Freitag, 15. April 2016

Produzieren 4.0


Produzieren 4.0

Author D. Selzer-McKenzie

Video: https://youtu.be/o3rif8V1E3U

 

                       

 

Die Industrie steht vor großen Herausforderungen: Die Kunden verlangen neue, individuelle, qualitativ hochwertige und dennoch preisgünstige Produkte in

immer kürzeren Zeitabständen. Gleichzeitig müssen Waren mit knapper wer-

denden Ressaureen gefertigt werden und das möglichst nachhaltig. Um diese

Anforderungen zu meistern, setzen Forschung und Wirtschaft auf die Digitali-

sierung der Fertigung, in der die reale und virtuelle Welt zu einem Internet

der Dinge, Dienste und Daten zusammenwachsen.

 

Benziner, Dieselfahrzeug oder Hybrid-Antrieb? Limousine, Kombi oder Cabrio? 75, 100 oder 125 PS? Mit Einparkhilfe, Tempomat, Regensensor, Mittelarmlehne oder Alufelgen? Wenn Kunden vom Muster der Sitzpolster bis zur Ausle-gung des Fahrwerks eigene Wünsche verwirklichen können, kommt man bei manchen Automodellen theoretisch auf bis zu 1025 unterschiedliche Varianten. Aber nicht nur beim Autokauf, auch in vielen anderen Bereichen können Käufe-rinnen und Käufer Produkte nach ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen zusammenstellen — vom Computer bis zum Sportschuh. Die Losgröße 1, die völlig individuelle Produkti¬on nach Kundenwunsch, spielt in der Fertigung eine immer größere Rolle. Dieser Trend stellt die Produzenten vor große Herausforderungen: Denn wenn sich unterschiedlichste Aus¬stattungsmerkmale individuell kombinieren lassen, dann muss auch der Produktionsprozess flexibel sein.

 

Um diese Anforderungen zu meistern, setzen Forschung und Industrie auf eine intelligente, vernetzte und wandelbare Fertigung. Dabei sind Maschinen, Werkstücke, Transportmit¬tel und Waren mit eingebetteten Systemen, sprich winzigen Rechnern, sowie Sensoren und Aktoren versehen und mitein¬ander verbunden. Das ermöglicht den nächsten Sprung in der Produktion, die Industrie 4.0.

Die Bundesregierung hat schon früh die Potenziale der smarten und vernetzten Fertigung erkannt. Bereits in ihrer Hightech-Strategie setzte sie das Thema Industrie 4.0 auf die Agenda. Mit verschiedenen Programmen fördert der Bund die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten zur digitalen Transformation der Industrie. Außerdem unterstützt er die »Plattform Industrie 4.0«, in der sich Vertreter von Verbän¬den, Gewerkschaften sowie der Wissenschaft engagieren.

Hier ist die Fraunhofer-Gesellschaft als Vertreter der For¬schung aktiv.

Aber wie funktioniert die smarte Produktion der Zukunft? Künftig sind alle Maschinen, von der Fräse bis zum Schwei߬roboter, miteinander vernetzt. Auch jedes Werkstück verfügt über ein eingebettetes System. Dort sind etwa verschiede¬ne Informationen wie der Auftraggeber, die gewünschte Ausstattung und der Zielort gespeichert. Die Rohlinge lassen sich eindeutig identifizieren und lokalisieren. Sie kennen nicht nur die geforderte Bearbeitung, sondern sind auch mit den Maschinen vernetzt und können sich abstimmen, wann welcher Fertigungsschritt durchlaufen wird. Fällt eine Station aus, steht in Zukunft nicht mehr die gesamte Linie still. Statt¬dessen planen Werkstücke und Maschinen die Reihenfolge der Bearbeitung um. So entsteht eine »sich selbst organisie¬rende«, adaptive Produktion, in die der Mensch nicht mehr ständig eingreifen muss, aber über die er die Kontrolle hat.

