Cochrane Ontario Canada Reise Travel SelMcKenzie Selzer-McKenzie
Ein Reisebericht von D.Selzer-McKenzie
Der Norden Kanadas schaut ungemütlich aus. Von Anfang September bis Ende Mai ist
ziemlich kalt. Trotzdem sind es meist Touristen, die von Cochrane nach Moosonee Richtuni
wollen. Einziges Verkehrsmittel: der „Polar Bear Express". Meist braucht er länger als g
► Durch die geöffnete Tür zieht ein Hauch nor-
discher Kälte in den Warteraum. Für einen kurzen
Moment weiß man nicht, ob der Dampf um einen
herum vom gerade ausgeschenkten Kaffee stammt
oder der Atem der anderen Passagiere ist. Der Schaff-
ner jedenfalls entschuldigt sich — nicht für den
Durchzug, sondern für die Verspätung: Es wer-
de noch mindestens eine Stunde dau-
ern bis zur Abfahrt. Morgen
beginne die Elchsai-
son, sagt er.
Zusteigen auf freier
Strecke? Kein Problem
Das Geländefahrzeug
darf auch mit.
Man erwarte einige Jäger mit ihren Quad-Fahrzeugen.
Und damit nachher niemand enttäuscht ist,
sagt der Schaffner „Sie werden keine Eisbären sehen.
In diesem Teil Kanadas gibt es die nicht. Ich
kann Ihnen auch nicht sagen, wie man auf den
Namen gekommen ist."
Elche ja, Eisbären nein, dazu eine ziemliche Ver-
spätung an einem frostigen Morgen und ein irre-
führender Name: Eine Fahrt mit dem „Polar Bear
Express" geht 300 Kilometer weit von Cochrane bis
zum Zielbahnhof Moosonee an der James Bay.
Natürlich gibt die Betreibergesellschaft Northem
Ontario Railroad dafür eine ziemlich exakte
Fahrzeit an — fünf Stunden 20 Minuten —,
aber eingehalten wird die fast nie.
Das liegt an den unbere-
chenbaren Wit-
terungsverhältnissen in diesem Teil K
schlechten Gleisbett oder auch an Bäuff
über die Gleise fallen. Vor allem aber da
„Polar Bear Express" zu den Zügen gehi
keinerlei Alternativen gibt: Zwischen C(
Moosonee gibt es keine Straßenverbindt
kann man den Zug überall entlang de!
Handzeichen stoppen. Und deshalb ist
Fahrt mit dem „Polar Bear Express" a
wichtig, was außerhalb des Zuges passi(
re Leben spielt sich in den Waggons ab.
Draußen ist Kanada. Der hohe Norden
eine Welt, in der die Landschaft dem M n
deutlich signalisiert, dass sie keinen
ihm geschlossen hat. Die dichten Wäld(
dünnen hier innerhalb weniger Kilo'
aus. Aus mächtigen Laubbäumen werd
tige Kiefern, dazwischen Seen und Sün
mer häufiger auch überhaupt nich
auch deshalb nehmen außer de
nach Moosonee: Wer nicht so weit oben im Norden
des Landes zuhause ist, misstraut diesen Breitengraden.
Die Grenze zwischen Vorgarten und Wildnis
verlaufe in der Psyche eines jeden Kanadiers, sagt
man. Auf jeden Fall ist richtig, dass dort draußen ein
Land an den Zugfenstem vorbeizieht, das abweisend
und ungemütlich ausschaut. Und zwischen Anfang
September und Ende Mai auch ziemlich kalt ist.
Mon pays, c'est l'hiver, sagt man in Quebec: Mein
Land, das ist der Winter.
Gegen das Ende aller Tage
Als es endlich los geht an diesem Morgen, verlässt
der „Polar Bear Express" den Bahnhof in Cochrane
mit gut 70 Minuten Verspätung — im letzten Augenblick
musste noch schnell eine Fuhre Paletten mit
Wintergemüse verladen werden, das auf den Feldern
von Cochrane noch wächst, weiter nördlich aber
nicht mehr. Und natürlich die Elchjäger. Die wollen
dann auch gleich schon wieder aussteigen, bei
Streckenkilometer 21. Jim und Bob ziehen ihre
Jacken und Mützen an und helfen, die Quads über
eine Rampe aus dem Waggon zu schaffen. In der
tarngrünen Kleidung und mit ihren Schlafsäcken,
Benzinkanistern und Gewehren sehen sie aus, als
wollten sie hier draußen gegen das Ende aller Tage
ankämpfen. Vielleicht haben sie das auch vor.
