Sonntag, 2. März 2014

Die Azteken Mexico von Selzer-McKenzie SelMcKenzie

Azteken – Kultur und Geschichte
Die Azteken Mexico von Selzer-McKenzie SelMcKenzie
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Wo der nordamerikanische Halbkontinent sich am nördlichen Wendekreis trichterförmig verengt und nur noch von Gebirgen und Hochflächen geprägt wird, beginnt einer der grössten Wüstengürtel der Erde mit Hochplateaus und tief eingeschnittenen Canyons. Er liegt zum Teil im Südwesten der heutigen USA und dehnt sich bis in den Norden Mexikos aus. Das Land ist unwirtlich und nur dünn besiedelt. Weiter südlich, in West und Zentralmexiko, erhebt sich die Kordillere zu gewaltigen Gipfeln von über 5000 Metern. Diese bieten den Wolken, die der Monsun über den Himmel treibt, genügend Widerstand, damit sie sich stauen, in die Höhe steigen und abregnen können. Die jährlichen Regen werden deswegen ergiebiger, auch weil die Landmasse sich zunehmend verengt, so dass der maritime Einfluss sich überall durchsetzen kann. Sie reichen aus, um in den Tälern und Hochebenen Landwirtschaft ohne künstliche Bewässerung zu betreiben, weswegen die Besiedlungsdichte hier höher ist als im ariden Norden. Der Isthmus von Tehuantepec, auf 16°18° nördlicher Breite in Mexiko gelegen, die nach Panamä schmalste Landenge Amerikas, gilt als die geographische Grenze Nordamerikas, das also den grössten Teil des heutigen Staates Mexiko umfasst.
Daran schliesst sich Mittelamerika mit dem Hochland von Chiapas, dem vulkanisch aktiven Gebirgsland Guatemalas und der grossen, nach Norden in Richtung Kuba ins Meer ragenden Kalksteinfläche von Yukatan an. Mittelamerika endet seinerseits an der weniger ausgeprägten Landenge beim Golf von Izabal im heutigen Guatemala. Jenseits beginnt Zentralamerika, das aus den heutigen Republiken Honduras, El Salvador, Nicaragua, Costa Rica und Teilen Panamäs gebildet wird.
Das Gebiet des zentralen und westlichen Mexiko und Mittelamerikas war im Gegensatz zu seiner geographischen Zweiteilung und der Zugehörigkeit zu verschiedenen modernen Staaten in der indianisch geprägten Vergangenheit eine kulturelle Einheit und wird von der Forschung Meso amerika genannt. Der kulturgeschichtliche und geographische Begriff Mesoamerikas sollte weder mit dem modernen Staat Mexiko noch mit dem geographischen Begriff Mittelamerika verwechselt oder gleichgesetzt werden, denn die drei Begriffe decken sich nicht. Mesoamerika ist ein kulturgeschichtlicher Begriff wohingegen die beiden anderen geographische bzw. politische Begriffe sind. Aber auch die Bezeichnung «Kulturkreis», den man auf Mesoamerika angewendet lesen kann, führt in die Irre, denn damit verbindet sich die längst überholte Theorie einer angeblich weltweit gültigen historischen Abfolge solcher Kulturkreise, die zum Beginn des 2o. Jahrhunderts von Leo Frobenius, Fritz Gräbner und Wilhelm Schmidt entwickelt wurde und lange Zeit die kulturwissenschaftliche Forschung in Europa geprägt hat. Hingegen bezieht sich der Begriff «Kulturareale», unter den wir Mesoamerika einordnen, zwar ebenfalls auf erkennbare Kulturelemente und deren Verbreitung, neben ihrer historischen Entstehung wird jedoch auch ihre Umweltabhängigkeit berücksichtigt, und der Begriff enthält keinerlei kulturhistorische Spekulationen.
KULTURGESCHICHTE
Beim Namen Mexiko und Mexikaner gilt es zu berücksichtigen, dass diese Bezeichnungen ursprünglich nur das Volk der Azteken und ihr Siedlungsgebiet in Zentralmexiko meinten. Sie wurden aber bald auf die ganze spanische Kolonie, die offiziell Neuspanien («Nueva Esparia») hiess und auch die nichtindianischen Einwohner umfasste, ausgeweitet. Um Verwechslungen zu vermeiden, verwende ich für die indianischen Bewohner vornehmlich den Ausdruck Azteken, obwohl sie sich zur Zeit ihrer ersten Begegnung mit den Spaniern selbst «Mexikaner» (Müxhicah) nannten. Azteken (Aztecah) ist eine ältere Selbstbezeichnung, die schon in vorspanischer Zeit ausser Gebrauch geraten war und später nur noch zur Bezeichnung ihrer nichtsesshaften Vorfahren diente.
Für alle grossen Kulturareale der Welt ist die Wissenschaft bemüht, ihre Geschichte nach historisch sinnvollen Epochen und Perioden zu gliedern. Soweit es keine schriftliche Überlieferung gibt, geschieht das nach archäologisch erkennbaren Eigenschaften in Abhängigkeit von ihrer räumlichen Ausdehnung. Man versucht dabei Blüte und Niedergangszeiten zu kennzeichnen oder man gliedert die Geschichte einfach formal nach einem Dreiperiodenschema von Alt, Mittel und Jung. So kennen wir in Europa die AltSteinzeit (Paläolithikum), die Mittlere Steinzeit (Mesolithikum) und die JungSteinzeit (Neolithikum) oder auch die uns näher stehenden Epochen des klassischen Altertums, des Mittelalters und der Neuzeit.
Stehen schriftliche Überlieferungen zur Verfügung und bilden Staaten die politische Organisationsform der Bewohner, versucht man die Geschichte nach Dynastien zu gliedern. Berühmt und hochoffiziell ist die kulturgeschichtliche Gliederung Chinas, die mit ihren fünfzehn Dynastien nahezu 4000 Jahre umfasst, oder die eine kürzere Zeitspanne von «nur» rund t000 Jahren umfassende Römerzeit in Republik, Frühe und Späte Kaiserzeit, wobei Letztere oft noch nach den regierenden Familien untergliedert werden. Ein komplexes Schema, das von allen geschilderten Elementen Komponenten enthält, gliedert auch die Kulturgeschichte des indianischen Amerika vor der europäischen Landnahme, wie ich sie im Folgenden schildern werde.
Die Paliioindianische Epoche
Unstrittig ist in der Wissenschaft, dass Amerika erst sehr spät in der Menschheitsgeschichte, die vor über einer Million Jahren in Afrika begann, besiedelt wurde. Die Ausbreitung des Frühmenschen aus Afrika erfolgte zunächst in den Vorderen Orient, von dort aus nach Europa und Asien; und erst danach wurden die südostasiatischen Inseln und Australien besiedelt. Amerika soll sehr viel später, vor kaum mehr als 40 000 Jahren, als letzter Kontinent erstmals von kleinen Gruppen von Jägern aus Nordasien betreten worden sein, die sich dann allerdings rasch über den ganzen Doppelkontinent ausgebreitet haben.
In den letzten Jahrzehnten entstanden vermehrt ernstzunehmende Zweifel an dem einfachen Modell der ausschliesslichen Besiedlung Amerikas zu Fuss, dem Jagdwild folgend über eine damals bestehende breite Landbrücke zwischen Sibirien und Alaska. Eine alternative Route der Einwanderung aus Nordasien hätte in Booten entlang dem Küstensaum verlaufen können, der heute durch den gestiegenen Wasserspiegel überschwemmt ist und daher mögliche Zeugnisse menschlicher Anwesenheit, wie Rast oder Siedlungsplätze, nicht wieder preisgegeben hat. Die Einwanderung aus Süd oder Ostasien oder sogar von der Südsee direkt in Booten über den Pazifik ist ebenfalls erwogen worden, ohne dass dafür bisher Beweise vorgelegt wurden. Argumentiert wird stets nur mit indirekten Indizien. Als neueste These, ergänzend zu der unbestrittenen Hauptbesiedlung aus Asien, werden aufgrund von genetischen Übereinstimmungen zwischen indianischen Bewohnern des östlichen Nordamerika und Westeuropas Menschen der MagdalnienEpoche Europas für zusätzliche frühe Einwanderer gehalten. Sie wären in Booten entlang dem Rand des nördlichen Polareises nach Labrador und Neufundland gelangt, was technisch vielleicht schon damals möglich war, wobei ihnen die Inseln nördlich von Schottland, dann Island und schliesslich die Südspitze Grönlands, wenn sie nicht unter Gletscher oder Packeis verborgen waren, als Stützpunkte gedient haben könnten. Die Wikinger, die nachweislich um t000 n. Chr. Nordamerika auf dieser, jetzt nicht mehr durch einen polaren Eisschild begrenzten Route erreichten, und Kolumbus, der 1492 Amerika als letzter «entdeckte», wären also gar nicht die ersten Europäer gewesen, die Amerika von Osten aus erreichten.
Es sieht also so aus, als ob die Einwanderung des Menschen nach Nordamerika zu verschiedenen Zeiten, auf verschiedenen Wegen und aus ganz verschiedenen Regionen der Alten Welt vonstatten gegangen sein könnte. Man muss diese Frage beim derzeitigen ungefestigten Stand der Wissenschaft offenhalten, da alle vorgeschlagenen Routen, mit Ausnahme der höchst unplausiblen Thesen der direkten Besiedlung über den Pazifischen Ozean, noch nicht zweifelsfrei nachgewiesen oder in ihrem Ausmass und Beitrag zur späteren amerikanischen Population abgeschätzt werden können.
Kleine Gruppen arktischer Jäger, woher und wann genau sie auch gekommen sein mögen, waren es also, die als erste Menschen Amerika besiedelten. Ihre technische Ausstattung war derjenigen ähnlich, die wir ethnographisch von den Eskimo kennen. Sie war aber wahrscheinlich in den Waffen und der Bekleidung noch nicht so vollkommen. Diese frühen Einwanderer haben mit ihren Hunden und mit Speerschleudern und Speeren bewaffnet in Verfolgung von Grosswild und anderen Nahrungsquellen den ganzen Kontinent durchmessen. Modellrechnungen lassen es möglich erscheinen, dass ihre Nachkommen schon wo° Jahre nach der Ankunft der ersten Gruppen in Alaska die Südspitze Amerikas in Feuerland erreicht haben könnten. Und nur unter der Annahme der schnellen Durchdringung Amerikas ist verständlich, dass von den heute bekannten archäologischen Fundorten die bisher frühesten in Südamerika liegen.
Die «Beringia» genannte Landbrücke zwischen Asien und Nordamerika, über die frühe Jäger nach Amerika eingewandert sind.
Die archaische Epoche
Von solchen kleinen jagenden Gruppen, deren bedeutendste nach einem Fundort in Nordamerika als ClovisMenschen bezeichnet werden, leiten sich alle amerikanischen Indianer ab, letztlich also auch die Azteken. Im späteren Mesoamerika haben sich zwar noch keine spektakulär frühen Spuren von Clovis oder VorClovisMenschen gefunden, es ist aber sicher, dass sie da waren, denn sowohl in Nord als auch in Südamerika gibt es zahlreiche Spuren dieser frühen Menschen: Feuerstellen, Orte, wo sie erjagte Wild schlachteten, und sogar Fussspuren im Schlamm, der später von Vulkanasche verdeckt wurde.
Die berühmten Funde von Geschossspitzen in Zusammenhang mit urzeitlichen Mammuts in Tepexpan, wenige Kilometer nordöstlich von MexikoStadt, und anderswo im zentralmexikanischen Hochland, die der deutsche Geologe Helmut de Terra [19001981] in den 194oer Jahren machte, sind allerdings nicht so früh, dass sie für diesen Nachweis dienen können. Es scheint, dass sich in Zentralmexiko die urtümliche Grossfauna wegen der günstigen Lebensbedingungen im damals sehr viel feuchteren Hochland mit vielen Seen und üppigem Pflanzenbewuchs noch sehr lange gehalten hat. Die archaischen Jäger konnten grossen Tieren dort länger nachstellen als in Nordamerika, wo man sich schon viel früher auf die Jagd von Kleintieren umstellen musste, weil das Grosswild ausgerottet oder ausgestorben war. Und zu solchen relativ späten Grosswildjägern gehören die TepexpanFunde.
Das Frühformativum
Nach einer langen Zeit, in der die Menschen ausschliesslich von der Jagd lebten und nicht sesshaft waren, hat sich vor etwa 7000 Jahren an mehreren Stellen in Mesoamerika die Entwicklung zur Hochkultur mit Sesshaftigkeit, Pflanzendomestikation, Töpferei und anderen Kulturtechniken angekündigt. Diese Entwicklungen bildeten sich zunächst zeitlich und örtlich getrennt heraus. Sie sind dann um 3000 v. Chr. in Zentralmexiko zusammengekommen und haben synergetisch, wie man es in der modernen Unternehmenssprache ausdrücken würde, die Kulturentwicklung beschleunigt. Damit verbreitete sich auch die Sesshaftigkeit, die anfangs nur auf wenige günstig gelegene Kleinräume an Küsten, vor allem im Grenzgebiet des heutigen mexikanischen Bundesstaates Chiapas und Guatemalas und in gut bewässerten Tälern in Zentralmexiko, zum Beispiel im Tal von Tehuacän, beschränkt gewesen war.
Schon in dieser frühen Zeit wurden Mais, Kürbis, Tomate, Bohnen, Avocado und Baumwolle angebaut — so wie über mehrere tausend Jahre bis in die Gegenwart. Und die immer ertragreichere Züchtung, verbunden mit geschicktem Mischanbau, hat zu Nahrungsmittelüberschüssen geführt, die es den Menschen ermöglichten, einen Grossteil ihrer Energie für andere, nämlich zivilisatorische Ziele einzusetzen.
Die Wissenschaft hat diese Epoche der Kulturentwicklung «(Früh) formativum» genannt, um damit anzudeuten, dass bedeutende Entwicklungen begonnen wurden, die die späteren Hochkulturen präformierten.
Das Spätformativum: Die Olmeken
Auf der Grundlage einfacher, aber ertragreicher Landwirtschaft frühformativer Dorfgesellschaften haben Olmeken an der atlantischen Golfküste im heutigen mexikanischen Bundesstaat Veracruz und Frühzapoteken im Hochtal von Oaxaca im gleichnamigen mexikanischen Bundesstaat ab 1500 v. Chr. erstmals monumentale Steingebäude in gross angelegten Kultzentren errichtet. Damit begründeten sie eine öffentliche repräsentative Kunsttradition, die ihre Wurzeln in bescheidener Kleinkunst aus Ton hatte, die aber seither vornehmlich monumentale Steingebäude und skulpturen umfasste. In dieser Zeit sind auch einige Dörfer so stark gewachsen, dass man sie mittels Infrastrukturmassnahmen zu veritablen Städten ausgebaut hat. San Lorenzo Tenochtitlän, La Venta und Monte Albän waren die bedeutendsten. Komplexe arbeitsteilige Gesellschaften, die durch produktive Landwirtschaft so viel Überschuss produzierten, dass sie sich den Luxus der Stadtentwicklung, der Kunst und der Errichtung von Monumentalbauten erlauben konnten, bezeugen das.
Mit monumentalen Porträtköpfen von Herrschern — bisher sind i6 bekannt, die meist mehrere Tonnen wiegen und mühsam aus den Steinbrüchen in den Bergen an ihre in der Ebene gelegenen Aufstellungsorte gebracht werden mussten — zeigen die Olmeken in San Lorenzo Tenochtitlän, dass hier auch eine geschichtete, staatsähnliche politische Verfassung entwickelt worden war, die in der Lage war, Arbeitskräfte für ihre Zwecke einzuspannen. Dass diese Herrscher auch Kriege führten und sich damit brüsteten, beweisen die bei den frühen Zapoteken gefundenen Steinreliefs getöteter Gefangener. Sie wurden früher in der Literatur irreführend als «Tänzer» (span. danzantes) bezeichnet (Abb. Was früheren Archäologen als idyllische oder berauschte Tänze erschien, verstehen wir heute eher als Darstellung von Geopferten und Verstümmelten im Todeskampf.
Damit einher gingen komplexe religiöse Systeme, die wir allerdings kaum direkt fassen können, weil sie sich nur indirekt und symbolisch in erhaltenen Artefakten, wie jaguar und schlangenartigen Wesen, Altären und zeremoniellen Opferdepots manifestiert haben.
Diese frühen Hochkulturen haben auch auf Zentralmexiko ausgestrahlt. Der grosse Friedhof von Tlatilco aus dieser Periode, der heute von der auswuchernden Hauptstadt Mexikos überbaut ist, ist indirektes Zeugnis für eine dichte bäuerliche Besiedlung und ihren Grabkult auch dieser Zwischenregion zur damaligen Zeit. Wir finden im Hochtal von Mexiko aber auch spektakulärere Zeugnisse zeitgenössischer Zivilisation, zum Beispiel die gestufte Rundpyramide in Cuicuilco, am Südrand der modernen Stadt Mexiko. Die damit begründete Tradition von Tempelbauten erhielt sich durch alle späteren geschichtlichen Epochen, wurde aber mit runden Formen auf Bauten zur Verehrung des Windgottes eingeschränkt, während für andere Göttern Pyramiden mit rechteckigem Grundriss er richtet wurden. Die bedeutende zu Cuicuilco gehörige Siedlung und die Kultanlage fielen im 'Jahrhundert v. Chr. einem Ausbruch des Vulkans Xitle zum Opfer. Er hat die Siedlung und das Kultzentrum vollständig mit Lavaströmen begraben. Möglicherweise führte das aber nicht zu einer menschlichen Katastrophe, da die Mehrheit der Bevölkerung sich in ein nördliches Seitental rettete, wo sie zum Aufblühen der später Bedeutung erlangenden Siedlung Teötihuahcän beitrug.
Die Hochkulturen des olmekischen Horizontes und ihre örtlichen Ableger in den zentralen Hochtälern waren längst vergangen oder, wie Cuicuilco, sogar unsichtbar unter Vulkanablagerungen begraben, als die Azteken das Land betraten. Sie waren schon so lange vergangen, dass nicht einmal Mythen der ansässigen Bevölkerung den aztekischen Neuankömmlingen von ihnen berichten konnten. Daher ist über sie mündlich oder bilderschriftlich nichts überliefert.
Ein Danzante aus San Jose Mogote (Oaxaca, Mexiko). Archäologen fanden diese skulptierte Steinplatte als Schwelle eines Eingangs in ein bescheidenes Bauwerk in der formativen Siedlung San Jos Mogote und datierten sie aufgrund des baulichen Zusammenhangs auf etwa 60o v. Chr. Auf ihr ist ein Mann reliefiert, dessen Gliedmassen nach allen Seiten ausgestreckt bzw. gebeugt und abgespreizt sind. Seine Augen sind geschlossen, der Mund ist leicht geöffnet. Aus seinem Leib quellen die Gedärme hervor, begleitet von einem Blutstrom. Dadurch wird deutlich, dass dies ein Geopferter ist, dem vermutlich das Herz aus dem Leib gerissen wurde, was auch später in bestimmten Opferritualen üblich war. Es handelt sich also nicht um einen Tänzer, wie der spanische Name «Danzante» suggeriert. Zwischen seine Beine ist aus zwei einfachen Hieroglyphen sein Name geschrieben
Das Klassikum: Teötihuahcän
Ganz anders war es mit der Überlieferung zu der seit etwa Christi Geburt aufblühenden Kultur von Teötihuahcän und der noch späteren der Tolteken, die beide ihre Zentren im nördlichen Hochtal von Mexiko hatten. Ihre Bauten und die damals noch aufrecht stehenden steinernen Götterbilder beeindruckten die neuankommenden aztekischen Siedler und regten sie zum Nachdenken über die Erbauer und ehemaligen Bewohner an. Schon der Name der älteren dieser beiden Kulturen, die bis etwa 60o n. Chr. bestand, Teötihuahcän, birgt in sich einen aztekischen Mythos, der besagt, dass Und von dort in Tamoanchan, von wo sie aufgebrochen waren, machten sie Opfer am Ort namens Teötihuahcän. Und jedermann errichtete dort Pyramiden für Sonne und Mond. Dann stellten sie alle kleinen Pyramiden her, wo sie Opfer darbrachten, weswegen man den Ort Teötihuahcän nennt. Und dort liessen sich ihre Anführer nieder, so dass man den Ort Teötihuahcän nennt. Und wenn die Herrscher starben, begruben sie sie dort. Dann errichteten sie über ihnen Pyramiden. Die Pyramiden sind heute noch da, wie kleine Berge, jedoch von Hand gemacht. Höhlungen sind dort, von wo sie die Steine genommen haben, um die Pyramiden zu errichten. Und sie errichteten die Pyramiden der Sonne und des Mondes sehr gross, gewissermassen wie Berge. Es ist aber unglaubwürdig, wenn man sagt, dass sie von [Menschen]Hand gemacht sind, denn damals lebten noch Riesen [die das leisteten]. (Sahagün, Historia General, Buch To, Kapitel 29)
An diesem Bericht zeigt sich, dass die Azteken den Ort genau kannten und studiert haben. Steinbrüche werden erwähnt und dass in den Pyramiden Herrscher bestattet wurden. Beides trifft zu, wie die moderne Archäologie herausgefunden hat. Beim Wunsch, diese monumentalen Bauten und ihre Funktion zu erklären, ist der Autor des zitierten Berichtes, ein Azteke der Nacheroberungszeit, der dies dem Franziskanermönch Bernardino de Sahagün erzählte, allerdings schnell bei der Hand, sie «Riesen» zuzuschreiben, die es angeblich in der Vorzeit in Mexiko gab. Ob er damit auf Funde von vorzeitlicher Megafauna Bezug nimmt, die man nicht erst bei modernen wissenschaftlichen Ausgrabungen gemacht hat, sondern schon in der Kolonialzeit und vielleicht auch schon in altaztekischer Zeit, oder ob die Erklärung durch «Riesen» als archetypischer Topos zu verstehen ist, wie wir ihn allenthalben in den Mythen der Völker finden, mag dahingestellt bleiben. Die Deutung von prähistorischen Knochenfunden als Gebeine von Riesen blieb in Mexiko auch weiterhin verbreitet. Anlässlich von Kanalgrabungen im Norden des Tales im Jahr 1608, wo viele tausend Indianer zwangsverpflichtet wurden, hat man auch solche Funde gemacht und darüber berichtet:
Und sie haben dort Knochen von Toten herausgeholt. Es sind einzelne Gebeine derer, die irgendwann einmal hier in diesem Land gelebt haben, die die Alten, unsere Grossmütter [und] unsere Grossväter als Riesen bezeichnen [und] benennen. Es waren grosse Leute. Und diese vereinzelten Gebeine, die sie dort bei der Kanalgrabung herausgeholt haben, brachten sie dorthin nach San Pablo, damit der Vizekönig sie sehe. (Chimalpahin, Tagebuch, Jahr 16o8,g)
Auch die Bezeichnungen der nordsüdlichen Wegachse in Teötihuahcän als  (Miccaohtli) stammt von den Azteken und knüpft an die früher zitierten Vorstellungen, dass der Ort Begräbnisstätte von Herrschern sei, an.
Die Kulturepoche, in der Teötihuahcän der führende Staat in Mesoamerika war, nennt die Forschung «Horizont», weil der kulturelle Einfluss, vielleicht sogar die politische Macht Teötihuahcäns um 600 n. Chr. fast in ganz Mesoamerika spürbar und dominant war. Selbst im ansonsten sehr isoliert und eigenwillig sich formierenden MayaGebiet sind in dieser Zeit Einflüsse Teötihuahcäns zu bemerken; und die örtlichen MayaDynastien scheinen sich aus Prestigegründen oder vielleicht sogar aufgrund tatsächlicher dynastischer Zusammenhänge von Teötihuahcän abzuleiten.
Das Frühe Nachklassikum: Die Tolteken
Ähnliche legendäre und mythisch gefärbte Vorstellungen hatten die Azteken über die Tolteken, die nach archäologischer Datierung etwa um 8001000 n. Chr. in Zentralmexiko einen mächtigen, wenn auch kurzlebigen Staat bildeten. Über sie haben sich mehr und ausführlichere aztekische Berichte erhalten als über Teötihuahcän. Freilich sind auch sie in der Überlieferung schon stark zu Legenden und Mythen verformt worden. Toltekische Herrscher wie Quetzalcöätl oder Huemac und die Paläste, in denen sie in ihrer Hauptstadt Tollän lebten, sind kaum mehr mit archäologischen Hinterlassenschaften zu verknüpfen. Und das Ende der Tolteken mit einer Serie göttlich herbeigeführter Katastrophen und der Abwanderung eines Grossteils der Bevölkerung hat zwar tiefe Spuren in der Geschichtsüberlieferung bis in die Endzeit der Azteken und räumlich bis nach Yukatan und Guatemala hinterlassen, aber wir können in ihnen Mythos und Geschichte kaum auseinanderhalten, wie folgende kurze Episode aus den Annalen von Quauhtitlan zeigt:
Schon in ihm, diesem Jahr Eins Rohr, erzählt man, sagt man, kam [Quetzalcöätl] am Götterwasser, am Himmelswasserrand an und stellte sich dann aufrecht hin und weinte. Er nahm, womit er sich als Tracht geschmückt hatte: seinen ApanecatlFederschmuck und seine Türkismaske usw Und als er sich fertig geschmückt hatte, verbrannte er sich aus freien Stücken, übergab sich den Flammen. Deswegen trägt der Ort, wo sich der Quetzalcöatl verbrannt hat, den Namen .Und es wird gesagt, dass seine Asche, gleich als er verbrannte, emporstieg. Und es erschienen, sie sahen alle möglichen Schmuckvögel zum Himmel emporsteigen. Man sah dort rote Löffelreiher, TürkisCotingas, Trogone, Reiher, grüne Papageien, Feuerararas, Papageien, weisshäuptige Papageien und auch alle anderen Schmuckvögel. Und als er dort ganz zu Asche verbrannt war, stieg sein Herz gleich als QuetzalVogel zum Himmel empor. So sahen sie es, so wussten sie es: Er ging zum Himmel, trat in den Himmel ein. (Annalen von Qauhtitlan, §§ 146a15ob)
Das Späte Nachklassikum: Die unmittelbaren Vorläufer der Azteken
Die Kulturen von Teötihuahcän und der Tolteken, die in der klassischen und frühen nachklassischen Epoche den Ton angegeben hatten, waren auch schon wieder vergangen, als die Azteken in Mesoamerika einwanderten. Sie hatten also keine direkte Berührung mit diesen Altvölkern. Hingegen trafen sie auf andere, sesshafte oder schweifend lebende Stämme und Staaten: die Otömih, Totonaken, Matlatzinkaner, Popolticah, Mixteken und Michhuahkaner. Sie alle waren den aztekischen Neueinwanderern sprachlich und zunächst auch kulturell fremd und zivilisatorisch oft überlegen.
Diese von den Azteken vorgefundenen Völker bildeten ein politisch komplexes Gefüge, in das die Azteken sich zunächst als unbedeutende neue Gruppe einpassten, bevor sie später, etwa roo Jahre nach ihrer Sesshaftwerdung, selbst eine führende Rolle spielten. Stets aber blieben die Azteken sich dessen bewusst, dass sie Spätankömmlinge waren. Der Stadtstaat von Culhuahcan, der sich direkt von den Tolteken herleitete, und die in Äculhuahcän ansässigen Chichimeken mit ihrer Hauptstadt Tetzcuhco galten ihnen als altehrwürdig. Auch die materiellen Hinterlassenschaften längst verschollener Einwohner, vor allem die Pyramiden in Teötihuahcän, die sie als Kultstätten nutzten, und die Palastruinen in Töllän, der Hauptstadt der Tolteken, nötigten ihnen grosse Bewunderung ab. Auch lernten sie in dieser Frühzeit die Andersartigkeit ihrer Nachbarn zu respektieren: Fremde Sprachen, fremde Götter und ihnen unbekannte Kulte sahen sie als etwas ganz Selbstverständliches an und waren bereit, einiges davon zu übernehmen, also von anderen Völkern zu lernen. Fremdenfeindlichkeit im heutigen Sinne oder gar Angst vor Überfremdung kannten sie nicht. Andererseits haben sie jedoch durchaus Unterschiede in Sitten und Bräuchen und in der Kleidung wahrgenommen und zum Teil auch im Vergleich zu ihren eigenen Sitten missbilligt.
Die Tatsache, dass die Azteken späte Einwanderer waren, ist der Grund dafür, dass sich heute noch in entlegenen Gebieten Nachkommen verschiedener voraztekischer Kulturen und Sprachen finden, denn assimiliert wurden die altansässigen Völker in der kurzen Zeit der Vormacht des aztekischen Reiches nicht. Otömih, Matlatzinkaner, Pohpolocah, Totonaken in der nächsten Umgebung der Azteken und viele weiter entfernt siedelnde, wie die Mixe, Huaxteken, Mixteken und Zapoteken heben sich zumindest sprachlich auch heute noch von der ländlichen mestizischen Bevölkerung Mexikos ab.
SOZIALE ZEIT, SPRACHE, SCHRIFT UND ÜBERLIEFERUNG DER AZTEKEN
Muy reuerendo padre, ca niquittac nicinavieo y mihiyotzin in itechcopa y canin auh yn quiyacantiaya quipeualtiaya yn ueuetque yn ce xiuitl o nitlatlan auh niquittac yn imamauh in yca conitoa
Sehr verehrter Pater,ich habe deine Anfrage gesehen und mit Ehrfurcht in Bezug darauf betrachtet, wie die Alten ein Jahr anführten und begannen. Ich habe sie befragt und habe auch ihre Bücher diesbezüglich angesehen. (Brief des Juan Pedro de San Buenaventura an Bernardino de Sahagün)
Festkreise und Kalender
Zeitvorstellungen und deren strukturierende Einflüsse auf das gesellschaftliche Leben zu verstehen und zu erfassen, ist eine Grundvoraussetzung kulturhistorischer Arbeit. Für die Geschichte der Azteken und ihre Kultur genügt es, die Mechanik der beiden Grundsysteme desJahreskalenders und des Wahrsagekalenders zu kennen, um die Zyklizität der öffentlichen Feste und die grosse Rolle der Wahrsagerei in der Gesellschaft zu begreifen. Der Leser braucht sich also keine genaueren Kenntnisse des altindianischen Kalenderwesens mit seinen beiden konkurrierenden, aber verzahnten Festzyklen und den Tutelargottheiten für die Zeitperioden anzueignen; der folgende Abriss sollte genügen.
Jahreskalender
Jedes Jahr wird mit einem zweiteiligen Namen bezeichnet, der aus dem Nebeneinanderherlaufen der Zahlen i bis 13 und aus fünf Namen von Tieren, Naturerscheinungen und kulturellen Gegenständen gebildet wird. Dadurch entstehen 52 verschieden bezeichnete Jahre. Eine kurze Sequenz solcher Jahre ist zum Beispiel: Das Jahr mit dem Namen «Eins Kaninchen»
Töchtli), das darauf folgende mit dem Namen « Zwei Rohr» (2 /kat!), das daran anschliessende namens «Drei Feuerstein» (3 Tecpatl) und das vierte der Reihe mit dem Namen «Vier Haus» (4 Calli). Das Ende eines solchen Zyklus, den die Azteken «Jahresbindung» (Xiuhmolpilli) nannten, wurde auf das Jahr «Zwei Rohr» festgelegt, das zweite der oben gegebenen Kurzsequenz. Danach beginnt ein neuer Zyklus mit dem Jahr «Drei Feuerstein». Ausser diesem sind andere Jahre nicht besonders hervorgehoben. Sie folgen einfach ununterbrochen aufeinander, und die Namen des vorangegangenen Zyklus wiederholen sich nach 52 Jahren in genau der gleichen Abfolge.
Kulturell interessant ist, dass die Azteken ihr soziales Leben der Mechanik dieses Kalenders angepasst haben. Ein aztekischer Mann tritt daher mit 52 Jahren in den Ruhestand: Zu diesem Zeitpunkt erlischt seine Steuerpflicht und seine Pflicht, sich an kommunalen Arbeiten zu beteiligen. Er hat dann einen ganzen Jahreszyklus als gesellschaftlich aktiver Mensch durchlaufen und sich nun einen unbeschwerten Lebensabend verdient. Dazu gehört auch der freie Genuss des alkoholischen Agaveweins Octli, der ihm zuvor streng untersagt war.
Da wir wissen, dass das aztekische Jahr «Drei Haus» (3 calli) dem christlichen Jahr der spanischen Eroberung 1521 entsprach, können wir aztekische Jahre beliebig weit in die Vergangenheit zurück mit christlichen korrelieren.
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Korrelation aztekischer und christlicher Jahre.

Die Geschichtsschreibung, der es nicht auf Tagesgenauigkeit ankommt, sieht davon ab, dass aztekisches und europäisches Jahr nicht am gleichen Tag anfangen und dass auf lange Sicht eine Verschiebung zwischen den beiden Jahresarten dadurch entsteht, dass das aztekische Jahr genau 365 Tage lang ist, während das europäische durch Schalttage alle vier Jahre etwas länger ist. In den 200 Jahren, die wir für geschichtliche Rekonstruktionen vor 1521 zurückrechnen müssen, macht das maximal eine Verschiebung von 5o Tagen aus. Selbst wenn wir noch weiter zurückschauen, zum Beispiel auf den mythischen Anfang der aztekischen Wanderung im Jahre 1064, beträgt die Diskrepanz immer noch weniger als ein Jahr.
Ein gravierenderer Fehler, der schon in der eigenen indianischen Geschichtstradition zur Wirkung kommen kann, ist das fehlerhafte Einschalten oder das Tilgen eines (oder mehrerer) 52Jahreszyklen. Doch spielt diese Fehlerart in den kurzen Zeitspannen, die uns beschäftigen werden, kaum eine Rolle. Eine gewisse Relevanz hat sie lediglich für die ereignisarme Frühzeit ab 1064 bis zur Sesshaftwerdung in Chapultepec und für die noch ältere mythische Zeit. Schliesslich ist noch eine Eigenheit mexikanischer Datierung für Abweichungen von Zeitangaben um ein bis höchstens zwei Jahre verantwortlich. In den meisten Geschichtstraditionen wird der Regierungsantritt eines neuen und das Regierungsende des alten Herrschers jeweils der Regierungszeit eines der beiden ganz zugerechnet, selbst wenn der Regierungswechsel mitten im Jahr stattfand und also beide während eines Teils des betreffenden Jahres herrschten. Je nachdem, welchem der Herrscher man das ganze Jahr zuschlägt, kann so zwischen zwei Traditionen eine Diskrepanz von einem oder zwei Jahren für die Herrschaftsdauer entstehen.
Mit all diesen Fehlermöglichkeiten und Ungenauigkeiten dürfte klar sein, dass Jahresdaten der aztekischen Geschichte cum grano salis aufzufassen sind, dass sie aber dennoch einen hinreichend genauen Bezugsrahmen für einen Geschichtsabriss bieten.
Der Wahrsagekalender
Der zweite Kalender zählt nicht Jahre, sondern Tage. Auch mit seinen Grundzügen sollte sich der Leser vertraut machen. Es handelt sich um 20 nach Tieren, Naturerscheinungen und Ähnlichem benannte Einheiten, denen jeweils eine der Zahlen i bis 13 vorangestellt wird. Diese beiden Reihen werden permutiert, wie wir es schon vom Jahreskalender her kennen, und ergeben dadurch einen Zyklus von 26o verschieden benannten Tagen. So lautetet ein Tag zum Beispiel «Vier Blume» (4 Xöchitl), der darauffolgende «Fünf Krokodil» (5 Cipactli) und so fort. Ein Fünftel dieser Tagesnamen dient übrigens zur Benennung der Jahre. Doch kann man in der Hieroglyphenschrift der Indianer Jahresnamen von den gleichbezeichneten Tagesnamen dadurch unterscheiden, dass Jahresnamen immer in Rechtecke eingeschlossen sind, während Tagesnamen nicht gerahmt sind.
Die Festkreise
Offizielle Feste gab es bei den Azteken in mehreren Festkreisen, deren Abfolge und Dauer von den eben dargestellten kalendarischen Zyklen strukturiert werden. Zwei Festkreise folgen dem Jahr von 365 Tagen; darunter einer, der die Binnengliederung des Jahres widerspiegelt und ein anderer, der das Vielfache von Jahren zur Grundlage seiner Zyklizität nimmt. Ein dritter Festkreis folgt dem Wahrsagezyklus von 26o Tagen. Es gab ausserdem Feste, die anderen Zeitzyklen folgten oder deren Rhythmus und Anlässe uns unbekannt sind bzw nicht zeitbestimmt, sondern ereignisbestimmt waren. Zu den ereignisbestimmten gehören die Verdienstfeste der Kaufmannschaft, die nach erfolgreichen Fernhandelsreisen ausgerichtet wurden.
Das Jahr von 365 Tagen (Xihuitl) war in ig Monate (Mütztli) eingeteilt, von denen r8 jeweils 20 Tage umfassen und einer nur fünf Tage. Der fünftägige Kurzmonat entsteht dadurch, dass bei der Teilung des Jahres von 365 Tagen durch 20 ein Rest von 5 übrigbleibt. Dementsprechend heisst dieser Kurzmonat im Aztekischen Nemontümi mit der Bedeutung was (lediglich) zum Auffüllen (des Jahres) dient>. Diese fünf Tage galten als unheilvoll und wurden nicht für Feste genutzt. Die Monate tragen verschiedene Namen, die, wie fast alle Bezeichnungen der aztekischen Welt, sprechend sind (Tab. 2). Das heisst, sie machen verständliche Aussagen über das Fest, denn jeder der zwanzigtägigen Monate hatte sein eigenes grosses öffentliches Fest. Im beschreibenden Charakter der Monatsnamen liegt auch ihre Variation begründet. Man kann die Feste nämlich nach verschiedenen wichtigen Merkmalen beschreiben undbenennen oder nach einem jahreszeitlichen Phänomen, das mit dem Fest zusammenfiel. Eine Fest legung auf nur einen Namen, also eine strikte Terminologie, hatte sich offenbar erst bei wenigen Festen herausgebildet. In Tabelle 2 sind die am häufigsten gebrauchten Bezeichnungen aufgelistet.
Die Feste sind zum Teil paarig: Dabei kommt zunächst das  (NNtöntli) Fest und wird unmittelbar von dem  (huei NN) Fest gefolgt. Was es mit dieser Paarung auf sich hat, ist noch unerforscht. Andere Aspekte dieses Festkreises sind Dauer und Gewichtung einzelner Feste. Die Dauer eines Festes könnte als Korrelat zu seiner Bedeutung angesehen werden. Das Fest Tläcaxrpehualiztli, das in Kapitel III genauer geschildert wird, wäre dann eines der bedeutendsten gewesen. Es dehnte sich nämlich über 4o Tage aus, beschränkte sich also nicht auf den nach ihm benannten Monat. Ferner hatten die Feste, die mit den vier Steuerterminen im Jahr zusammenfallen, eine hervorgehobene Bedeutung, was verständlich wird, wenn wir bedenken, dass weltweit Markttage oder Steuertage auch Gelegenheiten für Feste sind, und sich bei solchen Anlässen besonders viel Volk versammelt, also ein besonders grosses Fest gefeiert werden kann. Den Höhepunkt, den eigentlichen Festtag, feierte man immer am zo., also dem letzten Tag des Monats, einerlei, wie ausgedehnt die Feierlichkeiten im Übrigen waren.
Als was sind diese Feste zu deuten? Dass sie religiöse Bedeutung haben, ist unstrittig, da das ganze Leben der Azteken von religiösen Bezügen durchdrungen ist. Der religiöse Gehalt beschränkt sich dabei offensichtlich auf Dienst an den Göttern, um sie geneigt zu stimmen, dem Menschen Nahrung und Wohlergehen zukommen zu lassen; zu diesem Gottesdienst gehören ganz wesentlich die verschiedenen Formen des Menschenopfers. Eine naheliegende weitergehende Interpretation dieser Feste ist die, dass sie den witterungsmässigen und vegetationsmässigen Lauf des Jahres symbolisieren und feiern, wie man es in allen agrarischen Gesellschaften findet. Tläcaxtpehualiztli wird in dieser Interpretation als  gedeutet. Und das Fest fitemoztli () kann unschwer als Feier des Beginns der Regenzeit, deren pünktliches Eintreffen und ergiebige Niederschläge so wichtig für die Landwirtschaft sind, aufgefasst werden. Schliesslich weisen die Alternativbezeichnungen für das Festpaar Xocotl hualahci (alias: Miccailhuitl) und Xocotl huetzi (alias: Hui miccüilhuitl) auf die allmähliche Reifung der Früchte hin. Diese jahreszeitliche Interpretation, die vor allem im interkulturellen Vergleich viel für sich hat, stösst aber auf ein Problem, wenn man bedenkt, dass die Azteken das Sonnenjahr in ihrem Kalender mit 365 Tagen um 1/4 Tag zu kurz ansetzten. Ihre Feste verschieben sich nach diesem 365tägigen Sonnenkalender folglich im Laufe der Zeit gegenüber den natürlichen Jahreszeiten immer mehr, so dass schon nach wo Jahren die Feste Tläcaxrpehualiztli und iitemoztli, wie auch alle anderen, 20 Tage (also einen ganzen Monat) früher liegen als ursprünglich. Dadurch stimmen sie nicht mehr gut mit den entsprechenden Wetter und Vegetationsereignissen überein, für die sie eigentlich gefeiert werden. Eine einfache Lösung des Problems bietet sich nicht an. Sollte ursprünglich eine Übereinstimmung der Festthemen mit den Jahreszeiten gegeben gewesen sein, wäre der Festkalender um das Jahr i000 n. Chr., also in voraztekischer Zeit, eingeführt und dann nicht mehr an den wahren Verlauf der Jahreszeiten angepasst worden.
Wir kommen nun zu den Festen, die nicht jedes Jahr, sondern in grösseren Jahresabständen gefeiert werden. Alle vierJahre wurde im Monat Izcali ein Übergangsritus für Kleinkinder gefeiert. Den Kindern werden jetzt die Ohrläppchen durchbohrt, damit entsprechend der Sitte der Azteken Schmuck eingehängt werden kann. Sie bekommen ausserdem Paten und werden dadurch in den grösseren Gesellschaftsverband eingeführt. Es handelt sich offensichtlich um ein typisches Rite de passageFest gemäss der Theorie Arnold van Genneps. Seine Studie, die er 1909 veröffentlichte, weist nach, dass alle Völker wichtige Übergänge im gesellschaftlichen Leben feiern. Zu solchen Übergängen gehören vor allem die, die mit dem Wachsen, Älterwerden, der Fortpflanzung und dem Tod verknüpft sind. Aber auch Übergänge im räumlichen Sinne gehören dazu, zum Beispiel Abschiedsfeste vor langen Reisen oder das Fest anlässlich der Rückkehr von einer Reise. Auf einige werde ich in Kapitel VI noch ausführlich eingehen.
Alle acht Jahre fand ein Fest statt, das nach der Festspeise  (iitamalguäliztli) genannt wurde. Es wird als Fest geschildert, das den Mais regenerieren soll. Als moderner Forscher denkt man dabei sogleich an die landwirtschaftliche Technik der Brache, dass man also ein Feld nach mehreren Jahren intensiver Nutzung ruhen (brach liegen) lässt, damit es sich regenerieren kann. Die Festbeschreibung legt tatsächlich nahe anzunehmen, dass die Beobachtung sich mindernder Erträge eines Maisfeldes nach mehrjährigem ununterbrochenem Anbau den Anlass für das Fest gibt. Allerdings scheint der Festabstand von acht Jahren etwas hoch gegriffen, denn schon nach drei bis fünf Jahren ist auf den zum Teil kargen Böden im zentralmexikanischen Hochland eine Brache oder ein Fruchtwechsel nötig. Möglicherweise konnten die Abstände bei geschicktem Mischanbau von Mais, Bohnen, Kürbis u.a. aber tatsächlich auf acht Jahre ausgedehnt werden.
Alle 52Jahre ist ein kalendarischer Jahreszyklus abgeschlossen. Danach kehren dieselben Jahresnamen wie vor 52 Jahren wieder. Das Endjahr eines Zyklus war bei den Azteken zunächst Eins Kaninchen und später das folgende Zwei Rohr. Es ist mit ihm gewissermassen ein Ende der Zeiten erreicht, und ein Neuanfang ist angesagt. Um das zu kennzeichnen, mussten in spätindianischer Zeit überall im Land und in allen Haushalten die Herdfeuer gelöscht werden, schwangere Frauen wurden in grossen Vorratskrügen versteckt, um sie vor bösen Geistern (Tzitzimitl u.a.) zu schützen, die in dieser Übergangszeit ihr Unwesen trieben, und der Hausrat wird zerbrochen (Abb. 2). War das alles geschehen, entzündete der höchste Priester des Reiches auf der Brust eines geopferten Mannes nachts auf dem Berg Huixachtücatl, etwa to Kilometer südlich der Stadt Mexiko bei der Seeuferstadt Itztapaläpan, das Feuer von Neuem und verteilte es von dort an die Tempel im Tal und von den Tempeln in jeden einzelnen Haushalt (Abb. 42). Die neun Neufeuerbohrungen, die in altindianischer Zeit von den Azteken zunächst auf ihrer Wanderung an verschiedenen Orten und ab 1403 auf dem Huixachtücatl gefeiert wurden, sind in der Zeittafel im Anhang verzeichnet. Der 26otägige Wahrsagekalender (Tönalpöhualli) bildete auch einen Festkreis. Da der Tönalpöhualli 260 Tage umfasst, könnte dieser Festkreis grundsätzlich ebenso viele verschiedene Feste aufweisen. Das ist jedoch nicht so. Anscheinend bevorzugten die Azteken bestimmte Wahrsagetage ihren Eigenschaften entsprechend zur Durchführung von Festen und mieden andere. Offensichtlich war der erste Tag, der eine t3tägige Woche eröffnet und immer die Zahl (t) führt, der bevorzugte Festtag. Z.B. ist «Eins Blume» der Festtag von Herrschern und Fürsten. Und auch die Götter feiern in diesem Festkreis ihren Geburtstag, der Kulturheros Quetzalcöät1 zum Beispiel am Tag «Eins Rohr». Bisweilen waren auch die Feste des Wahrsagekalenders grosse öffentliche Veranstaltungen, wie das Fest am Tag «Vier Bewegung», an dem man den Sonnengott Tönatiuh feierte. Oft aber waren diese Feste verglichen mit den Jahresfesten bescheidener. Im Gegensatz zu ihnen waren sie nur Feste einer Berufs oder Siedlungsgruppe, weil die an ihm gefeierte Gottheit ihr Schutzpatron war. Das Fest am Tag «Sieben Blume» wurde zum Beispiel von den Webern und Malern gefeiert.
Schwangere in Tonkrug. Ein Mann mit Agavemaske, Schild und Schwert schützt seinen Haushalt gegen Dämonen (Tzitzimitl), während eine hochschwangere Frau, ebenfalls mit Agavemaske geschützt, in einem grossen Tonkrug Zuflucht gefunden hat.
1. Xtlomanaliztli ((Spriessender Mais>) oder Ad cahualo ((Ende der Regen>) oder Quahuitl ehua () oder Cihuäilhuitl ()
2. Tläcaxrpehualiztli () oder Cmilhuitl () oder Xfiöpehualiztli ((Maiskolben spriessen>)
3. Tözoztöntli () oder Xöchimanaloyän ()
4. Huei tözoztli ((Grosse Wache>)
5. Toxcatl ((Trockenes>) oder Tepopochtli ()
6. Etzalquäliztli ()
7. Tecuilhuitöntli ()
8• Huei tecuilhuitl ((Grosses Herrenfest>) oder Xilötlaxcalqualoyän ((Fla
den grünen Maises essen>)
9. Miccäilhuitl () oder Tlaxöchimaco ((Überreichen von Blumen>) oder Xocotl hualahci (10. Huei miccailhuitl ((Grosses Totenfest)) oder Xocotl huetzi ((Früchte fallen herab>, d.h. sie sind reif?)