Damit die smarte Produktion reibungslos laufen kann, müssen die Maschinen und Roboter kontinuierlich melden, was sie gerade tun und wie lange ggf. verschleißende Komponen¬ten noch halten. Alles, was in der realen Fabrik abläuft, wird parallel auch im Virtuellen abgebildet. Diese Verbindung realer und virtueller Welt bezeichnen Experten als »cyberphy-sische Systeme« (CPS). Von der digitalen Transformation der Industrie erhofft sich die Wirtschaft einige Vorteile: Die flexible Zukunftsfabrik ermöglicht es, nach Kundenwunsch zu fertigen und Änderungen der Produktion bis zur Integration neuer Maschinen jederzeit ohne großen Aufwand durchzuführen. Zudem sind die Maschinen besser ausgelastet, der Ressour-cenverbrauch geht zurück und es gibt weniger Ausschuss.

Industrie und Forschung arbeiten daran, dass die Vision der sich selbst organisierenden Fabrik Wirklichkeit wird. »Fraunhofer verfügt über große Kompetenz in den Bereichen Produktion, Maschinenbau, Logistik, eingebettete Systeme, Sicherheit sowie Informations- und Kommunikationstech¬nik. Wir können wichtige Grundlagen für die Fertigung der Zukunft legen sowie Lösungen für die smarte, vernetzte Produktion entwickeln und damit zu einer nachhaltigen Wertschöpfung in Deutschland beitragen«, betont Professor Reimund Neugebauer, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft. In verschiedenen Projekten untersuchen Forscherinnen und Forscher, wie die Fabrik der Zukunft aussehen kann, wie sich die Produktion flexibel gestalten lässt, welche Rolle der Mensch in der smarten Fertigung spielt und wie Unterneh-men die Souveränität über ihre Daten behalten können. Die Fraunhofer-Experten entwickeln nicht nur wichtige Baustei¬ne für Industrie 4.0, sondern erarbeiten auch ganzheitliche Konzepte für die smarte Produktion. So gestalten Experten des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Auto¬matisierung IPA zusammen mit der Universität Stuttgart und Partnern aus der Industrie in dem Projekt ARENA2036 die künftige Automobilentwicklung und -produktion entlang der gesamten Wertschöpfungskette neu. »Wir erforschen ein grundsätzlich neues Konzept für die Fahrzeugproduktion — ohne Takt und ohne Linie, verbinden Leichtbauprozesse mit taktiler Robotik, entwickeln effiziente, wandlungsfähige

 

Logistiksysteme und sorgen für einen intuitiv konfigurierbaren Informationsaustausch«, erklärt Professor Thomas Bauern-hansl, Leiter des Fraunhofer IPA in Stuttgart.

Neue Lösungen für die Produktion erfordert auch die Fer-tigung von Stromern in Kleinserien. In dem Projekt »Smart Micro Factory für Elektrofahrzeuge«, kurz SMART FACE, entwickeln Logistik-Experten aus dem Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML in Dortmund gemeinsam mit der Industrie eine Strategie für eine autonome Endmontage von Autos und arbeiten an einer flexiblen, schlanken Pro¬duktionsplanung nach den Prinzipien von Industrie 4.0. Die Planungsintelligenz ist dabei dezentral in einem selbstorgani¬sierenden Netzwerk cyberphysischer Systeme verteilt. Diese cyberphysische Systeme sind wesentliche Bausteine der smarten Fertigung der Zukunft. Voraussetzung dafür ist, dass Realität und Virtualität kontinuierlich im Einklang sind. Aber wie lassen sich real existierende Produktionsanlagen, Werk¬stücke oder Bauteile und ihre digitalen Gegenstücke konti¬nuierlich abgleichen? Experten des Fraunhofer-Instituts für Graphische Datenverarbeitung IGD in Darmstadt arbeiten an der cyberphysischen Äquivalenz. Dabei geht es um die Live-Abbildung der Produktion inklusiver dynamischer Prozesse in die Virtualität, um zum Beispiel Planungen auf der Basis von Echtzeitdaten durchführen zu können. Zu jeder Zeit werden aktuelle Informationen über den Zustand des Produkts und des Produktionsablaufs erfasst und aktualisiert. Dazu wird der Prozess von Kameras erfasst und in Echtzeit auf den »virtuel¬len Zwilling« übertragen.

