Cambridge England Reise Travel SelMcKenzie Selzer-McKenzie
Ein Reisebericht von D.Selzer-McKenzie
Video:
http://www.youtube.com/watch?v=nQJj4RLP2Hs
Zwei Welten warten hier auf die Besucher: die mittelalterliche in den Gassen der Stadt und die ganz eigene der berühmten Lehranstalt. Manches kommt einem etwas schräg vor.
Der Schaum schwappt prompt über den Rand. Kann passieren, die füllen die Gläser ja gerne rand¬voll in diesem Land. Wenn man da kurz nicht mit dem Arm aufpasst, ist es geschehen. Der Wirt sucht einen Lappen, aber die Pfütze auf dem Tresen hat sich schon auf ihren Weg gemacht, und der Mann auf dem Barhocker nebenan schreckt auf und steckt ganz schnell die Serviette, auf die er die ganze Zeit gekritzelt hat, in die Hemdtasche. Physikalische For-meln oder die Quadratur des Kreises oder was auch immer. Weiter hinten am Tresen sitzt übrigens noch einer und schreibt, und drüben am Tisch diskutie¬ren zwei Leute heftig über südafrikanische Innen¬politik. Nun sind britische Pubs ja selten Orte der Stille oder gar Plätze, an denen man sich zurück¬ziehen könnte: Das hier ist aber noch einmal an¬ders. Das hier ist in Cambridge, und Cambridge ist immerhin ...— ja was denn eigentlich?
Fragen Sie mal zu Hause, oder im Kollegenkreis! Na? Genau. Erstklassige Uni, werden Sie zu hören bekommen, auf Augenhöhe mit Oxford und Har-vard, mindestens! Dass Newton in Cambridge dem Geheimnis des Farbspektrums auf die Spur gekom-men sei und auch sonst noch einigem, das sich spä¬ter als — na ja: ziemlich relevant für den techni¬schen Fortschritt der Menschheit herausstellen soll¬te. Dass Darwin dort war und Wittgenstein und Keynes und Hawking und wer sonst noch alles. Was?
Ach so, die Stadt Cambridge ist gemeint. Soll es ja auch geben, stimmt. 120.000 Einwohner immerhin. Trotzdem hört man nie was von ihr, immer bloß von der Universität. Da wird es höchste Zeit für die Stadt.
Schwarm zorniger Hornissen
Wenn man mit dem Auto von London anreist und gefühlte 1017 Schnellstraßenwechsel und Verkehrs-kreisel hinter sich hat, wirken Cambridges Türme und Zinnen im Regengrau des Nachmittags wie Kulissen aus der Eröffnungssequenz von „Die Tudors — die komplette erste Season". Es staut sich bereits Kilometer vor der Stadt, Radfahrer drängen sich wie ein Schwarm zorniger Hornissen an den Autos vorbei. Beim gemächlichen Rollen Richtung Hotel entdeckt man mächtige Gebäude; ihre Tore und Pforten werden von Türstehern in historischen Kitteln bewacht. Am Fluss warten Bootsvermieter auf Passagiere, die eine Tour auf der Garn unternehmen wollen. Es regnet unaufhörlich.
Erster Erkundungsgang durch Cambridge, die Stadt, im britischen Regen. Schön ist es hier, das steht schon mal fest. Im Zentrum fast nur alte Ge¬bäude, überall Mittelalter, Klassizismus und Fach¬werk, überall Mauern, überall Türme. Und überall auch Uni. Die berühmte Lehranstalt ist nicht in ei¬nem einzelnen Gebäudekomplex untergebracht,
Harmonisches Nebeneinander der Baustile prägt das Zentrum der Stadt Cambridge.
sondern besteht aus 31 unabhängigen Colleges, di pompös wie Fürstenhöfe aussehen und eine Großteil der Innenstadt in Beschlag genommen hr ben. Vor der ernsten Kulisse dieses historische Architekturpomps wimmelt es vor jungen Mer schen, offensichtlich ist gerade Seminar- od( Vorlesungsende. Sämtliche Restaurants und Caf sind voll, selbst die Tische draußen im Regen, dr die aufgestellten Schirme nicht wirklich abhalt(
diesem Inferno konzentrieren kann. Und der Wirt scheint Gedanken erraten zu können: In einer Universitätsstadt müsse man die Muse eben hinein¬lassen, wenn sie anklopfe, sagt er und nickt mit dem Kopf in Richtung des Mannes auf dem Hocker nebenan, der eine Serviette nach der anderen beschreibt. Wahrscheinlich wird dort gerade eine Formel zur Errettung der Welt entworfen. Oder noch Wichtigeres.