Es gibt diesen wunderbaren Film von Jim Jarmusch,
„Dead Man", in dem Johnny Depp einen Buchhalter
aus New York spielt, der Mitte des 19. Jahrhunderts
im Zug in den Wilden Westen fährt. Das gleichmäßige
Rattern auf den Gleisen lässt ihn immer wieder
einschlafen. Und wann immer er ein paar Hundert
Meilen weiter westlich wieder aufwacht, sehen die
Mitreisenden ein Stück verwegener und wilder aus.
Ganz ähnlich ergeht es einem bei einer Fahrt mit
dem „Polar Bear Express", wo sich zu den Passagieren
aus Cochrane mit jedem unvorhersehbaren
Zwischenstopp ganz eigene kanadische Charaktere
gesellen. Ein einsamer Trapper mit einem Geweih in
der Hand. Angler mit einem Boot, Plastikkisten,
Angelausrüstung und einem halben Waffenlager.
Zwei Frankokanadier mit Kanu und einem toten
Schwarzbären, der ein ohrenbetäubendes Spektakel
auslöst: Bei einem toten Schwarzbären rasten sämtliche
auf den Zug verteilten Hunde verständlicherweise
aus. Mary-Ann und Randy Stipierre wollten
aber sowieso aussteigen, da vorne bei Streckenkilometer
52. Die beiden kommen vom Großeinkauf
Moosonee ist das Tor zur Arktis. Die Entfernungen
auf der Tafel sind nicht zu vernachlässigen.
in Cochrane: Kartoffeln, Tiefkühlpizza, Eier, Dosenbier
und Altpapier zum Feueranzünden. Der Zug
hält exakt dort, wo das Quad der beiden steht. Sie
verabschieden sich vom Schaffner, danke, bis nächste
Woche.
Die Zugstrecke hinauf nach Moosonee existiert seit
1931. Damals beendete die neue Bahnlinie die Isolation
des Außenpostens an der James Bay, und
schon damals versprach man den dort lebenden
Cree-Indianern eine Straße, die es bis heute nicht
gibt. Also sind die Menschen in Moosonee und in
Moose Factory nebenan weiter auf die Bahn angewiesen;
die einzige Alternative wäre das Flugzeug,
aber das kann sich hier kaum jemand leisten. Bis
vor einiger Zeit pendelte mit dem „Little Bear
Express" noch ein zweiter Zug auf der Strecke. Aber
der wurde eingestellt.
Es dämmert bereits, als der „Polar Bear Express" in
Moosonee ankommt. Die Endstation der Bahnlinie
ist kein aufregender Ort, deswegen lässt man sich
am besten gleich mit dem Boot nach Moose Factory
Island übersetzen, einer Insel im Fluss, ein paar
Kilometer südlich der James Bay. In seinen besseren
Tagen war Moose Factory der zweitälteste Handelsposten
der Hudson Bay Company, die von hier aus
einst den Pelzhandel mit Europa kontrollierte. Ihr
ehemaliges Handelsgebäude hat sich blendend
durch die Jahrhunderte gerettet
In den Räumen des weißen Holzhauses sieht es aus,
als seien die Händler gerade eben mal auf einen
Drink nach Moosonee hinüber. Auf den Tischen liegen
Werkzeuge und Landkarten, selbst die Tasten
des Klaviers sind verdächtig unverstaubt. Wenn man
eine Zeit lang in diesem Gebäude ist und der heulende
Wind die Balken knarzen und die Dachschindeln
klappern lässt, kann man schnell nachvollziehen,
wie allein sich die Menschen hier draußen
schon immer gefühlt haben. Und es immer
noch tun.
Ein frostiger Windstoß
Die meisten Touristen kommen nicht nach Moose
Factory, weil sie noch am gleichen Tag mit dem Zug
zurück nach Cochrane wollen. Jetzt sitzen sie im
Warteraum am Bahnhof, und zusammen mit einem
frostigen Windstoß kommt ein neuer Schaffner
herein und bittet um Entschuldigung für die Verspätung.
Sie sähen es ja selbst, all die Kisten draußen
auf dem Bahnsteig, das werde wohl noch dauern.
„Bleiben Sie derweil nur hier im Warmen sitzen".
sagt er, „da draußen gibt es ja sowieso keine Eisbären".
Wer die sehen wolle, könne aber gerne ir
Cochrane das „Polar Bear Habitat" besuchen: In de
Pflegestation werden verwaiste Junge und langsam(
Senioren jener Spezies versorgt, die dem Zug zwi
schen Cochrane und Moosonee seinen Namen gege
ben haben. n
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