Übersetzer erleichtert Kommunikation

Eine weitere wichtige Voraussetzung für smarte Fabriken ist, dass die Maschinen miteinander, mit übergeordneten IT-Systemen, aber auch mit den Werkstücken und den Werkern kommunizieren können. Doch noch stößt die Vernetzung bestehender Anlagen an Grenzen, denn die Maschinen unterschiedlicher Hersteller nutzen datentechnisch meist verschiedene Schnittstellen und Protokolle zur Kommuni¬kation. Abhilfe schafft der »Plant Adapter«, ein industrielles Daten-Gateway, das Experten des Fraunhofer-Instituts für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU in Chemnitz entwickelt haben. Der »Plant Adapter« stellt als Kombina¬tion aus Hard- und Software eine Lösung zur universellen Anbindung von Maschinen und weiteren Komponenten der Produktion und Produktionsinfrastruktur dar. Er sammelt unterschiedlichste Produktions- und Maschineninformatio-nen und bereitet sie so auf, dass sie plattformübergreifend gelesen und verarbeitet werden können. »Die 'Ressource Daten' gewinnt stetig an Bedeutung«, erklärt Dr. Tino Langer, Abteilungsleiter Digitalisierung in der Produktion am IWU. »Um deren Wert im Umfeld der Produktion noch weiter zu steigern, sind neue Methoden und Lösungen erforderlich.« Bisher werden Daten weitestgehend begrenzt auf ihren ursprünglichen Erfassungsgrund hin analysiert und verarbei¬tet. In der am IWU entwickelten Daten- und Diensteplatt-form »Linked Factory« können in Einzelsystemen verwaltete Daten miteinander in Beziehung gesetzt und mit geeigneten Auswertemethoden neue Informationen abgeleitet werden.

 

 

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Mithilfe von modernen Ansätzen zur Informationsverarbei-tung, wie Linked-Data und Semantic Web Technologien, wer¬den die Daten systemübergreifend gespeichert und vernetzt. Produktionsrelevante Parameter fließen mit Kennwerten aus der Gebäudeleittechnik, der Logistik und relevanten be¬triebswirtschaftlichen Daten zusammen, werden miteinander verknüpft und zu nützlichen Informationen aufbereitet, um den Mitarbeiter so gezielt zu unterstützen.

Vorsorgeuntersuchung für Maschinen

Die mithilfe von eingebetteten Sensoren erfassten Daten lassen sich auch für eine vorausschauende Wartung nutzen. Im EU-Projekt iMAIN entwickelten das IWU gemeinsam mit Partnern ein Überwachungssystem, das automatisch meldet, wenn eine Maschine gewartet werden muss. Dazu setzten sie auf eine Kombination aus realen und virtuellen Sensoren. Diese werden einerseits aus den rechnergestützten Simula¬tionsmodellen der Maschine und andererseits mit realen In¬formationen der einzelnen Komponenten gespeist. »Anhand mathematischer Modelle und weniger installierter Sensoren können so etwa Spannungszustände an der kompletten Anlage in Echtzeit simuliert werden. So können Maschinen standortübergreifend überwacht und die Instandhaltung vorausschauender geplant werden«, sagt Markus Wabner vom Fraunhofer IWU. An Lösungen für das selbstorganisie¬rende Life Cycle Er Maintenance Management von Turboma¬schinen feilen Wissenschaftler des Fraunhofer-Instituts für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik IPK in Berlin. Sie verknüpfen aus Sensoren gewonnene Informationen mit Daten aus Serviceeinsätzen.

Kürzere Innovationszyklen und individuelle Produkte erfor-dern nicht nur eine flexible Fertigung, sondern auch wan-delbare Fabriken, die sich schnell für die Herstellung neuer Artikel umrüsten lassen. »Eine der Herausforderungen an die Industrie-4.0-IT-Architektur ist es, sich an Änderungen anzupassen — sei es, dass neue Anlagen oder Prozesse in das System eingebracht werden oder dass bestehende Produk¬tionssysteme verändert werden, etwa weil eine Produktvari¬ante zusätzlich gefertigt werden soll«, erläutert Dr.-Ing. Olaf Sauer, stellvertretender Leiter des Fraunhofer-Instituts für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung IOSB in Karlsru¬he. Im Projekt »SecurePLUGandWORK« arbeiten Wissenschaft

 

und Wirtschaft an einer intelligenten Verknüpfung zwischen den einzelnen Bestandteilen der Fabrik. Ihre Idee: Ähnlich wie beim USB-Standard bei PCs erkennt jede Komponente, was sich verändert hat, und reagiert darauf automatisch.