11. Ochpanaliztli ()
12. Pachtli () oder Teötleco ((die Gottheit kommt herab>)
13. Huei pachtli ((Grosse Flechte>) oder Tepeilhuitl ()
14. Quecholli ()
15. Panquetzaliztli ((Fahnenaufrichten>)
16. Ätemoztli ((Das Wasser kommt herab>)
17. Tititl ((Verschrumpelt>)
18. Izcali ((Grossziehen>).
Die Namen der Monate des 365tägigen Jahres
AZTEKISCHE SPRACHE UND IHRE VERSCHRIFTUNG
can ticnehuihuiliya chalchihuitl in acatic in motlatol ct yn toconmaca quetzal huitolli hui yehuaya oncuicayhuixochiyapipixauhtimani yn mochaua ohuaya ohuaya
Wir verwandeln deine Worte einfach in Jadeperlen, wir geben ihm Quetzalfedergirlanden, Federblumenlieder regnen auf sein Haus, oh ja, oh ja. (Cantares Mexicanos, Lied 7o)
Die Sprache der Azteken ist dank intensiver Bemühungen früher katholischer Missionare durch Übersetzungen christlicher Texte ins Aztekische, durch Sprachlehrbücher und durch Wörterbücher vorzüglich dokumentiert. Sie kann, wie Latein, Altgriechisch, Sanskrit oder andere Kultursprachen vergangener Zeiten, ohne Probleme erlernt werden. Empfehlenswert hierfür ist das spanische Wörterbuch des Alonso de Molina, das 1555 in einer ersten Auflage und 1571 in einer zweiten, erweiterten in Mexiko gedruckt wurde und auch in neueren Nachdrucken zugänglich ist. Ähnlich umfangreich und nützlich ist das auf ihm aufbauende französische Wörterbuch von Remi Simon aus dem ig. Jahrhundert sowie das die aztekische Sprache in Lateinisch und Deutsch erläuternde von Johann Carl Eduard Buschmann. Buschmann war übrigens der erste deutsche Forscher, der sich in Zusammenarbeit mit Wilhelm von Humboldt der aztekischen Sprache zugewandt hat. Sein Wörterbuch, das er im Auftrag Humboldts verfasste, wurde aber erst 150 Jahre nachdem er es erarbeitet hatte, im Jahre 2000 veröffentlicht. Unabhängig von diesen umfassenden Wörterbüchern hat die finnische Linguistin Frances Karttunen 1983 ein knapp gefasstes, modernen sprachwissenschaftlichen Standards entsprechendes englisches Wörterbuch zusammengestellt. Wo immer es auf die genaue Rechtschreibung des Aztekischen ankommt, orientiere ich mich an Karttunens Schreibung, denn nur sie folgt dem gültigen linguistischen Standard. An Grammatiken ist die spanische des vermutlich aus Österreich stammenden Jesuiten Horacio Carochi von 1645 immer noch die genauste. Sie ist in zahlreichen Bearbeitungen und Neuauflagen leicht zugänglich. Daneben gibt es unzählige für das Selbststudium mehr oder minder geeignete, von denen ich persönlich die französische von Michel Launey für die beste halte, während die deutsche von Wilhelm von Humboldt und die spanische von Fernando Horcasitas jeweils nur einen vereinfachten ersten Einblick in den Sprachbau des Aztekischen gewähren. Selbstverständlich werden heute auch im Internet Sprachhilfen für das Aztekische angeboten. Manche sind sogar recht zuverlässig; doch keine reicht an den Standard der genannten gedruckten Werke heran.
Die altindianische Verschriftung der aztekischen Sprache hat nicht den Perfektionsgrad der sehr viel älteren MayaHieroglyphenschrift erreicht. Sie blieb auf dem Stand einer Partialschrift stehen, mit der man zwar konkrete Dinge, Kalenderdaten und Namen von Menschen und Städten wiedergeben konnte, nicht jedoch einen gesprochenen Text mit allen seinen sprachlichen Feinheiten und seinem Satzbau. In diese Richtung fortzuschreiten hat nur ein anonymer Schreibkundiger im Reich von Arciilhuahan versucht, als er den historischgeographischen Codex Xolotl malte und hieroglyphisch erläuterte. Es ist immer noch strittig, ob das eine genuin indianische Entwicklung darstellt oder eine Anregung durch die spanische Schrift ist, die dieser Indianer, der den Codex in der frühen Kolonialzeit gemalt hat, wohl schon kannte. Solche Anregungen zur Schrifterfindung oder, wie hier, Schriftverbesserung gibt es auf der Welt zahlreiche. Die bekannteste ist die Erfindung der CherokeeSchrift, mit der CherokeeIndianer in Nordamerika eine Zeitlang sehr erfolgreich ihre Sprache geschrieben haben. Diesen Prozess der kulturellen Anregung ohne direkte Übernahme nennt die Ethnologie eine StimulusDiffusion.
Die aztekische Partialschrift hatte das Aussehen einer mit bunten Bildchen geschriebenen «Bilderschrift». Diese Bildzeichen geben meist einen Wortkern (Lexem), gelegentlich auch ein Suffix oder ähnliche Funktionsbestandteile von Wörtern — man nennt sie in der Linguistik Morpheme — wieder. Da es bei aztekischen Schreibern nicht üblich war, alle Teile eines komplexen Wortes wiederzugeben und es auch keine festen Regeln der Anordnung der Bildzeichen zueinander gab, muss man bereits ein solides Wissen von der Sprache und vom Sachverhalt, über den etwas geschrieben wird, haben, um Zeichen und Zeichenfolgen dieser Bilderschrift zu sinnvollen Wörtern zu verknüpfen und in der richtigen Abfolge zu lesen. Das ist auch deswegen nötig, weil viele Zeichen sprachlich mehrdeutig sind. Zum Beispiel wird das Abbild eines Beines mit Fuss für so verschiedene Wörter wie , , , , ,  verwendet. Es sind zwar alles Begriffe und auf die Sprache bezogene Lexeme des Wortfeldes , aber welches genaue Wort gemeint ist, kann nur der Zusammenhang klären. Wenn das Abbild des Beines ausserdem mit Punkten oder Strichen ausgemalt wird, ist die Bedeutung eine ganz andere, nämlich . Das ist die Bedeutung, die das Bild im Namen des aztekischen Herrschers Tizocicatzin hat (Abb. 32). Ich möchte hier nicht auf weitere Einzelheiten eingehen, da in den folgenden Kapiteln die Namen und Namenshieroglyphen aller aztekischen Herrscher ausführlich analysiert werden.
Dieser ersten, indianischen Verschriftung folgte mit Beginn der Kolonialzeit ein zweite, die nun versuchte, den Lautstand des Aztekischen mittels der Buchstaben des lateinischen Alphabets und der Lautwerte der spanischen Sprache abzubilden. Diese Verknüpfung hat ihre Ursache darin, dass es spanische Geistliche wie die genannten Molina und Carochi waren, die das Aztekische verschriftet haben und denen alle späteren Autoren gefolgt sind. Wer Spanisch lesen kann, braucht daher nur wenige Abweichungen zu beachten. Glücklicherweise ist auch für den deutschen Leser die Aussprache des Aztekischen nicht schwierig zu erlernen. Berücksichtigt man zunächst die spanische Lautung von ch als [tsch], von c vor e und i als [s], sonst als [k], bzw vor u, also die Buchstabenfolge cu als [qu], wie in Quelle oder Qual, ferner von hu und uh als [w], kommt einem gelegen, dass tz wie deutsch [tz] wie in Nutzen bzw. als [z] wie in Zug ausgesprochen wird und tl wie Bayrisch [dl] am Wortende, etwa wie in Kindl oder Madl. Der Amtstitel Cihuacöatl, als [siwakoadl] geschrieben, und der Ortsname Tetzcuhco, als [tetzkuko] geschrieben, könnten von jedem Deutschen nahezu korrekt ausgesprochen werden. Die Vokallänge, die durch einen Querstrich über dem entsprechenden Buchstaben gekennzeichnet wird, ist uns aus dem Deutschen als phonologisch relevante Eigenschaft ebenfalls bekannt, denn auch wir unterscheiden kurze und lange Vokale, allerdings nicht mit solchen zusätzlichen Zeichen, sondern auf andere, sehr komplexe Weise. Im Aztekischen macht es einen Unterschied, ob ich Quauhcalli oder Quctuhcalli schreibe. Ersteres bedeutet , Letzteres , womit die Versammlungsstätte eines Kriegerordens gemeint ist. Auch Textli und Textli haben ganz verschiedene Bedeutungen: Textli bezeichnet das Maismehl, während Textli den Schwager eines Mannes meint. Auch bei den beiden an Nomina angehängten Suffixen tzin und tzin ist die Unterscheidung der Vokallänge wichtig: tzin bedeutet nämlich Höflichkeit oder Zärtlichkeit seitens des Sprechers oder einfach , während tztn keinerlei emotional positive Konnotation hat und einfach , , und Aztekische Wortwurzeln können durch Aneinanderfügen (Komposition) neue komplexe Bedeutungen und Bilder erzeugen, ganz ähnlich wie im Deutschen. Das aztekische Chölchiuhnenetzin — aus Chalchiuh , Nene

und tzin, das eben erwähnte Höflichkeitssuffix —ist ein beliebter Name für weibliche Kinder, ihm entspricht genau das deutsche . Obwohl also auch komplexe aztekische Namen ins Deutsche übertragen werden können, verzichte ich meist auf ihre Übersetzung, weil sowohl die populäre als auch die wissenschaftliche Literatur Eigennamen üblicherweise in ihrer aztekischen Form belässt. Allerdings gebe ich an geeigneter Stelle Analysen der Namen der aztekischen Herrscher, weil ihre Bedeutung zum Verständnis der hieroglyphischen Schreibung nötig ist und in einigen Fällen sogar biographische Information verschlüsselt. Auch einige Ortsnamen erläutere ich in ihrer Bedeutung im Text, denn sie spiegeln oft sehr plastisch die Naturwahrnehmung der Azteken wider. Ein noch heute tätiger Vulkan im Osten der Stadt Mexiko heisst daher PohpöcatepEt1 , während der Nachbarberg, von einer ewigen Schneekappe gekrönt und längst erloschen, Iztactepal  heisst. Die Namen spiegeln also Aussehen und Eigenart der beiden Berge gut wider. Weiterführende Informationen zu Wörtern der aztekischen Sprache findet man im Register.
Namen von Orten und Personen, wie in den obigen Beispielen, sind in der Regel sprechende Namen. Sie haben fast alle eine unmittelbar erkenn bare direkte oder bildhafte Bedeutung und sind nicht wie bei uns unverständliche Zeichen. Allerdings gibt es auch bei den Azteken Namen, die ihnen selbst unverständlich waren und über deren etymologische Herleitung, also ihre ursprüngliche Bedeutung, sie sich den Kopf zerbrachen, da sie es eigentlich gewohnt waren, Namen zu verstehen. Vermutlich sind solche unverständliche Namen aztekisierte Bezeichnungen aus anderen Sprachen, wahrscheinlich solcher Indianer, die schon vor ihnen in Zentralmexiko gelebt haben und von denen die Azteken sie unverstanden übernahmen. Der Ortsname Teötihuahcän ist vermutlich ein solches Fremdwort, das die Azteken nachträglich etymologisch zu deuten suchten, wie das einleitende Zitat zeigt. Selbst die Bezeichnung für die Stadt Mexiko, Mexihco, und für seine Bewohner, Mexihcatl (pl. Mexihcah), sind in ihrem Kern keine eigentlich aztekischen Wörter. Ebenso ist der Name der südlichen Hälfte ihrer Hauptstadt, Tenochtitlan, im Kern wohl auch nichtaztekisch, denn die Etymologie nach Elementen der aztekischen Sprache ergibt für Te  und Noch , also in der Zusammensetzung . Diese Etymologie wirkt nicht überzeugend, da es einen solchen Kaktus nicht gibt. Lediglich die Endung titlan ist aztekisch und kann als Ortsbezeichnung an Lexeme (also auch Fremdwörter) angehängt werden. Die Etymologie von Tenochtitlan scheint also nachgeschoben oder, wie man auch sagt, eine Volksetymologie zu sein. Darüber kann selbst der Gründungsmythos, mit dem die Azteken den Namen ihrer Hauptstadt erklären wollten und den ich in Kapitel III schildere, den kritischen Forscher nicht hinwegtäuschen. Sonst aber sind fast alle Ortsnamen und viele Personennamen beschreibend und in aztekischer Sprache leicht verständlich. Töllän, die Hauptstadt der Tolteken, bedeutet den Binsen> (Töl  + ); und in der Tat liegt die Stadt an einem
heute zwar ausgetrockneten See, dessen Ufer in vorspanischer Zeit aber von Binsen gesäumt war. Der Eigenname einer aztekischen Prinzessin Äzcaxöchitl (Äzca  + Xöchi  + t/, ein abschliessendes Morphem, welches das vorangehende Wort als Hauptwort in der Einzahl und als Lebewesen bezeichnet) ist bildhaft. Der Name bedeutet , womit die Azteken eine einheimische Lilienart mit scharlachroten Blüten (taxonomisch: Spreckelia formosissima) bezeichnen. Übrigens ist die Wahl von Bezeichnungen von Blumen als Mädchennamen besonders beliebt. Wenn man in einem Text einen Eigennamen identifiziert hat, der das Element Xöch () enthält, kann man ziemlich sicher auf eine Frau als Trägerin dieses Namens schliessen. Die aztekische Sprache verwendet Suffixe, um ein Wort mit einer Gefühlsnote zu versehen, die auch bei Eigennamen Verwendung finden, wofür ich mit tzin schon ein Beispiel gegeben habe. Da diese Suffixe den Wortsinn nicht eigentlich verändern, bleiben sie in Übersetzungen meist unberücksichtigt, und ihr Gebrauch schwankt in den aztekischen Texten je nach Gefühlslage des Erzählers oder Schreibers. Es ist daher für den unbeteiligten Leser oder Historiker meist unwichtig, ob ich von dem tepanekischen Herrscher als Maxtla (ohne Suffix: wertfrei), als Maxtlatzin (mit dem Höflichkeitssuffix tzin) oder als Maxtlatön (mit dem Suffix für Geringschätzung tön) spreche. Ähnlich unwichtig ist es für den Leser, sich darüber Gedanken zu machen, warum Personennamen und andere Hauptwörter im Singular mit oder ohne die Nominalendungen in, 1i, tl, oder tui geschrieben werden.
ÜBERLIEFERUNG
Yz catqui nican n onpehua nican ycuiliuhtoc in tlahtollo in mexica yn huehuetque
Hier ist er, hier beginnt er, hier liegt der Bericht der alten Mexikaner niedergeschrieben da. (Crönica Mexicayotl, §16)
Mit dem einleitenden Zitat drückt einer der hervorragenden indianischen Historiker, Hernando de Alvarado Tezozomoc, aus, wie wichtig ihm die schriftliche Tradierung der Geschichte seiner Nation ist. Demgemäss sind auch für den modernen Forscher vor allem die schriftlichen Überlieferungen die Hauptquellengruppe. Doch werde ich auch andere Arten der Tradierung kulturellen und historischen Wissens berücksichtigen und hier einführen. Denn eine so glanzvolle, uns aber zugleich so fremde Kultur wie die der Azteken können wir verstehend nur erschliessen, wenn wir den Reichtum aller verfügbaren Quellen, also neben den schriftlichen auch bildliche Quellen, Skulpturen, Architektur und archäologische Funde und Befunde auswertend in unsere Rekonstruktionen einbeziehen.
Den europäischen Eroberern und frühen Chronisten standen vor allem mündliche Berichte, altindianische Bücher mit Bildern und Bilderschriftzeichen, die sie sich von kundigen Indianern erläutern liessen, und die noch erhaltenen Bauwerke und Grossskulpturen als Anschauungsmaterial zur Verfügung. Zu diesen Quellen, die zum Teil heute noch erhalten sind, kamen im Laufe der Forschung die Ergebnisse archäologischer Ausgrabungen hinzu. Andererseits sind in den vergangenen 50o Jahren viele Originaldokumente verloren gegangen, und es stehen auch keine bauli chen Zeugnisse aus aztekischer Zeit mehr unversehrt für unsere unmittelbare Anschauung bereit. Daher schöpfen wir unser Wissen oft nur noch aus zweiter und dritter Hand, nämlich aus frühen schriftlich oder bildlich niedergelegten Beschreibungen. In diesen Tatbeständen liegt die methodologische Notwendigkeit der wissenschaftlichen Quellenkunde (welche Quellen gibt es?), der Quellenkritik (welches sind authentische Quellen?) und der Quelleninterpretation (was sagen uns die Quellen über die indianische Vergangenheit?). Diese methodologischen Überlegungen werden im Hintergrund dieses Buches stets mitklingen, aber, um den Leser nicht zu belasten, meist nicht direkt thematisiert werden.
Mündliche Überlieferungen
Dynastische und kulturelle Traditionen der Azteken wurden vornehmlich als Helden und Klagelieder im kulturellen Gedächtnis verankert, vergleichbar den babylonischen Überlieferungen über den Kulturheros Gilgamesch und den altgriechischen Versdichtungen der Ilias und Odyssee über den Trojanischen Krieg. Aus unserer eigenen mittelalterlichen Geschichte sind das Hildebrands und das Nibelungenlied Heldengedichte ähnlichen Inhaltes, die jahrhundertelang mündlich überliefert wurden, bevor sie ihre erste Niederschrift fanden. Und zumindest Letzteres hat seit der Neubearbeitung durch Richard Wagner im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle in der deutschen Kultur besetzt. Solche mündlichen Quellen der Azteken wurden im 16. Jahrhundert von unbekannter Hand in zwei Liederhandschriften, den «Cantares mexicanos» ((Mexikanische Lieder>) und den «Romances de los sefiores de la Nueva Espafia» ((Romantische Dichtungen der Herren von Neuspanien>) zusammengestellt. Sie umfassen etwa 5o Gesänge in schwerverständlicher poetischer und anscheinend altertümlicher Sprache. Manche scheinen nicht Einzelgesänge zu sein, sondern in ihrer Struktur altgriechischen Tragödien zu ähneln, indem die Verse wechselnd zwischen einem Chor, einem Protagonisten und einem Kommentator vorgetragen wurden. Sie wären dann also nicht einfache Lieder, sondern der gesprochene Text dramatischer Aufführungen. Anlässe zum Vortrag von Heldenliedern und solchen Sprech und Gesangsdramen gab es bei den Azteken häufig, und so haben Auszüge aus ihnen sogar Eingang in Prosaquellen der Kolonialzeit gefunden. Dabei war eine der traumatischsten Niederlagen der Azteken in der Zeit vor ihrer Reichsgründung, nämlich die Vertreibung von ihrem Wohnsitz am Heuschreckenberg, eine besonders wehmütig besungene Erinnerung. Das Lied hierüber beginnt folgendermassen:
Der Saum der Erde zerbarst, Unheil verkündende Zeichen stiegen über uns auf. Der Himmel über uns zerteilte sich und Derdurchdenalleslebt kam auf uns herab am Heuschreckenberg. Ach! Seine Niederkunft vollzog sich, als der Schicksalstag des Jahres s Kaninchen sich erhob. Da erhob sich auch sein in ihm Beschlossenes. Weinen hub an, als die Mexikaner verschleppt wurden. Das geschah dort am Heuschreckenberg. Ach! (Annalen von Tlatilolco, Teil V, § 233)
Die wissenschaftliche Geschichtsschreibung über die Azteken macht wenig Gebrauch von dieser wichtigen Quellengruppe, wohl vor allem, weil sie von vielen Forschern mehr als literarische und poetische Erzeugnisse angesehen werden, als dass sie ihnen historischen Gehalt zuzubilligen bereit sind, und weil sie äusserlich den damals in die junge spanische Kolonie neu eingeführten christlichen Lobliedern angepasst wurden. Die Skepsis und Abstinenz ihnen gegenüber wurden noch verstärkt, als der nordamerikanische Literaturwissenschaftler John Bierhorst sie in den i98oer Jahren als Geisterlieder, also als Traumbilder, gedeutet hat und ihnen damit ieden direkten historischen Gehalt absprach. Diese Abstinenz ist aber unangemessen verkürzend, vor allem, wenn man vergleichend beurteilt, wieviel an historischem und kulturgeschichtlichem Wissen über das vorgeschichtliche Nordeuropa aus der Einbeziehung der Dichtungen der Edda und anderer Heldenlieder gewonnen werden kann, die ebenfalls erst in christlicher Zeit niedergeschrieben worden sind. Daher werde ich, wo immer es sinnvoll erscheint, auch die überlieferte Heldendichtung der Azteken berücksichtigen.
Indianische Bücher
Die Hauptquellengruppe zur altindianischen Geschichte sind aber nicht Lieder, oder wie bei den klassischen Maya im südlichen Mesoamerika, Steininschriften und Bauwerke oder auch wie im zentralmexikanischen Teötihuahcan Wandgemälde, sondern Bücher. Schon früh in ihrer Kulturgeschichte haben die mesoamerikanischen Indianer Papier aus dem Bast des FicusBaumes hergestellt und daraus oder aus Hirschleder gefaltete Bücher konfektioniert. Dafür haben sie das Rohpapier oder die Lederstücke zu langen Streifen zusammengeklebt, mit einer dünnen Kalkschicht beschreibbar gemacht, geglättet und dann mit dem Pinsel in verschiedenen Farben beschriftet und bemalt. Nachdem ein solcher Bast oder Lederstreifen beschriftet war, wurde er zwecks leichterer Aufbewahrung gefaltet, so dass man ein handliches flaches Buch vor sich hatte. Als letztes hat man es zum Schutz vor Beschädigung in Holzdeckel gebunden. In aztekischer Zeit gab es in dieser Buchkultur einen grossen Formen und Inhaltsreichtum, und für ihre Aufbewahrung standen staatliche Archive zur Verfügung. Für ihre Herstellung, Bewahrung und Archivierung waren daher auch besonders ausgebildete Bibliothekare und Schreiber verantwortlich.
Zwei Themenkreise wurden in diesen Büchern gleichgewichtig abgehandelt: der religiöse Kult und die Herrschaftsgeschichte. Letztere schloss Annalen, Genealogien, Kataster, Eroberungslisten, einschliesslich der territorialen Ausdehnung des Staates und seiner Steuereinnahmen, ein. Von diesen Büchern sind für unser Thema die Königs und Eroberungslisten und die Genealogien besonders ergiebig. Sie wurden ursprünglich vor allem mit kalendarischen Hieroglyphen, mit Namens und Ortshieroglyphen und mit Symbolen für Heiratsbeziehungen, Besuche, Eroberungen und andere wichtige Ereignisse geschrieben. Die geschickte Kombination von Bildern, Ideogrammen, Morphemzeichen und den Symbolen für Zeiteinheiten erlaubte es einem aztekischen Schreiber, einen recht präzisen Bericht festzuhalten, der allerdings, worauf ich schon hingewiesen habe, nur dann voll verständlich war, wenn zusätzliches Wissen zur Verfügung stand, um die Bilder und die Zusammenstellungen zu interpretieren.
Trotz der weitgehenden Vernichtung der indianischen Bücher durch die Spanier haben einige die Zeitläufe überdauert. Die ersten beiden Bücher hatte schon der Eroberer Hernän Corts 1519 nach Spanien schicken lassen, darunter das heute als «Codex Vindobonensis Mexicanus Primus» bekannte mixtekische Wahrsagebuch (Abb. 3). Andere haben als Verwaltungsakten oder Kuriositäten ihren Weg in Archive in Mexiko, Spanien und Italien gefunden, später auch nach Frankreich, England und sogar nach Deutschland, manche allerdings nicht als Originale, sondern nur in Kopien.
Den unvorstellbar vielgestaltigen Weg eines solchen Buches illustriert die Geschichte des erwähnten «Codex Vindobonensis», die lückenlos bekannt ist. Er war eine von zwei Bilderhandschriften, die Hernän Corts 1519 als Teil der ersten Sendung von Kunstschätzen von Veracruz an der mexikanischen Küste nach Spanien schickte. Dort kam er am 9. November desselben Jahres in Sevilla an. Kurz darauf erhielt ihn der portugiesische König Manoel der Glückliche, Schwager des jungen spanischen Königs Karl I. (als deutscher Kaiser Karl V.), als Geschenk. Von dort kam dieses indianische Buch vermutlich wiederum als Geschenk in die Hände des Kardinals Giulio de' Medici, der 1523 als Papst Clemens VII. die Christenheit regierte. Von ihm gelangte es nach seinem Tod 1523 in die Hände seines Vetters zweiten Grades, des Kardinals Ippolito de' Medici. Nachdem dieser vergiftet worden war, kaufte Kardinal Capuanus (d.i. Nikolaus von Schönberg) den Codex aus dem Nachlass des Verstorbenen. In Schönbergs Gefolge gelangte er nach Deutschland, wo ihn der Humanist und Orientalist Albrecht Widmanstetter erwarb. Dessen Erben gaben ihn 1558 an die Münchner Kunstkammer des bayerischen Herzogs Albrecht V. weiter. Dort verblieb er einige Jahrzehnte, bis ihn schwedische Truppen verschleppten, als sie 1632 die Münchner Kunstkammer plünderten. Die Schweden deponierten den Codex in Weimar. Dort hat ihn später der berühmte Äthiopist Hiob Leuthoff studiert. 1677 oder 1678 schliesslich schenkte Herzog Johann Georg von SachsenWeimarEisenach ihn Kaiser Leopold I. anlässlich seines Besuchs in Wien. Der Herzog hat sein Geschenk aber nicht selbst überreicht, sondern das tat stellvertretend für ihn sein Botschafter. In Wien hat der Codex dann seine (vorläufig) letzte Ruhestätte gefunden: zunächst in der Kaiserlichen Bibliothek. Dort haben ihn verschiedene Forscher und Bibliophile besichtigen können, bis er nach Abschaffung des österreichischen Kaiserhauses zu Beginn des 2o. Jahrhunderts in den Bestand der Wiener Nationalbibliothek übergegangen ist, wo er sich heute befindet und weiterhin für wissenschaftliche Zwecke zugänglich ist. Wie ich eingangs sagte, ist dieser Codex ein mixtekisches Buch. Von den Azteken ist kein einziges vorspanisches Original erhalten. Alle aztekischen Bücher, die wir heute besitzen, sind Kopien oder Zusammenstellungen aus dem I6Jahrhundert, manche sogar aus noch späterer Zeit, wohingegen von den Mixteken und Maya insgesamt 14 vorspanische Bücher erhalten sind.
Codex Vindobonensis Mexicanus Primus, Ausschnitt aus Blatt 5 der Vorderseite. Der Codex Vindobonensis Mexicanus I ist aus mehrfach zusammengeklebten Hirschhäuten zu einem Streifen von 535 cm Länge und 22 cm Höhe verarbeitet. Auf einer dünnen Kalkschicht als Grundierung ist die farbige Bemalung aufgetragen. Auf beide Endseiten sind grob zugeschnittene Kiefernholztafeln als Schutzdeckel aufgeklebt. Die Bilderschrift wird durch rote Führungslinien mäandrierend über den langen Streifen geführt und ist von rechts nach links zu lesen. Historische Personen und Götter sind figürlich abgebildet und mit ihren Kalendernamen, die zugleich ihre Geburtsdaten sind, identifiziert. Orte ihrer Tätigkeiten werden hieroglyphisch und symbolisch dargestellt, und gelegentlich sind Jahresdaten eingestreut, die den historischen Bericht zeitlich verankern. Insgesamt erzählt die Vorderseite, von der hier ein Ausschnitt gezeigt wird, die
Geschichte des Ursprungs der Mixteken im heiligen Baum in Apoala (Mixtekisch: Yuta Tnoho), einem Ort im heutigen mexikanischen Bundesstaat Oaxaca. Die Rückseite erzählt ohne direkte Verknüpfung mit der Vorderseite Episoden aus dem Leben der mixtekischen Dynastie von Tilantongo und schliesst den herausragenden mixtekischen König Acht Hirsch Jaguartatze (10631115) in ihren Bericht ein.
In der Kolonialzeit wurden bilderschriftliche Dokumente zunehmend buchstabenschriftlich in spanische oder aztekische Sprache umgesetzt und mit unabhängig mündlich überlieferten indianischen Traditionen und eigenen Kommentaren der meist spanischen Kompilatoren oder Auftraggeber versehen. In solchen nur noch buchstabenschriftlich verfassten Dokumenten sind im Extremfall die Eigenschaften und Beschränkungen der vorspanischen Buchberichte kaum mehr zu erkennen. Auch die Trennung der in Sprache umgesetzten Bildinhalte von mündlich eingeflossener neuer indianischer Information und den Kommentaren kolonialzeitlicher Redakteure ist schwierig. Die Mexikanistik sieht daher eine ihrer Hauptaufgaben darin, diese komplexen Dokumente zu analysieren und möglichst ursprüngliche Bild und Textversionen zu restituieren, um erst danach aus diesen authentischen Mosaiksteinchen ein Bild der Wirklichkeit nach den altindianischen Überlieferungen zusammenzusetzen. Das ist Aufgabe der Spezialdisziplin Ethnohistorik, also der historischen Quellenforschung mit Dokumenten, die die Erforschten selbst geschrieben haben, im Kontrast zur einfachen Historik, die sich darauf beschränkt, nur Berichte der erobernden und kolonisierenden Europäer in Betracht zu ziehen.
Aus der scheinbar unübersehbaren Zahl solcher ethnohistorischer Dokumente schält sich ein gutes Dutzend Hauptberichte heraus. Der Rest ist von ihnen abgeleitet und daher unerheblich, oder es handelt sich um Schriftstücke anderen Inhalts, in denen nur Einzelheiten historiographisch, biographisch und kulturgeschichtlich relevant sind. Diese Hauptdokumente will ich mit ihren Vorzügen und Problemen nun vorstellen:
Die Königs und Eroberungsliste von Tenochtitlan war die offizielle Darstellung der aztekischen Dynastie um 152o. Sie dokumentiert rein faktisch die Regierungsjahre, Eroberungen und einige sonstige Ereignisse seit Gründung der Dynastie. Von ihr sind etwa fünf verschiedene bilderoder buchstabenschriftliche Fassungen erhalten. Der Bericht wird bis zu Motüuczuma, also bis 152o, kurz vor dem Ende der unabhängigen indianischen Herrschaft unter spanischer Hand geführt und bricht dann ab. Alle Ereignisse sind mittels altindianischer Jahresangaben datiert. Ihre Daten in christliche Jahre umgerechnet nehme ich zur Grundlage meiner Darstellung. Das zu betonen ist nicht unwichtig, denn trotz des grundsätzlich jahresgenauen Kalenders der Azteken weichen die Datierungen in den verschiedenen Quellen oft erstaunlich weit voneinander ab, und auch die Korrelation mit der christlichen Jahreszählung ist, wie bereits erläutert, nicht ganz ohne Probleme. Aus der repräsentativsten Fassung, dem ersten Teil der Colecciön Mendoza, stammen die meisten Bilder und Namenhieroglyphen der aztekischen Herrscher in diesem Buch.
Ein ähnlicher Status von Authentizität und Offizialität kommt dem aus zwei Abschriften rekonstruierten Codex Huitzilopochtli zu, von dem ein Kapitel die Dynastie von Tenochtitlan, ähnlich wie die Königs und Eroberungsliste, abhandelt. Jener gegenüber zeichnet sich der Codex Huitzilopochtli durch ergänzende ereignisgeschichtliche Hinweise aus, die nicht nur Eroberungen betreffen, und er umfasst ausserdem einen einleitenden Teil mit der Wanderung der Azteken vor Gründung ihrer Dy nastie und ein kalendarisches Kapitel. Auch er ist in seinen beiden erhaltenen Abschriften, dem Codex TellerianoRemensis in Paris und dem Codex Vaticanus A in Rom, noch in Bilderschrift überliefert. Ersterer ist in spanischer Sprache von fünf verschiedenen Personen recht flüchtig schriftlich kommentiert worden, was das Verständnis der Kommentare nicht immer erleichtert, da schon zur Zeit, als sie eingetragen wurden, nicht mehr alle bilderschriftlichen Darstellungen richtig gedeutet wurden und somit manche Kommentare schlichtweg irreführend sind. Die Kommentierung im Codex Vaticanus A ist in italienischer Sprache verfasst und nicht minder problematisch, aber in vielen Einzelheiten wohl zutreffender und insgesamt systematischer als die des Codex TellerianoRemensis. Bei beiden hat die Forschung inzwischen weitgehend Korrektes von Unzutreffendem scheiden können, und so ist die ursprüngliche indianische Grundlage, nämlich der Codex Huitzilopochtli selbst als eine wichtige und weitgehend verlässliche Quelle erschlossen.
Andere bedeutende ereignisgeschichtliche Quellen aus Tenochtitlan sind nur noch in buchstabenschriftlichen Fassungen erhalten. Besonders wichtig ist hier die kurze, aber inhaltsschwere «Historia de los mexicanos por sus pinturas» ((Geschichte der Mexikaner nach ihren Bilderschriften)). Sie ist nur in einer um 1540 angefertigten, sehr kondensierten und sprachlich verballhornten Zusammenfassung überliefert. Sobald man aber ihre oft nur skizzenhaften Angaben und vor allem ihre unverstandenen Bildbeschreibungen und naiven Übersetzungen aztekischer Formulierungen erschlossen hat und mit anderen Berichten vergleicht, entpuppen sie sich stets als sehr authentisch. Wie man daran erkennt, ist eine Quelle nicht wegen ihrer bescheidenen oder ihrer prunkvollen Form unbedeutend bzw. bedeutend, sondern die Bedeutung hängt weitgehend von inhaltlichen Aspekten ab, die erst mühsam mit ethnohistorischen Methoden erschlossen werden müssen. Der «Origen de los mexicanos» ((Ursprung der Mexikaner>) und die eng mit ihm zusammenhängende «Relaciön de la genealogia y linaje de los seriores que han serioreado esta tierra de la Nueva Espafia» ((Bericht der Abstammung und Verwandtschaft der Herrscher, die über dieses Land von Neuspanien geherrscht haben>) berichten vermutlich ebenfalls aus offiziöser Sicht Tenochtitlans, wenn auch mit partikulären Absichten. Sie sind etwa zur gleichen Zeit wie die «Historia de los mexicanos por sus pinturas» geschrieben worden. Auch sie fassen sich sehr knapp, sind nur in spanischen Übersetzungen erhalten und stellen selbst schon flüchtige Umsetzungen oder gar nur Auszüge aus verschiedener bilderschriftlichen Vorlagen dar, die durch mündliche Informationen ergänzt wurden. Die im Titel der erstgenannten erwähnte  war eine solche Vorlage, ist aber vollständig in einen buchstabenschriftlichen Bericht umgesetzt worden, und nur dieser ist erhalten.
Die umfangreichste Quellengruppe aus Tenochtitlan bildet der sogenannte «Crönica X»Kreis. Dazu zählen die Geschichtswerke und historischen Fragmente des Hernando de Alvarado Tezozomoc, eines Abkömmlings des aztekischen Herrscherhauses, des Dominikanermönchs Diego Durän und des Jesuiten Juan de Tovar, sowie Partien der Geschichte Amerikas des Jesuitenpaters Jose de Acosta. Schliesslich sind auch die Von Tenochtitlans Schwesterstadt Tlatilolco verfügen wir in Form der fünfteiligen umfassenden Sammelhandschrift in aztekischer Sprache, den «Annalen von Tlatilolco», eine über die Dynastie von Tenochtitlan recht knapp berichtende Quelle, die aber umso ausführlicher von Tlatilolco und als eine der wenigen Quellen auch über das benachbarte Äzcapötzalco handelt. Tlatilolco war bis 1473 unabhängig und wurde damals nach einem heftigen Krieg von den Azteken aus Tenochtitlan erobert. Diese Annalen von Tlatilolco sind zwar nur buchstabenschriftlich überliefert, stehen uns jedoch in zwei sehr frühen Fassungen, die noch auf einheimischem Agavepapier geschrieben sind, in aztekischer Sprache zur Verfügung. Beide werden heute in der französischen Nationalbibliothek aufbewahrt. Aufbau, Inhalt und Darstellungsweisen sind ganz indianisch, und man erkennt an ihrem aufzählenden und faktenbezogenen Stil allenthalben noch die bilderschriftliche annalistische Vorlage. Auch sie sind durch mündliche Berichte angereichert, aber eben, im Gegensatz zur «Crönica X»Gruppe, im Rahmen herkömmlicher indianischer Formen und Themen, wie der oben zitierte Auszug aus dem Kriegsgesang über Chapultepec deutlich macht. Mein Bericht über den General Temilötzin in Kapitel IX basiert im Wesentlichen auf dieser Quelle.
Schliesslich überliefert der mestizische Historiker Fernando de Alva Ixtlilxöchitl im 17Jahrhundert in verschiedenen Abhandlungen, Exzerpten und Notizen auf reichhaltigem Quellenmaterial fussend den Gang der politischen Geschichte aus der Sicht des lange Zeit mit Tenochtitlan konkurrierenden und später kooperierenden Staates Tetzcuhco. Was er berichtet, steht zwar meist in Einklang mit den tenochkanischen Quellen, wird aber dankenswerterweise durch genauere Angaben zu den verzweigten Verwandtschaftsbeziehungen ergänzt. Diese Information ist insofern auch für die Geschichtsschreibung von und über Tenochtitlan von Bedeutung, als alle Stadtstaaten Zentralmexikos versippt waren und auch sonst vielfältige Beziehungen pflegten. Hinzu kommt, dass Alva Ixtlihöchitl ein im Original nicht erhaltenes Geschichtswerk des Alonso Axäyacatl, eines Sohnes des vorletzten aztekischen Herrschers, Cuitlahuäc d. J., verarbeitet. Insofern ist zu vermuten, dass selbst bei dem Tetzcuhkaner Alva Ixtlirhöchiti die Sichtweise Tenochtitlans oft zum Durchbruch kommt. Womit man bei ihm allerdings vor einem Rätsel steht, das sind die grossen zeitlichen Diskrepanzen der Herrschaftsdaten anderen Quellen. Seine Jahresangaben sind meist unplausibel, und ich habe sie daher nicht berücksichtigt. Auch Alva Ixtlilxöchitl hat reichlich Anekdoten in sein Geschichtswerk eingefügt, die sicherlich von zweifelhafter Historizität sind. Da sie aber meistens den Staat von Äcülhuahcän betreffen und nicht die Azteken, soll uns das hier nicht weiter beschäftigen.
In den Jahren 1579 und 158o führte die spanische Verwaltung eine flächendeckende Fragebogenaktion durch, in der von den örtlichen Beamten auch Informationen zur indianischen Geschichte in heute so genannten «Relaciones Geogräficas» (Eine der umfangreichsten und gewichtigsten Quellen zur Kultur der Azteken sind Bernardino de Sahagüns «Historia General de la Nueva Espaiia» ( («De los Reyes») betitelt; es ist aber zugleich eines der schmalsten des monumentalen Werkes und schildert, wie das Gesamtwerk, eher kulturelle Normen, Aufgaben und Privilegien als Ereignisgeschichte oder Ökonomie. Lediglich zur Konzeption des Herrscheramtes und zur Entwicklung und Struktur des Fernhandels ist auch Sahagün eine erstrangige Quelle für die Geschichtsforschung. Andererseits ist Sahagün überall dort, wo es um Religion, Götterglaube, öffentliche Rituale und die kulturellen Normen und Werte geht, die bei weitem ergiebigste und authentischste Quelle. Wer Sahagüns Monumentalwerk direkt studieren möchte, es liegt zu grossen Teilen auch in deutschen Übersetzungen vor, sollte sich nicht an der sehr europäischen Einteilung in Bücher und Kapitel stören, die einer ganz anderen kulturellen Tradition angehört als der Inhalt. Sie ändert nichts am indianischen Kern seiner Informationen, bewahrt nur nicht die indianischen Erzählformen.
Aus der am nordwestlichen Rande des Hochtales gelegenen Herrschaft Quauhtitlan berichten die nach ihr benannten Annalen weitgehend unabhängig von der hauptstädtischen Tradition aus eigener Sicht, dabei die Eckdaten der tenochkanischen Quellen bestätigend. Dieses Werk ist eine komplexe Redaktion zahlreicher in anderer Form nicht erhaltener Quellen, vor allem Annalen, Königslisten und Kataster der Herrschaften von Quauhtitlan, Töllän, Cuitlahuäc und Töltitlan, und es enthält einige sehr ausführliche Schilderungen historischer Ereignisse aus mündlicher Überlieferung. Sie zu entflechten hatte sich der kürzlich verstorbene Kölner Mexikanist Peter Tschohl zur Aufgabe gemacht. Sein Lebenswerk blieb unvollendet, und ich bemühe mich, es fortzuführen und zu veröffentlichen, mache aber schon hier ausgiebig von dieser gewichtigen Quelle Gebrauch. Der kolonialzeitliche Kompilator und Redakteur der Annalen von Quauhtitlan hat seine diversen Quellen in eine Gesamtchronologie Zentralmexikos eingefügt, die etwa woo Jahre umspannt. Meist ist ihm das wohl korrekt gelungen, und er hat alles in ausdrucksstarker aztekischer Sprache überliefert. Leider sind auch hier die ursprünglichen bilderschriftlichen Unterlagen nicht erhalten, sondern nur die in lateinische Buchstabenschrift umgesetzte Fassung.
Besonders auffallend ist das Fehlen historiographischer Quellen aus dem Umkreis der ehemaligen Herrschaft der Tepaneken von Äzcapötzalco, die bis 1p/8 die Vormacht in Zentralmexiko waren, deren Geschichtsüberlieferung danach aber von den siegreichen Azteken unter ihrem Herrscher Itzcöätl gründlich vernichtet wurde (Kapitel V). Der Franziskanermönch Juan de Torquemada behauptet um 1600 allerdings, noch tepanekische Quellen besessen zu haben. Doch lässt sich aus seinem im Übrigen sehr sorgfältig geschriebenen und umfassend informierenden Werk (Einundzwanzig Ritualbücher zum indianischen Königreich> (meist abgekürzt «Monarquia Indiana» genannt) nicht genau entnehmen, wie die azcapotzalkanischen Städte, darunter vor allem das namengebende Äzcapötzalco selbst und die südlich von Tenochtitlan gelegenen Städte Hurtzilöpöchco und Coyöhualwän, die Geschichtsentwicklung eventuell abweichend von den Tenochkanern und Tetzcuhkanern gesehen und dargestellt haben. Auch der Bericht über Äzcapötzalco in den Annalen von Tlatilolco ist nicht sehr umfangreich, so dass aus und über Äzcapötzalco wenig Information auf uns gekommen ist.
Felsbilder
Lange Zeit waren Felsskulpturen, für deren Ausführung die Azteken eine Vorliebe hatten, die wichtigste erhaltene archäologische Zeugnisgruppe, die dank einer gründlichen Zusammenstellung des Berliner Museumsmannes Walter Krickeberg seit der Mitte des 2o. Jahrhunderts gut erfasst und gedeutet worden ist. Ausschlaggebend für Krickebergs Interesse an Felsbildern war die Entdeckung des vollständig aus dem Fels gehauenen Tempelkomplexes von Malinalco, verbunden mit einer Forschungsreise, die er 1939 unternahm und die ihm die Gelegenheit bot, diese beeindruckende Anlage als einer der ersten nichtmexikanischen Wissenschaftler zu besuchen. Leider sind zwei andere Felsbildstätten der Azteken, die am Hügel von Chapultepec, wo sich aztekische Herrscher haben abbilden lassen, und die vom Tetzcuhtzinco, wo die Tetzcuhkaner ihre Herrscher verewigten, schon in der frühen Kolonialzeit mutwillig zerstört worden. Von den anderen zahlreich erhaltenen weniger spektakulären Felsbildern haben nur wenige historischen Inhalt. Die meisten verherrlichen Götter und stellen religiöse Riten dar. Doch sind die wenigen historischen Felsbilder bedeutende Zeugnisse der politischen Geschichte, weil sie offiziell, zeitgenössisch und lokalisiert berichten, wenn auch oft nur in abgekürzten emblematischen Symbolen.
 ChtmalliStein von Quauhnähuac. Auf einen Findling aus hartem vulkanischem Gestein, der knapp ausserhalb der alten indianischen Stadt Quauhnähuac auf offenem Feld liegt, hat der aztekische Herrscher Axäyacatl Symbole der Eroberung: Schild (azt.: Chimalli), Speere und Papierfahne abbilden lassen (oben) und auf der gegenüberliegenden Seite des Steins das Jahr  und den Tag , an denen er inthronisiert wurde (unten). Da bereits sein Vorgänger Ilhuicamina Quauhnähuac erobert hatte, ist dieses Denkmal nicht als Eroberungsbericht Axäyacatls, sondern als Versicherung und Demonstration fortwährender Herrschaft über diese wichtige Stadt zu verstehen.
 STADTARCHÄOLOGIE
Auf 100.000 bis 200.000 Einwohner schätzt man die Bevölkerung der Stadt Mexiko im Jahre 1519, bevor sie, infolge der Kämpfe mit den Spaniern, zerstört und entvölkert wurde. Sie war zu ihrer Zeit eine der grössten Städte der Welt (Abb. 5). Nur Paris, Konstantinopel und Beijing sollen Mexiko damals an Einwohnerzahl übertroffen haben. Entstanden war Mexiko aus den beiden unabhängig gegründeten und zunächst getrennt gewachsenen Städten Tenochtitlan im Süden und Tlatilolco im Norden einer Felsinsel im See von Tetzcuhco. Mit dem Sturz des letzten Herrschers von Tlatilolco, Moquihuix, im Jahr 1473 kamen beide unter die einheitliche Verwaltung Tenochtitlans (Kapitel VI). Tenochtitlan gliederte sich in fünf grosse Stadtteile, Ätzaqualco, Teöpan, Zoquiapan, Möyötlän und Cuepöpan. Sie wurden vor allem durch die Vierteilung, die die beiden am Haupttempelbezirk sich kreuzenden Strassenzüge bildeten, voneinander abgegrenzt. Tlatilolco bestand aus etwa 15 sehr viel kleineren Stadtteilen. Die Stadtteile selbst untergliederten sich in beiden Städten weiter in Tlahxilacalli genannte Quartiere. Von ihnen gab es in Tenochtitlan fast tob Zuunterst in der Siedlungshierarchie folgten einzelne Wohnblocks und Gehöfte. Ein Gehöft grenzt in der Regel vorne mit seinem ummauerten Wohnbezirk an eine Dammstrasse, hinten mit seinem Gemüse und Blumengarten an einen Kanal. Dort befindet sich eine Anlegestelle zum Vertäuen der Einbäume, mit denen man den Lastverkehr bewältigte.
Für allgemeine hauptstädtische Aufgaben gab es besondere Bauwerke: Mehrere Süsswasserleitungen führten Trinkwasser von Quellen auf dem westlich und südlich benachbarten Festland bei Chapultepec und Hurtzilöpöchco in die Stadt. Drei Hauptdammstrassen verbanden die Stadt mit dem Festland: Die nördliche erreichte das Festland bei Tepeyacac, die westliche erreichte das Festland durch Gabelung an zwei Stellen, näm:ich bei Tlacöpan und bei Chapultepec. Ähnlich führte die südliche durch Gabelung auf zwei am Ufer gelegen Städte hin, nach Coyoacän und nach Itztpalapan Eine Bootsanlegestelle im Osten war vor allem für den Verkehr mit Tetzcuhco am gegenüberliegenden Seeufer vorgesehen. Zwei Haupttempelbezirke, jeweils einer in Tlatilolco und einer in Tenochtitlan dienten der staatlichen Religionsausübung. Paläste abhängiger auswärtiger Fürsten, Magazine für die in Naturalien zu entrichtenden Steuern und Tribute, Gästehäuser und Paläste der letzten aztekischen Herrscher Axäyacatl, Ähuitzötl und Moteuczüma dienten der Verwaltung und Repräsentation. Der Palast des regierenden Herrschers Moteuczama war zur Zeit, als die Spanier eintrafen, zugleich Regierungssitz und Gerichtsgebäude mit zahlreichen hierfür vorgesehenen Hallen (Abb. 39).
