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Ein Reisebericht von D.Selzer-McKenzie
im Sommer beträgt die Wartezeit Stunden. An
diesem Tag scheint es noch länger zu dauern. Vor
der Grotta Ispingiola sitzen zwei Urlauber auf den
Steinen und aalen sich wie Salamander in der
Sonne. Sie warten auf Einlass in die Tropfsteinhöhle
bei Dorgali an der Ostküste Sardiniens. Drinnen ist
einer der weltweit größten Stalagmiten zu bewundern.
38 Meter hoch soll der „Dorn im Rachen"
sein. In der Hochsaison bilden sich lange Schlangen
vor dem Eingang. Doch heute kommt nicht mal jemand,
um das Gittertor aufzuschließen. Chiuso!
Erst ab April wieder, sagt die Stimme am Handy auf
Nachfrage.
Im März ist Sardinien noch geschlossen. Dafür ist es
zu dieser Jahreszeit noch eine italienische Insel. Die
Kellner sprechen ihre Landessprache, die Küste gehört
den einheimischen Anglern und Kitesurfern
und die Strände den Spaziergängern mit ihren
Hunden. Ginsterbüsche sprießen gelb, und die Tarabucciulu
gibt mit ihren schicken rosa-weißen Blüten
an, als stünde sie kurz vor der Konfirmation.
Touristisch wird die Insel erst ab Ostern. Die meisten
Urlauber kommen wegen der erstklassigen Strände
an der Costa Smeralda mit mehlfeinem Sand und
Wo so viel Kork produziert wird, gibt es auch v
Souvenirs aus der Rinde wie hier in Santa Tere
smaragdgrünem Wasser. Anfang der 60er
kaufte Prinz Aga Khan den Küstenstreifen unc
te hier exklusive Villen im neosardischen St
Promis wie Mick Jagger und Giorgio Armar
nigskinder wie Prinz Charles sowie König H
anlockten. Heute sieht man nur noch selb
rühmte Personen.
Gigantengräber
Schon gar nicht im Hinterland. Hier w
Olivenbäume und Steineichen. und man b
höchstens ein paar Schafen. Eine Wandertot
Reise
Angenehme Ruhe vor dem Sturm
Saison chiuso
Im März gehört Sardinien noch den Einheimischen. Es gibt
kaum Touristen auf der Insel. Viele Sehenswürdigkeiten sind
noch nicht geöffnet. Dafür blühen Ginster und Tarabucciulu,
man hat die Traumstrände für sich allein und
beim Wandern im Nationalpark Golfo del Orsei begegnet man
Mufflons, den selten gewordenen sardischen Wildschafen.
nem ehemaligen Nuragherdorf im Nationalpark del
Golfo di Orosei dient als Ersatz für die Höhlentour.
Das Hirtenvolk lebte zwischen 1800 bis 300 vor
Christus wohl nur in Sardinien. Sie bauten Gigantengräber
und Brunnentempel. Man vermutet, dass
damals Clan gegen Clan kämpfte. Denn überall auf
der Insel finden sich übereinander geschichtete, mit
Moos bewachsene Steinhaufen — Reste von mehr als
7000 kegelförmigen Festungstürmen, den Nuraghen.
Sie gaben der Kultur ihren Namen.
Die frühere Siedlung Sa Sedda 'e sos Carros liegt
vollkommen verborgen in der vor etwa 35.000 Jahren
eingebrochenen Höhlung einer überhängenden
Karstwand am 518 Meter hohen Monte
Die zweistündige Wanderung dorthin führt durch
dicht bewachsene Macchia. Es duftet nach Bärlauch
und Wacholder. Ein paar Schmetterlinge
flattern voraus, als wollten sie den Weg weisen. Man
läuft durch einen grandiosen Natur-Kessel. Auf dem
Waldboden liegen hinkelgroße Kalksteine wie hingewürfelt,
die vor Jahrtausenden von den Dolomit-
Wänden gebrochen sein müssen. Unterhalb des
Monte Tiscali raschelt etwas, dann klappern Hufe
auf dem Fels. Ein Mufflon und sein Junges springen
eilig davon. Der Park ist eines der letzten Rückzugsgebiete
für die sardischen Wildschafe mit den
gebogenen Hörnern.
