Produzieren 4.0
Author D. Selzer-McKenzie
Video: https://youtu.be/o3rif8V1E3U
Die Industrie steht vor großen Herausforderungen: Die Kunden
verlangen neue, individuelle, qualitativ hochwertige und dennoch preisgünstige
Produkte in
immer kürzeren Zeitabständen. Gleichzeitig müssen Waren mit
knapper wer-
denden Ressaureen gefertigt werden und das möglichst
nachhaltig. Um diese
Anforderungen zu meistern, setzen Forschung und Wirtschaft
auf die Digitali-
sierung der Fertigung, in der die reale und virtuelle Welt
zu einem Internet
der Dinge, Dienste und Daten zusammenwachsen.
Benziner, Dieselfahrzeug oder Hybrid-Antrieb? Limousine,
Kombi oder Cabrio? 75, 100 oder 125 PS? Mit Einparkhilfe, Tempomat,
Regensensor, Mittelarmlehne oder Alufelgen? Wenn Kunden vom Muster der
Sitzpolster bis zur Ausle-gung des Fahrwerks eigene Wünsche verwirklichen
können, kommt man bei manchen Automodellen theoretisch auf bis zu 1025
unterschiedliche Varianten. Aber nicht nur beim Autokauf, auch in vielen
anderen Bereichen können Käufe-rinnen und Käufer Produkte nach ihren eigenen
Wünschen und Bedürfnissen zusammenstellen — vom Computer bis zum Sportschuh.
Die Losgröße 1, die völlig individuelle Produkti¬on nach Kundenwunsch, spielt
in der Fertigung eine immer größere Rolle. Dieser Trend stellt die Produzenten
vor große Herausforderungen: Denn wenn sich unterschiedlichste
Aus¬stattungsmerkmale individuell kombinieren lassen, dann muss auch der
Produktionsprozess flexibel sein.
Um diese Anforderungen zu meistern, setzen Forschung und
Industrie auf eine intelligente, vernetzte und wandelbare Fertigung. Dabei sind
Maschinen, Werkstücke, Transportmit¬tel und Waren mit eingebetteten Systemen,
sprich winzigen Rechnern, sowie Sensoren und Aktoren versehen und mitein¬ander
verbunden. Das ermöglicht den nächsten Sprung in der Produktion, die Industrie
4.0.
Die Bundesregierung hat schon früh die Potenziale der
smarten und vernetzten Fertigung erkannt. Bereits in ihrer Hightech-Strategie
setzte sie das Thema Industrie 4.0 auf die Agenda. Mit verschiedenen Programmen
fördert der Bund die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten zur digitalen
Transformation der Industrie. Außerdem unterstützt er die »Plattform Industrie
4.0«, in der sich Vertreter von Verbän¬den, Gewerkschaften sowie der
Wissenschaft engagieren.
Hier ist die Fraunhofer-Gesellschaft als Vertreter der
For¬schung aktiv.
Aber wie funktioniert die smarte Produktion der Zukunft?
Künftig sind alle Maschinen, von der Fräse bis zum Schwei߬roboter, miteinander
vernetzt. Auch jedes Werkstück verfügt über ein eingebettetes System. Dort sind
etwa verschiede¬ne Informationen wie der Auftraggeber, die gewünschte
Ausstattung und der Zielort gespeichert. Die Rohlinge lassen sich eindeutig
identifizieren und lokalisieren. Sie kennen nicht nur die geforderte
Bearbeitung, sondern sind auch mit den Maschinen vernetzt und können sich
abstimmen, wann welcher Fertigungsschritt durchlaufen wird. Fällt eine Station
aus, steht in Zukunft nicht mehr die gesamte Linie still. Statt¬dessen planen
Werkstücke und Maschinen die Reihenfolge der Bearbeitung um. So entsteht eine
»sich selbst organisie¬rende«, adaptive Produktion, in die der Mensch nicht
mehr ständig eingreifen muss, aber über die er die Kontrolle hat.
Damit die smarte Produktion reibungslos laufen kann, müssen
die Maschinen und Roboter kontinuierlich melden, was sie gerade tun und wie
lange ggf. verschleißende Komponen¬ten noch halten. Alles, was in der realen
Fabrik abläuft, wird parallel auch im Virtuellen abgebildet. Diese Verbindung
realer und virtueller Welt bezeichnen Experten als »cyberphy-sische Systeme«
(CPS). Von der digitalen Transformation der Industrie erhofft sich die
Wirtschaft einige Vorteile: Die flexible Zukunftsfabrik ermöglicht es, nach
Kundenwunsch zu fertigen und Änderungen der Produktion bis zur Integration
neuer Maschinen jederzeit ohne großen Aufwand durchzuführen. Zudem sind die
Maschinen besser ausgelastet, der Ressour-cenverbrauch geht zurück und es gibt
weniger Ausschuss.