In der Endphase des fast zwei Jahre dauernden Eroberungskrieges kämpften sich die Spanier unter Hernän Corts mit ihren tlaxcaltekischen Verbündeten Brücke für Brücke auf den Dammstrassen voran und eroberten dann, ausgehend vom Palast Moteuczümas, in dem sie sich verschanzt hatten, Haus für Haus die Stadt, bis der letzte Widerstand der Azteken am 13. August 1521 in Taltilolco zusammenbrach. Dieser Eroberungskrieg führte zur völligen Zerstörung der Gebäude und zur weitgehenden Zuschüttung von Kanälen, so dass oberirdisch kaum etwas von der altindianischen Stadt erhalten blieb. Durch die Neuauslegung der Stadt im Schachbrettmuster beim spanischen Wiederaufbau einige Jahre später wurde auch das Strassenbild grundlegend verändert.
In der späteren Kolonialzeit wurden im Zentrum Mexikos, das nun Hauptstadt der spanischen Kolonialprovinz «Nueva Esparia» war, neue öffentliche Gebäude wie der Regierungspalast, die Kathedrale, der Bischofspalast, Klöster der Franziskaner, Dominikaner, Augustiner und anderer Orden, ParroquialKirchen, die Universität, die Münze und die Residenzen reicher KolonialSpanier auf den Ruinen vorspanischer Gebäude errichtet. Sie wurden unmittelbar auf den zugeschütteten Resten des Haupttempels und der benachbarten Paläste des alten Mexiko hochgezogen und sind heute, in der häufig von Erdbeben erschütterten modernen Stadt mit wenig alter Bausubstanz, schützenswerte Baudenkmale. Sie können folglich nicht abgerissen werden, um die darunterliegenden vorspanischen Siedlungsreste zu ergraben. Auch ihre Innenausschachtung oder Untertunnelung ist wegen der schwierigen Bodenverhältnisse nur in wenigen Fällen, wie zum Beispiel bei der Kathedrale, trotz der hohen Kosten durchgeführt worden. Seit 150 Jahren ist die Bevölkerung Mexikos ausserdem über ihren Höchststand in vorspanischer Zeit hinausgewachsen, und sie dehnt sich daher flächenmässig weiter aus. Heute soll sie über 15 Millionen Einwohner haben, niemand kennt die genaue Zahl. Die moderne Stadt hat inzwischen mit Gebäuden, Strassen und öffentlichen Plätzen alle vorspanischen Siedlungszonen der Schwesterstädte Tenochtitlan, Tlatilolco und auch aller anderen ufernahen Städte im Umkreis von etwa 15 Kilometern, wie Itztapalapan, Coyöhuahc.n, Huitzilöpöchco (heute: Churubusco), Tlacöpan (heute: Tacuba) und .Xzcapötzalco restlos zugedeckt. Dennoch ist die Zerstörung des indianischen Mexiko nicht vollständig, wie sich immer wieder an überraschenden Funden zeigt.
 Sogenannte CortsKarte des Hochtals von Mexiko. Schon 1524 wurde diese Karte in einem schwarzweissen Holzschnitt, wahrscheinlich in Nürnberg gedruckt und als Flugblatt verbreitet. Ihr lag vermutlich eine von Cortes' Expedition angefertigte, heute verschollene Karte zugrunde, denn obwohl sie in der vorliegenden Ausführung sehr europäisch wirkt, stimmen die wesentlichen Einzelheiten, wie Dammstrassen, der zentrale Tempelbezirk von Tenochtitlan und die am Seeufer liegenden Städte, mit der Wirklichkeit gut überein. Selbst der Seedeich ist an der richtigen Stelle eingezeichnet, wenn er auch, mitteleuropäischen Vorstellungen folgend, als geflochtener Zaun dargestellt ist. Über Coyöhuahcän weht die spanische Fahne zum Zeichen, dass Corts damals von dort aus regierte.
Skulpturen aus der zerstörten altindianischen Hauptstadt wurden schon während der letzten drei Jahrzehnte der spanischen Kolonialherrschaft geborgen. Man war damals im städtischen Milieu des bourbonischen Mexiko aufgeklärt, wie gleichzeitig im Königreich Neapel, wo im 18. Jahrhundert die Reste der verschütteten römischen Stadt Pompeji entdeckt und ausgegraben wurden. In dieser Zeit und durch diese Entdeckung angeregt begründete Johann Joachim Winckelmann, der damals in Rom lebte, die klassische Archäologie. In Frankreich nahm die Archäologie etwas später, kurz nach der Revolution unter Napoleon, mit der von ihm angeregten wissenschaftlichen Expedition nach Ägypten einen bedeutenden Aufschwung. Und selbst die damals noch in keiner Hinsicht führenden Nordamerikaner wurden vom Trend der aufblühenden Stadtund Landarchäologie infiziert, indem Thomas Jefferson, nachmaliger Präsident der Vereinigten Staaten, kontrollierte und zeichnerisch dokumentierte Ausgrabungen in Hügeln der MississippiKultur durchführte.
In Zentralmexiko verdanken wir die erste wissenschaftliche Beschreibung des 1790 wiederaufgefundenen aztekischen Kalender oder Sonnensteines aus einem Tempel der alten Stadt dem mexikanischen Astronomen Antonio de Leön y Gama. Diese grosse Steinscheibe war mit zwei anderen ebenso beeindruckenden Monumenten bei Pflasterarbeiten auf der Plaza Mayor (in Mexico Zocalo genannt) zum Vorschein gekommen. In den folgenden Jahrzehnten nahmen die berichteten Funde jedoch wieder ab, denn die 1821 gewonnene Unabhängigkeit Mexikos, anschliessende Bürgerkriege und wechselnde Regierungen waren der Beschäftigung mit Altertümern nicht zuträglich. Daher waren es bis etwa 1890 vornehmlich europäische Reisende, die den sporadisch auftauchenden Funden Beachtung schenkten. Sie haben sie zum Teil in ihre Heimatländer verbracht, wo sie heute in England, Deutschland, der Schweiz und Frankreich den Grundstock altmexikanischer Sammlungen bilden. Der englische Unternehmer William Bullock, der Heidelberger Kaufmann Carl Uhde und der Basler Reisende Lukas Vischer legten damals ihre heute berühmten Skulpturensammlungen an. Bullocks Reisebericht von 1822 gibt uns einen Eindruck, wie man mit solchen Altertümern umging und welche kulturelle Bedeutung man ihnen beimass:
Die einzigen heute für jeden sichtbaren Kunstwerke der Menschen, die vor der Eroberung in der Stadt Mexiko, dem damaligen Tenochtitlän, wohnten, sind der grosse Kalenderstein, im Volksmund Montezumas Uhr genannt, und der grosse Opferstein oder der mächtige Altar, der einst in dem grossen Tempel vor dem Hauptgötterbild stand. Der Kalenderstein hat einen Durchmesser von zwölf Fuss und ist aus einem einzigen porösen Basaltblock gehauen. Man nimmt an, dass er am Dach des grossen Tempels angebracht war, genau wie der Zodiakus am Tempel von Tentyra in Oberägypten. Er steht heute an der Nordwestmauer der Kathedrale und ist ein beliebtes Objekt der Altertumsforschung wie auch ein schlagender Beweis für den hohen Stand, den das Volk, dem er gehörte, in manchen Zweigen der Naturwissenschaften erreicht hatte: Selbst in den höchstentwickelten Städten Europas wären auch heute nur wenige Menschen fähig, eine derartige Arbeit auszuführen ... Der Opferstein oder Altar ist hundert Meter vom Kalenderstein entfernt auf dem Platz vor der Kathedrale eingegraben. Von ihm ist nur die Oberfläche zu sehen; und das wohl mit voller Absicht, denn man wollte der Bevölkerung eine Abscheu vor den grässlichen und blutigen Riten einflössen, die einst auf diesem Altar vollzogen worden waren ... Ich habe gesehen, dass auch die Indianer beim Vorübergehen den Altar mit Steinen bewerfen, und einmal sah ich einen Jungen darauf springen, die Faust ballen, mit dem Fuss stampfen und andere Gebärden des grössten Abscheus machen. Da man mir gesagt hatte, dass die Seiten mit historischen Skulpturen bedeckt seien, ersuchte ich die Geistlichkeit um die zusätzliche Erlaubnis, ringsum die Erde entfernen zu lassen, was man mir nicht nur zugestand, sondern sogar auf eigene Kosten vornahm. Ich machte von allem Abgüsse. — Der Umfang beträgt 25 Fuss, und es sind fünfzehn verschiedene Figurengruppen dargestellt, Abbildungen der Siege mexikanischer Krieger über mehrere Städte, deren Namen jeweils darüberstehen. Aus diesen Darstellungen kann man über die prunkvollen Gewänder der alten Krieger mehr lernen als anderswo. Während der Zeit, in der die Abgüsse gemacht wurden (was mehrere Tage in Anspruch nahm), drängte sich die Bevölkerung auf dem Platz und gab, obwohl die Leute sich überaus höflich und gesittet betrugen, mehrere Male ihrer Verwunderung Ausdruck, weshalb ich mir so viel Mühe mit dem Kopieren dieser Steine mache. Mehrere wollten wissen, ob die Engländer, die ihrer Meinung nach keine Christen waren, dieselben Götter verehrten wie die Mexikaner vor ihrer Bekehrung. Ich machte mir das allgemeine Interesse für mein Unterfangen zunutze und erbot mich, den Indianern alle Antiquitäten abzukaufen oder jeden zu belohnen, der mir dergleichen nachweisen könne. Die Folge davon war, dass verschiedene Gegenstände ans Licht kamen, die man vorher sorglich verborgen gehalten hatte. Soweit sie sich befördern liessen, kaufte ich sie. Von anderen machte ich Abgüsse und Zeichnungen, um nach meiner Heimkehr in England Nachbildungen davon anfertigen zu können.
 Scheibenförmige Darstellung der getöteten Göttin Coyolxauhqui. Dargestellt ist eine unbekleidete Frau in kombinierter Vorder und Seitenansicht. Kopf und Glieder sind vom Körper abgetrennt. Die Trennkanten am Torso und an den Gliedern sind lappenförmig ausgefranst, als ob die Glieder ausgerissen worden wären. Aus Beinen und Armen ragen die Gelenke der Oberarm und Oberschenkelknochen hervor. An der linken Körperseite treten aus den Wunden Blutströme mit Tropfen hervor. An dreien dieser Tropfen ist das Zeichen für Juwel angehängt, womit die Kostbarkeit des verströmten Blutes angedeutet wird. Die Frau hat strähniges glattes Haar, dem Baumwoll oder Daunenfederbällchen — durch Kreise dargestellt — aufgeklebt sind. Um das Haar windet sich eine Schlange. Ihr Kopf lugt hinter der Stirn der Frau hervor. Am Hinterkopf ist ein dreilagiger halbkreisförmiger Federfächer festgesteckt und ragt über den Kopf hinaus. Mittig ragt daraus wiederum ein Büschel langer Federn hervor. Horizontal über Nase und Wangen läuft ein senkrecht gestreiftes und gepunktetes Band. An seinem Ende hängt auf jede Backe eine Schelle (Coyolli) herab. Dieser Gesichtsschmuck versinnbildlicht den Namen der abgebildeten Frau, Coyolxauh(qui), denn er heisst ins Deutsche übersetzt: Auch nach der Unabhängigkeit Mexikos setzte sich das Interesse an den einheimischen Altertümern fort. Manuel Gamio und der Sohn des erwähnten Diktators Diaz, der ebenfalls Porfirio hiess, machten um 1900 mit allerdings bescheidenen Grabungen im Herzen der Stadt den Anfang. Grabungen im Untergrund der Metropole MexikoStadt haben sich dann beginnend mit der urbanen Erschliessung Tlatelolcos (so die etwas andere moderne Schreibung des nördlichen Teils der Hauptstadt) in den 194oer Jahren und dann im Verlauf des UBahnBaus ab 1968 in Vorbereitung auf die Olympischen Spiele, die in Mexiko stattfinden sollten, gehäuft. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten sie mit umfangreichen Ausgrabungen am Haupttempel von Tenochtitlan, die der Archäologe Eduardo Matos Moctezuma 1978 begann. Der Zufallsfund einer grossen Steinscheibe mit dem Abbild der zerstückelten Göttin Coyolxauhqui, einer Halbschwester des aztekischen Stammesgottes Huitzilöpöchtli, löste die Grabungen aus. Mit der Gründung eines HaupttempelMuseums (Museo del Templo Mayor), dessen Direktor danach lange Zeit Matos Moctezuma war, erreichten sie um 1995 ihren vorläufigen Höhepunkt. Doch werden bis in unsere Tage immer wieder kleinere Grabungen durchgeführt, die hin und wieder reiche Funde hervorbringen.
Der Haupttempel von Tenochtitlan
An verschiedenen Stellen des Haupttempels haben sich insgesamt über 5o Bauopfer in Form von Steinkisten, ausgemauerten Kammern oder einfachen Erdgruben gefunden. Sie waren mit wertvollen und rituell bedeutsamen Gegenständen vollgepackt. Heute kann man einige von ihnen im HaupttempelMuseum bewundern. Eine einzige derartige Opferkammer enthielt 405 Gegenstände: Vom Krokodilskelett bis zu Schmuckstücken der damals längst versunkenen Kultur der Olmeken ist alles vertreten. Die Riten, die diese Opfergaben begleiteten, kennen wir nicht. Daher sind wir für die Interpretation der Opferdepots fast ausschliesslich auf den archäologischen Befund angewiesen. Was dabei in Umrissen deutlich wird, ist das Programm der für die Opfer ausgewählten Orte. Sie werden bevorzugt an architektonisch und slculptürlich ausgezeichneten Stellen vorgenommen: an den Ecken und auf den Achsen der Bauwerke und unter Grossskulpturen. Unter der Fülle erlesener Handwerksprodukte in diesen Depots fällt die grosse Zahl bereits in aztekischer Zeit alter Gegenstände auf, die vielleicht durch Plünderung von Ruinen vorangegangener Kulturen gewonnen wurden. Diese Beobachtungen eröffnen eine interessante Möglichkeit, die stilistische Vielfalt aztekischer Kunstwerke zu deuten. Man muss nun nicht mehr ungebrochenes Fortwirken alter Traditionen bis in aztekische Zeit annehmen, was bezüglich der dafür nötigen Zwischenglieder oft auf Beweisschwierigkeiten stösst, sondern man kann bewusste, an Kunstwerken vorangehender Kulturen orientierte Wiederbelebung und Verarbeitung voraztekischer Kunst in Rechnung stellen. Dieses sogenannte «Antikisieren» oder, wie die Selbstbezeichnung in der Alten Welt lautet, die «Renaissance» ist ein Phänomen, das sich in allen grossen Kunsttraditionen findet. Damit wird aber auch die stilistische Datierung, die Zuweisung zu Künstlerateliers und das Aufzeigen von Entwicklungslinien der aztekischen Kunst um eine Dimension bereichert, die es der Forschung allerdings nicht leichter macht, zu gültigen Einsichten und Aussagen vorzustossen.
Der Haupttempel selbst war ein Doppeltempel . Das wird aus den beiden parallel von Westen aufsteigenden Treppen, die zu den heute weitgehend zerstörten Tempelcellen führen, deutlich. Am Fusse des südlichen Aufgangs, der durch einen Abwasserkanal von 1900 stark zerstört ist, liegt eine grosse Steinscheibe mit der reliefierten Darstellung der zerstückelten Göttin Coyolxauhqui. Die Wangen der beiden Treppen enden unten jeweils in Schlangenköpfen, so dass sie selbst gewissermassen den Leib der Schlangen bilden. Der dem Treppenaufgang westlich vorgelagerte, leicht erhöhte Platz ist seinerseits mit Schlangenköpfen und Froschskulpturen geschmückt. An den Seiten im Norden und Süden wird diese Plattform von lang hingestreckten sich windenden Schlangen umfasst. Solche Cötitepäntli genannten Schlangenmauern können in vielfältiger Form erscheinen und schliessen oft den ganzen Tempelbezirk ein. Die Ikonographie und Symbolik der Schlangen in ihren vielfältigen Erscheinungsformen als Türkisschlage (Xiuhcöötl), Federschlange (Quetzalcöätl) und auch als naturalistische Klapperschlange sind ein Erbe der vorangehenden Kulturen von Töllän und Teötihuahc.n. Die Azteken haben sie zu einem dominierenden Thema ihrer Kunst und Mythologie ausgestaltet.
 Der Haupttempel von Tenochtitlan.Deutlich erkennt man den Doppelcharakter des Haupttempels von Tenochtitlan mit seiner linken Hälfte, die rot ausgemalte Zinnen trägt, und der rechten Hälfte, die schneckenförmige blaugemalte Zinnen trägt. Zu beiden Tempeln führt eine Flucht steiler Stufen hinauf, über die das Blut geopferter Menschen herabströmt.
Für die genaue zeitliche und historische Einordnung des Haupttempels von Tenochtitlan sind wir in der Lage, bilderschriftliche und historische Quellen mit dem archäologischen Befund zu verknüpfen. Wir verfügen vom Haupttempel selbst über sechs Steinplatten mit skulptierten Daten des Tönalpöhualli, die es historisch zu rekontextualisieren gilt. Grundsätzlich können solche Daten chronologisch auf zweierlei Weise interpretiert werden: Als direkte Tagesdaten im Tönalpöhualli, das heisst, als Daten, die sich nach 260 Tagen wiederholen und für eine historische Datierung ausscheiden, da sie zu viele chronologische Alternativen bieten; und zweitens als Daten des Tönalpöhualli, die einzelne Jahre bezeichnen, also als Jahresdaten, die sich erst nach 52 Jahren wiederholen. Nur solche Jahresdaten sind für historischchronologische Deutungen sinnvoll zu verwenden. Die Datenplatten werden alle als Jahresdaten gedeutet, obwohl den älteren der diagnostische Rahmen fehlt. Sie waren mit Ausnahme von zweien, deren ursprüngliche Anbringung wir nicht kennen, an verschiedenen Stellen in den Baukörper unterschiedlicher Bauabschnitte eingelassen und datieren diese vermutlich.
Nach dieser ersten noch rein archäologischen Klärung müssen wir Textquellen mit den Datenplatten in Zusammenhang setzen, um vor allem die AlternativeDatierungen alle 52 Jahre einzugrenzen. Das Datum Zwei Kaninchen (139o) fällt wahrscheinlich in die Endzeit des ersten historisch verbürgten offiziellen Herrschers, Äcamapichtli. Für seine Regierungszeit gibt es aus schriftlichen und bilderschriftlichen Quellen zwar keine datierten Nachrichten über Bauvorhaben, aber Torquemada erwähnt, allerdings ohne Zeitangabe, die Errichtung des späteren Haupttempels während Äcamäpichtlis Regierungszeit. Das Datum Vier Rohr (1431) könnte sich auf die von Chimalpopöca in seinem letzten Regierungsjahr begonnene und unter seinem Nachfolger Itzcöätl vollendete Erweiterung des Haupttempels beziehen. Itzcöätl konnte den von seinem Vorgänger begonnenen Bau wegen Kriegszügen gegen die Tepaneken erst nach mehrjähriger Unterbrechung vollenden. Grössere Probleme macht die Interpretation des Datums Eins Kaninchen (1454). Damals wurde unter Ilhuicamina zwar am Haupttempel gebaut, doch ist für dieses Jahr kein markanter Einschnitt, wie Beginn oder Ende der Bautätigkeit, überliefert. Es ist also unklar, welchen Grund die Hervorhebung dieses Jahres durch eine Datenplatte hat. Hier brachte ein überraschender Neufund 1989 aber eine mögliche Lösung: Vielleicht wurde damals der grosse zylindrische Opferstein aufgestellt, der später zufällig im kolonialzeitlichen erzbischöflichen Palast gefunden wurde. Seiner Aufstellung in vorspanischer Zeit sollte mit dieser Datenplatte möglicherweise gedacht werden. Das Datum Drei Haus (1469) , können wir mangels schriftlicher Berichte überhaupt nicht deuten. Vom damaligen Stand der Bauvorhaben am Haupttempel ist die Beendigung der unter Ilhuicamina begonnenen Erweiterungsarbeiten aber eine Möglichkeit. Das Jahr ist zugleich das seines Todes.
Ebenfalls ohne baulichen Zusammenhang ist die besonders sorgfältig ausgestaltete Datenplatte Acht Rohr . Im oberen Register stehen sich die AztekenHerrscher Tizocic und Ähuitzötl bei der rituellen Selbstkasteiung gegenüber: Sie stechen sich mit Knochendolchen, so dass Blut fliesst, das sie auf einen Grasballen tropfen lassen, der dann auch die blutigen Opferinstrumente aufnehmen wird. Das Jahr Acht Rohr (1487) ist als Einweihungsdatum der Haupttempelerweiterung unter Ägeacatl überliefert. Die Quellen berichten, dass diese Erweiterung schon von seinem Vorgänger Tizocic, der bis 1486 herrschte, konzipiert und unter ihm begonnen wurde. Wegen seines überraschenden Todes — Giftmord oder Blutsturz durch Zauberei wird von den Chronisten vermutet — konnte sie unter ihm jedoch nicht mehr vollendet werden. Es ist also historisch angemessen, dass auf dem Einweihungsstein dieser Tempelvergrösserung beider beteiligter Herrscher in einer symbolischen Szene gedacht wird. Ebenfalls ohne baulichen Kontext ist die grosse und sorgfältig ausgearbeitete Datenplatte Zwei Rohr. Sie wurde im Bauschutt im nördlichen Bereich des Haupttempels gefunden. Wenn sie das Jahr 1507 bezeichnet, ist das wahrscheinlichste Ereignis, das sie datieren könnte, die symbolische Tempelerneuerung (ohne wirkliche Bauarbeiten) anlässlich des beginnenden neuen 52—Jahreszyklus unter Moteuczüma.
Das Prinzip der Datierung von Bautätigkeiten mittels Jahresdatenplatten ist somit geklärt, wenn auch nicht alle Daten befriedigend mit historischen Berichten über solche Aktivitäten verbunden werden können. Das Datierungsprinzip fügt sich in die allgemeinere Gepflogenheit der Azteken, wichtige Ereignisse der öffentlichen Geschichte bilderschriftlich aufs Jahr genau festzulegen, während tagesgenaue Datierungen bei öffentlichen Monumenten und in den offiziellen Annalen unüblich sind.
 Datenplatte „Drei Haus“ vom Haupttempel in Tenochtitlan.Das Datum ist in einem erhabenen Rechteckrahmen gefasst, wie es sich für Jahresdaten gehört. Das Jahr selbst ist mit drei Kreisscheiben und darunter einem Tempel in Vorderansicht deutlich als „Drei Haus“ zu erkennen.
Für die mexikanische Archäologie von grosser Tragweite ist die Erkenntnis, die wir aus der Verknüpfung historischer und archäologischer Berichte über die Baugeschichte des Haupttempels gewonnen haben, insofern, als man bisher nämlich in einer gewagten und einfachen Übertragung und Erweiterung von Verhältnissen des bürgerlichen Lebens der Azteken auf die Sakralbauten angenommen hatte, dass ihre Tempel im Rhythmus von 52 Jahren überbaut wurden. So schreibt es selbst die exzellente Kennerin aztekischer Kunst und Kultur Esther Pasztory noch in ihrem 1983 erschienen Buch «Aztec Art». Diese Annahme hatte ihre scheinbare Begründung in zahlreichen bildlichen und schriftlichen Quellen, in denen geschildert wird, dass in diesem Rhythmus, immer am Ende eines mexikanischen «Jahrhunderts», alle Herdfeuer gelöscht, das Küchengeschirr zerschlagen, schwangere Frauen in grossen Krügen versteckt und ähnliche endzeitliche Riten durchgeführt wurden, wie oben berichtet (Abb. 2, 42). Nirgends ist jedoch überliefert, dass die grossen öffentlichen Tempel und Paläste in den Städten zu eben diesem Zeitpunkt zerstört und neuerrichtet oder überbaut wurden, wie es die Forschung bisher annahm. Am Haupttempel von Tenochtitlan sehen wir, dass Bauvorhaben hingegen viel stärker vom Repräsentationswillen einzelner Herrscher bestimmt werden, zumal wenn es Anlagen im Zentrum der Hauptstädte sind. Die zügige Durchführung oder Unterbrechung solcher Bauvorhaben hängt ausserdem von politischen (Kriege), wirtschaftlichen (Verfügbarkeit von Arbeitskräften) und historischen Zufällen (Tod eines Herrschers) ab, nicht jedoch von den unveränderlich ablaufenden Kalenderzyklen, die allerdings als seltener Anlass für ähnliche Zeremonien denkbar bleiben.
DIE VORDYNASTISCHE ZEIT (10641366)
Nican peoa yn quenin vallaque Mexica inic arico nica yn
Hier beginnt [der Bericht], wie die Mexikaner hierher kamen. (Annalen von Tlatilolco, Teil II, § 95)
DIE HERKUNFT DER AZTEKEN
Aus der Frühzeit der späteren Azteken gibt es weder zeitgenössische schriftliche Quellen noch Bodenfunde. Allein sprachgeschichtliche Rekonstruktionen erlauben es, ihre Vorgeschichte in Umrissen zu erhellen. Vor mindestens 2000 Jahren lösten sich die aztekische Sprache und ihre nächsten Verwandten aus dem Verband, zu dem auch Sprachen der Cahuilla und Luisefio, zwei heute fast ausgestorbene Gruppen von Ureinwohnern Südkaliforniens, und das in New Mexico noch heute gesprochene Hopi gehören. Die Menschen, welche diese und weitere dazwischen liegende Sprachen benutzten, werden von der Forschung zusammenfassend nach ihren extremen Mitgliedern, den UteIndianern im U.S.Bundesstaat Utah und den Azteken in Zentralmexiko, «Utoazteken» genannt. Als erste Sprachfamilie der Neuen Welt ist das Utoaztekische um 185o von Johann Karl Eduard Buschmann, einem Berliner Bibliothekar, Sprachwissenschaftler und Privatsekretär Wilhelm von Humboldts, wissenschaftlich rekonstruiert worden. Seine Rekonstruktion hat im Wesentlichen bis heute Bestand. Aufgrund der Verbreitung der Einzelsprachen dieser groden Familie und ihrer Verwandtschaftsgrade zueinander nehmen wir an, dass die Azteken in ihrer Frühzeit sehr viel weiter nördlich wohnten als dort, wo sie Hernän Cortes 1519 antraf, nämlich in den Wüsten und StepPen an der heutigen Staatsgrenze zwischen Mexiko und den Vereinigten S:aaten.
Die Loslösung von den anderen verwandten Sprachen spiegelt die Abwanderung der Azteken nach Süden wider. Während die anfangs mitwandernden Cora, Huichol und Tarahumara sich um etwa 500 n.Chr. von den Azteken abgespalten haben und in den westlichen Bergen und an der Pazifi kküste Nordmexikos blieben, sind die Azteken noch lange weitergewa_ndert, bis sie West und schliesslich Zentralmexiko erreichten.
DIE EINWANDERUNG NACH ZENTRALMEXIKO
Die eigene Geschichtstradition der Azteken stellt ihren Ursprung und die Einwanderung nach Zentralmexiko aber nicht so abstrakt und prosaisch dar. In bilderschriftlichen Quellen aus sehr viel späterer Zeit weisen sie sich, wie allen später in Zentralmexiko politisch bedeutenden Stämmen, einen Ursprung aus «sieben Höhlen» (Chicömöztöc) an einem Ort «Gross Cülhuahcän» (HuEi Cfilhuahcan) bzw. auf einer Insel «Aztlän» in einem Binnensee, zu. Modell für diese Vorstellung war sicher einer der grossen Seen WestMexikos, vielleicht der von Chapala oder der von Pätzcuaro. Die drei Herkunftsorte werden in den Legenden gelegentlich so verknüpft, dass zum Beispiel GrossCülhuahcan am Ufer des Sees liegt, in dem die Azteken die Insel Aztlän besiedelten, und dass Chicömöztöc, die sieben Höhlen, erst später erreicht und als vorübergehender Aufenthaltsort gewählt wurden. In jeder dieser sieben Höhlen lebte ein Stamm . In Bilderhandschriften, die den Aufenthalt in den sieben Höhlen nicht darstellen, sind es aber meistens nicht sieben, sondern acht oder neun Stämme, mit denen die Wanderung beginnt. Nach den Berichten im Codex Azacatitlan und in der Tira de la Peregrinaciön waren es die Mätlatzincah, die Tepanecah, die Chichimecah, die Malinalcah, die Cuitlahuäcah, die Xöchimilcah, die Chälcah und die Huexötzincah, die gemeinsam auf Wanderschaft gingen. Die grossen Abweichungen in den Berichten, nicht nur bezüglich der Zahl der ursprünglichen Gruppen, sondern auch ihrer Namen, deuten darauf hin, dass es sich um Rückprojizierungen handelt, wobei jede politische Einheit der späteren Zeit die Urzeit so darstellt, wie es ihr zweckdienlich erscheint. Aus den sieben Höhlen, aus Aztlän bzw. Hei Cülhuahcän sind sie nacheinander im Jahre 1064 (Eins Feuerstein nach indianischer Chronologie) herausgekommen.
Wie wir sahen, setzen manche Quellen nicht die Insel Aztlän oder GrossCülhuahcän, sondern das archetypische Bild der sieben Höhle ganz an den Anfang. Auch andere amerikanische Völker überliefern ihren Ursprung durch ähnliche archetypische Bilder. In den Anden Perus begegnet uns eine Felsenhöhle mit drei Fenstern als Ursprungsort der Inka, und bei den Mixteken in Westmexiko gibt es den mythischen Baum von Apoala, aus dem die Ahnen hervorgekommen sind.
Fast 200 Jahre verbringen die Azteken nach ihrem Auszug aus Aztlän bzw. Chicömöztöc unstet als Jäger eine nach ihren eigenen Berichten ziemlich ereignislose Zeit, für die die Bilderhandschriften aber gewissenhaft die Orte ihres vorübergehenden Aufenthaltes aufzählen (Abb. io). Gelegentlich spricht ihr Stammesgott Huitzilöpöchtli zu ihnen und treibt sie weiter auf ihrer scheinbar ziellosen Wanderung.
Chicömöztöc. In dieser detailreich ausgeführten Wiedergabe der grossen Höhle mit sieben Kammern, stellt sie nur einen vorübergehenden Aufenthaltsort verschiedener Stämme dar, wie an den Fussspuren zu erkennen ist, die sowohl in die Höhle hinein als auch aus ihr heraus führen.
Und als sie Quahuitl itzintlän erreicht hatten, liessen sie sich dort, wo ein ganz dicker Baum, eine Sumpfzypresse, steht, dort an seiner Wurzel nieder ... Und sie waren schon einige Tage da, als sie für ihn [ihren Gott Huitzilöpöchtli] ihren Imbiss ausbreiteten. Dann wollten sie gleich essen, aber da hörten sie, dass jemand sie rief, der aus dem Wipfel der Sumpfzypresse herab sprach. Er sprach zu ihnen dort: «Ihr, die ihr dort seid, zieht weiter, damit der SumpfzypressenBaum nicht auf euch stürzt, denn er wird morgen umstürzen!» Daraufhin liessen sie, was sie gerade assen, zurück.
Dieser Stammesgott Huitzilöpöchtli wird von manchen Historikern, darunter auch dem indianischen Chronisten ChTmalpahin, als ehemaliger menschlicher Stammesführer gedeutet, der 1116 oder 1122 in Coätepec starb und danach zu göttlichem Rang erhoben wurde. Das steht aber im Widerspruch zu einem aztekischen Mythos, nach dem Coatepec nicht der Todesort Huitzilöpöchtlis, sondern der Ort seiner Geburt ist, wo er voll bewaffnet dem Leib seiner Mutter Cöätl Icue entsprang, um seine Stiefschwester Coyolxauhqui zu besiegen, die mit 400 Mann im Gefolge ihrer beider Mutter töten wollte (Abb. 6). Nachprüfen lässt sich an beiden Überlieferungen selbstverständlich nur, was denn nun überliefert und «offiziell geglaubt» wurde, nicht jedoch, was wirklich geschehen ist, denn die eine wie die andere Version sind pure Mythen. Kennzeichnend für alle verschiedenen Überlieferungen ist, dass der Berg Coätepüc, der in allen eine herausragende Rolle spielt, nahe der Hauptstadt des sagenumwobenen Reiches der Tolteken, auf das sich alle späteren zentralmexikanischen Reiche zurückzuführen trachteten, liegt. Die Vergöttlichung historischer Persönlichkeiten der Frühzeit eines Volkes, wie es hier mit Huitzilöpöchtli geschieht, ist übrigens kein seltenes Phänomen, ich erinnere an die chinesischen Urkaiser, von denen sich alle chinesischen Klane herleiten und deren göttliche Existenz sich erst im Laufe der Geschichte herausgebildet hat. Eine ähnliche Umdeutung der Geschichte ist somit auch für die Azteken nicht unplausibel.
Gelegentlich trennen sich die Azteken während der Wanderung von Teilen ihres Stammesverbandes, was nicht ohne Tränen und bedauernde Worte abläuft. Das erste Mal war das während der Rast unter der grossen Sumpfzypresse geschehen, wie eben zitiert und in Abb. to dargestellt. Später lassen sie noch zweimal andere Stammesabteilungen zurück.
Rast der Azteken in Quahuit Itzintläm
Später verlassen sie sogar heimlich eine ihrer eigenen Frauen, Malinalxöch, in der sie eine Zauberin vermuten, die ihnen Böses will. Auch in diesem Fall waren ereignisgeschichtlich gesprochen wahrscheinlich fremde Ortsansässige involviert, die den Azteken feindlich gesinnt waren oder denen die Azteken misstrauten, weswegen sie sie wieder verliessen. Diese letzte Trennung spiegelt eine Phase der aztekischen Wanderung wider, in der sie sich in schon dichter besiedelten Gebieten mit sesshaften Bevölkerungsgruppen in der Nachbarschaft Zentralmexikos auseinandersetzen müssen. Auf ihrem Weg berührten die Azteken also auch zunehmend Städte anderer im Hochtal schon ansässiger Völker, zunächst im Norden z. B. Töllän, die Hauptstadt des damals schon vergangenen ToltekenReiches. Dort rasteten sie 20 Jahre lang, und dort geschah nach einer Version ihrer Überlieferung das zuvor Berichtete. Dann kamen sie nach Tzumpänco, Quauhtitlan, Xältocän und Ehöcatepüc. Die vier waren später, zur Zeit der aztekischen Vormachtstellung, bedeutende Städte mit eigenen althergebrachten Fürstenhäusern. An den beiden letztgenannten Stationen legten sie nur jeweils vier Jahre Rast ein. Die Stationen ihrer Wanderung zu kennen, ist nicht ohne Interesse für die politische Interpretation der Stammesüberlieferung, denn der Bericht legt nahe, dass die Azteken in späterer Zeit damit ihren «uralten» Anspruch auf Oberherrschaft über diese Orte begründen wollten. Wenn das so ist, und dafür gibt es interkulturell viele Parallelen, sind im Laufe der Zeit die Stationen ihrer Wanderung durch Umschreiben der Geschichte wahrscheinlich den jeweils aktuellen politischen Bedürfnissen angepasst worden. Andererseits ist eine Stammessage, wie wir sie auch aus dem jüdischen Alten Testament kennen, eine heilige und ehrwürdige Tradition, die man nicht so ohne Weiteres umschreiben darf. Beide Haltungen werden im Widerstreit miteinander gelegen haben, und jede von ihnen mag in den uns erhaltenen Fassungen der bilder und buchstabenschriftlichen Sage von der Wanderung ihre Spuren hinterlassen haben.
DIE ERSTEN FESTEN WOHNSITZE AM HEUSCHRECKENBERG UND AM KREIDEWASSER
Mit dem Erreichen des «Heuschreckenberges» (Chapultepec) im Jahre 1194 beginnt die Legende in historisch detaillierte und in den verschiedenen Überlieferungen gut übereinstimmende «echte» Ereignisgeschichte umzuschlagen. Die Bilderhandschriften ergänzen jetzt die Aufzählung von Orten mit Darstellungen von Personen und Ereignissen, die allerdings zunächst noch recht verwirrend und undeutlich im Nebel der Frühzeit erscheinen.
In der Nähe dieses Bergrückens Chapultepüc, der sich sanft am westlichen Ufer des Sees von Tetzcuhco erhebt und heute, von einem Park umgeben, die bedeutendsten Museen Mexikos beherbergt, wurden die Azteken erstmals für längere Zeit sesshaft. Dort wohnten zwar schon Chichimeken unter ihrem Herrscher Mazätzin, doch gelang es den Azteken mit leichter Hand, ihn und seine Gefolgsleute zu vertreiben, indem sie mit seiner Tochter «ihren Mutwillen» trieben. Kaum 5o Jahre später, im Jahre 1240, wurden sie selbst von anderen, nämlich von den umliegenden Staaten von Culhuahcan, Äzcapötzalco und Xältocan überfallen. Ihr Anführer Huitzilihhuitl der Ältere musste mitansehen, wie seine beiden Töchter Chimalaxöch und Äzcaxöch vom Feind ergriffen, ihrer Kleidung beraubt und splitternackt in Gefangenschaft geführt wurden, wo sie unzweifelhaft den Göttern geopfert werden sollten, was dann auch tatsächlich geschah. Die Azteken konnten in ihrer Niederlage nichts dagegen unternehmen, und sie mussten sich sogar unter die Oberherrschaft Cälhuahcäns begeben. Zwecks besserer Aufsicht siedelte man sie ganz in der Nähe der Stadt in Cöntitlan oder Tizaäpan an. Das hatte für sie trotz des Zwangscharakters den Vorteil, dass sie hinfort Schutz vor weiteren Überfällen genossen. Das Zusammensiedeln mit den Culhuahkanern hat ausserdem gegenseitige Heiraten gezeitigt, was bei der späteren Grün dung der Dynastie für die Azteken noch eine entscheidende Rolle spielen sollte.
In dieser Zeit werden die Azteken von ihren Oberherren auch für deren eigene militärische Ziele eingesetzt. Sie müssen im Jahre 1243, also schon drei Jahre nach ihrer Umsiedlung, gegen die Stadt Xöchimilco, die io Kilometer südlich von Cülhuahcän am Seeufer liegt, kämpfen. Die Begegnung fand auf halber Strecke zwischen Cülhuahcän und Xöchimilco statt, und die Azteken entledigten sich dieser Aufgabe mit Bravour und provokanter Leichtigkeit. Sie töten ihre Gegner nicht einmal oder nehmen sie gefangen, wie es die Culhuahkaner befohlen hatten, sondern sie schneiden ihnen nur jeweils die Nasen ab und liefern die gesammelten Nasen in Säcke gefüllt nach Culhuahcan.
Einer der anonymen Chronisten des Codex Aubin schildert diesen Kriegszug folgendermassen:
Dort in Cöntitlan bekriegten sich in dem [Jahr] die Culhuahkaner und die Xochimilkaner. Sie gerieten aneinander. Als [die Xochimilkaner] den Culhuahkanern schon Schwierigkeiten machten, sprach ihr Herrscher Coxcoxtli zu den Mexikanern: «Sind sie etwa nicht mehr da? Sie sollen herkommen!» Dann rief man sie. Sie kamen dann vor das Angesicht des Herrschers. Der sprach dann zu ihnen: «Kommt bitte her, die Xochimilkaner sind schon im Begriff uns zu besiegen. Ich weise euch 8000 [Menschen] an, die ihr fangt, die euere Gefangenen werden sollen.» Darauf sprachen die Mexikaner: «Schon gut Herrscher; gönne uns einfache Schilde und einfache Schwerter.» Darauf sagte der Herrscher: «Wir wollen das nicht, ihr sollt nur so gehen!» Aber nachdem sie sich beraten hatten, sagten die Mexikaner: «Was sollen wir [als Waffen] tragen?» Dann sagten sie [auch noch]: «Vielleicht einfach Messer, womit wir unseren Gefangenen die Nasen abschneiden? Denn, wenn wir ihnen die Ohren abschneiden, werden sie sagen:  So soll es nicht sein! Wohl denn, ihre Nasen [sollen es sein]! Wohlan, wir wollen uns Säcke anziehen, damit wir [nachher] zählen können, wie viele es sind.» Dann zogen sie sich Säcke an. Dann gingen sie um zu kämpfen. Einige kämpften in Booten. Dort am Schlangenwasser stellten sie sich zum Kampf auf. Das geschah, als einer namens Tetzitzilin Feldherr von Cülhuahcän war. Der trug als Devise das ausgebreitete Baumwollhemd. Er sprach zu ihnen: «Mexikaner geht!» Als sie schon Gefangene machten, stand er nur furchtsam da und weinte. Er sprach [zu ihnen]: «Geht Mexikaner!» Dann erreichten sie den Rand der Häuser der Xochimilkaner. Danach kehrten die Mexikaner zurück. Dann wurden ihre Gefangenen vor dem Herrscher Coxcoxtli gezählt. Dann sprachen die Mexikaner [zu Coxcoxtli]: «Herrscher, die alle sind unsere Gefangenen. Es sind viermal achttausend, die wir gefangen haben.» Und darauf rief [der Herrscher] seine Berater herbei und sprach dann zu ihnen: «Die Mexikaner sind keine Menschen. Wie haben sie das [nur] mit [den Xochimilkanern] angestellt?»(Codex Aubin, Blatt 2ov2ir)
Die Namensgleichheit des Staates Cfilhuahcän mit dem Ort des eigentlichen Ursprungs der Azteken, der zu «GrossCulhuahcän» erhöht wurde, gibt dem Historiker ein gutes Indiz an die Hand, dass es sich bei der legendärmythischen Wandersage in Bezug auf den Ursprungsort um eine Rückprojizierung handelt: Die Ursprungsstadt wurde als ebenso bedeutend gewertet wie die Stätte ihrer ersten Sesshaftigkeit im Hochtal und ihres ersten grossen Kriegserfolges, und sie benannten ihren Ursprungsort nach ihm. Die Sage von der Wanderung in der uns überlieferten Form hat also endgültige Gestalt erst nach der Eingliederung der Azteken in den Staat von Crilhuahnn erhalten.
Die Beziehung der Azteken zu ihren culhuahkanischen Oberherren blieb dennoch oder gerade wegen des überwältigenden Kriegserfolges, den sie für die Culhuahkaner erfochten hatten, gespannt, und immer noch standen den Azteken unerwartete Jahre der Wanderschaft bevor, nicht zuletzt wegen dieser Tat, die ihre Oberherrn ein zu grosses Erstarken der Azteken befürchten liess.
DAS MONATSFEST TLÄCAXiPtHUALIZTLI
Auslöser erneuter Auseinandersetzung mit den Culhuahkanern wurde eine unerhörte Provokation seitens der Azteken, die sich direkt gegen den Herrscher von Cülhuahcän, Achitometl, richtete. Eine scheinbar freundliche Einladung der Azteken an ihn zu einem Tempelfest benützen sie auf Anraten ihres Stammesgottes Huitzilöpöchtli, um einen Priester in der übergezogenen Haut der zuvor geschundenen Tochter eben dieses Herrschers auftreten zu lassen.
Und dann gingen die Mexikaner die Tochter des Achitometl zu erbitten. Die Mexikaner baten ihn und sprachen: «Mein Kind, Herr und Herrscher, wir bitten dich, wir deine Grossväter, deine Untertanen und alle übrigen Mexikaner: Du sollst uns deine Tochter überlassen, deine Halskette, deine Quetzalfeder, deine Enkelin, die Prinzessin, du sollst sie uns geben. Wir wollen sie dort bei den Bergen in Tizaäpan hüten. Und daraufhin sagte der Achitometl: «Schon gut, Mexikaner, nehmt sie mit!» Dann gab er sie den Mexikanern. Sie nahmen die Tochter des Achitometl mit. Sie brachten sie und führten sie dorthin nach Tizaäpan ... Und dann töteten sie die Prinzessin gleich und schunden sie. Nachdem sie ihr die Haut geschunden hatten, legten sie sie einem Herrn, einem Opferpriester an. Und dann sagte Huitzilöpöchtli: «Väter, geht bitte und ruft den Achitometl herbei!»... Dann sprach der Achitometl zu seinen Herrschern: «Wir wollen nach Tizaäpan gehen. Die Mexikaner rufen uns zu einem Festmahl.»... Als er, der Achitometl, aber vor seinem Gott Wachteln köpfte, sah er allerdings noch nicht richtig, vor wem er die Wachteln köpfte. Dann brachte er ihm ein Feueropfer dar. Der Feuerlöffel beleuchtete ihn, so dass er dort einen Mann, einen Opferpriester sah, der die Haut angelegt hatte. Als der Achitometl aber richtig sah, dass es die Haut seiner Tochter war, erschrak er sehr und schrie gleich. Er rief seine Herrscher und seine Untertanen und sprach zu ihnen: «Hat denn keiner von euch Culhuahkanern gesehen, dass sie meine Tochter geschunden haben? Die Bösewichte sollen hier nicht bleiben. Wir werden sie töten, wir werden sie vernichten. Hier werden die Bösewichte ein Ende finden!» (Crönica Mexicayotl, §§ 77a8og)
In späterer Zeit war das Fest des Menschenschindens, Tläcaximhualiztli, das sie hier erstmals zelebrierten, eines der wichtigsten im Kreis des 365tägigen Jahres. Seinen Ablauf hat Bernardino de Sahagün in aller Ausführlichkeit überliefert:
Man nennt es Tläcaxrpehualiztli. [Und so] wurde es durchgeführt: An ihm sterben alle Ergriffenen, alle Gefangenen, die ganze Beute, Männer, Frauen [und] alle Kinder.
 Steinskulptur eines Xipe TotecRepräsentanten. Mit gekreuzten eng an die Brust gezogenen Beinen sitzt ein junger Mann. Er trägt eine Gesichtsmaske aus Menschenhaut. Sein Blick ist leicht nach oben in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Ebenso enganliegend wie die Gesichtsmaske umschliesst ein Leibchen aus Menschenhaut seinen Körper. Von den Unterarmen dieses Leibchens hängen die Hände des Geopferten herab, so dass die Hände des Lebenden frei liegen und er sie mit geballten Fäusten auf seinen Knien aufstützten kann. Die Brust seines Leibchens ist verschnürt, denn dort wurde die Haut des noch nicht Geschundenen, die später als Leibchen des lebenden Xipe TotecRepräsentanten dienen würde, mit einem breiten Schnitt geöffnet, um beim Opfer das Herz zu entnehmen. Die Haut des lebenden Repräsentanten ist durch Bemalung des Basaltsteines rot gehalten und kontrastiert mit der fahlen Naturfarbe des Steins, die die übergezogene Haut des Opfers wiedergibt. In der Abbildung nicht zu sehen, ist das Leibchen aus der Haut des Geschundenen auf dem Rücken des Xipe TotecRepräsentanten sorgfältig und stramm geknotet, so dass es körpereng anliegt und man sich vorstellen kann, dass ein so Bekleideter sich unbehindert bewegen kann.
Schon vierzig Tage bevor das eigentliche Fest stattfindet, während des Monats Izcali also, wird ein Sklave als Gott Xipe Totec ((unser Herr der Geschundene>) eingekleidet und bis zum Fest als solcher öffentlich verehrt. Dieser Xipe TotEcRepräsentant und die Vertreter der Götter Tönatiuh, Huitzilöpöchtli, Quetzalcöätl, Mäcuilxöchitl, Chililico, Tlacahuepan, htliltön und Mayahuel — jeder vertritt einen Stadtbezirk — werden auf der Hauptpyramide durch Herzopfer getötet:
Und nachdem sie so vor das Angesicht Huitzilöpöchtlis hinaufgebracht worden sind, legt er sie, einen nach dem anderen auf den Opferstein. Er übergab sie gleich zuhanden der Opferpriester. Sechs waren es. Die legen sie mit der Brust nach oben und schneiden ihnen die Brust mit einem dicken, breiten Feuersteinmesser auf. Und sie, die Gefangenen, die starben, nannte man Adlerleute ... Danach rollte man sie herab, stürzte sie (die Stufen des Tempels) hinab. Sie klappern, sie kugeln gleich Kürbissen, sie schlagen auf, sie wälzen sich um und um, bis sie unten auf der Vorterrasse ankommen.
Das Volk versammelt sich am Ort Zacapän, wo die sterblichen Überreste der Geopferten ausgestellt sind, und bringt Opfergaben dar. Die toten Körper der Geopferten werden zunächst mit Knüppeln durchgewalkt, damit sich die Haut besser vom Fleisch löst. Danach werden sie geschunden und ihr Fleisch ohne die Haut wird verteilt.