„Manchmal schlafen sie hier unter der Karstwand,
Männchen und Weibchen getrennt", sagt wenig
später ein Mann mit einer Baskenmütze auf dem
Kopf, der hinter einem Felsen hervortritt. Ein kleines
Glöckchen hat ihn herbeigerufen. Es hängt an einer
Kordel, die als Treppengeländer hinunter in die
Nuragherstätte führt Sobald man sie berührt, bimmelt
es. Dann kommt er und kassiert fünf Euro Ein-
trittsgeld. Dabei hätte man doch gerade hier in der
einsamen Wildnis mit einem „chiuso" gerechnet.
„Im Sommer kommen manchmal 400 Urlauber
pro Tag vorbei", sagt der Kassierer und Guide, der jeden
zweiten Tag von Lanaitho hier heraufläuft.
„Heute waren es nur zehn." Trotzdem muss immer
jemand da sein, der die archäologische Stätte vor
Raubgrabungen schützt. Denn vieles ist noch gar
nicht ausgebuddelt.
Prizzeln auf der Zunge
Die Rückfahrt geht vorbei an unzähligen Bauernhöfen,
den „Agriturismi". Sie verbinden Landwirtschaft
und Tourismus und locken mit fünfgängigen
traditionellen sardischen Menüs mit Spanferkel
und Wildschweinschinken. Eine Spezialität, die ein
Prizzeln auf der Zunge erzeugen soll, aber kaum
irgendwo angeboten wird, ist der „Casu marzu" —
ein von Maden zersetzter Schafskäse, der mit den
Krabbeltieren gegessen wird. Die Herstellung ist in
Sardinien Tradition, aber aus hygienischen Gründen
verboten. Erst seit dem Jahr 2005 wird der Käse
auch mit — im Labor gezüchteten — keimfreien Maden
produziert.
Das größte Exportgut ist Kork. Im Hinterland wandert
man durch zahlreiche Korkeichenwälder. Die
nackten Stämme sind dunkelbraun und tragen mit
Kreide aufgemalte Nummern. 80 Prozent der italienischen
Kork-Produktion stammt aus Sardinien.
Daraus entstehen Schuhsohlen, Tapeten und Teppiche.
Zentrum der Korkverarbeitung ist Calangianus.
Ein gemütliches Städtchen, in dem vor den
Häusern Blaumänner und Jeans auf den Wäscheständern
trocknen. Auf der Piazza del Popolo treffen
sich Jugendliche zum Rauchen, und im gegenüber
liegenden Caf6 diskutieren ein paar Rentner übe
Politik Der Schutzmann kümmert sich persönlicl
darum, dass die Fremden den Weg finden. In viele'
Hinterhöfen stapeln sich zum Trocknen ausgelegt
Korkrinden. Ganze Familien sind in der Korkpro
duktion tätig. Aus dem besten Kork produziert mar
Weinkorken. Der bekannteste Wein wächst in de
Gallura die Vermentino-Traube. Das Weingut Capi
chera stellte daraus vor 20 Jahren den ersten Quali
tätswein Sardiniens her. Heute ist es eines der bedeu
tendsten Weingüter in Italien.
Besonders gut schmeckt der Wein beim Picknick in
Steinwald am Capo Testa an der Nordküste der Insel
Hier ist niemand, der sich um Diebstahl sorge'
muss. Die meisten Steine sind große Felsen, die mar
nicht einen Millimeter vom Fleck bewegen könnte
Sie sind keine Relikte einer vergangenen Kultur son
dem Kunstwerke der Natur — geschaffen von Sonne
Wind und dem Salz des Meeres. Wellen, Stürme uni
Regen haben die Giganten in Jahrtausenden gefräst
gehobelt und poliert — ihnen dabei wunderschön
Dellen verpasst und tiefe Höhlen in den Bauch ge
graben. Wer zwischen ihnen umherwandert, be
kommt den Eindruck, Gott hätte hier in junge'
Jahren mit Knetmasse gespielt.
Dabei fühlen sich die Riesen rissig und rau an un
eigenen sich perfekt als Picknicktisch. Vermentin
und Pecorino schmecken vorzüglich, das Meer gli•
zert, der Wind zerwühlt die Haare und die Fre
lingssonne wärmt die einzigen Touristen weit ur
breit. Wer will da noch mit einer Horde Urlauber i
einer unterirdischen Höhle umherkrabbeln? D
nächste Reise startet sicher wieder in der „Saise
chiuso".
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