Der Umstieg auf die Produktion der Zukunft stellt insbeson¬dere kleine und mittlere Unternehmen vor große Herausfor¬derungen. Unterstützung bietet hier das Applikationszentrum Industrie 4.0, das Experten des IPA aufbauen. Den Kern bildet eine Forschungs-, Entwicklungs- und Demonstrationsumge¬bung, in der Lösungen zur Organisation und zur Steuerung zukünftiger Fabriken in unmittelbarer Zusammenarbeit mit der Industrie geschaffen werden. »Unternehmen können hier in einer innovativen Umgebung mit ausgezeichneter Infrastruktur und umfangreicher technischer Ausstattung zusammen mit unseren Mitarbeitern neue Lösungen für die Herausforderungen der Produktion der Zukunft entwickeln und in einem industrienahen Umfeld testen, wobei der Nut-zen direkt durch Demonstratoren aufgezeigt werden kann«, sagt Dr. Martin Landherr, Leiter des Applikationszentrums Industrie 4.0. Der Fokus liegt auf cyberphysischen Systemen, Robotik und fahrerlosen Transportsystemen, Mensch-Ma¬schine-Kooperation und additiven Produktionstechnologien sowie echtzeitnahen Simulationstechnologien. Zur sicheren Kommunikation und Vernetzung bietet das IPA mit Virtual Fort Knox zudem eine flexible und föderative Integrations¬plattform für die Produktionsdaten.

Smarte Bauteile, intelligente Maschinen und kontinuierlicher Datenaustausch — wird der Mensch in der sich selbstorgani¬sierenden Fertigung überhaupt noch gebraucht? Ja, in der Fabrik der Zukunft spielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sogar eine zentrale Rolle (siehe auch Seite 16). Sie sind kreati¬ve Problemlöser. Dafür benötigen sie jedoch Wissen über die Zusammenhänge in der Produktion 4.0 sowie aktuelle Fakten über die laufende Fertigung. Wichtige Daten können die vernetzten Maschinen, Sensoren und Steuersysteme liefern. Im Projekt »Smart Assistance for Humans in Production Sys¬tems — SmARPro« entwickeln Forscherinnen und Forscher des Fraunhofer IML und des Fraunhofer IWU eine kommunikati-onstechnische Plattform, die Produktions- und Betriebsdaten erfasst, mit den übergeordneten IT-Systemen verbindet und für die Übertragung an mobile Geräte — den Smart Devices und Wearables — aufbereitet. Ziel ist es, Informationen genau

 

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dort zur Verfügung zu stellen, wo der Mensch sie zum jewei¬ligen Zeitpunkt für seine Tätigkeit benötigt.

Menschen einbinden

Damit die Menschen in der smarten Fabrik der Zukunft agie¬ren können, werden neue Mensch-Maschine-Schnittstellen benötigt, die Smart Devices. Diese mobilen Geräte sind ka¬bellos vernetzt und mit verschiedenen Sensoren ausgerüstet. In der Logistik kann etwa der nur bierdeckelgroße Coaster® zum Einsatz kommen. Das Gerät ist nicht nur mit einer Kamera und einem Display ausgestattet, sondern kann auch mit anderen Maschinen über Schnittstellen kommunizieren. Welche Funktion er ausführt, entscheiden die Applikatio¬nen, die auf dem Coaster laufen. So zeigt zum Beispiel die Maschinenstatus-App den Energieverbrauch, Laufzeit und Fehlermeldungen von Anlagen an. Um den Werker nahtlos in die Informationsprozesse der Fertigung zu integrieren, hat das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT bei der Konzipierung von »oculavis« eine nutzerzentrierte Sicht¬weise eingenommen. Mit der Softwareplattform »oculavis« sowie den Apps für die Endgeräte wie Datenbrillen oder Tablets können die Informationsflüsse der Fabrik vom und zum Werker optimal gelenkt werden. Dies ermöglicht z.B. bei der Robert Bosch Elektronika Kft. aus Ungarn, dass auch ungelernte Mitarbeiter innerhalb kürzester Zeit komplexe Montagevorgänge mit Smart Glasses ausführen können. »oculavis« wird ab Arpil in Kooperation mit dem IPT in einer Ausgründung weiterentwickelt und kommerzialisiert. An weiteren Lösungen — wie zum Beispiel einem Durchsichtdis-play — arbeiten Wissenschaftler des Fraunhofer-Instituts für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF in Magdeburg. Darauf können situationsgerecht und lagesynchron Informationen eingeblendet werden. »Insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen Wandels ist die Assistenz auf Basis visueller Informationen ein wesentlicher Bestandteil intelli¬genter Arbeitsplatzsysteme, in denen der Mensch fähigkeits¬gerecht bei der Ausübung von Arbeitsprozessen unterstützt wird«, erläutert Professor Michael Schenk, Vorsitzender des Fraunhofer-Verbunds Produktion und Leiter des IFF.