Und dort nimmt er sie entgegen. Und er übergibt sie zuhanden der verehrten Alten, der Quaquacuiltin, der GemeindeÄltesten. Die bringen sie dorthin zu ihrem Gemeindehaus, dorthin, wo der Besitzer der Gefangenen es gelobt und bestimmt hatte. Dort nehmen sie [ihr Fleisch] entgegen, um es nach Hause zu bringen und zu verzehren. Dort zerteilt, zerschneidet und zerlegt er es. Zuvörderst gibt er dem Moteuczüma seinen privilegierten Anteil: Einen Oberschenkel bekommt er, den bringt man ihm.
Andere Gefangene kleiden sich dann in die Häute und den Götterschmuck der soeben Geopferten und ziehen in die vier Himmelsrichtungen in Gruppen durch die Stadt. Anschliessend werden sie, nachdem sie die Nacht über aneinandergebunden gewacht haben, von ihren Fängern zum Quäuhxicalco geführt.
Dann beginnt das Streifenmachen. Die Gefangenen sind in Reihen aufgestellt. Der Fänger, der sie hergebracht hat, steht neben ihnen.
Es finden sich dort auch zwei AdlerKrieger und zwei JaguarKrieger ein, und Priester in verschiedenen Göttertrachten kommen unter Musikbegleitung herbei.
Der Anführer, der als Jaguar herkommt, geht voran, führt sie an. Er lässt seinen Schild sehen und hebt ihn und sein Schwert [zur] Sonne [empor]. Zum anderen Mal kommt der Adler[krieger] jetzt hinten hervor, bewegt er sich hinten ... Abermals geht er hinter ihm und folgt ihm schon, folgt ihm als zweiter, geht ihm als zweiter zu folgen. Ebenso hebt er seinen Schild zur Sonne [empor] und sein Schwert. Abermals kommt auch noch ein Jaguar herbei. Er kommt als dritter, er kommt an dritter Stelle hervor. Ebenso machte er es und kam rasch herbei. Weiters kommt noch einer herbei, ein Adler[krieger]. Das gleiche tut er. Kämpfend kamen alle vier herbei. Sie heben ihre Schilde und ihre Schwerter zu Sonne empor. Nicht mehr lange gehen sie hintereinander. Sobald sie hereingekommen sind, fangen sie an zu tanzen, sich zu greifen, tun, als ob sie sich auf dem Boden legten, also ob sie auf dem Boden kröchen; legen sich flach hin; blicken nach der Seite, springen auf und kämpfen. Mit Sang und Schall von Schneckenhörnern ziehen die Cozcateken in Ordnung herein. Auf den Schultern tragen sie Reiherfederfahnen. Sie umrunden den Opferstein. Sie holen einen Gefangenen. Am Schopf hält ihn der Fänger, der Besitzer des Gefangenen, um ihn zum Opferstein zu bringen. Nachdem sie ihn hingebracht haben, gibt er ihm Wein. Und viermal hebt er den Wein vor dem Gefangenen. Und danach trinkt er mit einem Röhrchen. Dann nimmt er das Lebensmittelseil, das festhält, das festbindet. Er bindet es dem Gefangenen um den Leib. Und er gibt ihm ein Holzschwert, das mit Federn beklebt, aber nicht mit Obsidianklingen besetzt ist. Und vor ihm legt er vier Holzklötze nieder, seine Wurfgeschosse, mit denen er auf [den Gegner] werfen und sich verteidigen soll. Und nachdem der Fänger seinen Gefangenen am Opferstein zurückgelassen hat, geht er gleich und stellt sich dort wieder auf, wo er [zuvor] gestanden hatte. Er tanzt, blickt nach allen Seiten und betrachtet seinen Gefangen. Dann fing man an einander zu bekämpfen, zu kämpfen. Man schaute, wo man einander an einer empfindlichen Stelle verwunden könnte, eine Wunde schlagen könnte: vielleicht an ihren Waden oder ihren Oberschenkeln oder an ihrem Kopf oder an ihrem Rumpf Wenn aber ein Gefangener mutig und beherzt ist, können es :alle] vier nicht zuwege bringen. Er hält den Jaguaren und Adlern stand, er täuscht sie. Und wenn sie ihn nicht ermüden konnten, kam ein Linkshänder. Er lähmt ihm den Arm und wirft ihn zu Boden.
Sobald der ermüdete oder verwundete Opferkrieger niedergekämpft ist,wird er ergriffen und rücklings auf dem benachbarten Opferstein ausgereckt:
Und dann kam der Yohuallähuän, der in der Gestalt [Xipe] Totecs auftritt. Er schneidet ihm die Brust auf, nimmt ihm das Herz heraus, (und) hebt es zur Sonne empor. Die Opferpriester legten es in die Adlerschale. Und noch ein anderer Herr, ein Priester, bringt das Adlersaugrohr. Er stellt es in die Brust ihres Gefangenen, dort wo sein Herz gewesen war. Sie saugen es voll Blut, tauchen es ganz in das Blut. Dann heben sie es auch noch zur Sonne [empor]. Man sagt, sie badeten sie damit. Und der Fänger nimmt sich nun das Blut seines Gefangenen. In eine grüne, am Rande mit Federn beklebte Schale schütten es ihm die Töter. In ihm befindet sich ein Röhrchen, das auch mit Federn beklebt ist. Und dann erhebt er sich, die Teufel [gemeint sind die aztekischen Götter] zu speisen. Überallhin geht er, an jedem Ort erscheint er, keine Stätte lässt er aus, keine Stätte übergeht er, weder das Calmecac, noch das Versammlungshaus [der Priester]. Auf die Lippen ihrer Steinbildnisse bringt er das Blut des Gefangenen mit dem Röhrchen auf. Er geht und lässt sie davon kosten ... Und seinen Gefangenen lässt er nach dem Gemeindehaus bringen, wo sie die ganze Nacht gewacht hatten. Dort schindet man ihn. Danach lässt er ihn in sein Haus bringen. Dort zerschneidet er ihn, um ihn zu essen, um ihn jemandem anzubieten, und, wie man sagte, ihm damit Kraft zu verleihen ... Und der Besitzer des Gefangenen durfte nicht vom Fleisch seines Gefangenen essen. Er sagt: «Soll ich denn mich selber essen?» Denn wenn er ihn fängt, sagt er: «Das ist gleichsam mein Kind.» Und der Gefangene sagt: «Das ist mein Vater.» Aber von einem anderen beschenkt, durfte er von dem Gefangenen des anderen essen.
Arme oder kranke Bürger leihen sich von den Gefangenenbesitzern die Häute der Geopferten aus, streifen sie sich über und ziehen dann im Monat Tozoztöntli zwanzig Tage lang um Almosen bettelnd, durch ihre Stadtteile. In der Volkskunde nennt man das einen «Heischegang», und es gibt dafür weltweit Beispiele, auch in europäischen Kulturen. Die Bürger, die die Häute erhalten haben, heissen Xrpemeh (). Ihnen folgen Horden von Buben und Mädchen:
Wenn sie einen Tag lang getragen worden war, von dem der sich die Haut überzieht, teilt er alles, was ihm bei den Heischegängen geschenkt wird, alles was er sammelt, schenkt er dem Fänger. Später teilt er es an die anderen aus. So verdient er etwas mit seiner Haut. (Sahagün, Historia General, Buch 2, Kapitel 21)
Die am eigentlichen Fest Beteiligten zeigen ab dem dritten Tag nach dem Fest ihre Menschenhäute öffentlich, und allgemeines Tanzen und Singen beginnt. Es wird in der Nacht im Cuicacalli () fortgesetzt, bis das Fest Tozoztli naht. Jetzt legen die Heischegänger die Menschenhäute nach und nach ab, die Träger waschen sich; und bei festlichem Gelage und in Anwesenheit von alten Soldaten werden die Häute schliesslich in einer Höhle im Xipe TotücTempel im Stadtbezirk Yopico vergraben.
Dieses Fest des Menschenschindens haben die Azteken von altansässigen Bewohnern übernommen. Wie wir sahen, datieren sie in ihrer eigenen Geschichtsüberlieferung diese Innovation auf die Zeit, als sie in Tizaäpan bei Colhuahcän siedelten und Hörige der Culhuahkaner waren.
Es gelingt den von den Culhuahkanern nach dieser Provokation vertriebenen Azteken nur knapp, sich ins Binsendickicht am Seeufer zu retten und von dort schwimmend zu entkommen. Nachdem sie sich in Acolco wieder gesammelt haben und die auf der Flucht am jenseitigen Ufer zurückgelassenen Kleinkinder nachgeholt haben — wir schreiben jetzt das Jahr 1243 oder 1246 — vollziehen sich ihre weitere Wanderungen kleinräumig am südlichen Ufer des Sees und auf den kleinen Inseln dort. Erst Jahrzehnte später, im Jahre 1325, werden sie, wiederum einer Anweisung Huitzilöpöchtlis folgend, auf einer der Inseln sesshaft, nämlich dort, wo ein Adler mitten im Röhricht und Binsendickicht auf einem Kaktus sitzt und seine Beute verspeiste (Abb. t2). Zunächst hatten sie zwei Kundschafter ausgeschickt, einen geeigneten neuen Siedlungsort zu finden. Ihnen zeigte Huitzilöpöchtli den von ihm vorbestimmten Platz.
Und dort, wo sie im Röhricht hervorkamen, stand der Steinkaktus noch, den sie dort an der Höhle gesehen hatten. Auf ihm befand sich, auf ihm, dem Steinkaktus, stand aufgerichtet der Adler ... Und als er, der Adler, die Mexikaner sah, verbeugte er sich sehr ... Und dort gebot der Teufel [gemeint ist Huitzilöpöchtli] ihnen, er sprach zu ihnen: «Mexikaner, dort soll es schon sein!»... Und dann weinten die Mexikaner, sie sprachen: «Wir haben erlangt, wir haben erreicht, [was wir wollten], denn wir haben den Ort bewundert, wo unsere Stadt sein wird.» (Crönica Mexicayotl, §§ 91b92c)
Daraufhin holten die Kundschafter ihre Stammesgenossen nach, und sie liessen sich alle zusammen dort  (Tenochtitlan) nieder. Damit hat sich die Heilsgeschichte, über die ihr Gott Huitzilöpöchtli gewacht hatte, erfüllt, und er greift in Zukunft nicht mehr aktiv in das politische Geschehen seiner Azteken ein. Den religionsgeschichtlich beschlagenen Leser wird die Tatsache, dass ein Volk den immanenten Sinn seiner Geschichte von der Gottheit in einer Zielvorgabe gesetzt bekommt, sehr an die Geschichte der Juden des Alten Testamentes erinnern. Es handelt sich hier um eine der vielen ethnographischen Parallelen zwischen zwei Völkern, die nachweislich keine Kenntnis voneinander hatten. Menschen kommen eben zu allen Zeiten und in allen Weltgegenden immer wieder auf grundlegend ähnliche Gestaltungen ihres Lebens und der entsprechenden Sinngebung, wie hier auf das Prinzip der Suche nach dem «gelobten Land». Die Gründungsepisode der Azteken mit dem Adler auf dem Kaktus ist heute noch heraldisch im Wappen und auf der Staatsfahne Mexikos abgebildet. Tenochtitlan war bei seiner Gründung freilich noch keine Stadt, sondern nur eine Ansammlung strohgedeckter Häuschen mit einem ebenso armseligen Tempel für Huitzilöpöchtli. Diese bescheidenen Anfänge haben die Azteken auch später nicht verleugnet, sondern mit Stolz in ihrer offiziellen Geschichtsschreibung bildlich dargestellt.
Aber selbst diese bescheidene Episode ihrer Geschichte ist in mancher Hinsicht geschönt. Denn der archäologische Befund und die historischen Traditionen anderer Bevölkerungsgruppen machen deutlich, dass die Azteken nicht als erste und nicht alleine auf diesen Inseln lebten. Schon vor ihnen oder gleichzeitig siedelten sich dort die Tlatilolkaner an; und es hatte dort bereits vor Ankunft dieser beiden Einwanderungsgruppen eine altansässige Bevölkerung gegeben, mit der sie sich vermutlich auseinandersetzen mussten oder die ihnen Zuflucht gewährte. Doch darüber berichten die aztekischen Quellen nichts. Dass die Vorbesiedler verschwiegen werden, dient der Betonung der Einmaligkeit und des herausragenden Status der eigenen Stammesgruppe. Die Azteken organisierten sich in Tenochtitlan nun, indem sie ihre Siedlung in vier Stadtteile, entsprechend ihren vier Stammesabteilungen gliederten. Diese Stadtteile hiessen fortan Möyötlän, Teöpan, Ätzaqualco und Cuepöpan und werden sYmbolisch durch vier sich kreuzende Kanäle getrennt, wie es Abb. 12, ein Auschnitt aus Colecciön Mendoza, Blattar, zeigt:
Die Seitenränder des Blattes säumt ein fast geschlossenes türkisfarbenes Rechteckband von 51 Jahren, beginnend mit Zwei Haus und mit Dreizehn Rohr endend. Ob diese Abfolge von Jahren die Herrschaftsdauer des der Mitte mit schwarzem Gesicht abgebildeten Stammesführers Tenoch anzeigen soll, ist ungewiss. Es könnte sich auch um ein inhaltsleeres Kalenderschema, gewissermassen als dekorative Umrahmung des eigentizzhen Bildes handeln. In derselben Türkisfarbe ist dem Jahresrahmen ein Rechteck mit eingeschriebenen Diagonalen als schematischer Grundriss je Hauptstadt Tenochtitlan eingefügt. Die leicht gewellten Ränder des Rechtecks und seiner Diagonalen bezeichnen die Kanäle, die die Stadt durchziehen. In der Mitte, an der Kreuzung der Diagonalkanäle, steht auf einem Stein ein rot blühender Kaktus mit darauf ruhendem Adler. Es ist das emblematische Sinnbild der Stadt Tenochtitlan und zugleich der Versuch, den Namen der Stadt hieroglyphenschriftlich darzustellen. Darunter ist, diese Identifikation bestärkend, ein Rundschild mit Daunenfedern beklebt dargestellt. Er symbolisiert den kriegerischen Aspekt des Gemeinwesens. Jeder durch die sich kreuzenden Kanäle gebildete Sektor repräsentiert einen der vier Stadtteile. Die Einwohner werden durch insgesamt zehn Stammesführer vertreten, die jeweils mit ihren hieroglyphischen Namen identifiziert sind. Unter dieser Stadtallegorie sind die Eroberungen von Calhuahan und Tenänyünn dargestellt, an denen die Azteken, allerdings nur als Vasallen der Tepaneken, beteiligt waren. Ganz unten am Jahresband ist das Jahr der Neufeuerbohrung durch Drillbohrer und Feuerbrett hervorgehoben.
Heraldische Darstellung von Tenochtitlan.
DIE FRÜHDYNASTISCHE ZEIT (13671428)
2 calli xihuitl 1325 ypan in yn acico ynic mocentlallico yn toltzallan acatzallan tenochtitlan yn teochichimeca huehuetque mexica
Das Jahr Zwei Haus, 1325, in ihm war es, dass die alten Teochichimeken, die Mexikaner im Röhricht, im Binsicht in Tenochtitlan ankamen und sich gemeinsam niederliessen.(Chimalpahin, Historia, § 168)
DER LEGENDÄRE BEGINN DER DYNASTIE
Die Azteken lebten auf ihren kleinen Inseln im See als unbedeutende, politisch und gesellschaftlich noch weitgehend egalitär verfasste Gruppe in beständiger Furcht vor mächtigeren Stadtstaaten am westlichen Seeufer: Äzcapötzalco, Coyöhuahcän, Cülhuahcän und anderen. Trotz ihrer Insellage können sie sich erneuter Abhängigkeit nicht lange entziehen. Ohne dass in den Quellen ein Zeitpunkt oder ein markantes Ereignis, wie z. B. ein Krieg, genannt wird, werden sie Vasallen der Tepaneken von :kzcapötzalco, das kaum 5 Kilometer von ihren Inseln entfernt in westlizher Richtung auf dem Festland liegt. Heute ist Äzcapötzalco ein Bezirk der Stadt Mexiko. Die Geschichte von Dominanz und Abhängigkeit hat sich mittlerweile also umgekehrt.
In dieser Situation strebten die Azteken danach, ihrerseits eine legitime und anerkannte eigene Dynastie zu begründen. Sicher war es ihr langfristiges Ziel, sich dereinst aus der Abhängigkeit von fremden Oberinerren zu befreien und im Gefüge der zentralmexikanischen Staaten alsgleichrangig anerkannt zu werden. Ein erster Schritt dahin, die Gründung einer eigenen Dynastie, gelingt ihnen durch die Ausnutzung früherer Heiratsverbindungen mit ihren ehemaligen Oberherren in Cülhuahcän. _These waren als direkte Nachkommen der legendären Tolteken eine der rrestigeträchtigsten Dynastien im Hochtal und daher eine besonders gute Wahl. Das ist der ideologische, machtpolitische und in vielem zugleich
Hintergrund der etwas unklaren und in den Quellen vermutlich fälscht dargestellten Investitur Acamapichtlis als erster offizieller Herrs.±er der Azteken. Einige zentralmexikanische Geschichtstraditionen 2.euen vor Acamäpichtli noch einen oder zwei Herrscher, so dass arnäpichtli nicht der erste gewesen wäre, wie es die spätere offizielle leschichtsschreibung behauptet. Diese nichtaztekischen Quellen betonen auch, dass die Gründung Tenochtitlans nicht ein einzelner hervorze:nobener Akt war, sondern dass gleichzeitig Ähnliches auch mit den Tlatilolkanern, die später ihre nördlichen Nachbarn wurden, geschah. Hieran zeigt sich wiederum deutlich, dass die offizielle aztekische Geschichtstradition politische Ziele verfolgte und dass sie für diesen Zweck das historische Geschehen zu zielgerichteter Geradlinigkeit vereinfachte und durch Verschweigen anderer Gruppen zu Gunsten der Azteken verfälschte.
Der Ursprung der aztekischen Dynastie von Tenochtitlan mit Acamäpichtli ist historisch also ungesichert, und das spiegelt sich auch in den Berichten über ihn persönlich. Alle, selbst die ausführlichsten und zuverlässigsten Quellen, z. B. Alva Ixtlilxöchitl und Durän, berichten nur bruchstückhaft und verworren, ja zum Teil geradezu unwahrscheinlich über ÄcamäpTchtli, seine Herkunft und seinen Weg zum Thron. Seit aber im Jahre 1982 die in aztekischer Sprache überlieferte Umschrift einer Ausgangsort des Geschehens ist der Staat von Cülhuahcän unter seinem Herrscher Coxcoxtli. Zeitlich bewegen wir uns um das Jahr 132o. Coxcoxtli hatte einen Sohn namens Acamäpichtli, der später mit dem Zusatz «der Ältere» versehen wurde, und eine Tochter Ätotoztli. Beide verheiratete er standesgemäss: Acamäpichtli mit der Prinzessin Ilancuöitl aus Cöätl Ichan, einer Teilherrschaft des Staates von Äcülhuahcän, und Ätotoztli mit dem hochrangigen aztekischen Krieger Opöchtli Izquitöcatl.
Acamäpichtli der Ältere trat im Jahre 1324, wenn wir dem Bericht einer anderen Quelle, dem «Origen de la Genealogia», trauen dürfen, die Nachfolge des im selben Jahr verstorbenen Coxcoxtli als Herrscher von Cülhuahcän an. Die Hauptquellen berichten allerdings im Widerspruch dazu von einem kurzen Interregnum. Äcamäpichtlis Ehe mit Ihnneid blieb anscheinend kinderlos. Deswegen nahmen er und seine Frau grossen Anteil daran, als sich bei seiner Schwester Ätotoztli und ihrem Ehemann Öpöchtli Izquitecad im Jahre 1335 Nachwuchs einstellte. ikcamäpichtli der Altere und Ilancucid kamen aus Cülhuahcän zur Taufe des Neugeborenen ach Mexiko, das man in einer halben Tagesreise mit dem Boot über den
üe leicht erreicht. Auch willigten sie in den Namen Acamäpichtli für das Neugeborene ein. Bei den Azteken ist es nicht ungewöhnlich, dass ein Neffe den Namen seines Onkels bekommt, wenn auch die Namenswei7trzabe vom Grossvater auf einen Enkel beliebter war. Ganz offensichtlich wollte in diesem Fall Ätotoztli ihrem kinderlos gebliebenen Bruder zarnäpichtli dem Älteren einen Gefallen tun, indem sie ihren Sohn nach nannte. Das neugeborene Kind wird zur Unterscheidung von seinem Enkel Acamäpichtli der Jüngere genannt.
 Namenshieroglyphe Äcamäptchtlis.Der Name Acarnapichtli ist direkt aus seinen beiden Gliedern zu verstehen: äca bezeichnet das , im Sinne des harten geraden Stängels einer Pflanze und dann auch übertragen den  und den  als ganzen, während mäpichtli, in sich nochmals zusammengesetzt ist. Mä bedeutet , prch ist eine Ablautung des Verbes pr qui, das ,  bedeutet. Mäpiqui bedeutet also , woraus ein Nomen mapTch  abgeleitet wird. Schliesslich ist das ganze Kompositum noch mit dem Suffix für Hauptwörter 11 versehen. Das Ganze bedeutet also  oder . Das hieroglyphenschriftliche Bild gibt genau das wieder: eine Hand mit Unterarm, die ein Bündel Pfeile gepackt hält.
Als sich die politischen Verhältnisse beruhigt hatten, waren nunmehr die Mexikaner bestrebt, den herangewachsenen Äcamäpichtli, dessen Vater ja einer der Ihren gewesen war, nach Tenochtitlan zurückzuführen, mit der Absicht, ihn zu ihrem Herrscher zu machen. Sie wenden sich daher zunächst nach Culhuahcän, wo sie ihn vermuten, da seine Ziehmutter Ilancueitl die Ehefrau und spätere Witwe des dortigen Herrschers war. Von dort werden sie aber nach Cöätl Ichan verwiesen, wohin sich Ilancueitl mittlerweile zurückgezogen hatte. Dort finden sie das Kind Äcamäpichtli dann auch und führen es als ihren zukünftigen Herrscher heim. Seine Tante und Ziehmutter Ilancueitl begleitet ihn. Hierin stimmen nun wieder alle Quellen überein. Allerdings bleibt eine Unklarheit insofern bestehen, als der junge Äcamäpichtli anscheinend während seines Aufenthaltes in Cöätl Ichan geheiratet hatte, weswegen einige Quellen seine Tante und Ziehmutter Ilancueitl mit seiner Ehefrau verwechseln. So entsteht der Anschein einer inzestuösen Ehe, während vielleicht nur der merkwürdige Fall vorlag, dass zwei nichtverwandte Frauen in seinem nächsten Umkreis, nämlich seine Tante und seine Ehefrau, denselben Namen trugen.
DAS LEBEN EINES AZTEKEN
Jede menschliche Gesellschaft legt Stationen im Leben des Einzelnen fest, denen besondere Bedeutung als Abschluss eines Lebensabschnittes und gleichzeitiger Beginn eines neuen beigemessen wird. Sie werden deshalb öffentlich gefeiert. Wir nennen solche Feste Übergangsriten oder mit dem französischen Ausdruck «rites de passage». Arnold van Gennep, ein in Frankreich wirkender, in Ludwigsburg bei Stuttgart geborener Völkerkundler, hat den Begriff 1909 in seinem grundlegenden Buch «Les rites de Passage» entwickelt. Er stellte bei weltweit kulturenvergleichenden Studien fest, dass Übergangsriten immer die gleiche Grundstruktur haben. Sie verlaufen nämlich in drei Phasen in der Abfolge von Trennung vom alten Zustand zu einem Übergangsstadium und alsbald danach dem Ein:ritt ins neue Stadium. Innerhalb dieses Schemas können die Riten noch weiter gegliedert sein. Das Übergangsstadium wird immer als besonders gefährlich angesehen und deshalb am häufigsten und am ausgiebigsten gefeiert.
Den ersten Schrei, den ein neugeborenes AztekenKind von sich gibt, :'assen die Erwachsenen als Kriegsruf auf; denn sie begreifen Geburt und Krieg als gleichbedeutend bis hin zu der Vorstellung, dass die im Kindbett .erstorbene Frau mit den im Felde gefallenen Kriegern gleichrangig ist wie jene die Sonne auf ihrem Lauf am Himmel begleitet. Die Hebirnme (Ttcitl) nimmt das Neugeborene auf und richtet eine formvolle nd ausführliche Rede an das Kind. Danach schneidet sie seine Nabelschnur ab, wickelt sie in die Nachgeburt und lässt beides trocknen. Dabei r..uft sie das Himmelsgötterpaar Yohualtüuctli und Yohualcihuätl an. Ist das Neugeborene ein Mädchen, wird die Nabelschnur später unter der ferdstelle im Haus begraben; ist es ein Bub, findet sie ihren Aufbewahrungsort auf einem Schlachtfeld. Es handelt sich hier also offensichtlich Kontaktmagie: Man hofft, dass der physische Kontakt eines Teils des Neugeborenen mit dem Ort seiner späteren Tätigkeit die Einhaltung die ser Rollenerwartung absichert. Jetzt wird das Kind gewaschen. In einem Gebet wird dabei die Hilfe der Wassergöttin Chälchiuhtlicue angerufen. Auch an die Wöchnerin richtet die Hebamme eine lange Ansprache. Danach kommen Verwandte und Freunde zu Besuch. Vor dem Betreten des Hauses streichen sie ihre Gelenke mit Asche ein, und, nachdem sie eingetreten sind, richten sie ihrerseits gesetzte Worte an die Wöchnerin. Während der ganzen Zeremonien und der Besuche, in der Regel vier Tage lang, darf das Herdfeuer im Haus der Wöchnerin nicht erlöschen.
Eine der ersten Elternsorgen nach der Geburt ist es zu erfahren, ob das Kind unter einem glücklichen Kalenderzeichen (Tönalli) geboren ist. Deshalb lässt man möglichst bald einen Wahrsager (Tönalpöuhqui) kommen oder befragen. Der bestimmt den Tag der Geburt im Wahrsagekalender (Tönalpöhualli) und stellt fest, ob es ein glückverheissender oder ein unglückverheissender Tag war. Denn jeder Tag hat im aztekischen Wahrsagekalender Eigenschaften, die er auf den an ihm Geborenen in der Art überträgt, dass dessen Schicksal, ja sogar seine soziale Rolle und sein Beruf davon mitbestimmt werden. Doch gibt es Möglichkeiten, ein unglückliches Schicksal durch Opfer und guten Lebenswandel und durch die Wahl eines glückverheissenden Tauftages zum Guten zu wenden.
Ist das Kind an einem guten Tag geboren, wird der übliche Abstand von vier Tagen nach der Geburt für die Taufe eingehalten, oder die Taufe wird sofort vollzogen. Geburt und Taufe bilden in der Regel eine verzahnte Abfolge von Ritualen. War er unglückverheissend, wurde für die Taufe ein günstigerer innerhalb der nächsten 20 Tage seit der Geburt gewählt. Für die feierlichen Handlungen der Taufe bereitete man symbolische Gegenstände vor, die dem Kind seinen künftigen Beruf, den es als Mann oder Frau im Leben zu erfüllen haben wird, vorzeichnet. Für Buben formt man einen kleinen Schild aus Teig vom Samen des Fuchsschwanzes (Huäuhtli) und einen kleinen Bogen mit vier Pfeilen, die nach den vier Himmelsrichtungen ausgelegt werden. Pfeil und Bogen stehen metonymisch für den späteren Krieger; und das Auslegen von vier Pfeilen in die vier Himmelsrichtungen mag an die Frühzeit der Azteken erinnern, in der sie neues Land durch das Schiessen von Pfeilen in die vier Himmelsrichtungen in Besitz nahmen. Wohlhabende Eltern fügen noch eine Decke (Tilmahtli) und ein Lendentuch (IVIäxtlat1), also die Kleidungsstücke des Mannes, hinzu. Für das Mädchen werden in kleinem Massstab die Gerätschaften hergestellt, die ihm im späteren Leben zum Spinnen und Weben dienen: Spindel (Malacatl), Spinnwirtel (Temalacatl), die Tonschale (Caxitl), in der die Spindel gedreht wird, ein Webholz (Tzötzopäztli) und eine geflochtene Schilfmatte (Petlatl), auf der die Spinnerin und Weberin kniend ihre Arbeit verrichtet. Auch hier kann man Kleidung beigeben: Eine Bluse (Huipdli) und einen Rock (Cueitl). Dieser sinnfällige Ritus findet sich auch in anderen Kulturen. Bei den traditionell lebenden Maya von Yukatan wird er heute noch praktiziert und heisst dort «Hedzmek».
Für die Gäste und die Nachbarn werden jetzt Speisen vorbereitet: Eine Pfeffertunke (Chamölli), gerösteter Mais und Maiskrapfen (Tamalli). Man holt dann abermals die Hebamme herbei, die die Taufe durchführen soll. Sobald sie eingetroffen ist, benetzt sie Lippen und Brust des Kindes und spricht zu ihm. An diese Wassertaufe frühmorgens im elterlichen Haus schliesst sich die Weihe an die Himmelsgötter an. Viermal hebt sie das Kind zum Himmel empor, dann auch seine Geräte und spricht dazu kurze Gebete. Als Abschluss wird dem (männlichen) Kind mit folgendem Spruch sein Name verliehen:
«Ydötl, Tapferer, empfange den Schild, nimm den Pfeil, dir zum Ergötzen und der Sonne zur Freude.» (Sahagün, Historia General)
Die aztekische Namengebung folgt in Bezug auf die Wahl des Namens zwei Grundprinzipien: Die Eltern und der Priester, die hier die Entscheidung treffen, können einen bildhaften, etwas Schönes, Gutes oder als zukünftige Eigenschaft des Kindes Erwünschtes durch die Wahl eines Ausdrucks bzw eines ganzen Satzes ihrer Sprache wählen, z. B. Chimalpahin er eilte wie ein Schild)) als Bezeichnung eines aktiven Kriegers. Das zweite Prinzip ist das uns vor allem von den antiken Römern bekannte, dass man das Kind mit der Bezeichnung seines Rangplatzes in der Abfolge der Geschwister als, erstes (Tiyacapan), mittleres (Tlahco Yehua), jüngstes Xocoyötl) bezeichnet. Bei dieser Form der Namengebung stellt sich aller: ngs das Problem, woher die Eltern so kurz nach der Geburt wissen können. ob ein Kind das mittlere oder jüngste sein wird, wenn sie noch gar nicht wissen, wie viele Kinder sie noch haben werden. Eine Lösung, für die wir aber nicht über genaue Quellenbelege verfügen, könnte sein, dass Eigennamen in verschiedenen Altersstufen gewechselt wurden und bei der Geburt eines weiteren Kindes ein solcher Wechsel für die früher geborenen anstand. Das Wechseln des Eigennamens im Verlauf des Lebens ist bei amerikanischen Indianern verbreitete Sitte gewesen und daher idch für die Azteken nicht ganz von der Hand zu weisen. Ein nachgeord netes, uns aber wichtig erscheinendes Prinzip, dass der Name das Geschlecht seines Trägers anzeigen soll, ist bei den Azteken nur schwach
ausgeprägt. So ist der Eigenname Xöchitl () nicht nur Mädchen vorbehalten, während Ycioti ((Krieger)), wie im oben zitierten Beispiel, allerdings nur ein Bub heissen kann. Ein viertes, mesoamerikanische Indianer insgesamt charakterisierendes Prinzip ist das der Namengebung nach dem Tag der Geburt. Es ist zwar bekannt und für Götter auch verbreitet, doch bei aztekischen Menschen werden solche Namen in den Quellen nicht verwendet, hingegen ist dies die bei den benachbarten Mixteken überwiegend gebrauchte Namensform.
Nach der eigentlichen Taufe kommen Buben der Nachbarschaft, nehmen die vorbereiteten Speisen, tragen sie im Viertel herum, bieten jedem davon an und rufen laut den Namen des getauften Kindes aus. Diese öffentliche Verkündigung des Namens wird nur von Buben als Täuflingen berichtet. Ob das eine Vernachlässigung der Mädchenrolle seitens des männlichen Ethnographen Sahagün ist oder ob es eine Asymmetrie in der aztekischen Gesellschaft spiegelt, in der Frauen keine öffentlichen Rollen zukommen, sei dahingestellt. Mit der öffentlichen Namensausrufung und der Bewirtung der Nachbarn ist das getaufte Kind ein vollwertiges Mitglied der Gemeinde geworden.
Wenn das Kleinkind, Bub oder Mädchen, zum ersten Mal verständlich sprach, wurde das unter Aufsicht eines Priesters des Tezcatl IpöcaTempels mit Opfergaben dankbar registriert. Auch dies ist ein deutliches Zeichen, wie wichtig den Azteken die verschiedenen Stufen der gesellschaftlichen Integration der heranwachsenden Kinder war.
Alle vier Jahre veranstaltet man im Monat Izcali ein Weintrinken (Pillähuänalizt1i) für die Kinder, die in den verstrichenen vier Jahren geboren wurden bzw. an dieser Zeremonie beim letzten Mal noch nicht teilgenommen haben. Es ist also ein Fest für Kleinkinder. Manche können noch nicht einmal laufen, und die meisten sind der Mutterbrust noch nicht entwöhnt. Das Weintrinken bezieht sich also eher auf die erwachsenen Festteilnehmer als auf die Kinder. An diesem Fest werden von den Eltern auch Pate und Patin für das Kind bestimmt. Es sollen erfahrene und öffentlich anerkannte Mitglieder der Gesellschaft sein (Kapitell°. Frühmorgens oder sogar noch während der Nacht durchbohrt man den Kindern mit einem spitzen Knochen die Ohrläppchen und die Nasenscheidewand, damit hier später Schmucksteine eingefügt werden können; vorerst tut es ein roter Baumwollfaden. Die Paten tragen die Kinder, die noch nicht gehen können, während sie die anderen an der Hand nehmen, führen sie um ein Feuer und zerren ihren Kopf nach oben, damit sie gut wachsen. Diesem Elternwunsch entsprechend ist der Name des Monats Izcali gewählt, in dem das Fest abgehalten wird, denn er bedeutet Dann gibt man allen kleinen Kindern und denen, die schon etwas grösser sind, und denen die noch in der Wiege liegen, Wein zu trinken. Alle lässt man vom Weine trinken (die Kleinkinder allerdings nur zum Schein). Alle sind trunken, auch die Erwachsenen. Ganz offen trinkt man Wein. Man fürchtet sich nicht, wenn der Wein aufschäumt. Man beachtet es nicht, wie er in glänzendem Strom zur Erde kommt. Wie Wasser floss der Wein. Und ihre Weinschalen haben sie bei sich, das sogenannte TzicuilGefäss, dreifüssig und mit Ohren an den vier Seiten. Sie sind ganz rot im Gesicht, sie lärmen, sie keuchen, sie mischen sich untereinander, man greift sich gegenseitig an; sie wälzen sich einer über den anderen. Es herrscht allgemeine Verwirrung ... Man sagt: Das ist das richtige Weinfest. Das ist das Weintrinken der Kinder.(Sahagün, Historia General, Buch 2, Kapitel 38)
Auf diese wüste Art wird das heranwachsende Kind wieder um eine Stufe mehr in die Gemeinschaft integriert. Mit den Paten hat es eine soziale Stütze bekommen, die es etwas unabhängiger vom Schicksal der eigenen Eltern macht. Die Vorbereitung von Nase und Ohren für Schmucksteine weist darauf hin, dass das Kind später verschiedene soziale Ränge erklimmen kann, deren Abzeichen eben solcher Körperschmuck sein wird. Mit dem Weintrinken symbolisiert man dramatisch Ende des Stadiums, in dem dem Kind noch keine sozialen Zwänge auferlegt sind, denn es wird in seinem jetzt beginnenden sozialen Leben bei hoher Strafandrohung nie mehr Alkohol trinken. Das Trinken ist erst wieder mit dem Ausscheiden aus dem aktiven Leben im Alter von 52 Jahren.
 Schon früh müssen die Eltern ihre Kinder, Buben und Mädchen, den 77entlichen Schulen Telpöchcalli, Calmecac und anderen, zur weiteren Ezziehung überantworten (Diagramm Der einfache Azteke tritt mit vier Jahren in die Schule ein. Bei den Kindern des Herrscherhauses findet die Einschulung später statt. In Tetzcuhco, der führenden Kulturnation m Hochtal von Mexiko, die Tenochtitlan sicher auch in Erziehungsdingen voraus war, wurden Buben und Mädchen des Adels in getrennten Schulen unterrichtet. Den Schulen für die Buben standen die obersten Priester des Staates vor, die Schulen der Mädchen wurden von alten adligen Damen geleitet. Neben dem eigentlichen Unterricht waren zunächst das Dienen und Ertragen von Entbehrungen die Lerninhalte. Die Kinder mussten frühmorgens im Dunkeln aufstehen, Holz holen im Wald, den Tempel fegen und ähnliche einfache Dienste verrichten. Dann wurden sie zum Frühstück mit wenigen Maisfladen gespeist. Anschliessend fand der Unterricht statt, der wiederum durch eine kärgliche Mahlzeit in Vormit:ags und Nachmittagsunterricht geteilt war. Vormittags waren, anscheinend für alle gleich oder ähnlich, Moral, Ethik, Rhetorik und soziale Verhaltensnormen Unterrichtsthemen. Die Schulentlassung fällt in die Zeit der Pubertät und ist daher in doppelter Hinsicht als Übergangsritus charakterisiert. Die Azteken haben ihn in überwiegend verbaler, «intellektueller» Form gestaltet und erweisen sich dadurch als Kulturnation hohen Grades. Inhalt der sehr formellen und langen Reden ist immer die Aufforderung, gottesfürchtig, bescheiden, produktiv und enthaltsam zu leben. Diese Lebensmaximen erinnern an das altgriechische Ideal des xäXkog aya136g (gut und schön>) oder auch an das altdeutsche ritterliche Ethos der «maze», was nach heutigem Sprachgebrauch etwa  bedeutet. Die Schwerpunkte dieser Ethik sind freilich in allen genannten Kulturen etwas anders. Bei den Azteken war zum Beispiel die Sexualmoral davon bestimmt, dass man nur in der Zeit der körperlichen Reife und Kraft sexuell aktiv sein sollte. Wobei soziobiologisch gesehen die Azteken eine dem Sexualtrieb der Geschlechter besser angepasste differentielle Erwartung pflegten als die modernen europäischen Gesellschaften mit ihrer Frauen und Männer gleichbehandelnden Sexualmoral: Aztekischen Männern war vor der Ehe eine Zeit der sexuellen Freizügigkeit erlaubt. Danach sollten sie allerdings, wie ihre Ehefrauen, treue Ehegatten ein. Für alle gab es aber gelegentliche Feste, an denen sie sich erotisch und sexuell ungestraft ausleben konnten, wie zum Beispiel das soeben geschilderte PillalmänaliztliFest; und Polygynie war grundsätzlich erlaubt, wenn auch unter einfachen Menschen unüblich.
Junge Frauen heiraten mit etwa 14 Jahren, also gleich nach der Geschlechtsreife. Männer lässt man erst sehr viel später, mit zo bis 3o Jahren, heiraten. Der Grund dafür könnte sein, dass sie zunächst Kriegsdienst leisten und andere öffentliche Tätigkeiten ausüben mussten, bevor sie ein häusliches Leben führen durften. In Bezug auf den hierbei fälligen erneuten Übergangsritus ist die aztekische Gesellschaft recht freizügig. Jeder kann nach Situation und Familienhintergrund eine von drei Formen der Eheschliessung wählen: Bei der formellen Heirat geht die Wahl der Partner von den Eltern aus. Sie bedienen sich einer Heiratsvermittlerin, deren Hauptaufgabe es ist, mit den Eltern der prospektiven Braut zu verhandeln. Den Eltern der Brautleute sowie der engeren Verwandtschaft kommt im Vorfeld der Eheschliessung eine wichtige Rolle bei der Entscheidungsfindung zu. Diese Form der Ehe hat, aufgrund ihrer festen sozialen Einbindung, das höchste Prestige. Stattdessen können zwei junge Leute aber auch aus eigenem Entschluss die Ehe anstreben. Sie teilen das dann ihren Eltern mit, und die Hochzeit wird ähnlich festlich begangen, nur fehlt ihr ein guter Teil der umständlichen Vorvereinbarungen und des zeremoniellen Gabenaustausches zwischen den Familien. Das Prestige einer so geschlossenen Ehe ist geringer als das einer arrangierten. Schliesslich können Mann und Frau ganz ohne Aufwand eine vorläufige Ehe eingehen, indem sie ohne jedes Zeremoniell und ohne ausdrückliche Einwilligung der Eltern zusammenziehen. Solange aus dieser Gemeinschaft kein Kind geboren wird, können sich die Partner ohne Formalität wieder trennen, was bei formell vollzogener Ehe nicht möglich ist. Erst wenn ein Kind geboren wird, gilt die formlose Partnerschaft auch als fest geschlossene Ehe und sollte Bestand haben. Die Korrelation zwischen höherer Formalisierung und höherem gesellschaftlichem Ansehen ist offensichtlich und ausgeprägt.
Die Eheschliessung mit festlicher Feier wird seitens der Eltern des Bräutigams stets von der Konsultation eines Wahrsagepriesters eingeleitet, der einen günstigen Tag bestimmt Als solche gelten Acatl (Rohr), Ozomahtli (Affe), Cipactli (Krokodil) und Quczuhtli (Adler). Bis einer dieser Tage eintritt, werden Verwandte, Freunde und Repräsentanten des öffentlichen Lebens eingeladen und das Festessen wird vorbereitet, oft in ununterbrochener Tag und Nachtarbeit, denn es müssen viele Gäste reichlich und über mehrere Tage hin verköstigt werden. Am Tag der Hochzeit selbst wird die Braut im Hause ihrer Eltern gebadet, festlich eingekleidet und auf eine Matte (Petlatl) neben das Herdfeuer gesetzt. Erst abends, nachdem eine Delegation den Weg bereitet hat, trägt eine ältere Frau sie in einem Tuch auf dem Rücken ins Haus des Bräutigams. Den Weg säumen Fackelträger. Dort angekommen werden die Brautleute von Ihren (Schwieger)Eltern neu eingekleidet, und die Bluse (Hurpilh) der Braut wird von einer alten Hebamme (Trcifi) mit dem Umhang (Tilmahtli) des Bräutigams verknotet, während sie gemeinsam auf der Matte vor dem Herdfeuer sitzen, die Braut links, der Bräutigam rechts. Die Verknüpfung der Kleidung der Eheschliessenden und das gemeinsame Sitzen am häuslichen Herd sind sinnfälliges Symbol der künftigen Ehe; und so wird dieser wichtige Übergangsritus auch in allen Bilderhandschriften Zentralmexikos dargestellt .
 Heirat.In dieser Bilderfolge sind die wichtigsten Phasen des Heiratszeremoniells dargestellt. Früh am Morgen, noch in der Dunkelheit, kommt die Heiratsvermittlerin mit der Braut auf dem Rücken von vier fackeltragenden Frauen begleitet zum Haus des Bräutigams. Im Hof werden sie von dessen Eltern begrüsst und bewirtet. Später lassen sich Braut und Bräutigam im Haus auf einer Matte vor dem Herdfeuer nieder, und ihre Oberkleider werden zum Zeichen der geschlossenen Ehe verknüpft. Es folgen Ansprachen der Eltern. [Ausschnitt aus Colecci6n Mendoza, Teil III, Blatt 61r.]
Auch aus diesem Anlass sind ermahnende und orientierende Ansprachen fällig, wobei zu beachten ist, dass im folgenden Zitat an einigen  Stellen bereits der christliche Einfluss der frühen Kolonialzeit erchscheint:
Oh meine Jüngsten! Einen Gefallen hat euch der Herr, unsere Herrschaft, getan und unsere Mutter, die Heilige Kirche, die uns trägt, die uns regiert, dadurch, dass sie euch verbunden, euch vereint hat. Möget ihr in Ruhe, möget ihr in Frieden einander begleiten, einander vorangehen. Möge das Wort, das Gebot Ipalnemoänis, sein Sakrament, das er euch zum Besitz, das er euch zur Gabe gemacht hat, erfüllt werden, möge es eingelöst werden. Nehmt all eure Kraft zusammen, meine Kinder, dient eurem Gott und eurem verehrten Herrscher! Seid nur nicht nachlässig, folgt nur nicht dem Weg des Kaninchens, des Hirsches, stürzt euch nicht in den Abgrund, stürzt euch nicht in den reissenden Strom.
[An den Bräutigam gerichtet:]
Du, der du ein junger Mann bist, du bist fürwahr der Kopf, der Brustkorb dieses Mädchens, das dir der Herr, unsere Herrschaft, zur Gabe gemacht hat. Du wirst leben, du wirst arbeiten für das, was man braucht: für Trank und Speise, für die Lebensmittel, die uns Knochen, die uns Fleisch geben. Du sollst nicht daliegen und schlafen. Du sollst nicht behaglich daliegen. Vielmehr sollst du die Augen offenhalten, sollst dich um alles kümmern an deiner Schlafstelle, auf deinem Ruheplatz. Daliegend sollst du dir ausdenken, daliegend sollst du dir jeden Morgen erträumen, was in deinem Heim, in deinem Haus gebraucht wird. Denn dies ist nicht nur irgendeine Last, die dir aufgebürdet worden ist.
[An die Braut gerichtet:]
Und du, meine Tochter, sollst auch so sein, wenn du Tür und Hof für den Herrn, unsere Herrschaft bewachst. Du sollst dich nicht mehr Kindereien, Spielereien hingeben. Vielmehr sollst du dafür die Augen offenhalten. Du sollst dich darum kümmern, was du in deinem Haus tun sollst, welchen Dingen du nachgehen sollst. Wenn es noch Nacht ist, sollst du dich erheben, sollst du fegen, sollst du Wasser versprengen vor dem Haus, auf dem Hof des Gebieters, unseres Herrn. Ferner das, was man braucht, den KakaoTrunk, die flachgedrückten Maisfladen, ferner die Spindel, das Webschwert, so dass du deinen Mann glücklich machst, den dir der Herr, unsere Herrschaft zur Gabe gemacht hat. Deshalb sollst du dich als vornehme Frau in deinem Heim, in deinem Haus um alles kümmern, sollst du alles verwahren. Nichts sollst du vergeuden. Und du sollst auf dich achtgeben. Du sollst nicht in Staub und Schmutz leben. Denn das ist es, weswegen du geschätzt und geachtet werden wirst.
Wieder an beide gerichtet:]
Oh ihr meine Jüngsten, meine Kinder, bietet all eure Kraft dafür auf! Vielleicht wird euch der Gebieter, unser Herr ein langes Leben lassen, oder vielleicht kommen hier schon sein Stein, sein Holz (das ist die Strafe). Denn wir wissen nicht, wie wir in fünf oder in zehn Tagen auf der Erde leben werden.Discursos en Mexicano, §§ 1225)
Anschliessend bringt man die Jungverheirateten in die Brautkammer, verschliesst sie von aussen und stellt Wächter vor die Tür. Vier Tage lang dürfen die Jungvermählten das Brautgemach nicht verlassen, werden aber mit Essen und Trinken reichlich versorgt. Die Verwandten und Freunde feiern derweil in anderen Räumen des Anwesens und im Hof weiter. Am vierten Tage holt man die Jungvermählten aus der Kammer. Die Ehe ist vollzogen und auch sozial geschlossen.
Mit der Eheschliessung ist eine Stufe der gesellschaftlichen Integration erklommen, die fortan die stabile Grundlage des weiteren Lebensweges bildet: Die beiden jungen Leute sind jetzt aus ihren Herkunftsfamilien entlassen und bilden eine eigenständige Wirtschaftsgemeinschaft. Die weiteren Stationen im Leben sind beim Mann nur noch der persönliche Aufstieg im Beruf, während bei der Frau Schwangerschaften und Geburten weitere wichtige und sich wiederholende Stationen in den folgenden Lebensjahren darstellen.