Industrie und Forschung arbeiten daran, dass die Vision der
sich selbst organisierenden Fabrik Wirklichkeit wird. »Fraunhofer verfügt über
große Kompetenz in den Bereichen Produktion, Maschinenbau, Logistik,
eingebettete Systeme, Sicherheit sowie Informations- und Kommunikationstech¬nik.
Wir können wichtige Grundlagen für die Fertigung der Zukunft legen sowie
Lösungen für die smarte, vernetzte Produktion entwickeln und damit zu einer
nachhaltigen Wertschöpfung in Deutschland beitragen«, betont Professor Reimund
Neugebauer, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft. In verschiedenen Projekten
untersuchen Forscherinnen und Forscher, wie die Fabrik der Zukunft aussehen
kann, wie sich die Produktion flexibel gestalten lässt, welche Rolle der Mensch
in der smarten Fertigung spielt und wie Unterneh-men die Souveränität über ihre
Daten behalten können. Die Fraunhofer-Experten entwickeln nicht nur wichtige
Baustei¬ne für Industrie 4.0, sondern erarbeiten auch ganzheitliche Konzepte
für die smarte Produktion. So gestalten Experten des Fraunhofer-Instituts für
Produktionstechnik und Auto¬matisierung IPA zusammen mit der Universität
Stuttgart und Partnern aus der Industrie in dem Projekt ARENA2036 die künftige
Automobilentwicklung und -produktion entlang der gesamten Wertschöpfungskette
neu. »Wir erforschen ein grundsätzlich neues Konzept für die Fahrzeugproduktion
— ohne Takt und ohne Linie, verbinden Leichtbauprozesse mit taktiler Robotik,
entwickeln effiziente, wandlungsfähige
Logistiksysteme und sorgen für einen intuitiv
konfigurierbaren Informationsaustausch«, erklärt Professor Thomas Bauern-hansl,
Leiter des Fraunhofer IPA in Stuttgart.
Neue Lösungen für die Produktion erfordert auch die
Fer-tigung von Stromern in Kleinserien. In dem Projekt »Smart Micro Factory für
Elektrofahrzeuge«, kurz SMART FACE, entwickeln Logistik-Experten aus dem
Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML in Dortmund gemeinsam
mit der Industrie eine Strategie für eine autonome Endmontage von Autos und
arbeiten an einer flexiblen, schlanken Pro¬duktionsplanung nach den Prinzipien
von Industrie 4.0. Die Planungsintelligenz ist dabei dezentral in einem
selbstorgani¬sierenden Netzwerk cyberphysischer Systeme verteilt. Diese
cyberphysische Systeme sind wesentliche Bausteine der smarten Fertigung der
Zukunft. Voraussetzung dafür ist, dass Realität und Virtualität kontinuierlich
im Einklang sind. Aber wie lassen sich real existierende Produktionsanlagen,
Werk¬stücke oder Bauteile und ihre digitalen Gegenstücke konti¬nuierlich
abgleichen? Experten des Fraunhofer-Instituts für Graphische Datenverarbeitung
IGD in Darmstadt arbeiten an der cyberphysischen Äquivalenz. Dabei geht es um
die Live-Abbildung der Produktion inklusiver dynamischer Prozesse in die
Virtualität, um zum Beispiel Planungen auf der Basis von Echtzeitdaten durchführen
zu können. Zu jeder Zeit werden aktuelle Informationen über den Zustand des
Produkts und des Produktionsablaufs erfasst und aktualisiert. Dazu wird der
Prozess von Kameras erfasst und in Echtzeit auf den »virtuel¬len Zwilling«
übertragen.