Wie der Mensch in die Produktion der Zukunft eingebunden werden kann, ist einer der Schwerpunkte im Leitprojekt E3-Produktion. Zwölf Fraunhofer-Institute arbeiten gemeinsam

 

an der emissionsarmen, ergonomischen Fabrik und entwi-ckeln hierzu neue Produktionstechnologien, Steuerungskon¬zepte und effizientere Prozessketten. »Das E3-Konzept setzt die Betrachtungsebenen von Technologien und Anlagen, von Logistik- und Fabrikprozessen sowie von der Einbindung des Menschen in die Produktion in einen neuen analytisch-metho¬dischen Kontext«, sagt Professor Matthias Putz, Institutsleiter des Fraunhofer IWU.

Die Digitalisierung kann aber auch Gefahren bergen. Wie schützt man die Informationen vor unerlaubten Zugriffen, wenn alle Komponenten miteinander vernetzt sind? Wie be¬halten Firmen die Souveränität über ihre Daten? Fraunhofer arbeitet gemeinsam mit der Wirtschaft und in Kooperation mit der Bundesregierung an einem international offenen und zugleich sicheren Datenraum, dem Industrial Data Space. In diesem geschützten Raum können Unternehmen nach selbst festgelegten Regeln Daten miteinander austauschen, ohne dabei die Kontrolle über ihre Informationen abzugeben.

Der Umstieg auf die Fertigung 4.0 ist vor allem für Indust-rienationen wie Deutschland wichtig. Seit Jahrzehnten ist die Fertigung ein zentraler Pfeiler für Arbeit und Wohlstand. So erwirtschaftete das produzierende Gewerbe 2014 einen Anteil von 22,3 Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Diese Zahlen gab das Statistische Bundesamt bekannt. Zum Ver¬gleich: In den EU-Staaten betrug die Wirtschaftsleistung der Industrie im Schnitt nur 15,3 Prozent.

Doch kann Europa von der vierten industriellen Revolution profitieren? Ja. Die digitale Transformation der Fertigung eröffnet der EU enorme Chancen, so das Ergebnis einer Studie von Roland Berger Strategy Consultants im Auftrag des Bundesverbands der Deutschen Industrie e. V. (BDI). Bis 2025 könnte Europa einen Zuwachs von 1,25 Billionen Euro an industrieller Bruttowertschöpfung erzielen. Allein für Deutschland ergibt sich ein zusätzliches Wertschöpfungspo-tenzial von bis zu 425 Milliarden, allerdings nur, wenn der Umstieg auf die Industrie 4.0 gelingt. Den vielversprechenden Möglichkeiten vernetzter, effizienterer Produktion und neuer Geschäftsmodelle stehen jedoch auch Risiken gegenüber: Sollte sich die deutsche Industrie von ihrer Spitzenposition bei der Wertschöpfung verdrängen lassen, drohen massive Einbrüche von bis zu 220 Milliarden Euro.

 

Das Innovationstempo im Automobilbau steigt von Jahr zu Jahr. Damit die neuen Modelle nicht zu schwer werden und zu viel Sprit verbrauchen, setzen Designer und Konstrukteure auf innovati¬ve Werkstoffvarianten wie den hybriden Leicht-bau. Wie aber lassen sich hochfeste Werkstoffe wirtschaftlich sinnvoll zu leichten und crashsi-cheren Bauteilen verarbeiten? Ein Verfahren, mit dem man Leichtbau-Komponenten fertigen kann, ist das Presshärten. Dabei wird ein Blech¬halbzeug auf eine Temperatur von etwa 950° C erhitzt und bei der Formgebung in der Umform-presse abgekühlt. Durch das schnelle Erwärmen und Abkühlen entstehen Bauteile mit extrem harten Gefügestrukturen, so dass die Blechkom-ponenten bei gleicher Performance dünnwandi¬ger ausgelegt werden können.