Sobald die Schwangerschaft festgestellt ist, werden lange ermahnende und aufbauende Reden an die werdende Mutter gehalten und ähnlich dann wieder im siebten bis achten Monat. Beide Male geschieht das im Rahmen eines Festes, auf dem die Gäste gut beköstigt werden. Naht die Stunde der Geburt, prüft eine Hebamme zunächst die Lage des Foetus im Mutterleib durch Abtasten und rückt ihn notfalls zurecht. Ist die Geburt für Mutter und Kind glücklich verlaufen, kommen der Wöchnerin und dem Säugling die Fürsorge der Frauen ihrer Familie und Nachbarschaft zugute.
Der Altersruhestand tritt bei den Azteken bereits mit 52 Jahren ein, wenn der Mensch eine volle Runde von Jahren durchlaufen hat. Der neue Status zeichnet ihn durch das Privileg aus, sich jetzt betrinken zu dürfen. Auch muss er keine Steuern mehr zahlen oder öffentlichen Dienstpflichten nachkommen. Im Haushalt spielt er aber nach wie vor eine wichtige Rolle, weniger zwar durch aktives Handeln als durch seinen lebensweisen Rat. Wenn das auch praktische Massnahmen sind, die diese Altersstufe deutlich vom aktiven Leben des Erwachsenen absetzen, wissen wir dennoch nicht, ob der Eintritt in den Ruhestand auch rituell gefeiert wurde.
Stirbt ein Herrscher oder ein anderer hochgeborener und im öffentlichen Leben bedeutender Mann, so packt man seinen Leichnam in Decken, schnürt ihn fest ein und gibt ihm seinen Schmuck bei. Dann wird er auf einer Sänfte zum Ort seiner Verbrennung getragen, begleitet von sei nen engsten Angehörigen und den Regierungsmitgliedern. Die Totenrede hält ein Mitglied des Staatsrates:
Gebieter, Herrscher, lange hast du dein Amt ausgeübt! Eingelöst, erfüllt worden ist die Regentschaft, die Regierung über deine Stadt, die in deinem Tragetuch, die in deiner Kraxe lag. Nicht behäbig, nicht untätig hast du deine Stadt in die Arme genommen und regiert. Denn ganz bis ans Ende bis zum Äussersten gingen die Pein, der Schmerz, weil du dich für sie abgemüht, dich erschöpft hast. Ruhig und in Frieden hast du deine Stadt zurückgelassen, ruhig und in Frieden, so wie du dich auf der Matte, auf dem Thron niedergelassen hattest. Behutsam hast du dort alles für Ipalnemoäni geregelt und entschieden. Und wirklich ist dein Atem bis ans äusserste Ende gegangen, wirklich hast du dich der Stadt ganz gewidmet. Gekommen bist du, dich vor unserem Herrn ganz einzusetzen. Du hast nicht deine Hände, deine Füsse bei dir eingezogen. Aber jetzt ist es in deiner Stadt schon ganz still, ganz dunkel geworden. Vor Tränen und Trauer winden sich deine Untertanen. Und die adligen Nachkommen hast du verwaist zurückgelassen. Bereits lässt der Gebieter, unser Herr, den Zeitpunkt eintreten, da sie unglücklich zurückgelassen sind. Bist du nicht zu denen fortgegangen, bist du nicht denen gefolgt, bist du nicht bei denen angelangt, die deine Urväter, deine Vorfahren sind? Doch, du bist unserer Mutter, unserem Vater gefolgt, du bist bei ihnen angekommen. Man geht doch nicht einfach bloss irgendwohin! Wirst du von dort vielleicht noch zurückkommen, noch umkehren? Wird deine Stadt dich etwa noch in 5 oder in to Tagen erwarten? Und deine Kinder? Nein, nie mehr! Denn vorbei ist es, denn aus ist es, denn ein für allemal bist du fortgegangen. Denn ausgegangen, denn erloschen ist die Fackel, das Licht. Schon ist die Stadt des Tloqueh Nähuaqueh still, schon ist sie dunkel. Mögen die Untertanen, die Kinder und die adligen Nachkommen weinen und trauern. Mögen ihre Tränen vergossen werden, mögen sie herabstürzen, mögen sie in Trauer Ipalnemoäni, Tloqueh Nähuaqueh anrufen. Möge man sagen: «Oh weh, unglücklich sind wir, verwaist sind wir hinterlassen worden.» Möge man weinen, möge man trauern, möge man seufzen, mögen die Tränen vergossen werden, mögen sie hinabstürzen. Und mögest du ausruhen, mögest du dich wohlfühlen bei deinen Urgrossvätern, bei deinen Grossvätern, denen du gefolgt bist und bei denen du angekommen bist, dort in Ximohuayän, in Tocenchan. Das ist alles, womit ich dich grüsse, womit ich mich vor dir verneige. Damit trete ich vor die Öffentlichkeit, oh unser Herr, Gebieter und Herrscher.Discursos en Mexicano, §§ 126138)
Ein hoher Scheiterhaufen nimmt das Totenbündel auf, und wenn er abgebrannt und ausgekühlt ist, wird die Asche mit Menschenblut von Opfern vermengt, in einer Steinkiste verwahrt und bestattet. Tote hohen Ranges können aber auch in Grabkammern als Leichname bestattet werden, wie sie uns archäologisch von den Zapoteken und Mixteken bekannt sind. Wir wissen nicht, was die Kriterien für die eine oder andere Bestattungsart waren. In beiden Fällen können dem Toten Freiwillige seines Gefolges ins Jenseits folgen. Diese Sitte, weitverbreitet auf der Welt, nennt man Totenfolge, und sie ist bis in die moderne Zeit in der Form der Witwenverbrennung im hinduistischen Indien Brauch gewesen.
8o Tage nach dem Tod und dann vier Jahre lang jährlich einmal findet ein Totengedenken statt. Die 80TageFrist ist die Zeitspanne, die der Tote an seinem vorläufigen Aufenthalt in der Unterwelt nimmt. Danach verlässt er sie und geht in das ihm aufgrund seines diesseitigen Lebens zukommende Paradies ein. Dafür wird ein Scheinmumienbündel mit Beigaben ausgestattet und verbrannt (Abb. 45). Auch hierin ähneln die Azteken zahlreichen anderen Völkern, wobei sie sich eher durch eine knappes Totengedenken auszeichnen im Vergleich zu den sehr viel elaborierteren, häufigeren und langandauernden Totengedenken zum Beispiel im ländlichen China der VorModerne. Für im Krieg Gefallene wird der Totenritus kollektiv und öffentlich vom Herrscher veranstaltet.
ÄCAMÄPiCHTLI: ERSTER TLAHT0ÄNI
Ob der Tod von Äcamäpichtlis Ziehmutter Ilancueitl und seine eigene Inthronisation in Tenochtitlan im Jahr 1376 zufällig zusammenfielen, oder ob es da einen inneren Zusammenhang gab, etwa in der Form, dass sie lebenslang Regentin für ihr zunächst noch unmündiges Ziehkind war, wissen wir nicht. Acamäpichtlis Inthronisation wird nicht besonders geschildert. Es heisst nur, dass sie im Konsens der Mexikaner geschah. Später gab es für solche Gelegenheiten einen Staatsrat, der die früher anscheinend allgemeinere und damit basisdemokratischere Form der Wahl auf eine Gruppe Privilegierter beschränkte. Das von Äcamäpichtli bekleidete Amt eines Tlahtoäni von Tenochtitlan war zu seiner Zeit allerdings nur halbsouverän. Er war direkt den Weisungen des Herrschers von .‘zcapötzalco unterstellt, regierte also nur ein Fürstentum zweiter Rangstufe.
 AcamapTchtli hat dann, eingedenk der Wichtigkeit einer breiten verwandtschaftlichen Vernetzung, zielstrebig Frauen aus mehreren bedeu:enden Herrscherhäusern der Umgebung genommen, darunter aus jacapötzalco, Tlacöpan, Cöätl Ichan und Chälco. Ausserdem hat er die sechs aztekischen CalpiilliVorstände und die vier Gottesträger bei der Wahl seiner Ehefrauen berücksichtigt, so dass sie sich alle in die neubegründete Dynastie einbezogen fühlen durften. Da er mit allen seinen 21 legitimen Frauen Kinder zeugte, sahen sie auch ihr eigenes Fortleben in der Dynastie gesichert, waren zufrieden und verhielten sich ruhig. Übrigens hatte er neben diesen legitimen Ehefrauen noch mindestens eine Konkubine.
Um es nun auch in äusserlich sichtbaren Statussymbolen den umliegenden Herrschaften gleichzutun, begann Acamäpichtli mit dem Bau eisteinernen Tempels für die beiden Gottheiten Huitzilöpöchtli und  im Herzen seines noch kleinen Gemeinwesens. Bei Ausgrabungen T der Nähe der heutigen Kathedrale von MexikoStadt sind die später überbauten Reste auch dieses ersten Tempels einschliesslich einer Datenplatte, die das Jahr Zwei Kaninchen (1390) nennt und die wahrscheinlich Äcamäpichtlis Bautätigkeit dokumentiert, gefunden worden (Abb. 8).
Das einzige ernsthafte Problem, das aus Äcamäpichtlis Regierungszeit berichtet wird, ist die zweimalige Erhöhung der Abgaben, die Tenochtitlan an seinen Oberherrn, den tepanekischen Herrscher Tezozomoc nach Äzcapötzalco zu liefern hatte. Die Crönica X, berühmtberüchtigt für ihre überspannten Anekdoten, stellt dieses Problem als reine Schikane seitens des «Tyrannen» Tezozomoc dar und behauptet, dass sie von Äcamäpichtli und den Seinen nur durch Beistand ihres Stammesgottes Huitzilöpöchtli erfüllt werden konnte.
Er [Tezozomoc] wünschte die Steuern [der Mexikaner] zu erhöhen, weil er seine Stadt ausbauen und verschönern wollte. [Die Mexikaner] sollten also zusammen mit den üblichen Abgaben von Fischen, Fröschen und Gemüse jetzt noch grosse Sevenbäume und Weiden liefern, die er in seiner Stadt anpflanzen wollte, und sie sollten ein Floss liefern, auf dem sie alle Gemüsesorten des Landes, insbesondere Mais, Chilli, Bohnen, Kürbisse, Erbsen usw. gepflanzt hatten.(Durän, Historia, Kapitel 6, Abschnitt 15)
Die Mexikaner vernehmen diesen Befehl mit Schrecken, doch hilft ihnen Huitzilöpöchtli aus der Klemme. Das erstaunt Tezozomoc sehr, und er legt ihnen erneute und noch schwieriger zu erfüllende Lieferpflichten auf, indem er befiehlt:
Es ist mein Wunsch, wenn ihr mir die Steuern, zu denen ihr verpflichtet seid, bringt, auf dem Floss, das mit spriessendem Mais und den übrigen spriessenden und erlesenen Gewächsen und Gemüsesorten bepflanzt ist, zwischen dem Gemüse eine brütende Ente und einen brütenden Kranich liefert, deren Gelege just an dem Tag schlüpfen, an dem [das Floss] hierher kommt. Wenn nicht, seid ihr des Todes.(Durän, Historia, Kapitel 6, Abschnitt 19)
Die Lieferung von Bäumen für die Verschönerung von Tezozomocs Hauptstadt mag noch zumutbar gewesen sein. Unmöglich erschien jedoch die Forderung, schwimmende Pflanzbeete mit nistenden Enten und Kranichen zu liefern, deren Gelege zum Zeitpunkt der Anlieferung in Äzcapötzalco schlüpfen sollten. Aber auch hier half den Mexikanern ihr Gott aus der Verlegenheit. Im Hintergrund dieser unwahrscheinlichen Anekdote werden reale Wirtschaftsinteressen gestanden haben, wahrscheinlich in der Weise, dass das wachsende Gemeinwesen von Tenochtitlan in den Augen seines Oberherrn Tezozomoc entsprechend mehr Abgaben erwirtschaften und nach Äzcapötzalco abführen konnte und/ oder solche Mehrproduktion aus den im folgenden dargestellten Eroberungen am Südufer des Sees unschwer abzuzweigen waren.
Sonst sind aus Äcamäpichtlis Leben nur die üblichen Kriege und Eroberungen überliefert. Letztere fallen in der Staatschronik mit den vier Orten Quauhnähuac, Mizquic, Cuitlahuäc und Xöchimilco recht schmal aus, und selbst wenn wir verstreut in den Quellen erwähnte weitere Eroberungen einbeziehen, erhöht sich ihre Zahl nur auf knapp zehn. Aus der Lage der eroberten Orte geht hervor, dass Äcamärchtli zunächst den südlichen Rand des Hochtales seiner Herrschaft unterwerfen wollte und dass ihm das mit Siegen über die drei Städte Mizquic, Cuitlahuäc und Xöchimilco, vermutlich zum Teil von Tlatilolco und Tetzcuhco unterstützt, auch gelang. Die Wahl der zu erobernden Orte, also die strategische Zielrichtung war naheliegend: Es ist ein dichtbesiedelter Raum mit besonders fruchtbarer SeeuferLandwirtschaft in direkter Nachbarschaft zu Tenochtitlan. Dort konnte man im Uferbereich des Sees auf Beeten, die mit Seeschlamm gedüngt wurden, jährlich bis zu drei Ernten einholen. Eroberungen in dieser Region waren also wirtschaftlich besonders lohnend und konnten territorial leicht konsolidiert werden, denn es war kein feindliches Gebiet zwischen ihnen und Tenochtitlan zu überbrücken.
Wenn wir uns erinnern, dass die Azteken schon einmal einen Sieg =per eine dieser Städte, nämlich Xöchimilco, errungen hatten, darf die reute Eroberung dennoch nicht verwundern, weil die erste Eroberung
im Auftrag Cülhuahcäns geschehen war, so dass Xöchimilco damals  :cht den Azteken untertan wurde. Erst jetzt, unter Äcamäpichtli, gelang :Lese direkte Unterwerfung im Rahmen des Zerfalls des Reiches von Cülhuahcän, den Acamäpichtli mit seinen Eroberungen am Südufer des Sees beschleunigte und für sich ausnutzte. Die behauptete Eroberung von Quauhnähuac fällt hingegen aus dem Rahmen. Der Ort ist relativ weit entfernt, nur über eine hohe Bergkette zu erreichen, und Krieg gegen ihn wird erst für den folgenden Herrscher Huitzilihhuitl gemeldet, wo ich dann näher darauf eingehen werde.
Von einem so frühen und persönlich noch gar nicht aus dem Schatten :kr pauschalen und stereotypen Geschichtsberichte heraustretenden Herrscher ein Charakterbild entwerfen zu wollen, wäre vermessen. Dennoch will ich es in Ansätzen versuchen. Der Franziskanermönch Bernardino de Sahagün schildert auf Aussagen aztekischer Gewährsmänner gestützt Äcamäplchtlis Regierungszeit als friedlich. Dem kann man in Anbetracht der auf 20 Regierungsjahre verteilten wenigen Eroberungen durchaus zustimmen, wenn auch Sahagüns Behauptung, dass es in Äcamäpichtlis Regierungszeit keine Kriege gegeben habe, wohl nicht zutrifft. Wegen seiner Heiratspolitik kann man auf Äcamäpichtli vielleicht das für die Habsburger Dynastie gemünzte und besonders gern auf Maria Theresias Herrschaft in Österreich angewandte geflügelte Wort «bella gerant alü tu felix austria nube» (sinngemäss: VASALLEN DER TEPANEKEN
Huitzilihhuitl hiess ein vordynastischer Anführer der Azteken in der Zeit, als sie in Chapultepec sesshaft waren. Dieser vordynastische Huitzilihhuitl war 1299 mit seinen beiden Töchtern in Kriegsgefangenschaft geraten und anschliessend von den siegreichen Culhuahkanern ehrenvoll geopfert worden. Der spätere Huitzilihhuitl der inzwischen etablierten Dynastie, um den es uns zu tun ist, wird daher, um ihn von seinem vordynastischen Namensvetter zu unterscheiden, auch Huitzilihhuitl II. oder «der Jüngere» genannt.
Das Wort Huitzilihhuitl setzt sich aus hunzil  und ihhuitl  zusammen und bedeutet  bedeutet. Die partielle Namensübereinstimmung mit dem Namen des aztekischen Hauptgottes verlieh dem Herrscher Huitzilihhuitl also zusätzliche Würde.
 Huitzilihhuitls Vater war, wie alle Quellen übereinstimmend berichten, der vorangegangene Herrscher Äcamäpichtli. Da dieser viele Frauen und dazu noch Konkubinen hatte, ist sich die Überlieferung nicht darüber einig, welche von ihnen Huitzilihhuitls Mutter war. Die wahrscheinlichste Kandidatin ist Zocatlamiyähuatl, Tochter eines vordynastischen Anführers der Azteken. Es wird aber auch überliefert, dass es eine Sklavin aus dem Stadtteil Quäuhcalco von Äzcapötzalco gewesen sei, mit der Äcamäpichtli seinen Sohn und Nachfolger gezeugt habe. Er wäre trotz der niederen Herkunft seiner Mutter nicht illegitim, da sich die Legitimitar aus der VaterSohnBeziehung ableitet und die Mutter keine wesentliche Rolle für die Bestimmung der Erbfolge spielt. Huitzilihhuitls Geburt e.rd in das Jahr 1377 datiert.
Zwar waren die Azteken in der Frühzeit ihrer Königsherrschaft eine noch weitgehend egalitäre, ungeschichtete Gesellschaft, dennoch waren zur Wahl eines Tlahtoäni nur die Vorstände der vier Stadtbezirke und die Priester des Stammesgottes Huitzilöpöchtli berechtigt. Sie teilten ihre Wahl dann dem wartenden Volke mit, das applaudierte. Nach seiner also noch recht informell abgehaltenen Wahl bestieg Huitzilihhuitl 39i den Thron. Er war fast noch ein Kind, was nicht störte, da man sich in politisch ruhiger Zeit befand. Die Oberherrschaft der Tepaneken mit ihrem mächtigen Herrscher Tezozomoc an der Spitze hatte die Mexikaner fest im Griff.
Huitzilihhuitls jugendliches Alter zum Zeitpunkt des Todes seines Vaters Äcamäpichtli mag der Grund dafür gewesen sein, dass in zwei Quellen von einem drei bis vierjährigen Interregnum vor seiner Inthronisation die Rede ist. Das hiesse, dass man ihn wegen seiner Jugend für noch nicht regierungsfähig hielt und daher einen Regenten bestellte oder die Regierungsgeschäfte von einem Kollektiv versehen liess. Die offizielle Reichschronik unterschlägt diesen möglichen Bruch in der dynastischen Abfolge. Das hat sie übrigens mit altweltlichen Chroniken der Päpste oder diverser europäischer Fürstenhäuser gemein. Zweck solcher Geschichtsbereinigung ist es in allen Fällen, den Anschein vollkommener, eindeutiger und ungebrochener Legitimität vom Beginn der Dynastie an im Sinne von Max Webers Konzept der traditionalen Herrschaft darzustellen, denn eine solche Herrschaft legitimiert sich ganz wesentlich durch ununterbrochene Regentschaft einer Fürstenfamilie. Die Legitimität würde unter der Darstellung zeitlicher Brüche oder vorübergehender Regentschaften leiden.
Auch in den Augen der Azteken ist eine der wichtigsten Handlungen eines jungen Herrschers oder Kronprinzen die Sorge für dynastische Kontinuität durch Heirat und Zeugung von Nachkommen. Huitzilihhuitl wurde daher sogleich standesgemäss mit der Prinzessin kauhcihuät1 aus dem azcapotzalkanischen Herrscherhaus verheiratet. Allerdings schwanken die Quellenangaben beträchtlich, sowohl was den Namen als auch die genaue Herkunft dieser Ehefrau betrifft. Der Zweck dieser Ehe, einen potentiellen Nachfolger zu zeugen, wurde aber erfüllt: Chimalpopöca hiess der Prinz, der aus dieser Verbindung hervorging.
Interessanter und legendenumwobener war eine andere Brautschau Huitzilihhuitls. Sie fand bald nach seiner Inthronisation statt und führte ihn nach Quauhnähuac, einer Stadt in einem Mexiko westlich benachbarten Tal. Man erreicht sie von Tenochtitlan aus in einem strammen Tagesmarsch über einen 3100 Meter hohen Pass. Wegen der grossen zu überwindenden Höhe teilt man sich die Reise aber tunlichst auf zwei Tage auf. Quauhnähuac liegt etwa 16m Meter über dem Meer, also wesentlich tiefer als Mexiko, und geniesst daher bereits ein gemässigteres Klima. Ausserdem öffnet sich das Tal, über das die Stadt gebietet, ins Tiefland, so dass hier auch schon begehrte tropische Produkte wie Baumwolle und Kakao erhältlich sind. Solche wirtschaftlichen Aspekte mögen Gründe für das Bestreben Huitzilihhuitls gewesen sein, seine Herrschaft auf Quauhnähuac auszudehnen. Die Überlieferung sieht aber, vergleichbar mit unserer Regenbogenpresse, viel romantischere und persönlichere Gründe am Werk. Danach soll Huitzilihhuitl, obwohl schon mit etlichen Ehefrauen und Konkubinen versehen, noch unerfüllt gewesen sein. Er liess daher Späher und Brautwerber in alle Richtungen ausschwärmen, um nach weiteren geeigneten Ehefrauen Ausschau zu halten. Selbstverständlich waren das politische Aufträge, so dass die Brautwerber nur an Fürstenhöfen vorzusprechen hatten, mit denen sich der Tenochkaner politisch vorteilhaft verbinden könnte. Unter zahlreichen Vorschlägen und Angeboten fand lediglich Miyähuaxihuitl, eine Prinzessin von Quauhnähuac, bei ihm Gefallen. Sie hatte jedoch den Nachteil, dass ihr Vater, Ozomahtzinteuctli, alle Brautwerber abwies und seine Tochter im Palast einsperrte:
Er aber, der Ozomahtzinteuctli, so sagt man, war ein Zauberer. Alle rief er: Die Spinne, den grossen Hundertfüssler, die Schlange, die Fledermaus und den Skorpion, um ihnen allen zu befehlen, dass sie seine Tochter Miyalmaxihuitl hüten sollten, weil sie sehr schön war. Damit niemand zu ihr eintrete und kein Bösewicht ihr eine Schande zufüge, war das Mädchen dort eingesperrt und wurde sehr gut bewacht. Überall auf dem Vorplatz des Palastes bewachten all die wilden Tiere sie.Crönica Mexicayotl, § nuac)
Huitzilihhuitl konnte diese Prinzessin auf dem normalen Weg der Brautwerbung also nicht gewinnen. Daher griff er, vom Gott Yohualli im Traum beraten, zu folgender List: Er schmückte einen Pfeil besonders schön und steckte einen Edelstein in den Schaft. Den so präparierten Pfeil sdtoss er über die Palastmauer in den Hof, wo er die Prinzessin in lang' weiiger Gefangenschaft wusste. Der prächtige vom Himmel herabfallelde Pfeil weckte sofort ihre Neugier. Sie brach ihn auf und entdeckte den Edelstein im Schaft. Ähnlich wie es Menschen in der alten Welt früher mit Gold und Silbermünzen zwecks Echtheitsprüfung taten, ging auch sie vor: Sie biss auf den Edelstein, um seine Härte zu prüfen, verschluckte ihn dabei versehentlich und wurde davon schwanger. Nach entsprechender Zeit gebar sie einen Sohn, den nachmaligen Herrscher Ilhuicamina. Soweit die Legende, wie sie die Crönica Mexicayotl erzählt.
Aus Andeutungen in derselben Chronik und ausführlicher aus anderen Quellen wissen wir, dass Huitzilihhuitl auch einen langwierigen Krieg gegen Quauhnähuac führte, dessen glücklicher Ausgang 4o Jahre später, Huitzilihhuitl war schon lange tot, den Azteken schliesslich Zugang zu den begehrten Luxusprodukten tropischer Zonen gewährte. Der Leser wird sich allerdings erinnern, dass Quauhnähuac schon von Äcamäpichtli als erobert behauptet wurde. Vielleicht war diese frühere Eroberung nicht von Dauer, und die Azteken mussten es nochmals versuchen.
Namenshieroglyphe Huitzilihhuitls. Hieroglyphenschriftlich wird Huitzilihhuitl mit dem Kopf eines Vogels mit langem, manchmal leicht gebogenem und stets spitzem Schnabel gezeichnet. Er lässt sich von der Abbildung her nicht als Kolibri (hurtzil)erkennen, obwohl diese kleinsten Vögel Mexikos tatsächlich einen langen spitzen Schnabel haben, den sie benötigen, um an den Nektar in den Blüten zu gelangen. Man muss, und das gilt für das Lesen der aztekischen Bilderschrift allgemein, schon ungefähr wissen, was man aus dem Bild herauslesen soll, um die Namenshieroglyphe richtig zu lesen. In diesem Fall muss man also schon wissen, welcher spitzschnabelige Vogel gemeint ist. Um den Vogelkopf herum sind Kreise mit Häkchen im Innern gemalt. Solche Kreise sind das bilderschriftliche Symbol für Federn (ihhuitl) und zwar für Daunenfedern. Schwanz oder Deckfedern stellt man anders dar. [Ausschnitt aus Colecciön Mendoza, Teil I, Blatt 4,4)
Kann man die Berichte über Brautschau und Krieg in Einklang bringen und daraus einen plausiblen Geschichtsverlauf rekonstruieren? Vielleicht war es so: Wegen der Abweisung seiner Brautwerbung brach Huitzilihhuitl Krieg gegen Quauhnähuac vom Zaun, in dessen Folge er als Sieger die Tochter des unterlegenen Herrschers zur Ehefrau bekam. Das würde dem üblichen, weltweit verbreiteten Muster entsprechen, dass Krieg und Eheschliessung eng verflochten sind. Diese Rekonstruktion ist aber im Lichte der Berichte, die von einem 40 Jahre währenden Krieg sprechen, unwahrscheinlich. Es scheint daher plausibler anzunehmen, dass er die Fürstentochter von Quauhnähuac mit dem Hintergedanken heiratete, später Ansprüche auf ihr Heimatfürstentum notfalls mit Gewalt durchzusetzen, was dann in den langwierigen Krieg mündete, dessen siegreichen Ausgang er selbst nicht mehr erlebte. Das scheint der politische Kern der Legende zu sein. Alles andere ist romantische Ausschmückung und damit Folklore. Folklore allerdings durchaus mit dem Ziel der Erhöhung des Ansehens der Hauptpersonen, in diesem Falle also des Herrschers Huitzilihhuitl. Denn jeder Azteke, der diese Geschichte hört, versteht sofort, dass das Pfeilschiessen und die Schwängerung durch einen Edelstein ein ähnlicher Vorgang war, wie er auch bei der Zeugung ihrer Götter und Heroen der Vorzeit, vor allem der des legendären Herrschers von Töllän, Quetzalcöätl, und bei ihrem Stammesgott Huitzilöpöchtli geschehen war. Die Legende rückt also zwei ihrer Herrscher in die Nähe der Götter. Vielleicht enthält die Legende aber auch schon Einflüsse spanischer Folklore. Das AufdenSteinBeissen könnte, wie ich schon angedeu:et habe, ein Motiv aus der Alten Welt sein, denn überliefert ist die Lezende schriftlich erst vom Ende des I6Jahrhunderts und nur in dem in ±eser Hinsicht hochverdächtigen CrönicaXKreis. Der Kern der Legende war aber ohne Zweifel vorspanisch, wie wir bei der Biographie Ilhuicaminas, von dessen Zeugung sie handelt, noch sehen werden. Dies waren also die nastisch wichtigsten Verbindungen, die Huitzilihhuitl eingegangen ist. Aus beiden entsprossen Nachfolger auf den Thron Tenochtitlans.
Zwei andere politischmilitärische Unternehmungen Huitzilihhuitls waren weniger romantisch. 1399 führte er den ersten überlieferten Krieg Tenochtitlans gegen Chälco, wo er übrigens auch Brautschau gehalten harte. Der Krieg muss erbittert und für die Tenochkaner verlustreich gesen sein, denn es wird berichtet, dass in ihm Hunzilihhuitls Bruder fiel, der immerhin Tläcatüccatl, also kommandierender General. war. Die in der offiziellen Staatschronik gemeldete Eroberung der chalkanischen Hauptstadt hatte nicht lange Bestand. Die Chalkaner waren offenbar nicht zur Unterwerfung bereit und eroberten ihre Hauptstadt bald wieder zurück. Solche ungesicherten Eroberungen waren in der aztekischen Reichsgeschichte nicht selten. Sie sind die Hauptursache dafür, dass viele Orte im Laufe der Zeit mehrmals als erobert berichtet werden. Die buchstabenschriftlichen Berichte sprechen dann beschönigend von Rebellion, die niedergeschlagen wurde, wenn es sich davor vielleicht nur um einen ersten oder auch zweiten erfolglosen Angriff gehandelt hatte ohne wirkliche Eroberung und erst im zweiten oder gar dritten Anlauf der endgültige Sieg gelang. Die Auseinandersetzung mit Chälco sollte die nächsten 8o Jahre immer wieder aufbrechen und erst 1465 unter Huitzilihhuitls Sohn Ilhuicamina durch endgültige Eroberung abgeschlossen werden.
Huitzilihhuitl hat sich als Vasall von Azcapötzalco auch schrittweise und meist erfolgreich um die Erweiterung des gemeinsamen Territoriums am Nordrand des Hochtales bemüht. Diese Zielrichtung ist geopolitisch konsequent gewählt, wenn man bedenkt, dass seinem Vater am Südrand des Tals Eroberungen bereits gelungen waren. Huitzilihhuitl begann ausserdem im Verein mit dem Herrscher Tlahcateötl von Tlatilolco 1414 auf Ersuchen der Tepaneken einen Eroberungskrieg gegen Tetzcuhco. Die Verbündeten erreichten nach vier Jahren einen Sieg, der zur vorübergehenden Besetzung von Tetzcuhco durch die Allianz führte, während sich der tetzcuhkanische Herrscher ixtlilxöchitl durch Flucht retten konnte. Nach einigen Jahren wurde er schliesslich doch noch gefasst und getötet. Das geschah aber erst, nachdem Huitzilihhuitl nach 20 Jahren erfolgreicher Regierung 1415 selbst eines natürlichen Todes gestorben war.
Wenn wir von Huitzilihhuitl auch, wie bei allen frühen Herrschern. kein deutliches Charakterbild entwerfen können, weil aus seinem Leben kaum individuelles Verhalten überliefert ist, so scheint er doch als homc politicus ein treuer Verbündeter Äzcapötzalcos und als solcher ein Machtpolitiker mit Augenmass gewesen zu sein. Er hat sich eines geradlinigen, seinen bescheidenen militärischen und politischen Kräften angemessenen Handelns befleissigt und ist so zu den erfolgreichen AztekenHerrschern zu rechnen.
Der nächste Tlahtoäni, Chimalpopöca, wurde als Sohn des vorangegangenen Herrschers Huitzilihhuitl und einer seiner Ehefrauen, wahrscheinlich einer Prinzessin aus Äzcapötzalco, der Hauptstadt des TepanekenReiches, oder aus dem tepanekischen TeilStaat von Tlacöpan Tiliuhcän geboren. Doch weder über das Jahr seiner Geburt noch über Namen und Identität seiner Mutter herrscht Einigkeit in den Quellen. Ich finde für den Namen seiner Mutter in den Hauptquellen vier verschiedene, nämlich Miyähuaxöchitl, Tetzihuatl, klauhcihuütl und Tzihuacxöchitl, alle unterschiedlicher Herkunft. Hier scheint die Überlieferung verderbt zu sein. Miyähuaxöchitl wurde sie vielleicht versehentlich genannt, weil man sie mit einer Tochter Moteuczumas verwechselt hat, die zur Zeit der Umsetzung dieser Information in lateinische Schrift dem Schreiber als zeitgenössische Prinzessin gedanklich näherstand. Tetzihuatl ist vielleicht eine Verballhornung von Tecihuatl und bedeutet dann einfach Chimalpopöca scheint als erster aztekischer Prinz die spätere Stan.ardlaufbahn in öffentlichen Ämtern eingeschlagen zu haben. Zunächst wurde er Statthalter des von seinem Vater Huitzilihhuitl unterworfenen Stadtstaates von Culhuahcän. Das war sicher einer der prestigereichs:en Posten, den der noch junge aztekische Staat zu vergeben hatte. Denn, wie wir uns erinnern, leitetet sich die aztekische Dynastie selbst von Cülhuahcan und ihrem alteingesessenen Herrscherhaus ab. Danach folgte z.to4 die Ernennung zum obersten Heerführer (Tlacateccat1). Von dieser Position aus war seine Wahl zum Nachfolger des regierenden Herrschers vorgezeichnet. Warum nach dem Tod seines Vaters Huitzilihhuitl die 'Annalen von Tlatilolco» ein vierjähriges Interregnum behaupten, ist unkLar. denn, wie gesagt, hatte Chimalpopöca die optimale Vorbereitung für
Wahl zum Herrscher durchlaufen und er war als Sohn des vorangezar_genen Tlahtoäni auch unter genealogischen Gesichtspunkten erste .7%ahl. Möglicherweise war er, als sein Vater starb, noch minderjährig, so dass einige Jahre zu überbrücken waren, bevor er inthronisiert werden kannte. Seine Inthronisation geschah dann 1415 oder, wenn wir ein Inter7wium ansetzen, im Jahre 1418.
Chälco, ein Verband von Stadtstaaten an dem Mexiko gegenüberliegenden südöstlichen Ufer des Sees von Tetzcuhco, war damals einer der bevölkerungsreichsten und politisch mächtigsten Konkurrenten Tenochtitlans. Um 142o scheinen sich die Chalkaner eine Provokation als Anlass für einen Krieg gegen Tenochtitlan ausgedacht zu haben, ein Verhalten, das nicht sehr viel anders immer wieder in der Weltpolitik zur Umdeutung einer Aggression als Verteidigungskrieg herhalten muss: Die Chalkaner zertrümmerten vier mexikanische Boote und töteten die aus fünf Mann bestehende Besatzung. Die mexikanische Straf und Racheaktion unter dem Oberbefehl Chimalpopöcas blieb nicht aus. Allerdings berichten die Quellen nichts Genaues. Vielleicht war diese unbedeutende Episode nur der Anfang der eigentlichen Auseinandersetzung, die erst fünf Jahre später eskalierte. Chimalpopöca plante damals nämlich, den Haupttempel in Tenochtitlan zu vergrössern. Die Azteken, die für die Ausschmückung des Tempelbezirks den Rohling eines Opfersteines in einem chalkanischen Steinbruch zu brechen wünschten, wurden abgewiesen, und Chimalpopöca hat das Vorhaben deshalb nicht mehr selbst zu Ende führen können, da die Chalkaner von ihm nicht unterworfen wurden. Der so wieder angeheizte Krieg zog sich mit wechselnden Erfolgen mal der einen, mal der anderen Seite 40 Jahre lang hin und beschäftigte ausser Chimalpopöca noch seine beiden Nachfolger Itzcöäll und Ilhuicamina. Erst letzterer konnte die Chalkaner 1465 endgültig besiegen und als Demonstration seiner nun unumstrittenen Macht den begehrten Opferstein endlich beschaffen.
 Namenshieroglyphe Chimalpopöcas.Der dritte Herrscher, ein Sohn Huitzilihhuitls, trägt einen beliebten und scheinbar leicht verständlichen Namen: Chimalpopoca. Er bedeutet , denn chtmal ist der <(Krieger)schild> und pöca heisst . Die Verdopplung zu popöca kennzeichnet das beständige oder wiederholte Aufsteigen von Rauch. Seine Namenshieroglyphe gibt einen scheibenförmigen Kriegerschild wieder, von dem Rauchwölkchen aufsteigen. Welche Vorstellung mit diesem Bild verknüpft wurde, ist unbekannt. In der Mythologie trägt die Gottheit Tezcatl Ipöca einen rauchendenSpiegel an einem Beinstumpf anstelle eines Fusses. Die Forschung vermutet, dass der vom Spiegel aufsteigende Rauch als Metapher für ein Trugbild steht, das man im Spiegel sieht. Spiegelnde Flächen, sei es die Wasseroberfläche in einer Schale oder die glattgeschliffene Oberfläche eines ObsidianSteins, dienten aztekischen Wahrsagern nämlich als Mittel, in die Zukunft zu schauen. Diese Vorstellung lässt sich aber nicht gut auf den  übertragen, und so bleibt der Name des dritten Herrschers der Azteken, Chimalpopöca, in seiner esoterischen Bedeutung unklar. [Ausschnitt aus Colecciön Mendoza, Teil I, Blatt 4v.]
Der Krieg gegen Chälco war gewiss nicht Chimalpopöcas grösste Sorge. Problematischer war nach der Darstellung einiger Quellen, wie er sein Verhältnis zu der Vormacht im Hochtal, Äzcapötzalco, gestalten sollte. Er selbst war mit dem tepanekischen Herrscher Tezozomoc als dessen Enkel in einer generational untergeordneten Stellung nahe verwandt und durch Heirat mit den Tepaneken auch noch verschwägert. Daher lagen ihm gute persönliche Beziehungen zum tepanekischen Herrscher Tezozomoc am Herzen, und er besuchte ihn häufig in dessen nur ::firif Kilometer von Tenochtitlan entfernter Residenz. Vermutlich verhielt Chimalpopöca sich nicht nur wegen der familiären Bande unterwür
und beflissen gegenüber Tezozomoc, sondern auch, wie schon sein Vorgänger Huitzilihhuitl, weil er die Übermacht der Tepaneken realishsch in Rechnung stellte.
Allerdings blieben Konflikte dennoch nicht aus. Chimalpopöca, um das Wohl seiner wachsenden Untertanen auf den Inseln im See besorgt, wollte vom Festland eine Trinkwasserleitung nach Tenochtitlan bauen .md musste dazu die Einwilligung der Tepaneken einholen, in deren Terr:orium die Quellen gefasst werden und die Leitung ihren Anfang nehmen sollte. Dies wurde ihm aber von Äzcapötzalco ohne nachvollziehbaren Gründen verweigert.
Als Tezozomoc dann aber 1426 hochbetagt und nach langer Herrschaft —die Angabe einer Quelle von 138 Regierungsjahren ist natürlich nicht zutreffend — starb, sollte ihm nach seinem letzten Willen sein Sohn Quetzaleät1 nachfolgen. Doch es gab noch weitere Söhne, die nach der Macht im TepanekenReich strebten. Chimalpopöca verhielt sich loyal gegenüber dem letzten Willen des verstorbenen Tezozomoc und unterstützte Quetzaläyätls Thronanspruch. Damit hatte er aber auf den falschen Kandidaten gesetzt, denn ein anderer Sohn Tezozomocs, Mäxtla, der damals in Coyöhuahcan regierte, übernahm handstreichartig die Nachfolge seines verstorbenen Vaters in der Hauptstadt Äzcapötzalco und damit im ganzen tepanekischen Reich. Selbstverständlich blieb ihm nicht verborgen, dass Chimalpopöca seinem Bruder den Rat gegeben hatte, ihn, Mäxtla beiseitezuräumen. So folgte seine Rache an Chimalpopöca auf dem Fusse.
Eine Geschichtstradition schreibt, dass Meuchelmörder Chimalpopöca in einer Steinmetzwerkstatt überfielen, wo er sich um das Vorhaben des Tempelneubaus für Tenochtitlan kümmerte, und dass sein Sohn Teutlehuac sich wenig später aus Angst vor den azcapotzalkanischen Häschern das Leben nahm. Eine andere Version behauptet, dass Mäxtla Vater und Sohn im Schlaf ermorden liess. Dies ist die Überlieferung aus Sicht unbeteiligter Dritter aus der Herrschaft von Quauhtitlan. Sie ist als historische Erzählung unter dem Namen «Königssterben» in die kolonialzeitlichen und nur buchstabenschriftlich überlieferten Annalen eingefügt. Ihr Titel «Königssterben» ist insofern euphemistisch, als die Erzählung nicht vom natürlichen Tod von Königen handelt, sondern davon, wie Mäxtla die Herrscher zentralmexikanischer Stadtstaaten einen nach dem anderen töten lässt oder vertreibt. Eine dritte Version über das Ende Chimalpopöcas findet sich buchstabenschriftlich ebenfalls im CrönicaXKreis und sogar noch in altindianischer Bilderschrift im Codex Xolotl, einer aculhuahkanischen Quelle, verzeichnet. Nach ihr provozierte und demütigte nicht erst Mäxtla, sondern schon sein Vater Tezozomoc die Azteken, indem er unerfüllbare Steuerabgaben forderte. Darüber habe ich schon oben unter der Herrschaft von Acamäpichtli berichtet. Es handelt sich also um eine erneute Schikane nach altem Muster. Mäxtla trieb die Provokationen dann auf die Spitze, als er die an seinen Hof geladenen Ehefrauen des Chimalpopöca ohne Umstände vergewaltigte und sie danach perfiderweise nach Tenochtitlan zurückschickte, wo sie von ihrem Unglück berichteten. Chimalpopöca wird in diesem Zusammenhang als orientie ningslos, entscheidungsschwach und ängstlich geschildert, und es ist nicht verständlich, warum er sich selbst nochmals nach Äzcapötzalco bezab. wo er dann umgehend gefangengesetzt wurde.
Der Codex Xolotl bildet ihn danach in einem typischen aztekischen Jiefängnis ab, das aus einem Käfig aus Balken besteht, wie wir ihn für den Transport von Grosswild kennen. Dort soll Chimalpopöca nahezu dem Hungertod überantwortet worden sein. Weil er an den ihm angekündigten ehrenvollen rituellen Tod auf dem Opferstein der Tepane nicht mehr glaubte, soll er schliesslich seinem Leben selbst ein Ende _motzt haben. In der Nacht zuvor hatte er bereits seinem Sohn Teutle den Selbstmord befohlen. Ein vierte Version behauptet, dass Amalpopöca im Auftrag seines obersten Heerführers und Onkels, Itzcöätl, umgebracht worden sei, weil der ihn für feige und zu nachgiebig gegenüber den Tepaneken hielt, ein Topos, der auch beim Tod des späteren Herrschers Tizocic angeführt wird.
Das quellenkritisch Interessante an den vier verschiedenen Versionen sind die partiellen Übereinstimmungen, die zeigen, dass, was immer die Phantasie der Erzähler und die Überlieferung daran ausschmückend angefügt oder weggelassen haben, ein ereignisgeschichtlicher Kern unstrittig ist: Chimalpopöca und sein Sohn Teutlehuac kamen im Zusammenhang mit dem politischen Druck, der von Äzcapötzalco ausgeübt wurde, gewaltsam ums Leben; und das soll im Jahr 1426 geschehen sein.
Wenn diese Berichte in ihrem übereinstimmenden Kern historisch zutreffen, und dafür sprechen viele Indizien, finden wir hier tatsächlich den Keim der politisch wichtigsten Umwälzung im spätindianischen Zentralmexiko: Das Ende des TepanekenReiches und in seiner Folge die völlige Umverteilung der Macht mit dem raschen Aufstieg der Azteken. Das letzte kurzzeitig erfolgreiche Aufbäumen der tepanekischen Macht unter dem Usurpator Mäxtla überspannte offenbar die Loyalität unterworfener und verbündeter Stadtstaaten so sehr, dass sie in einem konzertierten Gegenschlag die Tepaneken schliesslich vernichteten. Doch das gelang erst zur Zeit des folgenden aztekischen Herrschers Itzcöätl. Zunächst scheinen die Tepaneken mit der Ermordung Chimalpopöcas und anderer Herrscher ihre Vormachtstellung in Zentralmexiko bis 1428 gefestigt zu haben. So widersprüchlich die Motive für die Ermordung bzw. für den Selbstmord Chimalpopöcas auch sind, die Art seines Todes war in jedem Fall eine Verletzung der mexikanischen Würde. Zorn und Unverständnis über Chimalpopöcas Ende und das seines Sohnes Teutlehuac sprechen deutlich aus dem Bericht des Annalisten aus Quauhtitlan:
Und damals war es auch, dass der namens 1'uctlahuacatzin, Tlacochcalcatl in Tenochtitlan, Selbstmord verübte. Denn er war in Furcht, nachdem der Herrscher Chimalpopöca getötet worden war, und er bedachte hin und her, ob die Tenochkaner Krieg führen sollten oder vernichtet werden würden. Deswegen gab er sich den Blumentod, vergiftete sich. Und als man das erfuhr und sah, wurden die Tenochkaner, Adlige und Herrscher, wütend. Und deswegen berieten sich die Mexikaner, versammelten sich, kamen überein, fällten das Urteil und sprachen: «Keinem einzigen seiner Kinder, Neffen und Enkel soll eine Auszeichnung zuteil werden, keiner soll Herrscher werden, ewig sollen sie nur zu den Untertanen zählen.» Und so geschah es. Von seinen Enkeln wurde keiner, obwohl sie sehr tüch tige Krieger waren und sich im Kampf tapfer zeigten, Herrscher und ausgezeichnet.
(Annalen von Quauhtitlan, §§7336)
Das hinter diesem Urteil stehende Ethos ist das des aztekischen Herrschers, der auf dem Schlachtfeld sterben oder, wenn er dort vom Gegner gefangengenommen wurde, den heiligen Opfertod erleiden sollte, nicht aber sich heimtückisch im Schlaf oder bei ziviler Arbeit ermorden lassen oder gar durch eigene Hand enden durfte. Das will dieser Bericht aus Quauhtitlan uns vermitteln.
Chimalpopöca ist ohne Zweifel der aztekische Herrscher mit den wenigsten Eroberungen, also der militärisch erfolgloseste gewesen. Die offizielle Staatschronik weist ihm nur die Eroberung von Tequixquiac und Chälco zu, wovon eine, nämlich Chälco, wie wir sahen, wohl noch nicht einmal eine definitive war. Somit ist sein schmähliches Ende vielleicht tatsächlich in seinem ängstlichen Charakter zu suchen. Es könnte aber auch so sein, dass der Staat Äzcapötzalco unter seinem alternden Herrscher Tezozomoc territorial saturiert war und der Vasall Chimalpopöca nur werge Aufträge für Eroberungen bekam, die magere Eroberungsbilanz also externe Gründe hatte. Aber damit nicht genug der historischen Unklarh'eiten. Einige wenige Chronisten vermelden, dass ein anderer Sohn AnImalpopöcas, Xihuitl Temöc, ihm in der Herrschaft nachfolgte, jedoch über 6o Tage lang regierte. Es wird nicht gesagt, warum er nur so kurz schte. Andererseits beeilen sich die Annalen von Quauhtitlan im oben znerten Abschnitt anzufügen, dass Kinder und Enkel des Chimalpopöca wegen der Schmach seines Todes geächtet wurden und von der Nach 77 Tagen  als Herrscher ausgeschlossen blieben. All das zusammen fügt sich zwar nicht zu einem konsistenten Bild der Ereignisse und ihrer tieferliezenden Gründe, zeigt aber deutlich, wie einhellig abwertend und Meinung über den toten Herrscher war.
BEFREIUNGSKRIEG UND DREIBUND (1428 bis 1440)
Yzca in iylnamicoca yn eted tzontecomatl yn altepetl yn nican nueva esparia mexico tetzcuco tlacuban
Hier ist das Andenken an die drei Häupter hier in Neuspanien: MExihco, Tetzcuhco (und) Tlacöpan (zu sehen). Codex Osuna, Blatt 496)
 ITZCÖÄTL, BEFREIER VOM )0CH DER TEPANEKEN
Der Herrscher Itzcöät1 war ein Sohn des Begründers der aztekischen Dynastie, ikcamäpichtli d. J. Er soll um 1382 aus dessen Verbindung mit einer Sklavin aus Äzcapötzalco geboren worden sein. Diese von mütterlicher Seite illegitime Herkunft war aber kein Hinderungsgrund, ihn als Kronprinzen zu betrachten, da Legitimität bei den Azteken vor allem auf der männlichen Abstammung gründete. Dennoch haben sich aztekische Herrscher aus politischem Kalkül und zur Hebung ihres allgemeinen Prestiges gern mit Prinzessinnen verbunden.
