellungen darf man bei einer sol-chen Exkursion nicht hegen: In fast allen Restau-rants ist es nicht nur sibirisch kalt, sondern vor al¬lem höllenlaut. An den Nachbartischen werden bei stetig anschwellendem Volumen Geschäftsabschlüs¬se gefeiert oder Geburtstage. Permanent und überall quengeln Handys, und wenn eine Bedienung mit 624 gespülten Messern, Gabeln und Löffeln aus der Küche kommt, wird sie die garantiert aus einem Meter Höhe in den Geschirrkasten gleich hinter ih-rem Tisch fallen lassen. Schönes Porzellan? Liebe-volle Tischdeko? Säuselnde Hintergrundmusik? Vergessen Sie's. Schließlich ist man zum Essen hier.
„Star Wars"-Kulisse
Achja: Wenn man Glück hat, bekommt man ja ei-nen Tisch mit Aussicht auf Hongkongs Science-Fiction-Optik. Mit diesen Scherenschnitt-Silhouet¬ten der Wolkenkratzer, die direkt aus dem tropischen Grün herauszuwachsen scheinen. Mit dem blauen Wasser und dem leichten Dunst, der alles so ein biss-chen surreal aussehen lässt. Und mit den Hügel-ketten dahinter, die ordentlich gestaffelt Richtung chinesische Grenze marschieren, eine nach der an-deren ein bisschen blasser werdend: Mal ganz abge-sehen von den am Computer entstandenen „Star Wars"-Kulissen gibt es so eine Optik nur in Hong-kong. Wenn man hinüberschaut nach Kowloon, dann kann man drüben auf der anderen Seite des Hafens jenen kleinen Platz sehen, an dem morgen früh wieder der Tai-Chi-Kurs sein wird.
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