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»Allerdings bestimmen viele Einflussgrößen das komplexe Verfahren. Daher ist die Pro-zessregelung in seriennahen Anwendungen immer noch eine große Herausforderung«, sagt Norbert Pierschel, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Hauptabteilung Blechumformung am Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU in Chemnitz. Vor allem gilt es, das Verfahren an die Anforderungen von Industrie 4.0 anzupassen. Daran arbeiten Forscherinnen und Forscher des IWU. Sie haben bereits eine intelligente Presshärtelinie in Betrieb genommen. Das Herzstück ist eine vernetzte Prozessführung über die gesamte Prozesskette hinweg. Sie ermöglicht es, die Zustandsüber-wachung der Prozessparameter mit vorher defi¬nierten Vorgaben abzugleichen und so innerhalb kürzester Zeit auf Prozessschwankungen zu reagieren und damit Ausschuss zu vermeiden.

Mit einer am Institut entwickelten Industrie 4.0-Modellprozesskette zeigen die IWU-Experten, wie in einer thermischen Pressanlage aus vorgeschnittenen Blechplatinen fertige Bauteile mit unterschiedlichen Eigenschaften entstehen. Die Platinen werden zunächst erwärmt, dann umgeformt und dabei abgekühlt und anschlie¬ßend beschnitten. »Dabei kommt es unter anderem auf Taktzeiten im Sekundenbereich, einen reduzierten Material- und einen effizien¬ten Energieeinsatz an. Das erreichen wir durch eine vernetzte Prozessführung mit integrierter Zustandsüberwachung der Prozessparameter«, erläutert Norbert Pierschel. »Ein Fehler am

 

umgeformten Bauteil kann so direkt auf einen Wirkzusammenhang zurückgeführt werden. Wir wissen also sofort, an welcher Stellschraube wir drehen müssen und können direkt korrigierend in den laufenden Prozess eingreifen.« Das Ziel ist ein vollständig automatisierter Warmumformprozess für komplexe Bauteilgeometrien mit geringsten Fehlertoleranzen.

In der IWU-Modellprozesskette steuert ein zen¬trales Computerprogramm die Abläufe für das Umformen und Aushärten der Komponenten. Ein nicht unerheblicher Teil der Systemintelligenz steckt allerdings in einer am Institut entwickel¬ten Software, die Sensordaten im laufenden Prozess auswertet und mit deren Hilfe das Anlagenpersonal sehr schnell in das Prozess¬geschehen eingreifen kann, falls beispielsweise Werkstück- oder Werkzeugtemperaturen von den erforderlichen Vorgaben abweichen. »Wir haben informationstechnisch den gesamten Prozess abgebildet und sind in der Lage, an jeder Stelle regulierend einzugreifen«, unter-streicht Frank Schieck, Leiter der Hauptabteilung Blechumformung am Fraunhofer IWU.

Dass die vernetzte Prozessführung aus Sensorik und Steuerung sowie die neue Anlagentechnik im Zusammenspiel funktionieren, demonstrieren die IWU-Experten anhand der Umformung eines Pkw-B-Säulen-Segments. Die B-Säule befindet sich zwischen Vorder- und Hintertür des Fahr¬zeugs und gehört zu den sicherheitskritischen Strukturbauteilen einer Fahrzeugkarosserie. Der B-Säulenfuß ist im Bereich des Fahrzeugbodens verankert und trägt zur Steifigkeit der gesamten Karosserie bei. In den Pilotprozess sind unter dem Aspekt Leichtbau und Serienreife zahlreiche Daten und Informationen eingeflossen, die den Anforderungen einer industriellen Fertigung genügen. »Der gesamte Prozess unterliegt zahl¬reichen Einflussgrößen, die optimal aufeinander abzustimmen sind«, sagt Frank Schieck.

Die Fraunhofer-Forscherinnen und -Forscher wollen anhand der Modellprozesskette nicht nur die seriennahe Umsetzung von Industrie 4.0 demonstrieren, sondern auch zukunftsweisende Verfahrens- und Anlagenkonzepte erproben. Bereits beim Aufbau der Modellprozesskette arbeiteten die Experten des IWU eng mit Herstel¬lern und Anwendern zusammen. So wurde bei-spielsweise gemeinsam mit der Firma Schwartz GmbH eine neuarartige Kontakterwärmungs-anlage für die Modellprozesskette entwickelt.