/tzcöät1 heisst im Aztekischen der Barsch, ein schmackhafter Meeresisch, der im Hochland zu damaliger Zeit, wo die Azteken noch keine in:ensiven Handelsbeziehungen zur Küste unterhielten, allerdings nicht 'Dekamt war. Es handelt sich bei diesem Herrschernamen daher wohl nicht um die Bezeichnung dieses Fisches, sondern um eine mythische Gestalt. Das zeigt auch seine hieroglyphenschriftliche Darstellung (Abb. i8). Sie folgt nicht dem Wortsinn Nicht nur das, sondern auch die Tatsache, dass er nach dem gewaltsamen Tod Chimalpopöcas dann doch noch Tlahtoäni wurde, also Chimalpopöca in diesem Amt nachfolgte, ist nicht leicht zu erklären. Denn die Nachfolge seitens eines der Kinder Chimalpopöcas wäre die zu erwartende Regelung gewesen. Andererseits war Itzcöätl als oberster Heerführer vom politischen Rang her der passende Kandidat für die Nachfolge. Dass man sich auch schon in altaztekischer Zeit über diese ungewöhnliche Amtsnachfolge Gedanken machte, findet darin einen Ausdruck, dass einige Quellen tatsächlich einen Sohn Chimalpopöcas namens Xihuitl Temöc als dessen Nachfolger nennen, der aber nur zwei Monate regiert haben soll. Die Nichtnennung in den meisten Quellen kann dann einigermassen plausibel dadurch erklärt werden, dass Xihuitl Temöc in den offiziellen Annalen wegen seiner kurzen Herrschaft von weniger als einem Jahr überlieferungstechnisch einfach unter den Tisch gefallen wäre. Eine andere Erklärung für das Nichtaufscheinen Xihuitl Temöcs könnte man darin sehen, dass sein Nachfolger Itzcöätl die dynastische Abfolge durch Tilgung des Namens seines unmittelbaren Vorgängers bereinigt hätte, wofür ich später Indizien und Gründe nenne. Schliesslich ist auch der im vorangegangenen Kapitel erwähnte Ausschluss aller Nachkommen Chimalpopöcas von der Herrschaft wegen seines schmählichen Todes ein plausibler Erklärungsrahmen dafür, dass Itzcöätl das Amt übernahm. So oder so bleibt die Erhebung zum Tlahtoäni in Itzcöätls Leben ein unklarer Punkt.
Itzcöätl wird in der indianischen Geschichtsschreibung vor allem wegen seines Sieges über die Tepaneken gerühmt. Die lange und starke Herrschaft des Tepaneken Tezozomoc von Azcapötzalco war 1426 mit dessen natürlichem Tod zu Ende gegangen. Er hatte zwar noch selbst seinen Sohn Quetzaläyätzin zum Nachfolger bestimmt, dem es jedoch nicht gelang, sein Erbe anzutreten. Sein Bruder Mäxtla, der als Statthalter Tezozomocs in COyohuahcän residierte, beeilte sich, zur Totenfeier für seinen Vater nach Azcapötzalco zu kommen, eine Strecke, die man in einem halben Tag hinter sich bringen kann. Er kam mit der Absicht, dort die Macht an sich zu reissen, und er hatte damit überraschend Erfolg. Sein älterer Bruder Quetzaläyätzin wehrte sich nicht ernsthaft. Chimalpopöca, der damals noch Tlahtoäni von Tenochtitlan war, hatte, wie wir im vorangehenden Kapitel sahen, vergeblich versucht, aus dieser politisch unsicheren Lage Azcapötzalcos Kapital zu schlagen, war aber kläglich gescheitert und hat seinen Versuch mit dem Leben bezahlt. Mäxtla kompensierte seine illegitime und gewalttätige Usurpation durch flächendeckenden Terror, mit dem er die Herrscher und Fürsten Zentralmexikos verfolgte. Er liess sie der Reihe nach beseitigen. Das ist, wie gesagt, in die aztekische Geschichtsschreibung etwas euphemistisch als «Königssterben» (Tlahtocamicoac) eingegangen.
Itzcöät1 war mit seinem Widerstand gegen die Tepaneken erfolgreicher als Chimalpopöca, dank einer Koalition unzufriedener, von Äzcapötzalco abhängiger Staaten, auf die er sich stützen konnte, darunter Quauhtitlan und Tetzcuhco. Frühzeitig und klug hatte er vorgesorgt, indem er die Loyalität und Dankbarkeit des jungen Thronprätendenten von Tetzcuhco, Nezahualcoyötl, gewann. Ihm hatte er 14281433 nämlich Asyl in Tenochtitlan gewährt und zum Abschluss seine Inthronisation in Tenochtitlan ausgerichtet, die wegen der in Tetzcuhco noch herrschenden Tepanekenfreundlichen Fraktion dort nicht stattfinden konnte. Es gelang dieser Koalition tatsächlich, die Tepaneken 1430 entscheidend zu schlagen. Der Chronist der Annalen von Quauhtitlan fasst dieses epochale Ereignis in die folgenden knappen Worte:
Und es war gesagt worden, dass man das Jahr Drei Kaninchen (143o) zählte, als die Tepaneken besiegt wurden. Damals auch wurden die Quauhnahuahkaner und die Xaltocamekaner besiegt. Nezahualcoyötl besiegte sie und Itzcöätzin und Tecocohuatzin aus Quauhtitlan. (Annalen von Quauhtitlan, § 98o)
 Namenshieroglyphe Itzcöätin Der Name Itzcöätl setzt sich aus den beiden Hauptwörtern Itz  zusammen und bedeutet  Als Eigenname eines Prinzen oder gar Herrschers verwendet wird ihm meist nicht das gewöhnliche Nominalsuffix 41 angehängt, sondern das Höflichkeit anzeigende Suffix tzin, so dass man seinen Namen oft als Itzcöätzin geschrieben findet. Dieses Element findet aber in der Hieroglyphenschrift keinen Ausdruck. Ähnliches gilt auch für die anderen aztekischen Herrscher. Sein Vorgänger Äcamäpichtli ist auch als Äcamäpitzin bekannt, und Huitzilihhuitl wird gerne Huitzilihhuitzin genannt. [Ausschnitt aus Colecciön Mendoza, Teil I, Blatt 5v.]
DAS AZTEKISCH E KRIEGSWESEN
Für viele Aspekte des Kriegswesens der Azteken ist die Quellenlage günstig und reichhaltig, denn zwei Jahre lang konnten die spanischen Eroberer in direkter Auseinandersetzung mit ihnen Taktik und Strategie ihrer Gegner studieren und die Wirkungen indianischer Waffen am eigenen Körper erfahren. Allerdings ist damit nur eine Aussenansicht gegeben, wohingegen alle Aspekte der inneren Organisation, der Entscheidungsstrukturen etc. quellenmässig nur schwach belegt sind. Selbst die erhaltenen indianischen Quellen schweigen sich darüber weitgehend aus.
Formen der Kriegführung
In den Augen der Azteken gab es fünf legitime Arten von Krieg (Yäöyötl): den Befreiungskrieg, den Eroberungskrieg, den Bestrafungskrieg, den Blumenkrieg (Xöchiyaöyötl) und den Inthronisationskrieg. Befreiungskriege hatten die Azteken in vordynastischer Zeit gegen Cfilhuahcän geführt, und auch der Krieg gegen die Tepaneken war ein solcher. Ein Eroberungskrieg wird aus wirtschaftlichen Gründen geführt. Das wird so direkt zwar nirgends gesagt, erschliesst sich aber aus den ritualisierten Verhandlungen vor Aufnahme von Feindseligkeiten: Zunächst macht ein aztekischer Gesandter dem Gegner das Angebot, dass er, wenn er freiwillig Tribut zahle, ungeschoren davonkomme. Erst wenn dieses Angebot abgelehnt wird, wird der Krieg begonnen. Ein Bestrafungskrieg ist angezeigt, wenn aztekische Fernhändler bei ihrer Durchreise durch fremdes Territorium beläsigt, behindert oder getötet werden; wenn ein schon unterworfenes Gebiet rebelliert oder die Zahlung von Tribut verweigert. Fast alle Kriege, die die Azteken in späterer Zeit führten, waren Eroberungs oder Bestrafungskriege, und sie hatten solche auch schon früher im Auftrag ihrer Oberherren von Colhuahcän und Äzcapötzalco geführt. Ein solcher Krieg in fremdem Auftrag, auf den sie besonders stolz zurückblickten, war der gegen Xöchimilco, über den ich in Kapitel III berichtet habe.
Bei einem Blumenkrieg galt als wesentliches Ziel, Kriegsgefangene für Menschenopfer zu erlangen und so die Opferung eigener Angehöriger zu vermeiden. Ein weiterer Zweck war, das Heer zu trainieren und zu motivieren. Durch Tapferkeit und Einbringen von Gefangenen in einem Blumenkrieg konnte man nämlich in den Rängen aufsteigen, was die Motivation der Krieger hochhielt. Und schliesslich wird auch behauptet, dass ein solcher Krieg einfach Spass machte. Wann sich diese Form des Krieges ausgebildet hat und warum sie sich über Generationen erhielt, ist in Anbetracht der sich rasch transformierenden politischen Verhältnisse in Zentralmexiko nicht ganz klar. Der kolonialzeitliche Historiker Juan de Torquemada schildert in diesem Zusammenhang in seiner «Monarquia Indiana» zum Jahr 1469, als die Blumenkriege schon fest etabliert waren, eine aufschlussreiche Episode:
Damals rebellierten die Leute von Huexötzinco und Ätlixco; und Äxäyacatl zog in Begleitung des Nezahualcoyötl von Tetzcuhco und des Totoquihuaztli von Tlacöpan gegen sie zu Felde. Mitten in der Schlacht erschien der Gott Titläcahuan. Er ergriff zwei Heerführer des höchsten mexikanischen Adels. Die Mexikaner kamen ihnen zu Hilfe und brachten es fertig, sie zu befreien. Damit waren die Gegner besiegt, und die Könige kehrten nach Hause zurück. Der Herrscher von Mexiko berichtete dieses Wunder und diese Ereignisse seinen Wahrsagern und Zukunftsdeutern. Die sagten, dass der Krieg überhaupt noch nicht beendet sei, und er würde ewig virulent bleiben. (Torquemada, Monarquia Indiana, Buch 2, Kapitel 55)
 Es scheint also göttliches Gebot gewesen zu sein, dass solche Kriege immer wieder geführt wurden. Denn der hier genannte eingreifende Gott Titläcahuan ist der eigentliche Kriegsgott der Azteken und keineswegs ein fremder, ihnen übel gesinnter Gott. Eine gewisse Analogie zur Ätiologie der Kriegsführung bei den alten Griechen, wie sie in den homerischen Epen überliefert ist, ist unverkennbar.
In späterer Zeit, für die auch das gerade wiedergegebene Zitat steht, führte Tenochtitlan mit Tlaxcallän, Chälco, Ätlixco und Huexötzinco, alles Herrschaften im östlich benachbarten Hochtal, Blumenkriege. Mit diesen und gelegentlich anderen Gegnern haben sie solche unter den Herrschern Ilhuicamina 1468, Äxäyacatl 1469 (siehe obiges Zitat von Torquemada) 1481, Ähuitzötl 1494 oder 1495, und Moteuczama 1503, 1508 und 1511/12 geführt. Sie fanden auf einem festgelegten Schlachtfeld mit einer festgelegten Zahl von Beteiligten statt. Ein Michiyäöyütl zwischen Tenochtitlan und Tetzcuhco ist sogar mit Vorabsprache des Siegers überliefert. Ihn führte man, um einen vereinbarten Gebietstransfer zu legitimieren. Das zeigt, wie ritualisiert internationale Beziehungen waren und wie fest eingebunden das Instrument Krieg in das allgemeine gesellschaftliche Verhalten war: Ein Gebietstransfer zwischen zwei souveränen Staaten ist anscheinend nur durch Gewaltanwendung denkbar, so dass man selbst bei Einigkeit der Verhandlungspartner zu einer Form der Gewalt greifen musste, allerdings zu entschärfter ritualisierter Gewalt in Form des Blumenkrieges.
Eine besondere Art von Kriegen, zwischen Eroberungskrieg und Blumenkrieg schwankend, sind die Kriegszüge der Prinzen zum Beweis ihrer Regierungsfähigkeit vor ihrer Einsetzung zum Tlahtoäni. Wir nennen sie Inthronisationskriege. Wie die Blumenkriege dienten sie primär dem Nachweis der militärischen Tüchtigkeit, in diesem Fall der des designierten Tlahtoäni. Sie wurden meist nicht mit den traditionellen Blumenkriegsgegnern ausgefochten, sondern gegen frei gewählte «echte» Gegner. Nur Moteuczuma scheint seinen Inthronisationskrieg gegen die traditionellen Blumenkriegsgegner geführt zu haben.
Kommandostruktur
Das oberste militärische Organ des Dreibundes ist der Kriegsrat. In ihm sind die Herrscher von Tenochtitlan, Tetzcuhco und Tlacöpan vertreten. In Tenochtitlan selbst ist oberstes Organ der Militärverwaltung das Kriegskabinett, das in späterer Zeit im Palast des Herrschers tagte (Abb. 39). Ihm sitzt der Tlahtoäni vor, der vom Cihuäcöäti unterstützt wird. Ausser diesen beiden sind der Tlacochcalcatl, der Tläcateccati, der Ezhuahuacatl und der Tlillancalqui im Kriegskabinett vertreten. Die Ämter des 'Tläcateccatl und des Tlacochcalcatl scheinen mit besonders grosser politischer Macht und hohem Prestige ausgestattet gewesen zu sein, denn sie wurden bevorzugt an Thronprätendenten vergeben.
 Modell eines aztekischen Kriegers.Das Modell eines einfachen mexikanischen Kriegers, wie ihn sich Archäologen vorstellen. [Museo de Antropologia MexikoStadt/
Das Kommando im Felde führt gelegentlich der Tlahtoäni selbst, meist jedoch der Tlacateccatl. In den Quellen werden noch weitere Feldherren genannt. Es ist aber nicht bekannt, wie sie sich die militärischen Aufgaben teilten. Ausschlaggebend für den Rang als Krieger auf Ebenen unter der genannten Generalität, als Tequihua, Otömitl oder Quachic, ist die Zahl der eingebrachten Gefangenen. Sie lebend einzubringen ist wichtig, da sie später als Opfersklaven verwendet werden sollen. Schwierig oder leicht zu fangende Gegner werden bei der Vergabe der militärischen Rangstufen unterschiedlich gewichtet. Ausserdem spielt für die Aufstiegsmöglichkeiten im Rangsystem auch das allgemeine Verhalten im Krieg eine Rolle. Vor allem Feigheit vor dem Feind (Flucht) wird als der Karriere hinderlich angesehen und bei den besonders streng geführten OtömihKriegern mit zweijährigem Ausschluss aus der Laufbahn bestraft. Danach erhält der so Bestrafte die Chance, sich in einem Blumenkrieg erneut zu bewähren. Ernennungen der höchsten Offiziere werden mit Festen gefeiert.
Die Kampfeinheiten setzen sich aus einfachen Soldaten (Yööquizqui) zusammen, die der Schicht der Gemeinfreien (Macühualli) entstammen. Sie sind auf der Basis der Siedlungsverbände (Calpülli) zu Einheiten organisiert. Jede Einheit wird im Krieg durch ihr Feldzeichen (Quachpäntli) identifiziert. Umstritten ist in der Forschung die Frage, ob es Militärgesellschaften bzw. Kriegerorden gab, vergleichbar den in den mittelalterlichen Kreuzzügen sich bildenden christlichen Kriegerorden. Durän, einer unserer verlässlichsten Gewährsleute aus der frühen Kolonialzeit, nennt Adler (Quäuhtli) und Jaguare (Ocelötl) Kriegerorden. Dieser Interpretation haben sich viele moderne Autoren angeschlossen, und sie glauben, diese Institution sogar weit in die voraztekische Geschichte Zentralmexikos zurückverfolgen zu können. Nach Meinung des Hamburger AztekenForschers Eike Hinz handelt es sich bei Adlern und Jaguaren jedoch um militärische Ränge, nicht um Orden mit eigener Ethik, einem eigenen Verhaltenskodex und weitgehend eigenständiger Führung. Das geht seiner Interpretation nach vor allem aus der «Colecciön Mendoza» und aus Sahagüns ethnographischer Schilderung hervor, beides sehr authentische Quellen. Die Tatsache, dass es in Tenochtitlan ein Adlerhaus (Quauhcalli) gab, spricht dann aber wieder für die Interpretation als Kriegerorden in Form eigenständiger Militärkorporationen.
Bewaffnung
Die Bewaffnung des aztekischen Soldaten bestand aus einem Baumwollpanzer (Ichcahuipilli) als Schutz für den Oberkörper und dem Rundschild Yaöchrmalli oder Quauhchanalli), mit dem er ebenfalls Oberkörper und Kopf schützen konnte. Das ist die Defensivbewaffnung (Abb. i9). Sie ist :eicht und zweckmässig, und daher haben sogar die Spanier in ihrem Eroberungskrieg gegen die Azteken den Baumwollpanzer bald übernommen. Die Offensivwaffen der Azteken sind vielfältiger. Mit dem Bogen Tlahuitolli) konnten verschiedene Arten von Pfeilen verschossen werden: der einfache Pfeil (Mrtl), ein Pfeil mit gezackter Spitze, der grössere Wunden riss (Tlatzontectli), und der Brandpfeil (Tlentrt1). Pfeile führte der Kriezer in einem Pfeilköcher (Mrcöntitl, Mrxiquipilli) mit. Ein etwas grösseres Geschoss konnte man mit der Speerschleuder (Atlatl) verschiessen. Die zuzehörigen Speere (Tlacochtli, Mrtl, Minacachalli) waren ähnlich bewehrt wie die Pfeile, die mit dem Bogen abgeschossen wurden, und man konnte m der einen Hand mehrere Speere und in der anderen die Speerschleuder hinter dem schützenden Schild mit sich führen. Eine weitere Fernwaffe war die Steinschleuder (Tematlatl).
An Nahkampfwaffen war das Holzschwert mit beidseitigen Obsidianklingen (Mäquahuitl) die wichtigste. Es gab es in einer einhändigen und einer beidhändigen Variante. Ausserdem kannte man eine über mannsgrosse Lanze (Tepuztöptlli), eine Kriegskeule, die entweder mit spitzem oder eher stumpfem Kopf (Mäquahuitzoctli, Quauhololli) bewehrt war oder aber mit Obsidianklingen besetzt sein konnte (Huitzauhqui), und schliesslich führte der Krieger noch ein einfaches Messer mit Feuersteinoder Obsidianklinge (Tecpatl) mit sich.
Staatliche Waffenkammern und Zeughäuser sind aus schriftlichen Quellen bekannt, aber archäologisch bisher nicht identifiziert worden. Sie heissen Tlacochcalco. Der Name, der im Kern der gleiche ist, den einer der ranghöchsten Generäle, der Tlacochcalcatl, trug, weist auf die Bedeutung der Ausrüstung und Logistik für die aztekische Kriegsführung hin. Auch die Steuerlisten enthalten viele militärische Ausrüstungsgegenstände als Abgaben, die nach Tenochtitlan zu liefern waren. Und diese waren es wohl, die man im Tlacochcalco magazinierte und im Falle eines Krieges an die aus der bäuerlichen Bevölkerung rekrutierten Krieger ausgab.
Taktik und Kriegsverläufe
Die schon genannten OtömihKrieger waren anscheinend eine Spezialeinheit mit eigener Kampftechnik. Sie kämpften in Paaren. Genaueres über diese interessante Art zu kämpfen ist aber nicht bekannt. Das Zusammenwirken unterschiedlich bewaffneter Krieger, wie es die römische Kampftechnik auszeichnete, spielte vielleicht auch hier eine Rolle.
Zur Mobilität ist nicht viel zu sagen. Verglichen mit europäischen und asiatischen Heeren der damaligen Zeit schränkte das Fehlen von Reitund Zugtieren bei den Azteken die Mobilität erheblich ein, was sich in der Auseinandersetzung mit den Spaniern als entscheidendes Manko herausstellte. Zuvor, in altindianischer Zeit, waren aber alle indianischen Truppen in dieser Richtung gleichermassen defizient, so dass es keinen Unterschied machte. Auf den Binnenseen wurden geruderte Kriegseinbäume (Chrmaläcalli) verwendet. Meeresschifffahrt für militärische Zwecke setzten die Azteken nicht ein.
In normalen Schlachten wurden Gegner oft getötet. Ein gewisser Anteil musste aber lebend gefangen werden, um später bei den Opferfesten Verwendung zu finden. Und diese Kriegsgefangenen wurden vermutlich unter Aufsicht des Calpixqui in der nächstliegenden Garnison oder Provinzhauptstadt interniert. Waren zahlreiche Gefangene gemacht worden, konnte der Angriffswille erlahmen oder der Kampf sogar ganz eingestellt werden, da dann eines der Hauptziele einer Schlacht erreicht war. Es ist auf alle Fälle charakteristisch für die aztekische Strategie, dass taktische Vorteile nicht bis zur letzten Konsequenz der totalen Niederringung oder Vernichtung des Gegners ausgenutzt wurden, und so etwas wie Geländegewinn und die Eroberung strategischer Höhen spielte, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle.
Schicksal für viele Kriegsgefangene war also der Tod als Opfersklave unter Aufsicht ihres Fängers. Manche wurden zuvor auf den Sklavenmärkten verkauft und konnten dann als Sklaven wenigstens am Leben bleiben. Aber selbst die, die um ihre baldige Hinrichtung wussten, trugen dieses Schicksal mit Gleichmut, ja sogar bisweilen mit Stolz, denn der Tod auf dem Opferstein war ruhmvoll. Der aktuelle Vergleich mit Selbstmordattentätern islamistischer Ideologie bietet sich insofern an, als wir dadurch besser verstehen können, zu welchem Grad von Selbstverleugnung iunge) Menschen unter starkem ideologischem Druck fähig sind.
Zur Einschüchterung unterworfener Provinzen, aber auch potentieller zukünftiger Gegner, haben die Azteken ihre Macht vor allem in Form massenhafter Menschenopfer vorgeführt. Daneben wird das Niedermetzeln von Zivilisten wiedereroberter Städte gelegentlich als besonders harte Strafe bei Rebellion durchgeführt und diente sicher ebenfalls der Abschreckung. Es ist übrigens das gleiche Vorgehen, dessen sich besonders im Zweiten Weltkrieg deutsche Truppen schuldig gemacht haben und das zumindest in Russland und Frankreich kaum kriegswirksam war. Welche Wirkung die Azteken mit ihren Verfahren der Abschreckung hat:en, wissen wir nicht.
Eine wesentliche Strategie, die in Altmexiko hochentwickelt war, war das Bilden von Allianzen und die Organisation gemeinsamer Kriegszüge. Sei der politisch so zersplitterten Landschaft war es geradezu eine Voraussetzung für den Kriegserfolg, zunächst geeignete Verbündete zu finden. Solche strategischen Überlegungen sind dann aber mit der Herausbildung des Dreibundes weitgehend überflüssig geworden, weil dieses Bündnis das Zusammenwirken der drei mächtigen Alliierten ohnehin regelte und für weitere Allianzen mit kleineren Partnern kaum noch Bedarf bestand.
Im Vorfeld geplanter Eroberungen spielte die Sonderabteilung der Öztömecah genannten Fernkaufleute eine Rolle als Spione. Sie hiessen passend TarnOztomeken (Nahualöztömecah). Vermutlich waren ihre Hauptaufgaben das Ausloten, wie hoch die Wirtschaftskraft der für eine Eroberung ins Auge gefassten Region war, wie das Gelände beschaffen war im Hinblick auf den Anmarsch aztekischer Truppen, wo es geschützte Aufmarschräume gab und wie die Versorgungslage auf dem Weg dorthin beschaffen war.
Sicherung territorialen Besitzes
Aztekische Festungen, die vor allem als Rückzugspositionen im Fall eines feindlichen Angriffs Städte sichern sollten, waren nicht vollständig mit einer massiven Schutzmauer umgeben, wie wir das aus dem mittelalterlichen Europa und aus China oder auch Japan kennen. Und sie scheinen nur in Ausnahmen als Städte umschliessende Bauwerke konzipiert und ausgeführt gewesen zu sein. Eine so starke Befestigung wie in der Alten Welt war schon deswegen nicht nötig, weil Katapulte, Kanonen und andere Fernwaffen mit starker Wirkung den amerikanischen Indianern unbekannt waren. Quauhquechollän verfügte über eine Wallanlage, wie der Eroberer Corts berichtet, ebenso Quetzaltepec. Der Flächenstaat Tlaxcallän war an bestimmten Stellen durch Verteidigungsmauern geschützt, die aus früherer Zeit datierten, als die Herrschaft noch nicht gefestigt war. Der Tempelmauer von Huexötlah wird auch defensiver Charakter zugesprochen. Überhaupt bieten Tempelbezirke durch ihre Mauern und die beschränkte Zugänglichkeit, dann aber auch mit ihren steilen Tempelpyramiden gute Verteidigungsmöglichkeiten. Vereinzelte Festungen in Berglage, also das, was wir aus dem Mittelalter als Burgen kennen, gab es bei den Städten Cuezcömabftlähuacan, bei Tetzcuhco (Tetzcuhtzinco), bei Tepeäpülco, bei Mätlatzinco und bei dem schon erwähnten Quauhquechollän.
Zur Festigung eroberter Gebiete wurden in neu erworbenen Provinzen oder auch schon vor der definitiven Eroberung Garnisonen als Vorposten eingerichtet. Infolgedessen gab es im Verlauf der Expansionsgeschichte des aztekischen Reiches zahlreiche Garnisonen, von denen ich nur die wichtigsten aus spätaztekischer Zeit nenne: Ozturnän, Tölläntzinco (eine Garnison der mit den Azteken verbündeten Tetzcuh kaner), Quauhnähuac, Huäxtepec (ebenfalls eine Garnison der Tetzcuhkaner), Töchtepec, Cöäixtlähuacän und Huaxacac (die letzten beiden seit der Eroberung durch Ilhuicamina). Auch das schon erwähnte Mätlatzinco, dessen Umland im Hochtal von Tölluhcän unter Axäyacatl erobert worden war, beherbergte eine solche Garnison. Einigen Garnisonen standen zwei Beamte vor; wahrscheinlich einer als politischmilitärischer Führer und einer als Tributverwalter. Die militärische Organisation der Garnisonen ist unklar.
Eine andere in vielen Staaten der Welt angewandte Massnahme zur Sicherung eroberter Territorien ist die Umsiedlung der Eroberten und ihr teilweiser) Ersatz durch Bevölkerung aus dem eigenen Kernland oder aus schon länger befriedeten Gebieten. Hiervon machten die Azteken anscheinend nur zurückhaltend Gebrauch. Das Tal von Tölluhcän, das im Wesentlichen unter Axäyacatl erobert wurde, ist eines der wenigen Beispiele, wo diese Strategie deutlich wird. Ein Teil der ansässigen matlatzinkanischen Bevölkerung wurde nach Westen an die Grenze des Reiches umgesiedelt. In das von ihnen verlassene Land liess man mexikanische Sauern nachrücken, und zwar in geschlossenen Verbänden, die ihre neuen Siedlungen dann zum Teil nach ihrem Ursprungsort benannten. So gibt es im ehemaligen matlatzinkanischen Gebiet einen Ort Äzcapötzalco, der von Neusiedlern aus der gleichnamigen früheren TepanekenHauptszadt am Ufer des Sees von Tetzcuhco gegründet wurde. Diese Umsiedlungsmassnahmen sind eine der Ursachen dafür, dass sich die aztekische Sprache, die zur Zeit der Einwanderung der Azteken nach Zentralmexiko dort noch kaum Fuss gefasst hatte, in der Spätzeit auf Kosten lokaler Sprazhen wie denen der Mätlatzincah, der Otömih und anderer alteingesessenen Völker zum dominanten Idiom entwickelt hat und das bis weit in die indoiamerikanische Kolonialzeit blieb.
AUSSENPOLITISCHE NEUORDNUNG ZENTRALMEXIKOS NACH DEM SIEG ÜBER DIE TEPANEKEN
Mit dem Sieg über die Tepaneken ergibt sich die Notwendigkeit, die Machtverhältnisse im Hochtal neu zu ordnen. Inwieweit Itzcöätl hierbei der führende Kopf war oder ob diese Rolle eher dem tetzcuhkanischen Herrscher Nezahualcoyötl zukam, ist ungewiss. Auf alle Fälle entsteht ein politischwirtschaftlich innovativer Dreibund zwischen Tetzcuhco, Tenochtitlan und der alttepanekischen Stadt Tlacöpan (Abb. zo). Die letztgenannte einzubeziehen war ein kluger Schachzug, der es den jüngst unterworfenen alttepanekischen Städten, zum Beispiel Coyöhuahcän und Huitzilöpöchco, erlaubte, sich leichter mit den neuen Oberherren zu identifizieren. In dieselbe Richtung zielte die Massnahme, lokale Herrscherfamilien in den besiegten Städten in ihren Stellungen zu belassen. Die Azteken hatte dabei ja das schlechte Beispiel der Tepaneken vor Augen, die rigoros lokale Herrscher beseitigt hatten, weswegen sie selbst, als sie gegen die tepanekische Oberherrschaft aufbegehrten, leicht Verbündete fanden. Diesen politischen Fehler wollte der neugegründete Dreibund vermeiden.
Die von den Koalitionären aus Tenochtitlan und Tetzcuhco eroberten ehemals tepanekischen Städte, darunter vor allem Coyöhuahcan und Huitzilöpöchco, wurden sofort unter die neue Oberherrschaft gezwungen und einiger Ländereien beraubt. Gründlich geplündert wird aber nur kzcapötzalco, die Hauptstadt der Tepaneken. Sie wird hinfort zum zentralen Sklavenmarkt gemacht, worin Historiker, die dies berichten, eine symbolische Bestrafung seitens der Sieger erkennen wollen.
Der Bedeutung der politischen Neuordnung entsprechend wird das Lied «Xöpancurcatl» ((Frühlingslied)) komponiert, das in ganz Zentralmexiko Ereignis erinnerte. Sein Text, den Alva Ixtlilxöchitl nur auf Spanisch überliefert, ist allerdings schwer verständlich. Er hat etwa folgenden Inhalt:
Wir hinterlassen der ganzen Welt die Erinnerung an die, die dem Reich zu Ruhm verhalfen: Nezahualcoyötzin, Moteuczümatzin und Totoquihuatzin. Eure Erinnerung wird festgehalten und verewigt, die ihr auf dem Thron des Herrn des Nah und Bei Recht sprecht und regiert.(Alva Ixtlilxochitl, Historia Chichimeca, Kapitel 32)
Die Steuereinnahmen in Nachfolge der tepanekischen Herrschaft und das Vorgehen für die Zukunft werden nach anfänglichem Streit, vor allem zwischen Tetzcuhco und Tenochtitlan, genau festgelegt und verzeichnet, um künftig Konflikte zu vermeiden. Tenochtitlan und Tetzcuhco erhalten jeweils 2/5 und Tlacöpan 1 /5 der Steuereinnahmen. Um Grenzstreitigkeiten nicht aufkommen zu lassen, markiert man ausserdem die gemeinsamen Grenzen im Gelände. Karten, auf denen solche Grenzverläufe festgelegt wurden, sind zahlreich erhalten, allerdings nur in Fassungen, die aus der Kolonialzeit stammen, da sie auch unter spanischer Verwal tung als rechtsgültige Dokumente anerkannt wurden. In Südostmexiko sind sie typischerweise auf einem grossen rechteckigen Baumwolltuch aufgezeichnet, weswegen sie Lienzos (d.h. eigentlich (Leintücher)) genannt werden. An den Rändern eines solchen Lienzo ist die Gemarkungsoder Staatsgrenze symbolisch als Trockenmauer aus Feldsteinen dargestellt. An ihr sind hieroglyphenschriftlich besondere Landmarken verzeichnet, so dass man den Grenzverlauf mit einem solchen Tuch in der Hand abschreiten kann. In ihrem Inneren verzeichnet es Orte, Flüsse und Wege. Für den oder die Hauptorte werden auch Auszüge aus den lokalen Fürstengenealogien gegeben. In Tetzcuhco und Mexihco gab es ähnliche Dokumente, die aber wohl auf Agavefaserpapier gemalt waren.
Bei der Nachfolge innerhalb der einzelnen Staaten gelten zwar nach wie vor deren interne Regeln, die Wahl muss aber von nun an jeweils von den beiden anderen Bündnispartnern bestätigt werden, die auch zur feierlichen Investitur anreisen. Dieser Dreibund wurde die Grundlage der raschen Expansion des aztekischen Reiches und hat bis zur Ankunft der Spanier, also fast Ion Jahre lang, Bestand gehabt.
 Dreibundsallegorie. In dieser heraldischen Darstellung des aztekischen Dreibundes sind die beteiligten Staaten Tetzcuhco, Me2dhco und Tlacöpan dargestellt durch ihre Ortshieroglyphen und daneben dem Symbol der Königsherrschaft, dem Türkisdiadem des Tlahtoäni und seiner Sprechvolute, denn das Wort Tlahtoäni bedeutet . Der Anfang des aztekischen Textes darunter erläutert:  [Codex Osuna, Blatt 496 vel 34.]
 Mexiko Tenochtitlan und Tlatilolco mit ihren Stadtteilen
ITZCÖÄTLS INNENPOLITIK
Innenpolitisch verhält sich Itzwatl nicht weniger innovativ als in der Neuordnung der internationalen Beziehungen. Zunächst, hier folgt er wohl Volkes Stimme, werden von ihm die Nachkommen seines Neffen Chimalpopöca wegen dessen Versagen gegenüber dem Feind für alle Zukunft von hohen Staatsämtern ausgeschlossen. Vielleicht war er selbst ja schon aus diesem Grund zu seinem TlahtoäniAmt gekommen, wie ich zu bedenken gegeben habe. Wenn wir einen Blick auf die verzweigte Genealogie der aztekischen Dynastie werfen, wird deutlich, dass die Sippenhaftung für das Versagen Chimalpopöcas, soweit die drei höchsten Staatsämter. die des Tlahtoani, des Tläcateccatl und des Tlacochcalcatl betroffen sind, konsequent eingehalten wurde. Chimalpopöcas männliche Nachfahren verschwinden aus der Dynastie und aus der Staatslenkung und damit auch weitgehend aus der überlieferten Geschichte.
Diese anfangs noch einfache Schichtstruktur wurde im Verlauf wachsender Macht und zunehmenden Wohlstandes unter den folgenden Herrschern weiter untergliedert: Vor allem differenzierte sich der Adelsstand, indem ein Hochadel mit der Bezeichnung Teuctli entstand und am unteren Rand die ebenfalls neue Institution eines Verdienstadels (Quäuhpilli) eingerichtet wurde, als Trittbrett für den Aufstieg von Gemeinfreien zum Adelsstand. In den Verdienstadel wird man nicht hineingeboren, sondern, wie der Name sagt, aufgrund von Verdiensten für den Staat aufgenommen. Die in der Spätzeit des Reiches aufstrebenden Fernkaufleute errangen ihrerseits hohes Prestige und eine gesellschaftliche Ausnahmestellung im Reich. Über sie werde ich in Kapitel VI ausführlich berichten.
Eine strenge Klassen oder gar Kastengesellschaft war der neugegründet Staat also nicht, und er hat sich auch nicht in diese Richtung hin weiterentwickelt. Er blieb immer ein sozial dynamisches Gemeinwesen, das jedem die Möglichkeit eines gewissen gesellschaftlichen Aufstiegs gab. Der Staat der Azteken hat zwar einige Eigenschaften eines Feudalstaates im modernen politologischen Sinn, war jedoch nie ganz dahin gekommen; denn der Adel hatte offensichtlich keine entscheidende politische Macht, obwohl er über Landbesitz und Hintersassen verfügte. Er wurde in der kurzen Zeit des aztekischen Staatswesens anscheinend auch nie eine Bedrohung für die patrimoniale Staatsverwaltung des Tlahtoäni. Der sich unter Itzcöät1 formierende Aztekenstaat ist ein politisches Gebilde sui generis: Er entwickelte, bewahrte und intensivierte eine Prestigekultur. wie man sie oft nur bei sehr viel einfacher strukturierten politischen Gebilden findet. Zwar hat er Ansätze eines Feudalstaates, indem ein erblicher Adel mit Landbesitz und Privilegien institutionalisiert wird; doch entwickelte er den Feudalismus nicht zu einer Gegenmacht zum Königtum, wie wir es aus der Vergangenheit in Europa und China kennen. Was die Spitze des Staates betrifft, blieb das aztekische Königtum ein Wahl
königtum, das das Reich in der Art eines Patrimoniums verwaltet und auf dem Amtscharisma seiner Herrscher gründet. Es hat sich also auch hier nicht zu einem Extrem entwickelt, wie es der europäische Absolutismus darstellte, neigte aber stark zur patrilinearen Abfolge innerhalb einer Familie. In diesen letztgenannten Aspekt scheint er dem vormodernen China und dem Deutschen Reich unter den Habsburgern nicht unähnlich.
Um Konflikten, die über seine radikalen Reformen, vor allem die Landverteilung, entstehen könnten, von vorneherein jede Grundlage zu nehmen, befiehlt Itzcöätl eine umfassende Bücherverbrennung. Nach mündlicher Überlieferung, die Sahagün um 1560 aufgezeichnet hat, geschah das aus folgenden Überlegungen:
Es fand eine Beratung der mexikanischen Herrscher statt, sie sagten: «Es ist nicht nötig, dass jedermann weiss, was schwarz und rot geschrieben steht. Die Last, die Bürde [der Herrschaft] würden dadurch lächerlich gemacht. Und dadurch würde dann nur Aberglauben im Land verbreitet, denn [die Bücher] enthalten viel Falsches.(Sahagün, Historia General, Buch io, Kapitel 29)
Die Bücherverbrennung bestand wahrscheinlich vor allem darin, dass Itzcöätl die tepanekischen Archive von Landbesitzdokumenten und genealogischen Handschriften säubern liess. Danach konnte dann seine sorgfältig protokollierte Neuverteilung von Ländereien nicht mehr angeEbchten werden. Diese einzige verbürgte Bücherverbrennung in altindianischer Zeit hatte gravierende Folgen für die Geschichtsschreibung. Die Zange tepanekische Herrschaft in Zentralmexiko ist deswegen nämlich nur noch durch missgünstige und kursorische Berichte in aztekischen und :etzcuhkanischen Quellen dokumentiert und hat selbst seriöse Historiker 17u verleitet, die Tepaneken als Tyrannen und vor allem ihre beiden letz:en Herrscher Tezozomoc und MBxtla als von Grund auf böse Menschen Darzustellen. Aber auch die Unklarheit im Übergang der Herrschaft von Chimalpopöca auf Itzcöätl, die ich mehrfach erwähnte, mag ihre Ursache
der gezielten Vernichtung früher Staatschroniken aus der TepanekenZeit haben.
Als Itzcöätl im Jahre 144o mit knapp fünfzig Jahren nach r3 jähriger Regierung friedlich starb, hatte er zwar nur eine durchschnittliche Herrs._.haftsdauer gehabt, seine Bedeutung war aber unübersehbar. Als Sieger aber die Tepaneken war er unumstritten, und mit der Gründung des Dreibundes hat er von allen aztekischen Herrschern Zentralmexiko am nachaltigsten verändert. Seine Bedeutung wird noch wesentlich durch die zeschilderten gesellschaftlichen Innovationen im Innern des aztekischen Staates vermehrt. Dies alles gelang ihm nur, weil er ein herausragendes ohtisches Gespür besass. Er war um und weitsichtig, hielt innenpolitihe Konkurrenz ohne manifeste Repression klein und schmiedete nach aussen die richtigen Allianzen. So hat er alle ihm zu Gebote stehenden Mittel innovativ, virtuos und erfolgreich zu handhaben gewusst und dadurch stabile Verhältnissen in Zentralmexiko herbeigeführt, ein Bismarck Mexikos also!
 KONSOLIDIERUNG UND EXPANSION (1440 bis 1502)
Oncan yancuican ompeuh yn hualcallaquia teocuitlatl quetzatti Mit cacahuatl yhuan oc equi necuiltonolli oncan peuh yn ineyollaliz mexicayotl yn ica tlacallaquilli et'.
Da begann es zum ersten Mal, dass Gold, Quetzalfedern, Gummi, Kakao und noch andere Kostbarkeiten nach Mexiko herkamen usw Da begann die Herzerquickung des Mexikanertums durch den Tribut usw. Annalen von Quauhtitlan, § 1076)
 ILHUICAMINA
Im Jahre 1440 wurde Itzcöätls Neffe Motüuczürna Ilhuicamina Chälchiuhtlatönac Quetzaltecolötl Herrscher der Azteken. Er stand im besten Mannesalter, war kriegserfahren und von seinem Onkel wiederholt mit wichtigen Staatsaufgaben betraut worden; eine gute Wahl also. 'dachen wir uns zunächst mit seinen bilderschriftlichen Namen vertraut Abb. 21). Die aztekischen Dokumente geben meist nur den Bestandteil Ilhuicamina wieder, der in altindianischer Zeit als der charakteristischste seines langen Namens galt.
 Namenshieroglyphe lihuicarninas. Ein rechteckiges quergeteiltes Feld ist mit allerhand geometrischen Elementen gefüllt. Es symbolisiert den Himmel mit seiner blauen Farbe (unterstes und oberstes Band), einigen Sternen (rote Punkte im mittleren Band) und Regentropfen (Muscheln), die vom unteren Band herabhängen. Schräg von unten dringt in den Himmel (Ilhuica) ein Pfeil (Mina) ein. [Ausschnitt aus Colecciön Mendoza, Teil I, Blatt 7v.]
Durch die bildliche Gestalt der Namenshieroglyphe wird der aztekische Satz Ilhuicamina () ausgedrückt. Damit ist aber nicht ein Tun des Herrschers selbst gemeint, sondern es wird auf die Umstände seiner Zeugung angespielt, die ich in Kapitel IV.4 unter seinem Vater Huitzilihhuitl geschilderte habe. Da Legende und vorspanische Namenshieroglyphe gut übereinstimmen, können wir sicher sein, dass die Legende im Kern altindianisch ist und nicht Erfindung eines anekdotischen Schriftstellers der Kolonialzeit. Damit wissen wir aber noch nicht, ob das hieroglyphische Bild seines Namens den Anlass für die Legende gab oder ob die Legende Ursprung des Namens war und die bilderschriftliche Darstellung geprägt hat.
 Sein Namensbestandteil Moteuczama, der sowohl in den kolonialzeitlichen Quellen als auch in der modernen Literatur häufiger verwendet wird als Ilhuicamina, ist sprachlich so zu verstehen: Zilma ist ein Verb der Bedeutung . Das einleitende Mo zeigt einen Rückbezug an; das heisst . Zwischen diese beiden Verbkomponenten ist das Hauptwort Teuc eingefügt, das  bedeutet. Der ganze Verband bedeutet daher . Wegen der ungewohnten Abfolge von Buchstaben und ihrer Aussprache wurde Moteuczama in europäischen Sprachen schon früh zu Moctezuma und dann zu Montezuma verballhornt, und so ist der Name auch in die deutsche Folklore und Literatur eingegangen.  ist selbstverständlich ein passender Name für einen Herrscher, jedoch nicht für eine Kleinkind oder einen heranwachsenden Jungen. Und so mag in seiner Jugend zunächst Ilhuicamina sein Hauptname gewesen sein, während der Zuname Moteuczama ihm vielleicht erst anlässlich seines Herrschaftsantritts beigelegt wurde. Allerdings ist in den Quellen nirgends von einem Ritus der Neubenennung anlässlich seiner Inthronisation die Rede, so dass diese Annahme spekulativ bleibt. In anderen Indianerkulturen, zum Beispiel der der klassischen Maya, ist die Umbenennung bei solchen wichtigen Übergängen im Leben hingegen belegt. Der Namensbestandteil Moteuczama wird, wenn er hieroglyphenschriftlich ausgedrückt werden soll, bildlich durch das Türkisdiadem des aztekischen Herrschers und den herrscherlichen Türkis oder Bernsteinlippenpflock in Goldfassung dargestellt.
Sein dritter Namensbestandteil Chälchiuhtlatönac wird in den Quellen nur selten genannt. Sein Bezug ist göttlicher, mythischer Art, nicht genealogischer oder ereignisgeschichtlicher. Er setzt sich aus dem Wort für Jade (Ch älchiuh) und dem Verbalnomen (Tiatönac) (der erleuchtet), , zusammen. Chälchiuhtlatönac war in altindianischer Zeit ein beliebter Name für Herrscher und Adlige. Auch ein Vorfahre Ilhuicaminas hatte ihn schon getragen. Sein vierter Name, Quetzaltecolötl ( beigegeben. Sein voller Name lautet also Huehueh Moteuczüma Ilhuicamina Chälchiuhtlatonac Quetzaltecolötl. Ich nenne ihn hinfort kurz Ilhuicamina.
Ilhuicamina wurde um 1396 als Sohn des zweiten Herrschers Huitzilihhuitl geboren. Zunächst wuchs er in ruhiger, von der Oberherrschaft der Tepaneken geprägter Zeit auf. Erst als er schon oberster Heerführer, Tleicateccatl, unter seinem Onkel Itzcöät1 war, wurde auch er in den Strudel des von Azcapötzalco befohlenen Eroberungskrieges gegen Tetzcuhco gezogen.
Auf einem dieser Kriegszüge geriet Ilhuicamina 1428 zusammen mit drei anderen aztekischen Spähern in Gefangenschaft einer mit den Tepaneken verbündeten Fraktion der Tetzcuhkaner. Der Feind wusste nicht ;echt, was er mit seinen hochrangigen Gefangenen machen sollte. Einerseits hatte man gewichtige Geiseln in der Hand, andererseits musste man die Rache der Azteken fürchten, wenn man sie in Haft behielt. Wegen dieser Unsicherheit wurden die Gefangenen zunächst nach Chälco wei:ergereicht. Die Chalkaner, stets für eine Provokation gegen die Azteken zut. sperrten Ilhuicamina und seinen Begleiter Tepolomitzin ein und hät:en sie ganz nach dem Vorbild, wie Mäxtla mit Chimalpopöca verfahren war, verhungern lassen oder vielleicht spektakulär geopfert, wenn den Gefangenen nicht nachts göttliche Hilfe zur Flucht zugekommen wäre. Die Gefängniswärter, von der Gottheit Yohualli (der Name selbst bedeu:et Nacht>) instruiert, öffneten das Gefängnis,  und wiesen ihnen den Weg zur Flucht. So entkam Ilhuicamina mit knapper Not aus chalkanischer Gefangenschaft, und es gelangten nach Tenochtitlan zurückzukehren. Alvarado Tezozomoc schilderte letzte Etappe der Flucht folgendermassen:
Und dann liessen sie sich in Tetzcuhco nieder, in einer gewissen Schlucht, Tetzillacatitlan. Es dämmerte schon, die Vögel zwitscherten schon. Und der Herr Moteuczamatzin sprach dann zum Telpochtzin [d.i. sein Begleiter Tepolomitzin]: «Ich habe Durst.» Dann ging der Telpochtzin, um mit einer Kaktusschale Wasser zu schöpfen, woraus der Ilhuicaminatzin trank. Sie blieben dort, wo sie versteckt waren, in Tetzillacatitlan noch einen Tag und schliefen dort noch einmal. Und als der Tag anbrach und die Vögel schon sangen, machten sie sich gleich in der Morgendämmerung zu dem Ort auf, der Nextonquilpa heisst. Dann riefen sie einen Fischer, der sich in einem Boot befand. Sie sprachen ihn auf Aculhuahkanisch an und sagten zu ihm: «Bring dein Boot her!» Aber der Fischer dachte, als er sie rufen hörte, dass ihn vielleicht seine FischerFreunde riefen, weswegen er das Boot zu ihnen ans Ufer brachte. Dann stürzten sich die mexikanischen Prinzen auf das Boot. Sie schlugen den Fischer nieder und warfen ihn ins Wasser, so dass er sich mit denen vermengte, die sie auf dem Wasser verfolgten. So erreichten sie Tepetzinco, das gegenüber von Chälco liegt, wo sie sich abermals niederliessen. Als sie von dort wieder aufbrachen, gingen sie dann nach Mexihco Tenochtitlan in den Palast zu seinem Onkel, dem Herrn Itzcöätzin, dem Herrscher. Dann berichtete der Ilhuicaminatzin seinem Onkel Itzcöätl, was ihnen in Chälco im Palast des Herrschers Toteoci Teuctli Tequachcauhtli während achtzig Tagen geschehen war und wie sie geflohen und nach Hause zurückgekehrt waren.(Alvarado Tezozomoc, Moteuczumas Flucht, §§ 294o)
Den anschliessenden Befreiungskampf gegen die Tepaneken hat Ilhuicamina dann wieder als Militärführer an der Seite seines Onkels Itzcöät1 und anderer Verbündeter, darunter vor allem der Tetzcuhkaner,
macht. Er blieb noch etwa zehn Jahre in dieser Stellung, bis er selbst 144o inthronisiert wurde. Ganz oben auf seiner Agenda stand nun, Rache für die Gefangenschaft in Chälco zu nehmen. Der Angriff auf die Chalkaner schon im folgenden Jahr führte aber nicht zum Erfolg. Auch die in den Jahren 1446 und 1455 wiederholten Versuche brachten keine Siege. Erst 1465 gelang es, Chälco niederzuringen und in Abhängigkeit des inzwischen erstarkten aztekischen Staates zu zwingen. Möglicherweise ist der endgültige Sieg wesentlich dem Verbündeten Tetzcuhco zu verdanken, denn der Historiker Alva Ixtlilxöchitl stellt in seiner  den Sieg über die Chalkaner als ganz eigene Unternehmung Tetzcuhcos dar. Lavollendet gebliebenen Tempel fertigzustellen. «So sei es! Es ist schon ist. So möge es geschehen», gab er ihnen zur Antwort; und sie erhielten sogar zusätzlich Nahrungsmittelhilfe.
