Sonntag, 17. Oktober 2010

Himalaya Ladakh Reise Travel Natur SelMcKenzie Selzer-McKenzie

Himalaya Ladakh Reise Travel Natur SelMcKenzie Selzer-McKenzie
Ein Reisebericht von D.Selzer-McKenzie
Video
http://www.youtube.com/watch?v=ey-ThYrll_g


Paschmina ist aus dem Brustflaum der Kaschmirziege gemacht. Nomaden halten die Tiere im Hochland von Ladakh. Für eine hochwertige Wolle sind die Bedingungen hier ideal
 Der Wind faucht kurz auf, und das Haarbüschel in seinen Händen zittert. Tsering Tamdhel schaut mit zusammengekniffenen Augen hinüber zum Horizont. Kein Baum, kein Grün, keine Spur von Leben. Nur Steine und Geröll. Das Land verläuft in sanftem Auf und Ab, in langen Schwüngen, die ein Oben und ein Unten markieren. Irgendwo dort drü¬ben überschreitet die Hochebene die Grenze zu Tibet, irgendwo dahinter vereinigt sie sich mit dem Horizont. Als Fremder sieht man dort draußen nichts, Tsering Tamdhel aber sieht den Winter. Er dreht sich um und schaut zu seinen Ziegen hinüber, die ganz eng zusammengerückt sind.
Leh, ein paar Tage zuvor. Der Spätherbst ist die schönste Zeit in der Hauptstadt Ladakhs, einem Stück buddhistisch geprägten Himalaja, der aus geostrategischen Gründen zu Indien gehören muss. Die ersten Stunden hier sind etwas verwirrend: In welchem Jahrhundert ist man eigentlich angekom¬men? Auf der Hauptstraße flanieren junge Mädchen in kurzen Röcken und Boots, in den Seitengassen sehen einige Menschen aus, als schmauchten sie ihre Pfeifchen seit 1447. Etwa so alt ist offensichtlich auch ein Großteil der bröckelnden Bausubstanz.
Mauern, Krämerläden, Treppenstufen, alles in Leh scheint sich in seine Bestandteile aufzulösen. Kurz nach der Konfrontation mit drei Rindern, die ein zerfurchtes Mütterchen mit Schnalzlauten durch eine verwinkelte Lehmgasse treibt, steht man plötz¬lich vor zwei Internet-Caf6s und einem Laden mit Computer-Software — Windows 7, soeben eingetrof¬fen, aha. Vor dem Laden gegenüber, dessen Schau¬fenster mit Schals ausgelegt ist, steht: „Winter comes soon! Buy high quality Pashmina products now!"
Wichtigster Exportartikel
„Unser wichtigster Exportartikel", murmelt es eine halbe Stunde später. Nawang Tsering Shakspo hat sich in eine gewaltige Stola gewickelt, aus der nur Teile seines Gesichts herausschauen. Mr. Nawang ist Chef der „Jammu und Kashmir Academy of Art, Culture and Languages" und damit verantwortlich für Geschichte und Kultur der Paschmina, der „wärmsten, feinsten, elegantesten und kostbarsten Wolle!" überhaupt. Da kann er erzählen! Wie be¬gehrt die Paschmina schon zur Zeit der Maharad¬schas war! Wie sie Kriege um die besten Weide-
gründe geführt hätten! Wie die aufwendig bestickten Paschmina-Schals von Generation zu Generation vererbt worden seien! Eine vornehme indische Familie, das betont Mr. Nawang mit resolutem Zeigefingerklopfen, müsse mindestens 15 solcher Schals besitzen. „Sonst ist sie nicht wirklich vor¬nehm."
Paschmina stammt ausschließlich vom Brustflaum der Kaschmirziege, die in den Hochtälern des Himalaja lebt. Die Einzelfasern sind so fein, dass sie kaum noch sichtbar sind; Paschmina muss mit der Hand ausgekämmt werden. Weil keine Ziege mehr als 50 Gramm auf der Brust trägt, benötigt man für einen einzigen Schal den Flaum von drei bis vier Tieren. Je höher die Weidegründe liegen und je käl¬ter es dort ist, desto hochwertiger ist dieses Vlies, das der Ziege unter ihrem Deckhaar als zusätzliche Isolationsschicht wächst. Das Hochland von Ladakh bietet dazu ideale Bedingungen: Etwa 200 Nomaden hüten hier Herden mit insgesamt 50.000 Tieren. Die beste Qualität (Schals aus solcher Wolle lassen sich später durch einen Ehering ziehen und wiegen trotz ihrer imposanten Größe von 95 x 210 Zentimeter nicht mehr als 165 Gramm) kaufen Vertreter großer