 

Hierbei kommt eine zweistufige Ofentechnik zum Einsatz, die das Blech entweder in mehreren Schritten gleichmäßig oder zonenweise erwärmt. Durch die unterschiedliche Temperierung des Werkstücks lassen sich schon während des Aufheizens der Platine die Festigkeitsverläufe in bestimmten Bereichen der Bauteile beeinflussen, was für nachfolgende Beschneideverfahren und das Crashverhalten von Vorteil ist. Das Erwärmen lässt sich sehr flexibel einstellen und je nach gewählter Stufe auf sechs Bereiche variabel ver¬teilen. »Ähnlich dem Bügeleisenprinzip können wir die thermische Energie gezielt und konturnah in bestimmte Bereiche des Werkstücks lenken«, erläutert Frank Schieck.

Auch bei der Werkzeugkühlung erproben die Wissenschaftler ein am Institut entwickeltes System. Der geschlossene Kühlkreislauf basiert auf einem Rohrgeflecht, das in den Grundkörper des Werkzeugs eingefräst wurde. Die Kühlung ist nach dem Gegenstromprinzip aufgebaut, bei dem kalte und warme Luft aus entgegengesetz¬ter Richtung aneinander vorbeiströmen. Alle Kanäle lassen sich separat ansteuern. »Das hat den Vorteil einer gleichmäßigen Abkühlung und führt zu einer gleichbleibend hohen Qualität der Bauteile«, sagt Norbert Pierschel. Zudem be¬schleunigt ein wärmeleitfähiger Werkzeugstahl das Erkalten des Werkstücks.

Die Experten des IWU erproben auch neue Be-schnittverfahren. Konventionell werden die Bau¬teile nach dem Umformvorgang abgelegt und zu Laserschneidanlagen transportiert. Da der Laserbeschnitt länger dauert als der eigentliche Presshärtevorgang, müssen die Bauteile jedoch zwischengelagert werden. »Um die Taktzeiten der Prozesskette zu verkürzen und die Energieef¬fizienz zu verbessern, untersuchen wir mit dem Warmbeschnitt sowie dem Hochgeschwindig-keitsscherschneiden zwei alternative Verfahren, die in den Umform- und Abkühlprozess inte¬griert bzw. diesem direkt nachgelagert sind«, er¬klärt Frank Schieck.»Die Einbindung innovativer Fertigungskonzepte, die intelligente Vernetzung der einzelnen Anlagen und deren Sensorik sowie der Einsatz einer Wissensdatenbank führen zu einer automatisierten Regelung der Prozesse mit kürzeren Taktzeiten und weniger Materialeinsatz beim Herstellen hochfester Karosseriebauteile im Fahrzeugbau«, fasst IWU-Wissenschaftler Nor¬bert Pierschel wichtige Vorteile zusammen. »Dies gilt sowohl für Stahl- als auch für Aluminium¬oder Magnesiumbleche.«

Bislang dominieren in der Fertigung meist starre Pläne und Produktionsabläufe. Ein Beispiel ist die Getriebefertigung: Zahnräder werden bisher in fest verketteten Linien gefertigt, bei denen zum Beispiel Fräs- und Drehmaschinen miteinander verbunden sind. Fällt eine Maschine aus, steht die ganze Linie still. Weiterer Nachteil: Klein- oder Kleinstaufträge mit beson¬deren Anforderungen oder Produktmerkmalen lassen sich so kaum fertigen. »Will man hier flexibler werden, bietet es sich an, die Verkettung aufzuheben«, sagt Eckhard Hohwieler, Leiter der Abteilung Produktionsmaschinen und Anlagen-management am Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik IPK in Berlin.

Aber das ist nicht so trivial, wie es klingt. Zwar gibt es schon einige Alternativen zur Produktion in verketteten Linien wie zum Beispiel die Werkstattfertigung. Dabei werden Maschinen für ähnliche Fertigungsaufgaben zu Inseln zusammengestellt — etwa mehrere Drehmaschinen zu einer Drehmaschineninsel oder mehrere Fräsmaschinen zu einer Fräsmaschineninsel. Dann aber braucht man Methoden, die gewährleisten, dass ein Produkt die Fertigung zügig und zuverlässig durchläuft. Sonst wird am Ende ein Bearbeitungs¬schritt vergessen oder ein Auftrag bleibt auf halbem Weg durch die Produktion stecken, weil keiner weiß, wo er als nächstes hin soll.