Übersetzer erleichtert Kommunikation
Eine weitere wichtige Voraussetzung für smarte Fabriken ist,
dass die Maschinen miteinander, mit übergeordneten IT-Systemen, aber auch mit
den Werkstücken und den Werkern kommunizieren können. Doch noch stößt die
Vernetzung bestehender Anlagen an Grenzen, denn die Maschinen unterschiedlicher
Hersteller nutzen datentechnisch meist verschiedene Schnittstellen und
Protokolle zur Kommuni¬kation. Abhilfe schafft der »Plant Adapter«, ein
industrielles Daten-Gateway, das Experten des Fraunhofer-Instituts für
Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU in Chemnitz entwickelt haben. Der
»Plant Adapter« stellt als Kombina¬tion aus Hard- und Software eine Lösung zur
universellen Anbindung von Maschinen und weiteren Komponenten der Produktion
und Produktionsinfrastruktur dar. Er sammelt unterschiedlichste Produktions-
und Maschineninformatio-nen und bereitet sie so auf, dass sie
plattformübergreifend gelesen und verarbeitet werden können. »Die 'Ressource
Daten' gewinnt stetig an Bedeutung«, erklärt Dr. Tino Langer, Abteilungsleiter
Digitalisierung in der Produktion am IWU. »Um deren Wert im Umfeld der
Produktion noch weiter zu steigern, sind neue Methoden und Lösungen
erforderlich.« Bisher werden Daten weitestgehend begrenzt auf ihren ursprünglichen
Erfassungsgrund hin analysiert und verarbei¬tet. In der am IWU entwickelten
Daten- und Diensteplatt-form »Linked Factory« können in Einzelsystemen
verwaltete Daten miteinander in Beziehung gesetzt und mit geeigneten
Auswertemethoden neue Informationen abgeleitet werden.
12 - TITELTHEMA weitervorn
2.16
Mithilfe von modernen Ansätzen zur
Informationsverarbei-tung, wie Linked-Data und Semantic Web Technologien,
wer¬den die Daten systemübergreifend gespeichert und vernetzt.
Produktionsrelevante Parameter fließen mit Kennwerten aus der
Gebäudeleittechnik, der Logistik und relevanten be¬triebswirtschaftlichen Daten
zusammen, werden miteinander verknüpft und zu nützlichen Informationen
aufbereitet, um den Mitarbeiter so gezielt zu unterstützen.
Vorsorgeuntersuchung für Maschinen
Die mithilfe von eingebetteten Sensoren erfassten Daten
lassen sich auch für eine vorausschauende Wartung nutzen. Im EU-Projekt iMAIN
entwickelten das IWU gemeinsam mit Partnern ein Überwachungssystem, das
automatisch meldet, wenn eine Maschine gewartet werden muss. Dazu setzten sie
auf eine Kombination aus realen und virtuellen Sensoren. Diese werden
einerseits aus den rechnergestützten Simula¬tionsmodellen der Maschine und
andererseits mit realen In¬formationen der einzelnen Komponenten gespeist.
»Anhand mathematischer Modelle und weniger installierter Sensoren können so
etwa Spannungszustände an der kompletten Anlage in Echtzeit simuliert werden.
So können Maschinen standortübergreifend überwacht und die Instandhaltung
vorausschauender geplant werden«, sagt Markus Wabner vom Fraunhofer IWU. An
Lösungen für das selbstorganisie¬rende Life Cycle Er Maintenance Management von
Turboma¬schinen feilen Wissenschaftler des Fraunhofer-Instituts für
Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik IPK in Berlin. Sie verknüpfen aus
Sensoren gewonnene Informationen mit Daten aus Serviceeinsätzen.
Kürzere Innovationszyklen und individuelle Produkte
erfor-dern nicht nur eine flexible Fertigung, sondern auch wan-delbare
Fabriken, die sich schnell für die Herstellung neuer Artikel umrüsten lassen.
»Eine der Herausforderungen an die Industrie-4.0-IT-Architektur ist es, sich an
Änderungen anzupassen — sei es, dass neue Anlagen oder Prozesse in das System
eingebracht werden oder dass bestehende Produk¬tionssysteme verändert werden,
etwa weil eine Produktvari¬ante zusätzlich gefertigt werden soll«, erläutert
Dr.-Ing. Olaf Sauer, stellvertretender Leiter des Fraunhofer-Instituts für
Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung IOSB in Karlsru¬he. Im Projekt
»SecurePLUGandWORK« arbeiten Wissenschaft
und Wirtschaft an einer intelligenten Verknüpfung zwischen
den einzelnen Bestandteilen der Fabrik. Ihre Idee: Ähnlich wie beim
USB-Standard bei PCs erkennt jede Komponente, was sich verändert hat, und
reagiert darauf automatisch.
Der Umstieg auf die Produktion der Zukunft stellt
insbeson¬dere kleine und mittlere Unternehmen vor große Herausfor¬derungen.