Produzenten den Hirten bereits auf den Weiden ab. Und wo kann man die Nomaden finden? „An den Ufern des Tso Moriri Sees", sagt Mr. Nawang pro-saisch. „Da findet man sie in dieser Jahreszeit." Am nächsten Morgen, unmittelbar nach dem Auf¬bruch, stellt der Fahrer fest, dass er eigentlich nicht weiß, wie er zum Tso Moriri kommen soll. Der Gebirgssee liegt in 4500 Meter Höhe auf dem Gebirgsplateau, das Ladakh mit Tibet verbindet. Die Karte zeigt: Es gibt nur eine Straße. Links nach Kaschmir, rechts nach China, entlang des Indus, und dann hoch in die Berge — das muss stimmen. Den Rest des Tages hoppelt der Geländewagen durch eine Gegend, die ausschließlich aus Geröll besteht. Nach sieben Stunden Gerumpel liegt der Tso Moriri wie ein blauer Spiegel unter einem unglaublich wei¬ten Himmel. Die Leere und die Weite sind bedrü¬ckend. Später im Zelt hört man nichts als den Wind, der in langen Stößen von nirgendwo heranheult und nach irgendwo verschwindet.
Am nächsten Morgen steht Tsering Tamdhel vor den Zelten. Er habe gehört, wir würden Ziegen suchen. Bitteschön, da sei er, und die Herde gleich hinter dem nächsten Hügel. Wie er das in dieser Men¬schenleere hier draußen erfahren haben mag. Seine Geste verrät es: Er legt die Hand hinters Ohr. Und schon hört man Glöckchengebimmel und Hunde- bellen. Und die kurzen Rufe der Hirten, die eine llerde zusammentreiben.
i000 Kaschmirziegen sind ein schöner Anblick — vor dlem in einer Landschaft, in der sich sonst keiner- ei Leben rührt. Es sind ausnehmend hübsche leschöpfe. Sobald sie einen fremden Zweibeiner rblicken, kommen sie angelaufen und schauen in mit großen braunen Kaschmirziegenaugen an. löglicherweise sind sie auch aufgeregt, weil gerade elkzeit ist. Tserings Frau und ihre Schwestern so¬ie deren Männer und neun bis elf Kinder treiben e Herde zusammen. Jeden Morgen, wenn die

Höhensonne die Eiseskälte zumindest ein bisschen durchdringt. Zum Melken werden die Tiere in zwei langen Reihen zusammengebunden und wie bei ei-nem Reißverschlussverfahren mit den Köpfen an- und gegeneinander gelegt. Wer dran war, kommt frei — und darf zum Fressen. Beziehungsweise zum Fressensuchen; ein paar Gräser und Flechten, mehr wächst hier nicht. Den Ziegen genügt das drei Wochen lang. Dann schlagen Tsering und seine Familie die Zelte ab und ziehen weiter.
Zehn Kilo feinstes Paschmina
Später in einem Nomadenzelt schallendes Geläch¬ter. Soeben ist der Familie klar geworden, dass die frierenden Besucher nicht die etwas unbeholfenen Paschmina-Experten sind, für die man sie den gan-zen Tag über gehalten hat. „Das sind keine Woll-händler!", ruft Tserings Bruder immer wieder, „das sind keine Wollhändler!" Knapp 100 Dollar bekommen Tsering und sei¬ne Großfamilie für ein Kilo Pasch¬mina-Flaum. Jeder Mann hier be¬sitzt etwa 200 Ziegen, in guten Jahren macht das zehn Kilo feins¬tes Paschmina oder 1000 Dollar — für die hiesigen Verhältnisse sind die Nomaden reiche Leute. Die Armut, in der sie leben, wird dadurch nicht geringer. Man sieht sie bloß mit etwas anderen Augen. Einen Paschmina-Schal trägt übrigens niemand. Auf Nachfragen stellt sich heraus, dass Tsering Tamdhel noch nicht einmal gesehen hat, was ande¬re aus dem Flaum seiner Ziegen herstellen. Einmal, erzählt er, sei er vor vielen Jahren in Leh gewesen. Nein, das sei nicht seine Welt: zu viele Häuser, zu vie¬le Autos, zu viele Menschen. Er will wissen, was die¬se Schals aus der Wolle seiner Ziegen kosten. Aber man merkt, dass er eher aus Höflich

keit fragt denn aus Interesse. 80 Dollar in den Ge-schäften von Leh? Und in Deutschland das Doppelte und Dreifache? Er schaut ungläubig. Und ist noch verwirrter, als er erfährt, dass in Europa neun von zehn aller angeblich hundertprozentigen Pasch¬mina-Schals gefälscht sind. Oder zumindest falsch deklariert.
Bevor wir zurückfahren, geht Tsering Tamdhel zu seinen Ziegen hinüber. Er greift ein Tier, nimmt einen Kamm aus der Tasche und beginnt es zu kämmen. Liebevoll sieht das aus, fast zärtlich, und die Ziege sieht ihn mit verträumten Augen an. Nach ein paar Minuten hat Tsering Tamdhel ein feines Büschel Haare zusammen. Alle dürfen es anfassen, in der Hand wiegen, befühlen. Dann nimmt er es zurück, bewegt es in seinen Fingern und hält es ins Licht, lässt den Wind hindurch fahren und das Büschel schließlich los. Er kneift die Augen und schaut Richtung Horizont. Bald ist Winter.

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