Colleges und Haarsträubendes
Und was muss man gesehen haben in der Stadt Cambridge? Man ahnt es: die Colleges. King's mit seiner gotischen Kapelle, die Hallen von Trinity. Queen's mit der Mathematikbrücke über die Garn. Und die Gärten! Den des Pembroke College zum Beispiel. Die Mauern schlucken den Lärm des All-
Mauern gefunden und lässt die Weiden flüstern. Dann regnet es schon wieder.
Cambridge ist für solches Wetter wie geschaffen. Und für diese Tageszeit, wenn das letzte Licht sich aus Leibeskräften festklammert und partout noch nicht verschwinden will. Es sind diese Stunden, in denen die außerweltliche Atmosphäre allmählich aus den Colleges hinaus in die Stadt zu strömen scheint. In denen sich die beiden finden, die Universität und die Stadt. In denen Cambridge sich verwandelt, nicht mehr richtig in der Gegenwart festhalten kann, langsam in den Jahrhunderten zurückrutscht. Dann ist es, als schere sich die Zeit hier einen Teufel um li¬neare Vorschriften. Als habe sie kleine Parallel-universen eröffnet, aus denen die Epochen hinaus und ineinander sickern.
Solche Abende gehören den Stadtführern, und na-türlich erzählen sie haarsträubende Räuberpistolen, von Pest und Plünderung, von Kabale und Liebe. Am Ende einer solchen Tour hat man dann zwar vergessen, wer wann an welchem College welche Entdeckung gemacht hat. Aber man weiß, dass im Turm des Trinity College deshalb ein Fenster fehlt, weil neu eingesetzte Scheiben regelmäßig zersplit¬tern. Und dass im Pachtvertrag unseres Lieblings¬pubs seit Jahrhunderten ein Passus existiert, der das Schließen eines bestimmten Fensters untersagt: So
und Schwarze Löcher, passt ja. Der Wirt zieht die Augenbrauen nach oben.
Man sollte ja vorsichtig mit so einer Bewertung um-gehen, aber ein klein wenig kommt einem diese Stadt auch wie ein Panoptikum schräger Charaktere vor. In den Buchhandlungen, die mit ihren unter¬schiedlichen Ebenen, Treppen und Türen aussehen wie etwas, das dem Künstler M. C. Escher an einem schlechten Tag eingefallen ist, hocken lesende Kun¬den stundenlang zwischen den Regalen wie schwei¬gende Buddhas. Und am Tresen wird eben auf Ser¬vietten gekritzelt. Wenn man so etwas sieht, denkt man darüber nach, ob diese Leute da gerade viel¬leicht eine epochale Erkenntnis ausarbeiten; Watson und Crick sollen die Entschlüsselung der DNA- Struktur ja damals auch im Pub herausposaunt ha¬ben. Doch, stimmt schon: Diese Stadt ist auch ein ziemlich guter Ort, sich ziemlich dumm zu fühlen.
Cambridge ist überall
Cambridge hat die Welt verändert, und es spielt viel-leicht überhaupt keine große Rolle, ob mit Cam¬bridge nun die Stadt oder die Universität gemeint ist. Cambridge ist überall, deswegen begegnet es einem nach seiner Reise auch ständig: Bei Ökonomie- Debatten wird Keynes zitiert, der Hausarzt hat ein
tags; mit dem Durchschreiten des Portals scheint man die gemeine Welt hinter sich zu lassen. Auf den Grünflächen zwischen den Hecken ist es, als liege Cambridge unter einer Glocke. Wilde Tauben gur¬ren, das Brummen einer Hummel erscheint rechts im Gehörfeld, in einem Teich quakt leise ein Frosch. Irgendwo im nächsten oder übernächsten Hof kla-cken Absätze über das Kopfsteinpflaster. Die Schatten strecken sich. Der Wind hat einen Weg hinter die
kann der Geist eines kleinen Mädchens atmen, das hier oben einst bei einem Brand ums Leben kam. Tatsächlich steht das rechte der Dachfenster offen, wann immer man hierhin kommt. Und der Mann mit den Servietten sitzt auch immer schon am Tresen. Heute hat er einen Kollegen mitgebracht, mit einer Brille, deren Gläser aus den Böden von Milchflaschen hergestellt zu sein scheinen. Die bei¬den diskutieren über Einstein, Zeitverschiebungen
Cambridge ist eine grüne Stadt.
Parks und Gärten spenden Ruhe und Erholung.
Modell von Watsons Doppelhelix auf dem Schreib-tisch und im Stapel der ungelesenen Bücher zu Hause warten Salman Rushdie und Zadie Smith, beide Studenten am King's College. Und weil Cam-bridge überall ist, achtet man beim nächsten Kneipenbesuch am Tresen sehr genau darauf, kein Bier zu verschütten. Möglicherweise kritzelt der Mann nebenan ja gerade etwas ziemlich Epochales auf seine Serviette
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