Unterstützung bietet hier das Applikationszentrum Industrie 4.0, das Experten
des IPA aufbauen. Den Kern bildet eine Forschungs-, Entwicklungs- und
Demonstrationsumge¬bung, in der Lösungen zur Organisation und zur Steuerung
zukünftiger Fabriken in unmittelbarer Zusammenarbeit mit der Industrie
geschaffen werden. »Unternehmen können hier in einer innovativen Umgebung mit
ausgezeichneter Infrastruktur und umfangreicher technischer Ausstattung
zusammen mit unseren Mitarbeitern neue Lösungen für die Herausforderungen der
Produktion der Zukunft entwickeln und in einem industrienahen Umfeld testen,
wobei der Nut-zen direkt durch Demonstratoren aufgezeigt werden kann«, sagt Dr.
Martin Landherr, Leiter des Applikationszentrums Industrie 4.0. Der Fokus liegt
auf cyberphysischen Systemen, Robotik und fahrerlosen Transportsystemen,
Mensch-Ma¬schine-Kooperation und additiven Produktionstechnologien sowie
echtzeitnahen Simulationstechnologien. Zur sicheren Kommunikation und
Vernetzung bietet das IPA mit Virtual Fort Knox zudem eine flexible und
föderative Integrations¬plattform für die Produktionsdaten.
Smarte Bauteile, intelligente Maschinen und kontinuierlicher
Datenaustausch — wird der Mensch in der sich selbstorgani¬sierenden Fertigung
überhaupt noch gebraucht? Ja, in der Fabrik der Zukunft spielen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sogar eine zentrale Rolle (siehe auch Seite
16). Sie sind kreati¬ve Problemlöser. Dafür benötigen sie jedoch Wissen über
die Zusammenhänge in der Produktion 4.0 sowie aktuelle Fakten über die laufende
Fertigung. Wichtige Daten können die vernetzten Maschinen, Sensoren und
Steuersysteme liefern. Im Projekt »Smart Assistance for Humans in Production
Sys¬tems — SmARPro« entwickeln Forscherinnen und Forscher des Fraunhofer IML
und des Fraunhofer IWU eine kommunikati-onstechnische Plattform, die
Produktions- und Betriebsdaten erfasst, mit den übergeordneten IT-Systemen
verbindet und für die Übertragung an mobile Geräte — den Smart Devices und
Wearables — aufbereitet. Ziel ist es, Informationen genau
weiter.vorn 2.16 TITELTHEMA
- 13
dort zur Verfügung zu stellen, wo der Mensch sie zum
jewei¬ligen Zeitpunkt für seine Tätigkeit benötigt.
Menschen einbinden
Damit die Menschen in der smarten Fabrik der Zukunft
agie¬ren können, werden neue Mensch-Maschine-Schnittstellen benötigt, die Smart
Devices. Diese mobilen Geräte sind ka¬bellos vernetzt und mit verschiedenen
Sensoren ausgerüstet. In der Logistik kann etwa der nur bierdeckelgroße
Coaster® zum Einsatz kommen. Das Gerät ist nicht nur mit einer Kamera und einem
Display ausgestattet, sondern kann auch mit anderen Maschinen über
Schnittstellen kommunizieren. Welche Funktion er ausführt, entscheiden die
Applikatio¬nen, die auf dem Coaster laufen. So zeigt zum Beispiel die
Maschinenstatus-App den Energieverbrauch, Laufzeit und Fehlermeldungen von
Anlagen an. Um den Werker nahtlos in die Informationsprozesse der Fertigung zu
integrieren, hat das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT bei der
Konzipierung von »oculavis« eine nutzerzentrierte Sicht¬weise eingenommen. Mit
der Softwareplattform »oculavis« sowie den Apps für die Endgeräte wie
Datenbrillen oder Tablets können die Informationsflüsse der Fabrik vom und zum
Werker optimal gelenkt werden. Dies ermöglicht z.B. bei der Robert Bosch
Elektronika Kft. aus Ungarn, dass auch ungelernte Mitarbeiter innerhalb
kürzester Zeit komplexe Montagevorgänge mit Smart Glasses ausführen können.
»oculavis« wird ab Arpil in Kooperation mit dem IPT in einer Ausgründung
weiterentwickelt und kommerzialisiert. An weiteren Lösungen — wie zum Beispiel
einem Durchsichtdis-play — arbeiten Wissenschaftler des Fraunhofer-Instituts
für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF in Magdeburg. Darauf können
situationsgerecht und lagesynchron Informationen eingeblendet werden.
»Insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen Wandels ist die Assistenz
auf Basis visueller Informationen ein wesentlicher Bestandteil intelli¬genter
Arbeitsplatzsysteme, in denen der Mensch fähigkeits¬gerecht bei der Ausübung
von Arbeitsprozessen unterstützt wird«, erläutert Professor Michael Schenk,
Vorsitzender des Fraunhofer-Verbunds Produktion und Leiter des IFF.
Wie der Mensch in die Produktion der Zukunft eingebunden
werden kann, ist einer der Schwerpunkte im Leitprojekt E3-Produktion. Zwölf
Fraunhofer-Institute arbeiten gemeinsam
an der emissionsarmen, ergonomischen Fabrik und entwi-ckeln
hierzu neue Produktionstechnologien, Steuerungskon¬zepte und effizientere
Prozessketten. »Das E3-Konzept setzt die Betrachtungsebenen von Technologien
und Anlagen, von Logistik- und Fabrikprozessen sowie von der Einbindung des
Menschen in die Produktion in einen neuen analytisch-metho¬dischen Kontext«,
sagt Professor Matthias Putz, Institutsleiter des Fraunhofer IWU.
Die Digitalisierung kann aber auch Gefahren bergen. Wie
schützt man die Informationen vor unerlaubten Zugriffen, wenn alle Komponenten
miteinander vernetzt sind? Wie be¬halten Firmen die Souveränität über ihre Daten?
Fraunhofer arbeitet gemeinsam mit der Wirtschaft und in Kooperation mit der
Bundesregierung an einem international offenen und zugleich sicheren Datenraum,
dem Industrial Data Space. In diesem geschützten Raum können Unternehmen nach
selbst festgelegten Regeln Daten miteinander austauschen, ohne dabei die
Kontrolle über ihre Informationen abzugeben.
Der Umstieg auf die Fertigung 4.0 ist vor allem für
Indust-rienationen wie Deutschland wichtig. Seit Jahrzehnten ist die Fertigung
ein zentraler Pfeiler für Arbeit und Wohlstand. So erwirtschaftete das
produzierende Gewerbe 2014 einen Anteil von 22,3 Prozent am
Bruttoinlandsprodukt (BIP). Diese Zahlen gab das Statistische Bundesamt
bekannt. Zum Ver¬gleich: In den EU-Staaten betrug die Wirtschaftsleistung der Industrie
im Schnitt nur 15,3 Prozent.
Doch kann Europa von der vierten industriellen Revolution
profitieren? Ja. Die digitale Transformation der Fertigung eröffnet der EU
enorme Chancen, so das Ergebnis einer Studie von Roland Berger Strategy
Consultants im Auftrag des Bundesverbands der Deutschen Industrie e. V. (BDI).
Bis 2025 könnte Europa einen Zuwachs von 1,25 Billionen Euro an industrieller
Bruttowertschöpfung erzielen. Allein für Deutschland ergibt sich ein
zusätzliches Wertschöpfungspo-tenzial von bis zu 425 Milliarden, allerdings
nur, wenn der Umstieg auf die Industrie 4.0 gelingt. Den vielversprechenden
Möglichkeiten vernetzter, effizienterer Produktion und neuer Geschäftsmodelle
stehen jedoch auch Risiken gegenüber: Sollte sich die deutsche Industrie von
ihrer Spitzenposition bei der Wertschöpfung verdrängen lassen, drohen massive
Einbrüche von bis zu 220 Milliarden Euro. ■
Das Innovationstempo im Automobilbau steigt von Jahr zu
Jahr. Damit die neuen Modelle nicht zu schwer werden und zu viel Sprit
verbrauchen, setzen Designer und Konstrukteure auf innovati¬ve
Werkstoffvarianten wie den hybriden Leicht-bau. Wie aber lassen sich hochfeste
Werkstoffe wirtschaftlich sinnvoll zu leichten und crashsi-cheren Bauteilen
verarbeiten? Ein Verfahren, mit dem man Leichtbau-Komponenten fertigen kann,
ist das Presshärten. Dabei wird ein Blech¬halbzeug auf eine Temperatur von etwa
950° C erhitzt und bei der Formgebung in der Umform-presse abgekühlt. Durch das
schnelle Erwärmen und Abkühlen entstehen Bauteile mit extrem harten
Gefügestrukturen, so dass die Blechkom-ponenten bei gleicher Performance
dünnwandi¬ger ausgelegt werden können.