Der Mensch steht im Mittelpunkt

Genau dort setzen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Fraunhofer IPK an. Sie entwickeln Lösungen für eine in¬tegrierte Industrie 4.0-Fabrik — unter anderem eine neuartige Prozessorganisation, die die feste Verkettung überflüssig macht, ohne dass der zuverlässige Produktionsdurchlauf der Linie verloren geht. Die Besonderheit ihrer Lösung: Bei diesem Konzept steht der Mensch im Mittelpunkt. Die

 

Entscheidungsgewalt über den Fertigungsablauf liegt bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern — während leistungs¬fähige Werkzeuge ihre Entscheidungsfähigkeit unterstüt¬zen. Dabei sorgen IT-getriebene Werkzeuge dafür, dass die Mitarbeiter auf allen Hierarchieebenen zu jeder Zeit genau die Informationen erhalten, die sie benötigen, um ihren Teil zur termingerechten Fertigstellung des Produkts beitragen zu können — vom Prozessmanagement über die Produktionspla¬nung bis zur Endmontage. Dazu müssen jedoch Maschinen direkt miteinander, mit Werkstücken und mit dem Menschen kommunizieren.

Ein Agentensystem überwacht den Fertigungsplan

Doch lässt sich die Zahnradproduktion auch ohne Ver-kettung zuverlässig steuern? Diese Frage untersuchen die IPK-Wissenschaftler gemeinsam mit Industriepartnern im Projekt »iWePro — Intelligente selbstorganisierende Werk-stattproduktion«. »Bisher wird in der industriellen Fertigung vorab ein Plan für die komplette Produktion vom Rohling bis zum einsatzbereiten Zahnrad erstellt — der wird dann nur noch abgearbeitet«, berichtet Franz Otto, wissenschaftlicher Mitarbeiter am IPK. Um Werkstattaufträge situationsgerecht zu steuern, entwickeln Otto und seine Kollegen ein Agenten¬system, das die Umsetzung des Fertigungsplans überwacht. Software-Agenten informieren unter anderem die Mitarbeiter an den einzelnen Stationen der Werkstatt, welche Maschine für den nächsten Bearbeitungsschritt eines Auftrags vorgese¬hen ist — und assistieren, wenn Umplanungsbedarf entsteht, etwa weil eine Maschine ausfällt.

»Doch bevor die Inselfertigung Realität wird, müssen wir prüfen, ob sie tatsächlich besser arbeitet als die technisch bereits sehr ausgefeilte klassische Linienfertigung«, sagt Otto.

 

Dazu entsteht in iWePro eine aufwändige Simulation, mit der die Forscherinnen und Forscher durchspielen können, welche Kombination aus zentraler Planung und flexibler Umplanung für welchen Anwendungsfall geeignet ist — und welche Eingriffe durch die Werker sinnvoll sind. Dabei simulieren die Experten auch, wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Halle mit den nötigen detaillierten Informationen versorgt werden können, etwa über Smart Devices.

 

kombinieren die Forscher die Simulation mit einem modell¬getriebenen Industrie-Cockpit und einem Montageroboter. Das Cockpit ermöglicht ein flexibles Monitoring aller Unter¬nehmensprozesse, wobei Manager jederzeit einen exakten Überblick haben, welcher Auftrag sich in welchem Bearbei¬tungsstadium befindet. Jedem Nutzer werden genau die Informationen bereitgestellt, die er für seinen Arbeitsbereich benötigt.

 

 

 

Flexibles Miteinander von Mensch und Maschine

Die Simulation der Werkstattproduktion macht alle Abläufe in der Fertigung auf einem 3D-Bild sichtbar. »Wir ahmen damit den Blick aus einem Leitstand nach«, erläutert Eckhard Hohwieler. Auf der Hannover Messe (25. —29. April 2016)

 

Der Roboter ist ein anschauliches Beispiel, wie die künfti-ge Zusammenarbeit von Menschen und Robotern in der Endmontage gestaltet sein kann. Hohwieler betont: »Mit unserem Exponat liefern wir ein Muster dafür, wie man mit industrienaher Forschung sicherstellen kann, dass Industrie 4.0 funktioniert und ein flexibleres Miteinander von Mensch und Maschine gelingt.«

 

 

 


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