Der Sieg über Chälco war auch willkommener Anlass, in TenochtiLan einen grossen Opferstein in Form eines Mühlrades aufstellen zu lassen. Es ist einem seltenen Glücksumstand zu verdanken, dass dieser Stein 1988 unversehrt in den Fundamenten des kolonialzeitlichen erzbischöflichen Palais in MexikoStadt ausgegraben wurde. Er gehört zu den bedeutendsten archäologischen Funden der letzten Jahrzehnte, vor allem, weil seine bildlichen und bilderschriftlichen Darstellungen mit anderen Quellen verknüpft werden können (Abb. 22). Dem Anlass seiner Aufstellung entsprechend trägt er auf der Peripherie die symbolische Darstellung aztekischer Siege über elf Städte: Cülhuahcän, Tenänco, Xöchimilco, Chälco, Tamazollän, Acülhuahan, Tepanohuayän, Tlatilolco, Teötitlan, Pöctlän und Cuetlaxtlän. Historisch ist die Liste schwierig zu interpretieren, denn sie umfasst nicht nur Eroberungen Ilhuicarninas, sondern auch einige seiner Vorgänger, und sie führt nicht nur die uns am wichtigsten erscheinenden Siege auf, sondern auch weniger bedeutende. Das Auswahlkriterium für den Siegesbericht auf dieser repräsentativen Skulptur bleibt damit vorerst ein Rätsel und warnt uns, nicht von unserer Auffassung von politischer Geschichte und der Bedeutung bestimmter Ereignisse leichtfertig auf die Sichtweise der Azteken zu schliessen. Die Einweihung dieses Opfersteines geschah öffentlich mit Menschenopfern.
 Ilhuicaminas Opferstein.Abgebildet ist einer der elf auf der Peripherie des Steines dargestellten Siege der Azteken. Linker Hand identifiziert ein Vögelchen vor der Stirn des erobernden sztekischen Kriegers diesen allegorisch als Stammesgottes Huitzilöpöchtli. Der Name bedeutet . In der Rechten hält der Krieger hinter seinem Rücken den Rundschild, drei Speere und eine Papierfahne. Von seinem rechten r7u13stumpf steigt Rauch auf. Das ist ein Kennzeichen des Kriegsgotts Tezcatl boca, dessen Name  bedeutet, wobei hier der Spiegel am Fassstumpf nicht dargestellt ist. Der siegreiche Azteke wird also gewissermassen von den beiden mächtigsten Göttern seines Pantheons Huitzilöpöchtli und Tezcatl boca geschützt. Mit der Linken greift er den leicht vornübergebeugten Gegner,er mit Speerschleuder in der Rechten und zwei Speeren in der Linken bewaffnetam Schopf. Ihn kennzeichnet die spitze Mütze seines Stammesgottes Yopi. Hinter seinem Kopf weist ihn die Hieroglyphe für Chälco als Repräsentant dieses Staates aus.
TEMPEL UND PRIESTER
Auch die Erweiterung des Haupttempels von Tenochtitlan gehörte zu den vorrangigen Prestigebauvorhaben Ilhuicamimas. Der Bedeutung dieses Vorhabens gemäss begann er damit schon 1441, dem Jahr nach seiner Inthronisation. Man bat hierfür alle Untertanenstaaten und befreundeten Herrschaften der Umgebung um Unterstützung mit Rohmaterial, vor allem Bausteinen und Arbeitskräften. Damit zeigte der neue Herrscher handgreiflich, wer das Sagen im Hochtal hatte. Später beteiligte er sich im Gegenzug an Tempelbauvorhaben in Tlatilolco und Tetzcuhco und genehmigte ein ähnliches Bauvorhaben im inzwischen unterworfenen Chälco.
Die Form von Tempelanlagen, wie sie Ilhuicamina gestalten liess, ist aus archäologischen Grabungen bekannt. Neben Tenochtitlan, dessen Haupttempelbezirk ich in Kapitel II vorgestellt habe, kennen wir vor allem die Anlage in der Schwesterstadt Tlatilolco. Sie wurde in den 194oer Jahren freigelegt und restauriert. Ausserdem sind der Haupttempel im nahe gelegenen ehemaligen tepanekischen Tenänyücän sowie der grossen Tempel bei in Cholüllän, einer altehrwürdigen und bedeutenden Pilgerstätte im benachbarten Hochtal von Tlaxcallän, erhalten. Von kleineren Anlagen in Provinzstädten sind Acatitlan (das heutige Santa Cecilia), am Nordufer des Sees von Tetzcuhco, der Teöpantzolco bei Quauhnähuac, wo der ganze Tempelbezirk ausgegraben und restauriert ist, und der auf einem Felsen hoch über Tepoztlän gelegene und deshalb besonders gut erhal:ene Tepozteco in Morelos beeindruckende Bauwerke, die man heute roch besichtigen kann. Tempelanlagen an kleineren Orten und in der Provinz sind deshalb besser erhalten, weil die spanische Zerstörung dort acht so gewütet hat wie in der Hauptstadt. Doch haftet allen archäologisch erschlossenen und restaurierten Tempelbezirken der Mangel an,  meist nur der Unterbau der Anlage mit Mauerresten erhalten ist, wahrend die durch skulptürliche Ausgestaltung und äusseren Schmuck aussagekräftigeren Oberbauten zerstört sind. Auch von der Möblierung mit Götterbildern und Kultgeräten ist gar nichts erhalten, ebenso wie der innere Wandschmuck nur in kleinen Resten überliefert ist.
Über die archäologisch verlorenen Aspekte der Tempelaufbauten geben immerhin tönerne Modelle summarisch Auskunft (Abb. 23). Aufgrund ihrer geringen Grösse und ihrer einfachen Ausführung zeigen solche Tonmodelle aber nur die Gestalt des Oberbaus, die Form des Daches, eventuell noch die Ausstattung mit einem Opferstein und die Identifizierung des in ihm verehrten Götterbildes durch vereinfachte Symbole, nicht jedoch Einzelheiten des Skulpturschmucks und der Bemalung.
Sehr viel genauer schildern bilderschriftliche und buchstabenschriftliche Quellen den Tempel und seine Ausschmückung; und das besonders aussagekräftig, wenn Bild und Wort verbunden werden, wie in der Darstellung Sahagüns, der sich um 1559 in dem kleinen von Tetzcuhco abhängigen Ort TepEäpulco den Haupttempelbezirk dieser Stadt bildlich aufzeichnen und mündlich in aztekischer Sprache erläutern liess (Abb. 24).
Den Tempelbezirk begrenzt eine Ummauerung, Croatepäntli (wörtl. Im Zentrum des Tempelbezirkes steht der Haupttempel selbst: Er ruht auf der obersten Plattform einer Stufenpyramide. Von Westen führt eine breite Treppe auf die obere Plattform hinauf. Auf ihr steht der meist im Verhältnis zur Baumasse des Unterbaus kleine Tempel mit Cella und dem Opferstein (Techcatl) vor ihrem Eingang. Bei den Azteken war dieser Tempel immer ein Doppeltempel, da die Götter Huitzilöpöchtli und Tläloc dort nebeneinander verehrt wurden. Die beiden Tempelcellen sind parallel zueinander angeordnet, und die hinaufführende Treppe wurde demgemäss zweizügig angelegt. Die OstWestAusrichtung der aztekischen Tempel, die wir auch in anderen Religionen, zum Beispiel im Christentum, finden, hat mit dem Weltbild zu tun und richtet sich grob nach den Auf und Untergangspunkten der Sonne.
 Tonmodell eines aztekischenTempels.Auf einem niedrigen Sockel erhebt sich in vier Grossstufen ein rechteckiger Pyramidenstumpf. An einer Seite führt eine achtstufige breite Treppe mit beidseitigen Wangen zu seiner oberen Plattform. Auf dieser ragt ein hohes Gebäude empor, dessen einziger Raum sich mit einer breiten Tür zur Treppe hin öffnet. Am Türrahmen sind die Laibungen und der Türsturz angedeutet. Dieses Haus wird von einem hohen Dachkamm überragt, der in einem Rechteckfeld mit einem Muster aus runden Steinen und Totenschädeln verziert ist. Zuoberst schliessen drei stilisierte Schnecken den Dachkamm zinnenförmig ab. Das Gebäude selbst ist an seinen Seiten und hinten (nicht sichtbar) auf halber Höhe durch einen Sims gegliedert. Zwischen Tempeleingang und Treppe ist auf dem flachen Vorplatz eine kleine Wölbung zu erkennen. Sie stellt den Stein dar, über dem Menschenopfer ausgebreitet wurden, um ihnen das Herz zu entnehmen. [Museo Nacional de Antropologia, Mexico
Um Priester unterzubringen, verfügt der Tempelbezirk über ein Calmecac, das auch zugleich eine öffentliche Schule war, wie ich sie in Kapitel IV geschildert habe. Ein Calpülli (wörtl. Je nach der Bedeutung des Tempelbezirks und der Riten, die darin abzuhalten sind, können eine Opferstätte für das Herzopfer (Quäuhxicalco, wörtlich ), und ein Ballspielplatz (Tlachco), hinzu kommen. Häufig ziert den Tempelbezirk auch eine Schädelstätte (Tzompantli). Das ist eine steinerne Plattform, auf der ein Holzgerüst mit Querstangen errichtet wird, um dort die Schädel Geopferter kompakt zur Schau zu stellen. Eine solche Schädelstätte ist unverzichtbar, wenn im betreffenden Tempelkult Menschenopfer vollzogen werden. Aus Calpalalpan in Tlaxcallän ist eine solche Schädelstätte archäologisch dokumentiert, die deswegen bemerkenswert ist, weil man an ihr auch Pferdeschädel gefunden hat. Es war also ein Schädelgerüst, das in den Eroberungskämpfen gegen die Spanier in Gebrauch war, und an dem neben den Schädeln der geopferten Spanier auch die ihrer Pferde zur Schau gestellt wurden. Die genannten Gebäude machen den Grundbestand jedes zentralen Tempelbezirkes aus. Weitere Gebäude können hinzutreten, je nach Bedeutung und Funktionen des Tempelbezirks.
Priesterschaft
Im Tempelbezirk erfüllt eine differenzierte Priesterschaft im Wesentlichen Aufgaben des Götterkultes. Sowohl Frauen als auch Männer können Priester werden. Die Geschlechter verfolgen jedoch getrennte Laufbahnen und haben wohl auch verschiedene Aufgaben zu erfüllen. Ich beschränke mich im Folgenden auf die Ausbildung, Laufbahn und Aufgaben männlicher Priester, weil für sie reichhaltigere Quellenaussagen vorliegen.
Bereits 20 oder 4o Tage nach der Geburt weihen die Eltern ihr neugeborenes Kind dem Gott Tezcatl Ipoca in Anwesenheit eines für diesen Gott zuständigen Priesters. Der so Geweihte beginnt dann als Bub von vier Jahren seinen Tempeldienst auf der untersten Stufe der priesterlichen Hierarchie, als «kleiner Räucherpriester» (Tlamacaztöntli), wir würden sagen als Novize. Die Aufgaben des Tlamacaztöntli sind einfache Dienste im Tempel, vor allem das Fegen und Besprengen des Bodens mit Wasser; das Vorbereiten der Opfergefässe und Opferinstrumente; das Holzholen im Wald; das Sammeln von Agavedornen, die in grosser Zahl für die Selbstkasteiung gebraucht werden, das Blasen des Muschelhorns und das nächtliche Anrühren schwarzer Farbe, die die Priester zur Körperbemalung in ihren Ritualen brauchen. Zunächst gilt dieser Aufgabenkanon für die Dauer, in der der Priesterzögling im Jungmännerhaus (Telpochcalli) erzogen und ausgebildet wird.
Will er danach Priester bleiben und die weitere Laufbahn einschlagen, wird ein Übergangsritus veranstaltet, durch den er Räucherpriester (Tlamacazqui) wird. Seine Aufgaben sind dann ähnlich wie zuvor: AgavedornSammeln, wie wir es schon von den Tlamacaztöntli gehört haben; ausserdem KiefernzweigeSammeln. Diese werden in vielen Ritualen zur Ausschmückung der Tempel gebraucht, und diese Arbeit ist erfahrenen Tlamacazqui vorbehalten; das MuschelhornBlasen, das auch schon als Aufgabe für die Tlamacaztöntli genannt wurde, gehört weiterhin zum täglichen Dienst. Auf dieser Stufe beginnt die Spezialisierung der Priesterberufe in den Priester für niedere Dienste (Tlamacazqui Ieicahuan), den Sängerpriester (Tlamacazqui Curcani) — wir würden Kantor sagen — und andere Spezialisierungen und Ränge, entsprechend den Lehrinhalten der Schulen und der späteren Tätigkeit der Priesterzöglinge. Eine enge Anbindung besteht auch zum Militär, denn es gibt Kriegsdienst leistende Priester (Tlamacaztequihua). Durch Dienstalter kann man vom Räucherpriester zum Feuerpriester (Tlenamacac) aufsteigen, der für das Neufeuer zuständig ist und nach den zahlreichen Schlachten, die die Azteken führten, die siegreich heimkehrenden Krieger mit ihren Gefangenen durch Beweihräuchern empfängt.
Der Mexihcatl Teöhuahtzin () und der Tepan Teöhuahtzin (Alle 52 Jahre, d.h. wenn nach der Vorstellung der Azteken ein «Jahrhundert» zu Ende gegangen ist und die ganze Welt sich erneuert, findet die Bestätigung der lokalen Herrschaft durch die Priesterschaft von Cholüllän statt. Das heisst, die regionalen Herrscher pilgern zu diesem Zweck nach Cholallän. Von Tenochtitlan aus ist das eine Zweitagereise nach Osten, bei der man allerdings eine Passhöhe überwinden muss, will man den kürzesten Weg einschlagen. Die dortige Pyramide ist deswegen auch eine der grössten und prunkvollsten in Mexiko gewesen, und ihre Reste ragen noch heute als gewaltiger menschengemachter Berg aus der Hochebene von Tlaxcallän auf. Seit der Kolonialzeit krönt ihn eine christliche Kirche.
 Der aztekische Tempelbezirk von Tepjäpulco. Innerhalb eines mit Mauern umfriedeten Rechteckes, mit breiten Eingängen auf drei Seiten, befinden sich verschiedene Gebäude und Priester. Die Mitte nimmt der Doppeltempel ein, von dessen Opfersteinen Blut geopferter Menschen strömt. Vor diesem Haupttempel bringt ein schwarz bemalter Priester, der, nach seinen Fussspuren zu schliessen, soeben aus dem Priesterhaus linker Hand herausgetreten ist, auf einer niedrigen Plattform ein Rauchopfer dar. Er hält in einer Hand die Tasche mit Weihrauchkügelchen. Darunter ist das Schädelgerüst angedeutet — hier sind nur zwei menschliche Schädel an ihm befestigt. Und wiederum darunter ist der Grundriss eines Ballspielplatzes mit seinen zwei seitlichen Ringen, durch die der Ball getrieben werden muss, zu erkennen (Vgl. Abb. 44). Vier weitere Gebäude und vier Götter oder Priester in Göttertracht, zum Teil mit ihren Kalendernamen, vervollständigen das Bild. Sahagün hat es um 1559 in der kleinen Stadt Tepeäpülco im ehemaligen Staat von Äcülhuahcän von Indianern malen lassen. Es stellt also nicht, wie im Schrifttum oft behauptet wird, den Haupttempelbezirk in Tenochtitlan oder Tetzcuhco dar, sondern eine bescheidenere provinzielle Anlage; und diese auch nur in Auswahl der Gebäude und dort beschäftigter Priester. [Sahagün, Primeros Memoriales, Blatt 269.]
 Viele Tempel verfügen, wie schon gesagt, über Schulen, in denen Kinder ausgebildet werden. Diese Kinder stehen während ihrer Ausbildung dem Tempel und der dortigen Priesterschaft für Hilfsarbeiten zur Verfügung, und sie bilden zugleich das Reservoir des Priesternachwuchses. Die Erziehung ist streng auf Askese und Abhärtung gegenüber Entbehrungen und Schmerzen ausgerichtet. Ein Indianer, der selbst noch in einer Schule für Adlige in Tetzcuhco ausgebildet wurde — sie heisst dort Tläcatecco ((Herrenhaus)) —, schildert den Tagesablauf folgendermassen:
Als ich aufwuchs, wurden die Söhne der Herrscher, die Buben, dort im Tläcatecco unterrichtet und erzogen. Persönlich kümmerten sich der Herr Tecuepotzin, der Cihuäcöät1 und der Oberpriester, der Hohepriester Quetzalcöät1 um sie. Genau dann, wenn die Nacht sich teilt, liessen sie sie aufstehen. Überall versprengten sie Wasser, fegten sie. Darauf brechen sie zum Waldesrand auf, von wo sie Fichtenzweige und Farnwedel forttragen, mit denen sie alles im Tempel ausschmücken ... Darauf waschen sie sich, baden sie sich, auch wenn es sehr kalt ist. Nachdem es über der Erde hell geworden war, wenn es bereits Tag war, trafen sie überall ihre Vorbereitungen, indem sie alles herrichteten. Dann werfen sie ihnen jeweils ein oder vielleicht, wenn sie etwas grösser sind, zwei Stück altes Fladenbrot auf die Erde hin. Wie kleine Hunde behandeln sie sie. Und wenn sie gefrühstückt haben, beginnen sie damit, sie zu unterrichten, wie sie leben sollen, wie sie gehorchen sollen, wie sie andere respektieren sollen, dass sie sich dem Guten und Rechten widmen sollen, und dass sie das Schlechte, das Unrechte, die Schurkerei und die Völlerei meiden und fliehen sollen. All das an Weisheit und Verständigkeit empfingen sie und vernahmen sie dort.
Und sehr schrecklich und furchtbar war es, wie sie bestraft wurden, wenn sie etwas auch nur ein bisschen falsch gemacht hatten. Sie hängten sie auf und setzten sie ChilliDämpfen aus, sie schlugen sie mit Brennnesseln, sie verprügelten sie mit dem Stock. In ihre Waden, in ihre Ellenbogen, in ihre Ohren stachen sie Agavedornen. Sie drückten ihnen den Kopf übers Feuer und sie sengten sie an. Und genauso schickten sie sie um die Mittagszeit, wenn die Sonne richtig sengte, zum Waldrand. Holzspäne und Kiefernspäne trugen sie von dort weg. Genau in der Weise läuft man, geht man hintereinander her: Niemand albert oder schubst den anderen; alle laufen vernünftig, gehen ehrerbietig und respektvoll. Und schon nach kurzer Zeit kommen sie zurück. Und wenn sie angekommen sind, ist es noch einmal genauso, dass sie ihnen zu essen geben. Nur werfen sie ihnen jeweils ein oder zwei Stück altes Fladenbrot auf die Erde hin, mit denen sie ihr Mittagessen bestreiten.
Und nachdem sie gegessen haben, beginnen sie noch einmal, sie zu unterrichten; und auch alsbald die einen, wie sie kämpfen sollen oder wie sie jagen sollen, in welcher Weise sie mit dem Blasrohr umgehen sollen oder wie sie Steine schleudern sollen. Ganz und gar machen sie sich kundig im Umgang mit dem Schild, mit dem Schwert und mit dem Pfeil, mit dem Speer, der mit dem Katapult geschleudert wird. Ferner machten sie sich damit vertraut, wie man mit dem Netz, mit der Schlinge umgeht. Andere wurden in den verschiedenen Kunsthandwerken unterrichtet, in der Federarbeit; mit Federn, mit Quetzalfedern arbeitet man. Ferner wurden sie in der Türkisklebekunst, im Giessen von Edelmetallen, im Schneiden von Grünedelsteinen, im Polieren unterrichtet; ausserdem im Malen, im Holzschneiden und in weiteren verschiedenen Kunsthandwerken. Andere wurden im Komponieren von Gesängen, in der Wahl der Worte, in der Kunst, die da Trommel und Rassel heisst, sich nennt, unterrichtet. Ferner wurden sie in der Himmelskunde unterrichtet, nämlich wie sich die Sonne, der Mond und die Sterne bewegen, und über das, was da als NeunfachÜbereinandergeschichtetes bezeichnet wird. Ausserdem wurden sie in dem sogenannten Gottesbuch unterrichtet, das von dem sprach, der der Allgegenwärtige, der Schöpfer ist ... Wiederum andere führen sie aufs Feld oder in die Gärten, um ihnen beizubringen, wie sie säen sollen, wie sie Bäume pflanzen sollen, wie sie Blumen pflanzen sollen oder wie sie Feldarbeit verrichten sollen.
Ganz und gar brachten sie ihnen all das bei, worüber sie Bescheid wissen mussten: Arbeit, Kundigkeit, Verständigkeit, besonnene Lebensweise ... Und alle So Tage begaben sie sich dorthin ins Tläcatecco, alle So Tage vernahmen sie die Rede des Herrn, des Herrschers Äcölmiztli Nezahualcoyötl, wo ihnen der Herr Tecuepotzin Ermahnungen erteilte, wo er sie scharf zurechtwies.
Und genauso wuchsen die gemeinen Untertanen, die Buben auf, die dort im Calmecac, und im Telpochcalli erzogen wurden, und die kleinen Mädchen, die dort im FrauenTempel, in dem die Büsserinnen, die fastenden Frauen für sich waren, erzogen wurden.(Discursos en Mexicano, §§ 214 bis 247)
 Tempel waren in Mexiko, ähnlich wie im Zweistromland, im alten Ägypten und im mittelalterlichen Europa, auch wirtschaftliche Unternehmungen. Sie waren in unterschiedlichem Umfang vor allem dadurch autark, dass sie Land besassen, dessen Erträge zu ihrer Nahrungsmittelversorgung dienten. Die TempelLändereien und finanzen werden vom Temnölteitctii () verwaltet.
 VERSORGUNG DER BEVÖLKERUNG UND UMWELTPROBLEME
Weniger der politischen und religiösen Demonstration als der Befriedigung grundlegender Lebensbedürfnisse der Bevölkerung diente der 1465 nach der Erweiterung des Haupttempels in Tenochtitlan und dem siegreichen Abschluss des ChälcoKrieges begonnene Bau der 13 Kilometer langen Wasserleitung von Chapultepüc nach Tenochtitlan. Wir erinnern uns, schon um 1425 hatte Chimalpopöca dieses dringende Bauvorhaben in Angriff nehmen wollen, war jedoch am Widerstand Äzcapötzalcos gescheitert, in dessen Gebiet Quellen gefasst werden sollten und durch dessen Territorium das Aquädukt verlaufen musste (Kapitel IV). Inzwischen waren die Machtverhältnisse aber so, dass die Azteken von Tenochtitlan keinerlei politischen Widerstand seitens Äzcapötzalcos mehr zu fürchten hatten. Infolgedessen konnten sie das Bauvorhaben jetzt problemlos durchführen, wobei ihnen Nezahualcoyötl, der Herrscher von Tetzcuhco, half.
Ein Vergleich mit römischen Aquädukten drängt sich hier geradezu auf. In beiden Fällen geht es darum, Trinkwasser zur Versorgung bevölkerungsreicher Städte durch bergiges Gelände zu führen. Die Römer konnten für den Bau von Hochbrücken zur Überwindung von Schluchten die Technik des echten Gewölbes einsetzen, was eine enorme Ersparnis von Baumaterial bedeutete und die Überbrückung von breiten und tiefen Tälern möglich machte. Der Pont du Gard in Südfrankreich ist ein heute noch beeindruckendes Bauwerk dieser Art. Die Azteken kannten das Prinzip des echten Gewölbes nicht und mussten ihre Aquädukte auf massiven Mauern führen. Für den Fall, dass eine Schlucht zu tief oder zu breit war, um sie horizontal zu überbrücken, hatten die Römer das Prinzip der Druckwasserleitung in geschlossenen Röhren entwickelt und grosstechnisch umgesetzt. So konnten sie Wasser ohne zusätzliche Technik wie z. B. Schöpfräder, allein mit der potentiellen Energie des Gefälles streckenweise ansteigen lassen. Die Azteken waren in Unkenntnis dieser Technik, die im Übrigen die Verwendung geschlossener Röhren voraussetzt, gezwungen, nur solche Quellen zu fassen, deren Trasse keinen zu grossen Höhenunterschied, vor allem keine abrupten Steigungen bis zum Zielort aufwies. Dieser Vergleich zeigt uns, dass die Azteken und mit ihnen alle voreuropäischen Indianerkulturen den Zivilisationen der alten Welt, seien es nun Römer oder Chinesen, technisch unterlegen waren. Lediglich indianische Kunsthandwerker haben damals, was die Qualität ihrer Produkte betrifft, Weltniveau erreicht. Es ist im Lichte dieser Feststellung vielleicht kennzeichnend, dass zwar Kunsthandwerk nicht jedoch Ingenieurswesen in den indianischen Schulen unterrichtet wurde.
Das Siedeln in einem abflusslosen Hochtal von über 2000 Metern Meereshöhe birgt Umweltprobleme, die sich mit der Vermehrung der Bevölkerung zuspitzen mussten. Mexiko blieb daher nicht von Naturkatastrophen verschont: Überschwemmungen, vor allem durch übermässigen Regen verursacht, der an den stark abgeholzten Berghängen nicht mehr ausreichend gespeichert wurde, waren eine immer wiederkehrende Gefahr für die Hauptstadt des Reiches, denn Tenochtitlan war auf niedrigen Felseninseln mitten im See gegründet worden und hatte sich inzwischen durch Landgewinnung weit in die seichten Seegewässer ausgebreitet. Überall standen die Häuser nur wenig über dem Wasserspiegel des grossen abflusslosen Sees. Die umgebenden Berge, im Osten bis zu 55oo Meter hoch aufragend und mit ewigem Eis gepanzert, liessen ihr Regen und Schmelzwasser zum grossen Teil in dieses Seebecken abfliessen und sandten auch schon einmal, wenn einer seiner Gipfel, der Popöcatepetl, ein auch noch heute tätiger Vulkan, ausbrach und seine Eiskappe abschmolz, in Sturzbächen viel Wasser zu Tal. Dadurch stieg der Wasserspiegel des Sees, vor allem wenn nachhaltige und ergiebige Regen hinzukamen, so stark an, dass die Stadt überschwemmt wurde und das brakige Wasser aus dem östlichen Teil des Sees nach Westen und Südwesten drückte, wo die Chinämpa genannten Gemüse und Blumenbeete dann durch Versalzung Schaden nahmen. Es wurden also nicht nur die Häuser beschädigt, sondern auch ein grosser Teil der Nahrungsmittelversorgung wurde bei einer solchen Naturkatastrophe vernichtet.
 Eine solche Situation war 1449 eingetreten. Ilhuicamina ging das Problem energisch und mit Umsicht an. Er beriet sich zunächst wieder mit Nezahualcoyötl von Tetzcuhco, und beide zusammen entwickelten den Plan eines grossen nordsüdlich verlaufenden Seedeiches, der das östliche Überschusswasser von der Stadt Tenochtitlan abhalten sollte.
Der Deich (s. Karte 4) von über to Kilometern Länge wurde unter enormen Anstrengungen sogleich in Angriff genommen. Zunächst mussten Holzpfähle tief in den Untergrund gerammt werden, zwischen die dann Steine gepackt wurden. Die Arbeiten im und unter Wasser waren technisch nicht besonders schwierig, da der See nur seicht ist. Die Hauptarbeitskraft musste für das Herbeischaffen zunächst der Baumstämme aus den Bergwäldern und dann der Bruchsteine ebenfalls aus den umliegenden Bergen eingesetzt werden. Beide Materialien waren erst in Entfernungen von über to Kilometern erhältlich. Aus heutiger Sicht erkennen wir die Ironie des Schicksals darin, dass eine Not (Überschwemmung) mit Massnahmen (weitere Abholzung der Berghänge für die beim Dammbau benötigten Pfähle) bekämpft wurde, die ihrerseits zur Steigerung des Risikos, bald in noch grössere Not (noch höhere Überschwemmungen) zu geraten, beitrugen. Eine nachhaltige Teillösung des Problems ist dann auch erst 400 Jahre später gelungen. Sie hat im Zusammenwirken mit der weiterhin ungebremsten Abholzung der Bergwälder zur Verschlechterung des Mikroklimas im nun allmählich austrocknenden Hochtal geführt, so dass MexikoStadt heute für empfindliche Augen und Lungen eine der ungesündesten Städte der Welt geworden ist.
 Ein moderner Maisspeicher.Bis in die Gegenwart haben sich die traditionellen Maisspeicher in ländlichen Gegenden Zentralmexikos gehalten. Auf breiten Steinplatten als Sockel etwas vom Untergrund erhaben, damit keine Bodenfeuchtigkeit eindringen kann, ist ein topfartiger Hohlkörper errichtet, der oben mit einem dichten Strohdach geschlossen ist, um das Eindringen von Regenwasser zu verhindern. Den Mais kann man durch eine breite Öffnung im Dach einfüllen und entnehmen.
Einer, Ilhuicaminas jüngerer Bruder und zugleich sein oberster Heerführer, Zacatzin, schloss sich den gemeinsamen Anstrengungen nicht an; sei es, dass er von der Effizienz des Bauwerkes nicht überzeugt war, sei es, dass er sich als Kommandierender General bei Zivilbauten für nicht zuständig hielt. Seine Motive kennen wir nicht. Was aus der Situation aber deutlich wird, ist, dass er seinen herrscherlichen Bruder öffentlich provozierte, indem er sich, für alle vernehmbar, in seinem Palast dem Trommeln und dem Gesang hingab, während ganz Tenochtitlan unter der Arbeit am Deich stöhnte:
Und er, der Vater, der Zacatzin der Ältere, der Tläcateccatl, herrschte, wie schon gesagt, als Tläcateccatl bei seinem älteren Bruder Moteuczuma dem Älteren, Ilhuicamina. Und damals, in der Zeit, als er herrschte, errichtete man den alten Steindeich, der ganz im Wasser steht. Er stand dort in der Gegend von Tepetzinco, ist aber heute schon verschwunden. Als aber unsere Welt überschwemmt wurde, kamen die verschiedenen Leute von überall, den Steindeich zu bauen und zu errichten. Überall rief der Moteuczüma der Ältere Ilhuicamina, Leute dazu auf. Und als sie schon arbeiteten, sang und trommelte er, Zacatzin der Ältere, Tläcat8ccatl, immerzu in seinem Haus. Und als der Herrscher Mot8uczfima der Ältere es mit eigenen Ohren hörte, sagte er: «Wer singt dort ständig, und wer trommelt?» Nachdem sie das gehört hatten, sprachen sie zu ihm: «Er ist es, dein Statthalter, der Tläcat8ccatl Zacatzin der Ältere.» Daraufhin sprach der Herrscher Moteuczrima nochmals: «Und was werden sie, alle unsere NähuaLeute, dazu sagen, die Leute von Änähuac, die es hören, die hierher gekommen sind, um zu arbeiten, die uns beschämt haben? Er soll sterben, und dann verbrennt den Grobian!» Dann töteten sie ihn gleich und brannten das Haus Zacatzins des Älteren nieder. Es geschah auf Befehl seines älteren Bruders, Moteuczäma Ilhuicaminas.(Crönica Mexicayotl, §§ 249a250a)
Eine solche Provokation konnte und wollte Ilhuicamina offensichtlich nicht dulden, daher liess er seinen Bruder töten und ersetzte ihn als General durch seinen eigenen Sohn Iquehuac.
Es blieb aber nicht bei dieser Wassersnot. Schon wenige Jahre später, 1450 bis 1455, verursachten wiederholte Frosteinbrüche verheerende Missernten, so dass die Azteken zu Tausenden Hungers starben. Wenn sie noch die Kraft dazu hatten, wanderten sie in die Küstenländer zu den Totonaken und Huaxteken aus, wo sie sich als Sklaven verdingten und so wenigstens überleben konnten. Ähnliche, allerdings meist auf ein bis höchstens zwei Jahre beschränkte klimatisch bedingte Missernten hatte es zwar immer wieder gegeben, und fast kein Herrscher war von ihnen verschont geblieben. Die jetzige war allerdings bei weitem die verheerendste, die die Stadt und das Tal je erlebt hatten. Man hatte zwar Vorsorge durch das Anlegen von staatlichen Lebensmittelreserven, im Wesentlichen Mais (Abb. 25), getroffen, und diese Vorräte liess Ilhuicamina im zweiten und dritten Hungerjahr an die Bevölkerung austeilen, nachdem die zunächst ausgesprochene Steuerbefreiung keine wirksame Abhilfe geschaffen hatte. Doch reichten die Lebensmittel nicht aus, um die Not grundlegend zu lindern.
Diese Hungerjahre blieben daher tief im kollektiven Gedächtnis der Azteken verankert. Man gab ähnlichen Katastrophen fortan die Namen: Necetöchhuia () ansprach, oder man nannte sie Netotonacahuia ((man vertotonakt sich>) nach dem verzweifelten Versuch, durch Auswanderung ins Land der Totonaken dem Hungertod zu entrinnen. ][456 kam dann endlich ein besonders fruchtbares Jahr mit reicher Ernte, so dass das Volk sich wieder erholte.
HÖHEPUNKT UND ENDE DER HERRSCHAFT ILHUICAMiNAS
Für die politische und wirtschaftliche Entwicklung bedeutsamer als diese lokalen zivilen Bauvorhaben und die Überwindung von Naturkatastrophen war zweifellos Ilhuicaminas Plan der Ausdehnung des Reiches nach Südosten. Im Norden waren kaum reiche Länder zu gewinnen, denn dort begann nicht weit von der Hauptstadt entfernt die Steppe, in der weder bevölkerungsstarke Menschengruppen lebten noch intensive Landwirtschaft betrieben werden konnte. In die direkt benachbarten Küstenländer am Golf von Mexiko vorzudringen hatten die Hochlandbewohner damals offenbar keinen besonderen Drang, zumal Schifffahrt kein wirtschaftlicher oder militärischer Faktor im altindianischen Amerika war und Seeprodukte bei den Azteken nicht sonderlich begehrt waren. Da der Drang zur Küste, den andere Staaten in der Geschichte verspürten, hier also keine Rolle spielte, war die nächstliegende Option für die Ausdehnung, im zentralen Bergland nach Süden und Südosten vorzustossen. Hierfür ist Ilhuicamina berühmt. Ich will jedoch nicht die in den Quellen höchst verworren dargestellte und eintönige Chronik seiner Eroberungen beschreiben, sondern lieber an einer gut verbürgten Episode aus dem wichtigsten Feldzug nach Südosten ein persönliches Licht auf den Herrscher und Kriegsherrn werfen.
 Cmixtlähuaan, etwa 200 Kilometer südöstlich von Tenochtitlan gelegen, war eine bevölkerungsstarke, ausgedehnte und reiche Herrschaft multiethnischer Prägung. Dort lebten Zapoteken, Mixteken, ChochoPopolucah und Azteken nebeneinander, und dort trafen sich internationale Handelswege. Mancher mexikanische Fernkaufmann war hier schikaniert, wenn nicht sogar seiner Waren beraubt worden. Comixtlähuacäns Herrscher trug als einziger ausser dem Mexikaner von Tenochtitlan den Titel GrossKönig (Huh: Tlahtoäni). Ätönal, so sein verkürzter aztekischer Name, herrschte dort, als Ilhuicamina 1456, unmittelbar nach überstande ner Hungersnot, einen ersten Angriff wagte. Zwei Jahre hintereinander blieb der Angriff der Azteken, die sich mit Tetzcuhkanern und Truppen aus mehreren Orten des Hochtales von Tlaxcallän als Verbündeten verstärkt hatten, erfolglos, und sie mussten ihre Angriffe mit hohen Verlusten bezahlen. Erst im dritten Jahr gelang es ihnen, Ätönal zu besiegen und im Kampf zu töten.
Cmixtlahuacän war nun direkt in aztekischer Hand, und indirekt war es auch die grosse Provinz mit ihren Steuereinnahmen, über die Ätönal geboten hatte. Nachdem zur ersten Sicherung der Eroberung eine aztekische Garnison eingerichtet worden war, wollte Ilhuicamina den neuen Besitz auch politisch konsolidieren, indem er die Witwe Atönals seinem Gefolge als Ehefrau oder Konkubine einverleibte. Hier greift wieder die Fabulierlust der Azteken ein, die eine hübsche Legende um diese eigentlich alltägliche politische Absicht rankt:
Fünf Kaninchen (1458): In diesem Jahr erklärte Moteucznmatzin der Ältere den Krieg, indem er in den Krieg zog, um die Leute in Cöäixtlähuacan zu unterwerfen. Damals herrschte dort der grosse Herrscher Ätönal. Er sammelte dort den Tribut von überall an der Küste ... Man sagt aber, dass, als der Ätönal gestorben war, die, die seine Frau gewesen war, die sehr dick war, ergriffen und nach MexihcoTenochtitlan hergebracht wurde. Der Herrscher MotEucztinna aber wollte sich ihr nähern, wollte ihr beiwohnen. Sie aber wurde einfach ohnmächtig, so dass er ihr nicht beiwohnte. Man sagt aber, dass diese Frau zwischen ihren Schenkeln eine geglättete Jade vor ihrer Scham liegen hatte etc. Und dann schickte der Herrscher Moteuczüma der Ältere sie zurück, dass sie dort den Tribut von überall sammeln solle. So wurde sie Frau Magazinverwalterin, als diese Stadt Cöäixtlähuacän schon erobert war. (Annalen von Quauhtitlan, §§1o691070 & 10721074)
Wenn Ilhuicamina seine Kriegszüge und politische Verwaltung stets so zäh, zielstrebig und mit kluger Mässigung gepaart unternahm, verwundert es nicht, dass ihm insgesamt gesehen eine überaus erfolgreiche Erweiterung des Reiches gelang und er vor allem mit der Einverleibung der Tributprovinz Cmixtlähuacan den Grundstock für die weitere Expansion nach Südosten unter seinen Nachfolgern Ähuitzötl und MotEucznma gelegt hat.
Wann Ilhuicamina daran dachte, sein wesentlich erweitertes Reich innenpolitisch und rechtlich zu konsolidieren, wissen wir nicht. Es wird aber in vielen Quellen betont, dass er Gesetze erliess, die zu befolgen und zu bewahren auch seine Nachfolger bemüht waren. Er führte in seinem Reich also so etwas durch, wie es in Europa die Gesetzeswerke Iustinians für Rom oder Napoleon Bonapartes für Frankreich und die später eroberten Länder leisteten, die jeweils ein einheitliches und den früheren Zuständen überlegenes Zivilrecht zur Konsolidierung ihrer Staaten schufen. Napoleons Gesetzeswerk wirkt übrigens bei uns und in Frankreich noch heute nach, und als «Römisches Recht» ist sogar die Erinnerung an Iustinians Reform von vor über 1500 Jahren noch lebendig. Gesetze zu erlassen und zivile wie auch politische Rechtssicherheit zu begründen lag allen vorspanischen Herrschern am Herzen. So ist Ähnliches wie für Ilhuicamina auch für Nezahualcoyötl von Tetzcuhco überliefert, und schon Ilhuicaminas Vorgänger Itzcöätl hatte innenpolitisch ordnend gewirkt (Kapitel V). Das Problem ist nicht der unbestreitbare Vorzug solcher ordnender Eingriffe, sondern mehr die Frage, wie diese Gesetze und ob sie überhaupt kodifiziert, also schriftlich festgelegt wurden. Da das Bilderschriftsystem Zentralmexikos Sprache nicht wörtlich wiedergeben kann, können es nur bildliche Andeutungen gewesen sein. Und selbst hierin waren die Azteken weit weniger fortgeschritten als ihre tetzcuhkanischen Nachbarn. Vielleicht handelte es sich bei der aztekischen Gesetzgebung unter Ilhuicamina also um Bilderhandschriften, in denen materielle Aspekte des Rechts, wie Ränge, Titel, körperliche Strafen und Ähnliches kodifiziert war, während die Rechtsnormen und Handlungsanweisungen selbst mündlich tradiert wurden.
Nach allen innen und aussenpolitischen Erfolgen und den überstandenen Naturkatastrophen entwickelte sich auch bei Ilhuicamina mit dem Alter das Gefühl, sein Lebenswerk vollendet zu haben, und das Bedürfnis, diesem angemessenen, bleibenden Ausdruck zu verleihen. Er kam, vielleicht durch seinen Freund Nezahualcoyötl angeregt, auf den Gedanken, sich in Überlebensgrösse an der östlichen Felswand des ChapultepecBerges porträtieren zu lassen. Hierfür hätte er keinen besseren Ort wählen können, denn es gibt nur wenige geeignete Felsen nahe der Hauptstadt. Der einzige andere Ort, der in Frage kam, wäre der TepEtzinco (später «Petiol de los Barios» genannt) gewesen. Das ist ein Felsen östlich der Hauptstadt, an dem heisse Quellen entspringen, woher sich der spätere spanische Name  herleitet. Von ihm geht nach Norden und Süden Ilhuicaminas und Nezahualcoyötls grosser Seedeich aus. Doch der Tepazinco war seit alters ein Ort des Kultes für die Regen und Wassergötter Tläloque und Chälchiuhtlicue; und von der Stadt aus war er damals nur mit dem Boot zu erreichen. Nach Chapultepec hingegen gelangte man von Mexihco leichten Fusses über eine Dammstrasse. Dort auch verdichtete sich die politische Geschichte der Azteken. Die Azteken waren nach ihrer langen Wanderung in Chapultepec erstmals sesshaft geworden und erlitten dort im Jahre 1299 die herbeste Niederlage ihrer Geschichte, als sie mit List vertrieben wurden und ihr Führer, Huitzilihhuitl der Ältere, mit seinen beiden Töchtern in Gefangenschaft nach Cülhuahcän verschleppt wurde. Gehen wir noch weiter in der Geschichte zurück, spricht für Chapultepec auch die Legende, dass sich dort die geheimnisvolle Höhle Cincalco befindet, in die sich der letzte toltekische Herrscher Huemac aus Kummer über den Niedergang seines Reiches zurückzog, um dort den Freitod zu wählen. An diesem geschichtsträchtigen Ort liess Ilhuicamina sein Ebenbild in Stein meisseln.
 Die Eroberung von Cöaixtlähuaccin.Das von einem spanischen Schreiber als «coayxtlahuacan» überschriebene Bild zeigt einen brennenden und einstürzenden Tempel, vor dem der Herrscher Atönal (durch eine aztekische Namenshieroglyphe und eine spanische Beischrift identifiziert) leicht vornüber geneigt mit geschlossenen Augen, also als in sich zusammengesackter Toter, sitzt. Unter ihm ist die aztekische Hieroglyphe für den Ort Cöäixtlähuacän geschrieben, die aus einer mit Augen (Ix) besetzten Schlange (Cött) und aneinandergereihten rechteckigen Feldern (Ixtlähua) zusammengesetzt ist. Das abschliessende Ortssuffix (cän) ist hieroglyphisch nicht wiedergegeben. [Ausschnitt aus Colecciön Mendoza, Teil I, Blatt 7v.]
Das grosse Einverständnis, das zwischen den beiden Staatslenkern der Azteken und Tetzcuhkaner, Ilhuicamina und Nezahualcoyötl, bestand, findet seinen Ausdruck auch in Liedern bzw. dramatischen Singspielen. Besonders bewegend tritt es in einem Lied hervor, das Nezahualcoyötl am Krankenlager Ilhuicaminas vortrug, um ihn mit seinem Gesang zu trösten. Es beginnt:
Sieh mich an, ich bin gekommen, ich, die weisse Blume, ich die Krähe. Ich bin es, Nezahualcoyötl. Mein erhobener Blumenfächer aus Quetzalfedern lässt Blüten herabregnen. Ich komme aus Äcülhuacän. Höre mein Lied, das ich vortragen will. Ich komme, [dich] Moteuczüma zu trösten: Tatatili, papa papapa, ah chala chala chala.(Cantares mexicanos, Lied 79)
Nach 29 erfüllten Regierungsjahren starb Ilhuicamina 1469 eines friedlichen Todes im gesegneten Alter von etwa 7o Jahren. Zuvor hatte er seine Nachfolge so geregelt, dass es nach seinem Tod nicht zu Fraktionskämpfen kam, wie sie vor allem für den Nachbarstaat Tetzcuhco notorisch waren und wie sie auch zum Niedergang der TepanekenHerrschaft geführt hatten. In dieser Hinsicht waren und blieben die Azteken allen anderen frühen Staaten Altamerikas überlegen.
Seine drei Neffen Tizocic, Axäyacatl und Ähuitzötl sollten in geeigneter Folge die Herrschaft weiterführen. Warum er seine beiden Söhne, Iquehuac und Mächimaleh, von der Nachfolge ausgeschlossen sehen wollte, bleibt allerdings ein Rätsel, denn beide waren nicht durch Unfähigkeit oder Behinderung aufgefallen, und beide haben ihn überlebt. Den noch schreiben verschiedene Quellen, dass Ilhuicamina bei seinem Tod keinen legitimen männlichen Erben hinterlassen habe. Der spätere Chronist Torquemada, der Iquehuac immerhin erwähnt, lässt viel Tinte fliessen, um diese Anomalie in der Nachfolge vernünftig zu begründen, ohne dass mich seine Argumente überzeugen.
Bei dieser etwas ungewöhnlichen Nachfolgeregelung hakt auch eine subtile, wo Jahre später durchgeführte Geschichtsfälschung ein, mit der sich Ilhuicaminas weibliche Nachkommen und deren eingeheiratete spanische Sippschaft in der Kolonialzeit Privilegien erhofften. Das betreffende Dokument, der «Origen de los mexicanos», behauptet, dass eine Tochter Ilhuicaminas, Ätotoztli mit Namen, seine direkte Nachfolgerin wurde, bevor dann seine Enkel, die zugleich Kinder dieser Tochter waren, an die Reihe kamen. Um diese ungewöhnliche Herrschaftsabfolge zu begründen, versucht das Dokument durch fadenscheinige Behauptungen kultureller Muster der Verwandtenheirat mit entsprechender Übertragung von Erbrechten den behaupteten Sachverhalt plausibel zu machen, wohl wissend, dass kein authentisches bilderschriftliches Dokument diese Version stützt. Da die direkte Ausübung von Herrschaft durch eine Frau zu unplausibel klingt, wird deren Ehemann, Tezozomoc, als Regent konstruiert. Dieser Fälschungsversuch ist insofern interessant, als hier Geschichte geschickt so zurechtgebogen wird, dass ausschliesslich tatsächliche und verbürgte Personen angeführt werden, deren verwandtschaftliche Beziehungen ebenfalls zutreffend dargestellt sind. Die Fälschung besteht, für den uninformierten Leser nicht erkennbar, lediglich in der Behauptung und Begründung einer weiblichen Erbfolge, wie es sie nicht gab, und in der stillschweigenden Einfügung einer unspezifizierten kurzen Zeitspanne, in der diese Erbfolge in Kraft gewesen sei, bevor sie wieder in die allgemein anerkannte und gut dokumentierte patrilineare Bahn zurücksprang. Diese Geschichtsfälschung wirft übrigens ein bezeichnendes Licht auf die Bedeutung, die man Ilhuicamina noch fast ioo Jahre nach seinem Tod zubilligte.