?ceeshär.tei
»Allerdings bestimmen viele Einflussgrößen das komplexe
Verfahren. Daher ist die Pro-zessregelung in seriennahen Anwendungen immer noch
eine große Herausforderung«, sagt Norbert Pierschel, wissenschaftlicher
Mitarbeiter in der Hauptabteilung Blechumformung am Fraunhofer-Institut für
Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU in Chemnitz. Vor allem gilt es, das
Verfahren an die Anforderungen von Industrie 4.0 anzupassen. Daran arbeiten
Forscherinnen und Forscher des IWU. Sie haben bereits eine intelligente Presshärtelinie
in Betrieb genommen. Das Herzstück ist eine vernetzte Prozessführung über die
gesamte Prozesskette hinweg. Sie ermöglicht es, die Zustandsüber-wachung der
Prozessparameter mit vorher defi¬nierten Vorgaben abzugleichen und so innerhalb
kürzester Zeit auf Prozessschwankungen zu reagieren und damit Ausschuss zu
vermeiden.
Mit einer am Institut entwickelten Industrie
4.0-Modellprozesskette zeigen die IWU-Experten, wie in einer thermischen
Pressanlage aus vorgeschnittenen Blechplatinen fertige Bauteile mit
unterschiedlichen Eigenschaften entstehen. Die Platinen werden zunächst
erwärmt, dann umgeformt und dabei abgekühlt und anschlie¬ßend beschnitten.
»Dabei kommt es unter anderem auf Taktzeiten im Sekundenbereich, einen
reduzierten Material- und einen effizien¬ten Energieeinsatz an. Das erreichen
wir durch eine vernetzte Prozessführung mit integrierter Zustandsüberwachung
der Prozessparameter«, erläutert Norbert Pierschel. »Ein Fehler am
umgeformten Bauteil kann so direkt auf einen
Wirkzusammenhang zurückgeführt werden. Wir wissen also sofort, an welcher
Stellschraube wir drehen müssen und können direkt korrigierend in den laufenden
Prozess eingreifen.« Das Ziel ist ein vollständig automatisierter
Warmumformprozess für komplexe Bauteilgeometrien mit geringsten
Fehlertoleranzen.
In der IWU-Modellprozesskette steuert ein zen¬trales
Computerprogramm die Abläufe für das Umformen und Aushärten der Komponenten.
Ein nicht unerheblicher Teil der Systemintelligenz steckt allerdings in einer
am Institut entwickel¬ten Software, die Sensordaten im laufenden Prozess
auswertet und mit deren Hilfe das Anlagenpersonal sehr schnell in das
Prozess¬geschehen eingreifen kann, falls beispielsweise Werkstück- oder
Werkzeugtemperaturen von den erforderlichen Vorgaben abweichen. »Wir haben
informationstechnisch den gesamten Prozess abgebildet und sind in der Lage, an
jeder Stelle regulierend einzugreifen«, unter-streicht Frank Schieck, Leiter
der Hauptabteilung Blechumformung am Fraunhofer IWU.
Dass die vernetzte Prozessführung aus Sensorik und Steuerung
sowie die neue Anlagentechnik im Zusammenspiel funktionieren, demonstrieren die
IWU-Experten anhand der Umformung eines Pkw-B-Säulen-Segments. Die B-Säule
befindet sich zwischen Vorder- und Hintertür des Fahr¬zeugs und gehört zu den
sicherheitskritischen Strukturbauteilen einer Fahrzeugkarosserie. Der
B-Säulenfuß ist im Bereich des Fahrzeugbodens verankert und trägt zur
Steifigkeit der gesamten Karosserie bei. In den Pilotprozess sind unter dem
Aspekt Leichtbau und Serienreife zahlreiche Daten und Informationen
eingeflossen, die den Anforderungen einer industriellen Fertigung genügen. »Der
gesamte Prozess unterliegt zahl¬reichen Einflussgrößen, die optimal aufeinander
abzustimmen sind«, sagt Frank Schieck.
Die Fraunhofer-Forscherinnen und -Forscher wollen anhand der
Modellprozesskette nicht nur die seriennahe Umsetzung von Industrie 4.0
demonstrieren, sondern auch zukunftsweisende Verfahrens- und Anlagenkonzepte
erproben. Bereits beim Aufbau der Modellprozesskette arbeiteten die Experten
des IWU eng mit Herstel¬lern und Anwendern zusammen. So wurde bei-spielsweise
gemeinsam mit der Firma Schwartz GmbH eine neuarartige Kontakterwärmungs-anlage
für die Modellprozesskette entwickelt.
Hierbei kommt eine zweistufige Ofentechnik zum Einsatz, die
das Blech entweder in mehreren Schritten gleichmäßig oder zonenweise erwärmt.
Durch die unterschiedliche Temperierung des Werkstücks lassen sich schon
während des Aufheizens der Platine die Festigkeitsverläufe in bestimmten
Bereichen der Bauteile beeinflussen, was für nachfolgende Beschneideverfahren
und das Crashverhalten von Vorteil ist. Das Erwärmen lässt sich sehr flexibel
einstellen und je nach gewählter Stufe auf sechs Bereiche variabel ver¬teilen.
»Ähnlich dem Bügeleisenprinzip können wir die thermische Energie gezielt und
konturnah in bestimmte Bereiche des Werkstücks lenken«, erläutert Frank
Schieck.
Auch bei der Werkzeugkühlung erproben die Wissenschaftler
ein am Institut entwickeltes System. Der geschlossene Kühlkreislauf basiert auf
einem Rohrgeflecht, das in den Grundkörper des Werkzeugs eingefräst wurde. Die
Kühlung ist nach dem Gegenstromprinzip aufgebaut, bei dem kalte und warme Luft
aus entgegengesetz¬ter Richtung aneinander vorbeiströmen. Alle Kanäle lassen
sich separat ansteuern. »Das hat den Vorteil einer gleichmäßigen Abkühlung und
führt zu einer gleichbleibend hohen Qualität der Bauteile«, sagt Norbert
Pierschel. Zudem be¬schleunigt ein wärmeleitfähiger Werkzeugstahl das Erkalten
des Werkstücks.
Die Experten des IWU erproben auch neue Be-schnittverfahren.
Konventionell werden die Bau¬teile nach dem Umformvorgang abgelegt und zu
Laserschneidanlagen transportiert. Da der Laserbeschnitt länger dauert als der
eigentliche Presshärtevorgang, müssen die Bauteile jedoch zwischengelagert werden.
»Um die Taktzeiten der Prozesskette zu verkürzen und die Energieef¬fizienz zu
verbessern, untersuchen wir mit dem Warmbeschnitt sowie dem
Hochgeschwindig-keitsscherschneiden zwei alternative Verfahren, die in den
Umform- und Abkühlprozess inte¬griert bzw. diesem direkt nachgelagert sind«,
er¬klärt Frank Schieck.»Die Einbindung innovativer Fertigungskonzepte, die
intelligente Vernetzung der einzelnen Anlagen und deren Sensorik sowie der
Einsatz einer Wissensdatenbank führen zu einer automatisierten Regelung der
Prozesse mit kürzeren Taktzeiten und weniger Materialeinsatz beim Herstellen
hochfester Karosseriebauteile im Fahrzeugbau«, fasst IWU-Wissenschaftler
Nor¬bert Pierschel wichtige Vorteile zusammen. »Dies gilt sowohl für Stahl- als
auch für Aluminium¬oder Magnesiumbleche.«
Bislang dominieren in der Fertigung meist starre Pläne und
Produktionsabläufe. Ein Beispiel ist die Getriebefertigung: Zahnräder werden
bisher in fest verketteten Linien gefertigt, bei denen zum Beispiel Fräs- und
Drehmaschinen miteinander verbunden sind. Fällt eine Maschine aus, steht die
ganze Linie still. Weiterer Nachteil: Klein- oder Kleinstaufträge mit
beson¬deren Anforderungen oder Produktmerkmalen lassen sich so kaum fertigen.
»Will man hier flexibler werden, bietet es sich an, die Verkettung aufzuheben«,
sagt Eckhard Hohwieler, Leiter der Abteilung Produktionsmaschinen und
Anlagen-management am Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und
Konstruktionstechnik IPK in Berlin.
Aber das ist nicht so trivial, wie es klingt. Zwar gibt es
schon einige Alternativen zur Produktion in verketteten Linien wie zum Beispiel
die Werkstattfertigung. Dabei werden Maschinen für ähnliche Fertigungsaufgaben
zu Inseln zusammengestellt — etwa mehrere Drehmaschinen zu einer
Drehmaschineninsel oder mehrere Fräsmaschinen zu einer Fräsmaschineninsel. Dann
aber braucht man Methoden, die gewährleisten, dass ein Produkt die Fertigung
zügig und zuverlässig durchläuft. Sonst wird am Ende ein Bearbeitungs¬schritt
vergessen oder ein Auftrag bleibt auf halbem Weg durch die Produktion stecken,
weil keiner weiß, wo er als nächstes hin soll.