Mit Ilhuicamina, dem fünften offiziellen Herrscher, erreicht das AztekenReich in mehrerer Hinsicht einen Höhepunkt. Mit 29 Regierungsjahren hat er von allen seinen Vorgängern und Nachfolgern am längsten geherrscht. Er war ausserdem ein bedeutender Tempel und Städtebauer und geniesst als erster seiner Dynastie eine breite und detaillierte Berichterstattung in den Quellen. Aussenpolitisch glänzte der Dreibund in seiner Zeit dadurch, dass er die Bundesgenossen in einer Allianz gleichrangiger, einander wohlgesonnener Partner zusammenhielt und dass Ilhuicamina sein Verhältnis zum Tlahtoäni von Tetzcuhco, Nezahualcoyötl, besonders eng gestaltete, so dass beide in zivilen und militärischen Belangen aufeinander zählen konnten. Diese enge Partnerschaft bewährte sich weit über den Tod Ilhuicaminas hinaus.
ÄXAYACATL, DER RASTLOSE KRIEGER
Axäyacatl war der jüngste von drei Söhnen des Prinzen HuChueh Tezozomoc und dessen Ehefrau Ätotoztli, einer Tochter des vorangegangenen Herrschers Ilhuicamina. Da Axäyacatl schon um 144o geboren wurde, sah Ilhuicamina ihn ebenso wie dessen beide Brüder, Tizocic und Ahuitzötl, noch heranwachsen und sich in staatlichen Aufträgen, vor allem kriegerischer Art, bewähren, so zum Beispiel im Jahre 1466 bei der Eroberung von Tepeyacac und Quäuhtinchan im östlich benachbarten Hochtal von Tlaxcallän. Ilhuicamina entschied daher beizeiten, dass diese seine drei Enkel ihm in der Herrschaft nachfolgen sollten und nicht seine beiden Söhne Iquehuac und Machimaleh. Dass dabei der jüngste, nämlich Äxäyacatl, seinen älteren Brüdern vorgezogen wurde, wird von Torquemada mit dessen hervorragenden militärischen Fähigkeiten begründet.
Für einen der bedeutendsten Herrscher der Azteken ist es verwunderlich, dass er nur einen Namen geführt hat und nicht wie sein Vorgänger und die meisten anderen noch Beinamen trug. Äxäyacatl bezeichnet in der aztekischen Sprache ein kleines Insekt, das am oder im Wasser lebt und dessen Eier, wenn das Tier sich stark vermehrt, einen weisslichen Schaum auf der Wasseroberfläche bilden. Dieser Eierschaum kann abgeschöpft werden und ist als eiweissreiche Nahrung geniessbar und gesund .
 Als Axäyacatl 1469 inthronisiert werden sollte, entschied man sich, den fälligen Feldzug zur Beschaffung von Kriegsgefangenen für die festlichen Menschenopfer gegen Tlatlauhquitepec an der atlantischen Abdachung östlich der Hauptstadt zu führen. Es sollte sozusagen eine Erweiterung der Eroberungen von Quäuhtinchan und Tepeyacac werden, die unter ihm als Prinz gemacht worden waren. Das Unternehmen setzte voraus, dass man das zwischen den genannten früheren Eroberungen und der Zielregion gelegene Territorium des feindlichen Staates Tlaxcallän nördlich umgehen musste. Trotz dieses Umwegs war der Feldzug erfolg reich, und mit den Gefangenen konnten die Inthronisationsfeierlichkeiten durch Menschenopfer gebührend gefeiert werden.
 Namenshieroglyphe Axäyacatls. Die Hieroglyphe für Axäyacatl bildet nicht das Insekt oder seine Eier ab, sondern setzt eine andere etymologische Deutung des Namens voraus. Sie macht zwar keinen Sinn, zerlegt den Namen aber in zwei bilderschriftlich leicht darstellbare Bestandteile: A  und Xäyacatl . Der Namensbestandteil A  wird mit einem Wasserstrom, der in Tropfen und Schneckenhäuser ausläuft, wiedergegeben, der Namensbestandteil Xäyacatl  mit einem Menschenkopf im Profil. [Ausschnitt aus Colecciön Mendoza, Teil I, Blatt Tor.]
Politisch wichtiger als der Inthronisationsfeldzug gegen die abgelegene Provinz Tlatlauhquitepöc war aber, dass Äxäyacatl bereits im gleichen Jahr Krieg gegen die Nachbarstadt Tlatilolco begann. Seit die Mexikaner auf mehreren Inseln im See des Hochtals sesshaft geworden waren, nach ihrer eigenen Tradition war das um 1325, waren sie in zwei Gruppen gespalten: Die Tlatilolkaner siedelten dort zuerst und besetzten die nördlichen, etwas höher aus dem See sich erhebenden flachen Inseln, während die später ankommenden Tenochkaner die südlichen bevölkerten. Offene Rivalität brach solange nicht aus, als beide abhängig von der Grossmacht Azcapötzalco waren. Tlatilolco war dabei der enger mit der azcapotzalkanischen Dynastie verknüpfte Staat, der ihr dementsprechend auch in den Anfangen des allgemeinen Aufstandes um 1428 noch länger die Treue hielt als die Tenochkaner. Doch nachdem der tepanekische Herrscher Mäxtla ihren eigenen Herrscher Tlahcateötzin umgebracht hatte, kämpften auch sie an der Seite der Tenochkaner und trugen so zum endgültigen Sieg über die Tepaneken bei. Danach wurde Tlatilolco jedoch nicht an dem unter der Führung von Itzcöätl und Nezahualcoyötl gebildeten Dreibund beteiligt. Warum die beiden Staatslenker es vorzogen, Tlacöpan anstatt Tlatilolco in ihren Bund aufzunehmen, bleibt rätselhaft. Die naheliegendste Vermutung ist die, dass Tlatilolco militärisch keinen hervorragenden Beitrag zu diesem Kampf beigesteuert hatte und Tlacöpan die nun unterworfenen Tepaneken in den neuen Bund integrieren helfen sollte, da es selbst eine alttepanekische Stadt war.
Auch in den folgenden Jahrzehnten ist Tlatilolco an den wiederholten Kriegen und an der Expansion des Dreibundes kaum beteiligt gewesen. Nur zweimal wird seine militärische Hilfe erwähnt: Einmal auf der Seite der Tetzcuhkaner und bei der endgültigen Eroberung Chälcos 1465 auf der Seite der Azteken. Tlatilolco scheint den Schwerpunkt seiner Entwicklung mehr auf die kommerzielle Durchdringung Mexikos durch Fern und Markthandel gelegt zu haben, als das sein unmittelbarer Nachbar tat, der sich auf Eroberungen und anschliessende Abschöpfung von Abgaben ausrichtete.
Dass zwei benachbarte Gemeinwesen, jedes mit eigenen Interessen, im gleichen Grossraum nicht auf Dauer konfliktfrei koexistieren können, liegt auf der Hand. Schon Ilhuicamina hatte das erkannt, so dass er um 1466 einen Grenzkanal zwischen den beiden Städten graben liess und ausserdem seine Enkelin Chälchiuhnenetzin mit dem Herrscher von Tlatilolco, Moquihuix, vermählte. Nun, unter Äxäyacatl, eskalierte aber der Konflikt trotz oder gerade wegen der engen Heiratsverbindung der beiden Staaten. Die Quellen sind widersprüchlich in Hinblick darauf, welche Seite 1469 den Krieg vom Zaun gebrochen hat. Sie sind sich aber darin einig, dass die schlechte Behandlung der Schwester des Äxäyacatl, Chälchiuhnenetzin, durch ihren Ehemann, Moquihuix, ein Anlass war. Moquihuix vernachlässigte seine Ehefrau, die ihm bereits ein Kind geschenkt hatte, das sie zu Ehren ihres Bruders Äxäyaca nannte, nicht nur sexuell, sondern kassierte auch die Geschenke, die sie aus Tenochtitlan von ihrem Bruder bekam, und verteilte sie unter seinen Konkubinen. Chälchiuhnenetzin ging leer aus, war ärmlich gekleidet, wurde aus dem Palast verstossen und musste in der Küche schlafen.
Die adlige Dame Chälchiuhnenetzin war die ältere Schwester des Herrn und Herrschers von Tenochtitlan, Axäyacatzin. Der Herrscher von Tlatilolco, Moquihuix, hat sie gefreit. Aus dieser Verbindung wurde ein Kind namens Äxäyaca geboren. Es trug den Namen seines Onkels. Er aber, der Teconal hatte auch eine Tochter. Die nahm der Moquihuix auch noch und machte sie zu seiner Frau. Und seither hatte Moquihuix Abscheu vor der Prinzessin, die die ältere Schwester des Äxäyacatzin war. Er ging nicht mehr zu ihr. Nur beim Reibstein schlief sie immer. Und was ihr der Herrscher Äxäyacatzin an Röcken und Blusen hinschickte, davon liess der Moglaubt nichts sehen; alles versteckte er nur [vor ihr]. Und die adlige Dame Chälchiuhnenetzin befahl daraufhin den Tepecocatzin, einen Adligen aus Tlatilolco, Einwohner von Quahuecatitlan, her [und] sprach sogleich zu ihm: «Grossväterchen, richte dem Herrn und Herrscher, meiner Herrschaft Axäyaca aus, dass ich sehr arm [dran] bin! Nichts mehr [habe ich], was man braucht, nur noch einige Lumpen. Nur beim Reibstein lässt er das Kindlein Äxäyaca schlafen.» Daraufhin kam der genannte Tepecocatzin, es dem Herrscher Äxäyacatzin auszurichten. Und obwohl Äxäyacatzin hörte, was seine ältere Schwester ihm ausrichten liess, hielt der Herrscher Äxäyacatzin es einfach nicht für wahr. Er sagte nur: «So ist es wohl nicht.» Und der genannte Tepecocatzin ging dann, es der adligen Dame [und] älteren Schwester Äxäyacatzins auszurichten, dass der sie einfach schon ganz aufgegeben habe.
Nachdem die Strategie, ihren Bruder mit einem Appell an die Familienehre zum Handeln zu bewegen, nicht fruchtete, verfiel sie auf eine politische Argumentation, die ihn als Herrscher nicht unbeeindruckt lassen konnte:
Nach einigen Tagen aber rief die adlige Dame Chälchiuhnenetzin abermals den genannten Adligen Tepecocatzin [zu sich] und sprach sogleich zu ihm: «Geh nur nochmals und richte dem Herrscher Äxäyacatzin aus, dass Moquihuix bereits über Krieg spricht; dass er [seine Pläne] schon in Teöcalhueyacän, in Töltitlan [und] in Quauhtitlan dargelegt hat; dass er den Leuten schon Schilde und Schwerter gegeben hat. Ich habe das, was er sagt, gehört; man berät sich nachts. Richte ihm [dem Äxayacatzin], aus, dass [Moquihuix] in der Tat sagt, dass er uns Mexikaner, Tenochkaner vernichten will! Nur von hier in Tlatilolco aus soll regiert werden.» Und der Tepecocatzin kam und richtete es aus.
Diese Argumentation hatte sofortigen und durchschlagenden Erfolg:
Dann sagte der Äxäyacatzin: «Meine ältere Schwester soll herkommen!» Dann kam sie und liess sich hier bei ihrem jüngeren Bruder Äxayacatzin nieder. Er gab ihr 8000 Lasten grosser Decken und Maisspeicher in Tölluhcän, in Metepec, in Tlacotepec, in Tepemaxalco, in Callimanyän [und] in Tenänco. Man berichtet nicht genau, wieviel Nahrung in den Speichern war. Er sprach zu ihr: «Hier [hast du] etwas, das du verkaufen kannst, und etwas, das du dem Kind zu essen geben kannst.» So begann es, dass der Krieg gegen Tlatilolco in Bewegung geriet.
Sicherlich ist das eine ausgeschmückte und überzeichnete Darstellung, der aber vielleicht ein Kern von Wahrheit eigen ist. Beide Herrscher hatten erst vor kurzem die Regierung übernommen, waren also in der Lebensphase, in der sie, heissblütig und auf schnelle Erfolge fixiert, zeigen wollen, wozu sie fähig sind. Für keinen war es ein einfaches Unterfangen, denn beide Seiten gingen wohlvorbereitet in die Auseinandersetzung und hatten jeweils Verbündete um sich geschart. Vier bis fünf Jahre dauerte die Auseinandersetzung, bis Äxäyacatl den Krieg mit der symbolträchtigen eigenhändigen Tötung Moquihuixs beendete. Moquihuix hatte sich zusammen mit seinem kommandierenden General und Schwager Teconal auf seine Tempelpyramide gerettet, während am Fuss derselben Äxäyacatl schon mit seinen Truppen stand und ihn zum Herunterkommen und mannhaften Kampf aufforderte:
Aber der Äxäyacatzin rief ihm zu und sprach zu ihm: «Komm herab, Moquihuix. Dann sprach auch noch der Herrscher von Tlacöpan, Chimalpopöca, zu ihm: «Komm herab, Moquihuix! Soll der Herrscher [Xxeacatt] hitt stehen und hemmschleien?»
Moquihuix wagte das jedoch nicht, so dass Äxäyacatl, einer seiner Offiziere namens Quetzalhuah oder der Herrscher von Tlacöpan, Chimalpopöca, selbst die Pyramidenstufen hinaufstürmte und seinem Gegner den Todesstoss versetzte, worauf dieser die Tempelpyramide hinabrollte. Auch hier gibt es offensichtlich von den Gegnern ausgeschmückte missgünstige Erzählungen, die erwähnen, dass Moquihuix sein Leben mit dem Angebot eines Kruges voller Jadeschmuck erkaufen wollte:
Lass mich in Ruhe! Ich will dir den ganzen Topf voll Grünedelsteinen geben, den ich besitze. (Alvarado Tezozomoc, Tlatilolco, §§ 8182)
Wie immer auch die Ereignisse, die zum Tod Moquihuixs führten, genau verliefen, Äxäyacatl ging aus der Auseinandersetzung als glänzender Sieger hervor. Die Azteken versäumten es nicht, ihre Gegner zusätzlich zu demütigen: Sie opferten den bereits toten Moquihuix durch Herzextraktion öffentlich und trieben die Bürger Tlatilolcos ins Schilfrohr am Rande der Stadt, um sie zu erniedrigen, indem sie sie dort im seichten Wasser untertauchen und wie Enten quaken liessen und dann erst von ihnen abliessen. Ein zweiter Bericht schildert dieses Geschehen nur unerheblich anders; nämlich dass die Tlatilolkaner sich als Enten getarnt im Schilf versteckt hatten, dort von den Azteken entdeckt wurden und dann zur Demütigung quaken mussten. Dieses dramatische Geschehen am letzten und entscheidenden Tag des Krieges wurde seither als symbolischer Kampf an der ehemaligen gemeinsamen Grenze zwischen Jugendlichen beider Stadtteile jährlich nachgespielt. Obwohl die Behörden in der Kolonialzeit diese Scheinkämpfe verboten und zu unterdrücken versuchten, fanden sie noch bis ins 1g. Jahrhundert regelmässig statt.
Tlatilolco wurde fortan gemeinsam von zwei Statthaltern regiert, die der Herrscher von Tenochtitlan einsetzte. Es waren ein Tläcatjccatl und ein Tlacochcalcatl, also zwei mit den höchsten Titeln des Reiches ausgezeichnete Beamte. Darin drückt sich das Gewicht dieser Eroberung aus. Denn Tlatilolco war dank seines entwickelten Fernhandels und Marktwesens damals vermutlich der wohlhabendere Staat. Der Sieger von 1473 setzte eine hohe jährliche bzw. vierteljährliche Steuer fest, die Tlatilolco zahlen musste, annektierte einige Ländereien und verteilte sie an seine Klientel, wie es nach entscheidenden Siegen im unmittelbaren territorialen Umfeld der Hauptstadt üblich war.
Mit diesem Sieg gab sich Äxäyacatl jedoch nicht zufrieden. Eingedenk der Tatsache, dass manche Fürsten der näheren Umgebung auf der Seite der Tlatilolkaner gekämpft hatten oder neutral geblieben waren, lässt er noch im selben Jahr einige von ihnen als Verräter hinrichten, darunter Xilömantzin von Colhuahcän, Cihuänenemitl und Tlahtolätl von Cuitlahuäc und Quäuhyacatl von Huitzilöpöchco. Später ermordeten seine Häscher auch noch den Xihuitl Temöc von Xöchimilco, mit dem Äxäyacatl kurz zuvor noch friedlich Ball gespielt hatte. Er ersetzte ihn durch seinen eigenen Sohn Yopi Huehued und begründete damit auch dort eine mit dem Herrscherhaus von Tenochtitlan direkt verbundene Dynastie. Dies alles gemahnt sehr an die 5o Jahre zuvor von den Tepaneken praktizierte Politik der offenen und verdeckten Königsmorde, und es zeigt, wie weitgehend Politik und konkretes Handeln der verschiedenen Herrscher Zentralmexikos sich im engen Rahmen gemeinsam tradierter Verhaltensmuster bewegten, worauf ich in Kapitel VIII ausführlich eingehen werde.
Wenn die Datierung der Quellen stimmt, hat Äxäyacatl wenig später, 1471 oder 1475/6, einen nicht minder gewichtigen Krieg gegen das Reich der Michhuahkaner geführt. Die Michhuahkaner siedelten an der pazifischen Abdachung westlich des zentralmexikanischen Hochlandes und hatten dort ein stabiles und mächtiges Reich aufgebaut, das zwar im Rahmen des Kulturareals Mesoamerika vieles mit den Azteken gemeinsam hatte, andererseits sprachlich und kulturell sehr eigenständig war und vielleicht sogar in manchem, so vor allem in der Metalltechnologie, durch seine Aussenbeziehung nach Südamerika den Azteken einiges voraus hatte. Die Azteken nannten das Land Michhuahcan, was so viel wie  bedeutet, womit zutreffend eine bedeutende wirtschaftliche Grundlage der Bewohner, die über grosse fischreiche Seen verfügten, charakterisiert ist. In grauer Vorzeit, während ihrer Wanderung, waren die Azteken dort schon einmal vorbeigekommen, allerdings ohne sich dort länger niederzulassen. Seither hatte es keine intensiven Kontakte zwischen den beiden Völkern mehr gegeben.
Für seinen Kriegszug gegen die Michhuahkaner stellte Äxäyacatl eine 24 000 Mann starke Armee auf und führte sein Heer nach Westen. Bald stand er — wo, ist nicht genau bekannt — einer fast doppelt so starken und gut gerüsteten michhuahkanischen Streitmacht gegenüber. In Anbetracht dieser ungleichen Kräfteverhältnisse neigte Äxäyacatl dazu, den Angriff abzubrechen und sich zurückzuziehen. Seine Generäle haben ihn aber daran gehindert. Sie wollten den Angriff unbedingt wagen. Die offene Feldschlacht wurde an zwei aufeinanderfolgenden Tagen geschlagen und endete für die Azteken mit einer fast totalen Niederlage. Dabei hatten sie auch den Tod ihres fähigsten Generals, Huitznahuac Teuctli, zu beklagen. Die Musterung des aztekischen Heeres nach der Schlacht ergab einen kläglichen Rest von 4000 Mann. 20 000 waren also gefallen oder vom Gegner gefangengenommen worden und harrten nun ihrer rituellen Opferung. Man zog sich daher schleunigst zurück, und zum Glück setzten die Michhuahkaner nicht zur Verfolgung nach, sonst wäre das aztekische Heer sicherlich völlig aufgerieben worden.
Das im Rückblick und unter europäischen militärstrategischen Gesichtspunkten unverständlich erscheinende NichtAusnutzen von militärischen Vorteilen seitens der Michhuahkaner ist ein immer wiederkehrendes Muster mexikanischer Kriegsführung. Ich neige dazu, es aus dem geringen Stellenwert, den territoriale Eroberung spielte, abzuleiten. Mexikanische Fürstentümer verwalteten ihr «Reich» meist indirekt durch Steuereinnahmen, bauten also mehr auf politische Hörigkeit und wirtschaftliche Kontrolle, als dass sie tatsächliche Territorialherrschaft ausübten oder gar, wie die Inka, Umsiedlungen in grossem Stil durchführten. Der mit dieser eher indirekten Herrschaft einhergehenden Gefahr der Rebellion begegneten sie durch die Anlage von Garnisonen an strategisch gelegenen zentralen Orten und notfalls durch harte Strafexpeditionen. Krieg um Land und Geländegewinn haben sie in der Regel nur geführt, wenn ihr Kernland und ihre Hauptstadt unmittelbar bedroht waren. Dann konnten sie ihre Heimat und ihr Territorium allerdings zäh und erfolgreich verteidigen. Das beste Beispiel dafür ist der Staat von Tlaxcallan, der in spätindianischer Zeit von den Azteken völlig eingekreist war, der von ihnen aber dennoch nie erobert wurde. Ansonsten waren die Mexikaner bei direkten kriegerischen Auseinandersetzungen vor allem darauf aus, Gefangene zu machen, die ihnen Prestige brachten und für die öffentlichen Opferfeste nötig waren. Als zweites Ziel strebten sie an, durch den Beweis ihrer militärischen Überlegenheit den Gegner in politische Unterwerfung zu zwingen und als Folge davon Steuern erheben zu können..
Niederlagen wie diese gegen die Michhuahkaner memorierten die Azteken in Klage und Spottgesängen, die vielleicht ähnlich wie altgriechische Tragödien Wechselgesänge zwischen Akteuren, Kommentatoren und Chören waren und bei Festen aufgeführt wurden. Ein solches Lied mit verteilten Rollen wurde anlässlich der Niederlage gegen die Michhuahkaner komponiert. Die kolonialzeitliche Liederhandschrift, die es überliefert, gibt folgende einleitende Zusammenfassung:
Altes Lied. Mit ihm erinnern sie, wie der Herrscher Axäyaca die Michhuahkaner nicht recht besiegte, sondern sich nach Tlaximaloyän zurückzog. Und dort sind nicht nur wenige Adlige und Offiziere umgekommen. Einige sind geflohen, weil sie einfach zu erschöpft waren, keine Kraft mehr hatten. Das Lied endet damit, wie der alte Herr, der Herrscher Chichicha, sie das Fürchten lehrte.(Cantares mexicanos, Lied 85)
Trotz der durch diese und zahlreiche andere Kriege strapazierten Militärkraft verstrickte sich Äxäyacatl schon i477 in weitere Auseinandersetzungen mit verschiedenen Gegnern. Zwar endeten diese meist mit Siegen, der gegen Xiquipilco im folgenden Jahr war allerdings schwer erkauft. Äxä.yacatl, der selbst an der Front kämpfte, wurde von seinen Truppen getrennt und drohte vom gegnerischen Krieger Thlät1 — oder Tlilcuetzpalin, die Quellen sind sich über seinen Namen nicht ganz einig — über wältigt zu werden. Sein Hofzwerg, der ihm treu und tapfer zur Seite gestanden hatte, war bereits gefallen, und Äxäyacatl, schwer am Oberschenkel verwundet, konnte nur im letzten Augenblick durch einen Entsatzangriff unerfahrener Rekruten befreit werden, nachdem ihn seine bewährten Truppen im Stich gelassen hatten. Die jungen Männer kämpften ihren Tlahtoäni frei und brachten ihn in den Ruheraum bei Tölluhcän in Sicherheit. Dort wurde er medizinisch versorgt. Als ritterlicher Krieger erkannte der aztekische Tlahtoäni die Tat seines Gegners Tlilcuetzpalin an und zeichnete ihn aus. Nach der Rettung ihres Herrschers gestaltete sich dieser Feldzug für die Azteken doch noch erfolgreich. An eigenen Verlusten hatten sie etwa wo() Mann zu beklagen, während ihnen to 000 bis 12 000 Xiquipilkaner in die Hände fielen. Die Opferung dieser Gefangenen wurde in Tenochtitlan als grosses Spektakel inszeniert. In seinem Mittelpunkt stand die Hinrichtung Tlilcuetzpalins, der dem Äxäyacatl seine schwere Verletzung beigebracht hatte. Äxäyacatl war fortan gehbehindert und scheint sich körperlich nicht mehr recht erholt zu haben.
Äxäyacatl setzte die Expansion nach Südosten, die Ilhuicamina mit der Eroberung Cöäixtlähuacäns eingeleitet hatte, planmässig fort. Wichtige weitere Stationen dieser Expansion waren Huaxacac (das heutige Oaxaca) und Tuchpan. Die kriegerische Bilanz Äxäyacatl kann sich, sowohl was die Zahl der Unterworfenen als auch was die Erreichung strategischer Ziele betrifft, sehen lassen. Allerdings wurden seine Siege oft durch hohen Blutzoll erkauft.
Nicht nur in der rastlosen Eroberungspolitik eiferte Äxäyacatl seinem Vorgänger nach, sondern er führte auch dessen Bündnis und Friedenspolitik gegenüber den Herrschern von Tetzcuhco, Nezahualcoyötl und dessen Nachfolger Nezahualpilli, der 1472 den Thron bestieg, fort. Sie besuchte er häufig in Tetzcuhco, und er schätzte ihren Rat sehr. Die so geschaffene Friedenszone beiderseits des Sees hielt den Azteken bei militärischen Unternehmungen in fernen Gebieten den Rücken frei, und gemeinsame Feldzüge stärkten ihre Militärmacht beträchtlich.
GESUNDHEITSFÜRSORGE UND HEILKUNDE
Eine natürliche Grundlage der Lebensqualität in Mexiko war der Umstand, dass vor Ankunft der Europäer keine verheerenden Seuchen endemisch waren. Pocken, Masern, Diphtherie, Pest, Cholera oder Lepra und die meisten Erkältungskrankheiten (darunter auch VirusGrippen) wurden erst von Spaniern aus der Alten Welt eingeschleppt, hatten dann aber wegen der fehlenden Immunabwehr und genetischer Besonderheiten der Indianer verheerende Folgen. Aber nicht allein die relative Freiheit von Seuchen und ansteckenden Krankheiten — von lebensbedrohenden ansteckenden Krankheiten gab es in Mexiko vor 152o nur Syphilis —, sondern auch die grosse Umsicht in der Gesundheitsfürsorge hebt das städtische Leben in Mexiko gegenüber dem zeitgenössischen Zustand europäischer Städte ab. Tenochtitlan besass seit 1478 zwei kanalisierte Trinkwasserleitungen, deren neu gebaute doppelzügig war und die beide reines Quellwasser von den westlichen Bergen zum Nutzen aller Einwohner heranführten. An den öffentlichen Zapfstellen in der Stadt wurde es mit Krügen geschöpft und mit Kähnen auf den innerstädtischen Kanälen zu den Wohnungen gebracht. Zwar gab es keine Abwasserkanalisation, aber organischer Abfall, der ohnehin fast nur aus menschlichen Fäkalien und Resten der Nahrungszubereitung anfiel, wurde gesammelt, um als Dünger für die Gärten und zum Gerben von Tierhäuten (Urin) weiterverwendet zu werden. Auch war häufiges Fegen der gestampften Lehmfussböden in Haus und Hof eine Arbeit, der jede Familie peinlich genau nachkam. Wie wichtig die Azteken die Reinhaltung ihrer Anwesen nahmen, erhellt daraus, dass das Fegen im Tempeldienst eine religiöse Pflicht von hohem Symbolgehalt war, so dass eines der 18 Jahresfeste nach dieser Tätigkeit Ochpanaliztli ((das Fegen des Weges>) heisst. Tägliche Körperpflege (Waschen, Mundspülen, Haare kämmen) war ebenfalls üblich. Die spärliche und luftige Kleidung der Indianer — Männer trugen ein Lendentuch (Mäxtlatl) und eine Schulterdecke (Tilmahtli), Frauen Bluse (Hurprlii) und Rock (Cueitl) — beugte ausserdem dem Parasitenbefall vor. Da man auch keine ausgedehnte Vieh und Haustierhaltung kannte, nur Hund und Truthuhn wurden allgemein gehalten, war die Infektionsgefahr auch von dieser Seite gering.
Zur grundlegenden Volksgesundheit der Azteken trug auch die diätetisch ausgeglichene Ernährung bei. Dieser Sachverhalt erfordert besondere Beachtung, weil unsere eigene, auf hohen Konsum tierischer Erzeugnisse ausgerichtete Ernährung dazu verleitet, die vorwiegend pflanzliche Kost der Indianer für minderwertig zu halten. Dieses Vorurteil ist bei einigen nordamerikanischen Forschern (die Nordamerikaner gehören zu den weltweit das meiste Fleisch verzehrenden Menschen) so ausgeprägt, dass sie den rituellen Kannibalismus der Azteken in seinem Umfang aufbauschen und als Ernährungskannibalismus zur Kompensation von angeblichem Proteinmangel in der sonstigen Nahrung umdeuten. Doch stimmen die in ihrer These enthaltenen ernährungswissenschaftlichen Annahmen nicht: Schon Mais, der mit Kalk zubereitet wird, Bohnen, Kürbis, Chilli, Tomaten und verschiedene Gemüsepflanzen, die Grundnahrung der Azteken, stellen eine ausgeglichene und ausreichende Ernährung sicher. Was die Kritiker der voreuropäischen Ernährung ausserdem vergessen, ist das umfangreiche, variable und in der konsumierten Menge nicht unbedeutende zusätzliche Nahrungsangebot: Fuchsschwanzsamen, Avocado und andere Baumfrüchte, vergorener Agavesaft, Salzwasseralgen sowie auch etwas fleischliche Zukost, darunter von den bereits erwähnten Haustieren Truthuhn und Hund, von Heuschrecken, verschiedenen Maden, so zum Beispiel die noch heute verzehrten roten und weissen AgaveWürmer, Fisch und Wildgeflügel. Mangelhafte Ernährung und als verzweifelter Ausweg vermehrtes Verzehren von Menschenfleisch für die Azteken anzusetzen, scheint mir daher unsinnig. Auch verfügte die nähere Umgebung der aztekischen Hauptstadt über das besonders ertragreiche, ganzjährig produzierende Gartenbausystem der «schwimmenden» Gärten am Rande des heute trockengelegten gro.3en Sees, der die Stadt umgab. Auf etwa 12 000 Hektar wird die damals ständig gartenwirtschaftlich genutzte Seeuferfläche geschätzt, und die ?roduktion dieser sogenannten Chinampas war so ertragreich, dass mit der genannten Fläche drei Viertel der hauptstädtischen Bevölkerung ausreichend mit Mais und Gemüse versorgt werden konnten.
Nicht ganz vergessen dürfen wir auf der anderen Seite gelegentlich auftretende Naturkatastrophen, über die ich in diesem Kapitel schon berichtet habe ausbleibender Regen im Mai und Juni, während der ersten Wachstumsperiode des Maises, wenn die Pflanzen besonders viel Wasser brauchen, Frost während des Keimens und schliesslich Heuschreckenschwärme, die die jungen Pflanzen kahl fressen. Wenn solche Naturkatastrophen lange anhielten oder dicht aufeinander folgten und das ganze Hochtal von Mexiko betrafen, kam es vor, dass die staatlichen Notvorräte erschöpft und die Nahrungsalternativen ausgebeutet waren. Dann folgten auf die einsetzende Hungersnot Krankheiten und schliesslich verbreitetes Sterben. In seiner Not verkaufte mancher Azteke sich selbst oder seine Kinder dann in die Sklaverei in nichtbetroffene Gegenden, um so wenigstens dem Hungertod zu entgehen. Solche Katastrophen waren aber nicht häufig  gewiss unvergleichlich seltener als die Folge von Pest und Hungersnöten im spätmittelalterlichen Europa. In den Jahren 1453 und 1455 litt Mexiko, wie wir gesehen hatten, unter einer solchen Hungersnot, verursacht durch einen Kälteeinbruch und darauf folgende Missernten. Auch in späteren Jahren gab es wiederholt solche Ernährungskrisen.
Die hohe Bevölkerungszahl Zentralmexikos konnte schliesslich nur durch hohe Fruchtbarkeit der Frauen und gleichzeitig niedrige Säuglingssterblichkeit erreicht werden. Statistiken darüber gibt es nicht, doch zeugen Berichte indianischer Ärzte, die der franziskanische Missionar Sahagün aufgezeichnet hat, von der Umsicht, mit der Mutter und Kind perinatal umsorgt wurden. Hervorstechend ist die dauernde und persönliche Fürsorge durch eine Hebamme oder Ärztin für Geburtshilfe (Ticitl), die mit einem Besuch und der Beratung der werdenden Mutter vier bis acht Wochen vor der Niederkunft einsetzte. Nahte die Stunde der Geburt, prüfte sie zunächst die Lage des Foetus im Mutterleib durch Abtasten und rückte ihn notfalls zurecht. Die Geburt selbst findet in optimaler Haltung der Gebärenden statt, hockend mit gespreizten Beinen, den leicht nach hinten gelehnten Körper von einer Helferin gestützt. Verzögerte sich die Geburt, konnte die Ärztin durch einen Aufguss der Pflanze Montanosa tomentosa, aztekisch Cihuäpahtli, was wörtlich (Frauenmedizin> bedeutet, und bei anhaltender Verzögerung eine stärkere Droge aus OpossumSchwanz verabreichen und mittels grober Leibmassage, Treten oder Schütteln nachhelfen. Wenn auch das die Geburt nicht einzuleiten vermochte und der Foetus im Mutterleib bereits tot war, nahm die Ärztin, um wenigstens das Leben der Mutter zu retten, einen chirurgischen Eingriff vor und zerstückelte den Foetus im Mutterleib mit einem scharfen Messer aus Obsidian und extrahierte die Leichenteile einzeln. Nach der Geburt kam der Wöchnerin und ihrem Säugling die Fürsorge seitens der Frauen ihrer Familie und Nachbarschaft zugute, und sie wurde mit ihm zusammen täglich einem heissen Bad im Dampfbadehaus (Temazcalli) zugeführt. Das Temäzcalli ist ein geschlossener gemauerter Raum, der von aussen mit einem Holzfeuer beheizt wird und durch eine niedrige Eingangsöffnung betreten werden kann (Abb. 28). Mittels im Feuer erhitzter Steine, Wasser und aromatischer Kräuter wird Dampf erzeugt, dem man sich am Boden liegend aussetzt. Solche Bäder waren bereits während der Schwangerschaft und kurz vor der Niederkunft angezeigt.
Trotz der guten Rahmenbedingungen und der ordentlichen Fürsorge für die Gesundheit wurden auch Azteken im vorspanischen Mexiko gelegentlich krank. Man nimmt an, dass Darm und Magenkrankheiten (Dysenterie, Salmonellen, Diarrhöe) und rheumatische Leiden (Arthritis) besonders häufig waren. Eine Ursache für die Häufigkeit rheumatischer Erkrankungen dürfte die Lage der Hauptstadt in einem See gewesen sein. Grundfeuchte — man lebte ebenerdig und schlief auf Schilfmatten auf dem Boden — Überschwemmungen und die täglichen, oft ergiebigen Regenfälle in den Monaten Juni bis August, während derer Wohnung und Kleidung nur schwer trockenzuhalten sind, liessen die genannten Beschwerden zur Jahresmitte akut auftreten. Was die Schädigung von Knochengerüst und Gelenken betrifft, dürfen wir nicht vergessen, dass den Azteken von schwerer körperlicher Arbeit weder Last und Zugtiere noch mechanische Hilfsmittel Entlastung verschafften. Abnutzungserscheinungen an den Knochen, ähnlich wie bei Arbeitern im pharaonischen Ägypten, setzten daher früh ein. Andererseits garantierte die gute CalciumVersorgung in der Grundnahrung, das Arbeiten im Freien mit nacktem Oberkörper und die dadurch mögliche Einwirkung der intensiven Höhenstrahlung auf die Haut völlige Freiheit von rachitischen Leiden und einen von Jugend auf stabilen Knochenbau.
 Ein Dampfbadehaus. Das Dampfbadehaus, aus grauem vermutlich vulkanischem Gestein gemauert, weist einen hinteren eiförmigen Teil, das Heizhaus, auf. Aus ihm züngeln Flammen heraus, und von der ganzen Anlage steigt Dampf auf Vor dem Heizhaus kniet eine alte Frau, bereit, Brennmaterial nachzulegen. Das eigentliche rechteckige Badehaus ist über seinem niedrigen Eingang mit dem Kopf der Schutzgöttin der Kranken geschmückt. Rechter Hand vom Badehaus sieht man den Wasserzufluss, der in die Badekammer führt. Vor der Tür liegt ein Bündel Reisig bereit. Damit schlägt man sich beim Baden den Rücken, ganz ähnlich wie in der finnischen Sauna. Etwas vom Badehaus entfernt und dahinter sitzt ein Indianer, der vermutlich eine Bitte an die Schutzgöttin der Kranken spricht und flehentlich die Hände ausstreckt. Rechts unterhalb sitzt ein weinender Mann, dem eine ihm gegenüber knienden Frau eine Schale Wasser reicht.
Diagnostik und Ätiologie waren bei aztekischen Heilkundigen sicher keine getrennten begrifflichen Bereiche. Auch haben sie sich über ihre theoretischen Einsichten in Anatomie, Physiologie und Ätiologie nicht abstrakt und systematisch geäussert, so dass es uns allenfalls möglich ist, hierzu indirekt etwas aus den Quellen herauszulesen. Bei vielen alltäglichen Krankheiten mit evidenter Ursache, wie Insektenstich, Schlangenbiss oder Knochenbruch, haben Azteken eine klare Diagnose sofort stellen können und auch nach unseren naturwissenschaftlichen Massstäben effiziente Therapien eingeleitet. Bei Schlangenbiss empfehlen sie das Aufschneiden der Wunde, sofortiges Aussaugen des Giftes und einen antiseptischen Verband von AgaveBlättern oder Tabak.
Bei weniger klaren Krankheitsbildern greifen aztekische Heilkundige auf ihr ganzheitliches Menschenbild zurück, um daraus Krankheitsursache und Therapie abzuleiten. Wichtige Komponenten dieses Menschenbildes sind drei allgemeine Kräfte. Das Tönalli (), im Hirn angesiedelt, ist die individuelle Seele, die jedem Menschen von Geburt an gegeben ist. Der Geburtstag wird daher auch als wahrsagerischer Schicksalstag verstanden im Einklang mit dem von ihnen genau 260 Tage davor angenommenen Tag der Empfängnis. Das Tönalli ist je nach sozialer Stellung und Alter kräftiger oder schwächer; und der Einzelne kann es auch mutwillig durch Trunksucht schwächen. Träume sind direkter Ausdruck des Tönalli, und seine zeitweilige Abwesenheit führt zu Krankheit; sein definitives Fliehen aus dem Körper bringt den Tod. Traumdeuter und Kalenderpriester für den 26otägigen Wahrsagekalender sind Spezialisten, die sich mit dem Tönalli befassen und Klienten beraten. Im Herzen wohnt die Lebensseele, Teyölia, die im Gegensatz zum Tönalli untrennbar ist vom Körper des Individuums und unter anderem seinen Intellekt repräsentiert. Die dritte seelische Kraft ist die Atemseele, Ileötl. Sie ist in der Leber lokalisiert und steuert das Gefühlsleben des Menschen — eine interessante Parallele zu den alten Griechen, für die die Leber ein ähnlich wirkendes Organ war.
  
Xiuhahmölli. Der Text zum Bild lautet: «Haarausfall. Man hält den Haarausfall auf, indem man den Kopf mit einer Lotion von Xiuhahmölli behandelt. Man presst die Pflanze aus und kocht sie in Hunde oder Hirschurin unter Hinzufügung von Fröschen und kleinen Tieren der Art Ähuatecolötl». Die naturalistisch dargestellt Pflanze mit weissen Glockenbecherblüten wächst auf einem Untergrund, der durch das bilderschriftliche Symbol fliessenden Wassers dargestellt ist. Die Forschung meint, dass es eine Pflanze der Gattung Ipomoea ist.
Die grundlegende pathologische Theorie der Azteken besagt, dass der Mensch gesund ist, solange diese drei Seelen in ihm hausen und weder im Übermass noch geschwächt wirksam sind. Dabei ist der Begriff des Masses, den wir ebenfalls recht ähnlich vom Menschenbild der Griechen kennen, und der auch in der traditionellen chinesischen Medizin eine wesentliche Rolle spielt, ausschlaggebend. Arzt oder Wahrsager, wir wissen nichts über die Abstimmung und Abgrenzung der verschiedenen therapeutischen Berufe, verschreiben bei schwierig gelagerten Krankheiten sowohl religiöse Verrichtungen als auch praktische Heilmittel, meist pflanzlicher Art, in oraler, perkutaner oder analer Darreichung. Bei solchen Therapiemassnahmen waren Diagnose und Ätiologie durch analoges Schliessen und eine sehr weit gefasste Theorie der Ansteckung oft «magisch» verknüpft. Anstecken kann man sich zum Beispiel nicht nur durch unmittelbaren Körperkontakt mit dem Krankheitserreger, sondern auch durch Urinieren auf einen solchen, durch seinen Geruch oder seinen schieren Anblick. Die Verknüpfung der beiden Erkenntnismethoden des AnalogieSchlusses und der Ansteckungstheorie erlaubt es dann zum Beispiel, Genitalgeschwüre darauf zurückzuführen, dass der Patient auf die Blüte der Knochenblume (Polyanthes tuberosa), die einem Penis ähnlich sieht (Analogie), uriniert oder defäkiert hat (Ansteckungstheorie). Oft greift das Analogieverfahren sogar in die Therapie ein, wenn die vermeintliche krankheitserregende Pflanze zugleich das verschriebene Heilmittel abgibt.
Für fast alle Krankheiten verschreibt der aztekische Arzt pflanzliche Heilmittel. Der indianische, aber christlich getaufte Arzt Martin de la Cruz konnte daher 1552 mehrere hundert Heilpflanzen in einem Buch der indianischen Kräutermerlivin («Libellus de medicinalibus indorum herbis») zusammenstellen und ihre Anwendungen erläutern. Ein anderer Indianer, Juan Badiano, hat es ins Lateinische übersetzt, weil es als Geschenk für den Papst in Rom bestimmt war, und in dieser lateinischen Fassung ist es auf uns gekommen.
Bei einem Volk, das wegen harter körperlicher Arbeit und beim Kriegsdienst ständig der Gefahr ausgesetzt war, sich Knochenbrüche und Fleischwunden zuzuziehen, ist die posttraumatische Medizin von Bedeutung. Desinfizierung verunreinigter Wunden geschah im Feld, höchst praktisch und steril, durch den jederzeit verfügbaren Urin. Grosse klaffende Fleischwunden wurden durch Nähen mit Nadeln aus Agaveblattspitzen und Menschenhaaren als Faden verschlossen. Es wird berichtet, dass man einem Krieger sogar seine abgeschlagene Nasenspitze wieder annähte. Starke Blutungen konnten mit Druckverbänden aus blutstillenden Pflanzen behandelt werden, und das Zurechtrücken und Stilllegen von Knochenbrüchen war den Azteken ebenfalls geläufig. In chirurgischen Techniken und anatomischem Wissen hatten die Azteken gegenüber dem mittelalterlichen Arzt in Europa einen entscheidenden Vorteil: Der menschliche Körper war in keiner Hinsicht tabuisiert. Ein aztekischer Student der Medizin konnte daher unbehindert Studien an lebenden und toten Körpern treiben; und es ist durchaus vorstellbar, dass die religiösen Menschenopfer des Schindens und der am lebenden Menschen vollzogenen Herzextraktion Kenntnisse und Techniken für den medizinischen Gebrauch anschaulich vermittelten.
GESANG UND TANZ AM AZTEKISCHEN HOF
Aus den letzten Jahren der Regierung Äxäyacatls ist eine Episode überliefert, die einiges über das Hofzeremoniell und die Persönlichkeit des Herrschers verrät. Im Jahr 1479 lässt er die zwölf Jahre zuvor von Ilhuicamina unterworfenen Chalkaner, die für ihre Gesangs und Tanzdarbietungen berühmt waren, an seinen Hof kommen, um ein Fest auszurichten. Das Fest nimmt unter dem Beifall des Herrschers zunächst den gewünschten Verlauf, und Äxäyacatl scheint es in Gegenwart seiner Frauen und Konkubinen zu geniessen, wie er bisher schon viele Feste gefeiert hatte, zum Beispiel das zwei Jahre zuvor anlässlich des Sieges über Xiquipilco. Das neuerliche Fest verläuft zunächst ganz nach Programm, bis der vortragende Trommler und Sänger aus Tlälmanalco einen Schwächeanfall erleidet und ohnmächtig auf seine Trommel sinkt. Die abrupte Unterbrechung ist ein Skandal. Ähnlich wie an barocken Fürstenhöfen Europas könnte ein solcher «Verstoss» gegen die Planung und das Hofzeremoniell für den Verursacher schlimme Folgen haben, nämlich die Todesstrafe. Daher fasst sich ein anderer junger Chalkaner ein Herz, springt auf und setzt improvisierend den Gesang und die Trommelmusik fort, so dass Äxäyacatl, der trotz seiner Gehbehinderung immer noch gerne tanzte, sein Fest fortsetzen kann:
Als aber der Tanz endete, sagte der Herrscher Axäyacatzin: «Mein Freund, jenen Ungeschickten, den ihr mir hierher gebracht habt, der gespielt und gesungen hat, sollt ihr nicht mehr spielen lassen!» Sie sprachen zu ihm: «Es ist schon gut Herr [und] Herrscher! So wird man es machen!» Und als der Äxayacatzin das so befohlen hatte, fürchteten sich alle ChälcahAdligen sehr vor dem, was er gesagt hatte. (Chimalpahin, Siebte Relation, Jahr 1479)
Anschliessend lässt Äxäyacatl den jungen Musiker, der eingesprungen war, zu sich kommen. Die Chalkaner, immer noch geschockt von der Unterbrechung ihrer Darbietung, befürchten, dass er und anschliessend sie alle miteinander hingerichtet würden. Es läuft aber ganz anders. Äxäyacatl möchte den jungen Künstler auszeichnen. Die Auszeichnung drückt sich, wie auf der ganzen Welt üblich, zunächst durch reiche Geschenke aus. In diesem Falle ist es fürstliche Kleidung, die dem Künstler überreicht wird. Die Ehrung umfasst dann aber auch eine eigenartige Komponente: Der Herrscher penetriert den Künstler homosexuell und beschliesst dann, dass dieser fortan ausschliesslich an seinem Hof und zu seinem Vergnügen musikalisch zu wirken habe. Schliesslich nimmt er sich auch das Recht an dem Gesang, etwas, was wir heute als Urheberrechtsverletzung bezeichnen würden, und in welcher Hinsicht auch Mexikaner sehr empfindlich waren. Der Chronist Chimalpahin vermerkt daher mit tadelndem Unterton:
Und als der Äxäyacatzin den Gesang erbat, und sie ihn wiederholten, sie ihn vortrugen, verdarben sie ihn gegenüber der Zeit [als] der namens Ayoquantzin der Ältere Herrscher weiland gewesen war [indem sie seinen Namen tilgten].(Chimalpahin, Siebte Relation, Jahr 1479)
Ethnologisch ist an dieser Episode nicht so sehr von Interesse, ob Äxäyacatl homosexuell veranlagt gewesen sei, wie ihm in kolonialzeitlichen Quellen mit Missgunst vorgehalten wird, sondern ob der sexuelle Missbrauch nicht vielleicht eine kulturelle Norm ausdrückt, oder anders gesagt, ob es sich dabei nicht vielleicht um einen symbolischen Dominanz und Unterwerfungsakt handelte, den der Herrscher von Amts wegen vollzog. Wenn dem so ist — und dafür gibt es ähnlich gelagerte Beispiele, unter anderen das der Vergewaltigung von zwei Frauen Chimalpopöcas durch den tepanekischen Herrscher Mäxtla —, fügt sich dieses Verhalten in die human und tierethologische Beobachtung, dass praktizierte Sexualität, auch Homosexualität, oft Ausdruck von Dominanz und Macht ist.
 

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