Der Mensch steht im Mittelpunkt
Genau dort setzen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
des Fraunhofer IPK an. Sie entwickeln Lösungen für eine in¬tegrierte Industrie
4.0-Fabrik — unter anderem eine neuartige Prozessorganisation, die die feste
Verkettung überflüssig macht, ohne dass der zuverlässige Produktionsdurchlauf
der Linie verloren geht. Die Besonderheit ihrer Lösung: Bei diesem Konzept
steht der Mensch im Mittelpunkt. Die
Entscheidungsgewalt über den Fertigungsablauf liegt bei den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern — während leistungs¬fähige Werkzeuge ihre
Entscheidungsfähigkeit unterstüt¬zen. Dabei sorgen IT-getriebene Werkzeuge
dafür, dass die Mitarbeiter auf allen Hierarchieebenen zu jeder Zeit genau die
Informationen erhalten, die sie benötigen, um ihren Teil zur termingerechten
Fertigstellung des Produkts beitragen zu können — vom Prozessmanagement über
die Produktionspla¬nung bis zur Endmontage. Dazu müssen jedoch Maschinen direkt
miteinander, mit Werkstücken und mit dem Menschen kommunizieren.
Ein Agentensystem überwacht den Fertigungsplan
Doch lässt sich die Zahnradproduktion auch ohne Ver-kettung
zuverlässig steuern? Diese Frage untersuchen die IPK-Wissenschaftler gemeinsam
mit Industriepartnern im Projekt »iWePro — Intelligente selbstorganisierende
Werk-stattproduktion«. »Bisher wird in der industriellen Fertigung vorab ein
Plan für die komplette Produktion vom Rohling bis zum einsatzbereiten Zahnrad erstellt
— der wird dann nur noch abgearbeitet«, berichtet Franz Otto,
wissenschaftlicher Mitarbeiter am IPK. Um Werkstattaufträge situationsgerecht
zu steuern, entwickeln Otto und seine Kollegen ein Agenten¬system, das die
Umsetzung des Fertigungsplans überwacht. Software-Agenten informieren unter
anderem die Mitarbeiter an den einzelnen Stationen der Werkstatt, welche
Maschine für den nächsten Bearbeitungsschritt eines Auftrags vorgese¬hen ist —
und assistieren, wenn Umplanungsbedarf entsteht, etwa weil eine Maschine
ausfällt.
»Doch bevor die Inselfertigung Realität wird, müssen wir
prüfen, ob sie tatsächlich besser arbeitet als die technisch bereits sehr
ausgefeilte klassische Linienfertigung«, sagt Otto.
Dazu entsteht in iWePro eine aufwändige Simulation, mit der
die Forscherinnen und Forscher durchspielen können, welche Kombination aus
zentraler Planung und flexibler Umplanung für welchen Anwendungsfall geeignet
ist — und welche Eingriffe durch die Werker sinnvoll sind. Dabei simulieren die
Experten auch, wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Halle mit den
nötigen detaillierten Informationen versorgt werden können, etwa über Smart
Devices.
kombinieren die Forscher die Simulation mit einem
modell¬getriebenen Industrie-Cockpit und einem Montageroboter. Das Cockpit
ermöglicht ein flexibles Monitoring aller Unter¬nehmensprozesse, wobei Manager
jederzeit einen exakten Überblick haben, welcher Auftrag sich in welchem
Bearbei¬tungsstadium befindet. Jedem Nutzer werden genau die Informationen
bereitgestellt, die er für seinen Arbeitsbereich benötigt.
Flexibles Miteinander von Mensch und Maschine
Die Simulation der Werkstattproduktion macht alle Abläufe in
der Fertigung auf einem 3D-Bild sichtbar. »Wir ahmen damit den Blick aus einem
Leitstand nach«, erläutert Eckhard Hohwieler. Auf der Hannover Messe (25. —29.
April 2016)
Der Roboter ist ein anschauliches Beispiel, wie die
künfti-ge Zusammenarbeit von Menschen und Robotern in der Endmontage gestaltet
sein kann. Hohwieler betont: »Mit unserem Exponat liefern wir ein Muster dafür,
wie man mit industrienaher Forschung sicherstellen kann, dass Industrie 4.0
funktioniert und ein flexibleres Miteinander von Mensch und Maschine gelingt.«
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