Rügen Insel Rügen Reise SelMcKenzie Selzer-McKenzie
Ein Reisebericht von D.Selzer-McKenzie
Vor den Fenstern türmen sich Weißkohlköpfe. Die Scheiben sind dampfbeschlagen. In der Pfanne brutzeln Blut- und Kochwürste. Bauer Heinemann schöpft mit einer Kelle Sauerkraut aus dem Topf. Immer wieder geht die Tür auf und Einheimische treten mit lautem Hallo herein. Bevor sie sich an die hellblauen Holztische mit bestickten Deckchen set-zen, halten sie kurzen Klönschnack mit den Anwe-senden und reihen sich dann in die Schlange vor dem Tresen ein, um für Eisbein und Bier anzuste¬hen. Es ist Schlachtfest auf dem Rügenhof in Put¬garten auf der Rügener Halbinsel Wittow.
Draußen zeigt sich der Herbst von seiner schönsten
Seite. Die Sonne ist heruntergedimmt und hat ihre Bleichkraft verloren. Sie lässt Rügen leuchten wie ein Kandinsky-Gemälde. Der Himmel strahlt blau, das Laub schillert rot, gelb, grün. An den Sand-dornbüschen wachsen Beeren orange wie ein Son-nenuntergang.
„Durch unser Mikroklima ist es hier im Herbst oft wärmer als auf dein Festland", erklärt Bauer Ernst Heinemann. Mit viel Liebe zur Natur bewirtschaftet er mit seiner Frau Christa seit über zehn Jahren das Gasthaus auf dem Rügenhof, einem ehemaligen pommerschen Gutshof. Dort, wo früher 80 Milch-kühe gemolken wurden und 120 Schweine im Stall standen, hat die Gemeinde Putgarten ein Schlaraf-fenland für die Sinne und ein Kleinod der Hand-werkskunst geschaffen. Zum Anwesen gehören eine Korbflechterei, eine historische Druckerei, eine Kerzen- und Kreidewerkstatt, in der das Maskottchen Rügens — der Kreidezwerg — in Handarbeit herge¬stellt wird. Der frühere Schafstall beherbergt jetzt ei¬ne Filzerei und der ehemalige Pferdestall wurde in Ferienwohnungen verwandelt. Im Sommer kom¬men viele Tagestouristen auf einen schnellen Kaffee vorbei. Anschließend nehmen sie den Weg zum Leuchtturm, um am nördlichsten Kap Deutschlands aufs Meer zu schauen. Im Herbst ist es das Revier der Einheimischen und Naturfans, die sich auch mal gern vom Wind durchpusten lassen.
Die Weite, der Wind, der unendliche Himmel. Ein bisschen fühlt man sich am Kap Arkona wie am Ende der Welt oder doch eher wie am Anfang? Das Meer donnert mit Gebrüll gegen die Kreideküste, die hier genauso steil abfällt wie am berühmten Königs-stuhl, eine Landzunge weiter östlich. Hinunter an
den Strand führt die 230-stufige Königstreppe, die erstmals der preußische König Friedrich Wilhelm III. im Jahr 1833 bauen ließ. Unten am Kiesstrand fin¬det man nach stürmischen Herbstnächten viel leich¬ter Bernstein als im Frühjahr oder Sommer.
Tempelburg Arkona
An der nördlichsten Stelle des Kaps befinden sich noch Überreste der Tempelburg Arkona, einer Festungsanlage und Kultstätte der slawischen Ra-nen, die hier vermutlich bis ins 12. Jahrhundert sie-delten. In seiner Mitte stand einst die vierköpfige Statue des Gottes Swantevit, der weit über die Insel hinaus bekannt war. Jedes seiner Gesichter zeigte in eine andere Himmelsrichtung. Mit der Zerstörung dieses Heiligtums im Jahr 1107 begann die Christia-nisierung Rügens.
Heute markieren zwei Türme die Spitze der Insel: ein neuer und ein alter Leuchtturm. Letzterer — der nach seinem Architekten benannte „Schinkelturm" — ist über 180 Jahre alt und sieht aus wie eine hoch-kantige Truhe. In dem klassizistischen Gebäude ha-ben sich ein Museum und das Standesamt einquar-tiert. Jedes Jahr heiraten hier um die 400 Paare. Im dritten, einem stillgelegten Marinepeilturm, finden Ausstellungen statt.
Ein Spaziergang führt über einen schmalen gras-durchsetzten Steinplattenweg in eine Uferschlucht. Dort versteckt sich das Fischerdorf Vitt mit seinen 13 Häusern. Sie haben nichts von der verspielten Ostseebäderarchitektur, dennoch sehen sie aus wie aus dem Bilderbuch. Unter den mit Reet gedeckten Dächern frohlocken bunte Fensterrahmen, Rosen ranken vor der Haustür. Daneben ragt ein Baum aus „Hühnergöttern" als Kunstwerk in den Himmel. Die Steine mit dem natürlichen Loch hat man früher
den Hühnern ins Nest gelegt, weil sie besonders viele Eier legen sollten. Hier gibt es keinen Motorenlärm, keine Ampeln, keine Verkehrsschilder — nur eine Handvoll Häuser, das Meer und die Möwen.
In einer Scheune hackt ein Bauer Holz für den Winter, ein anderer steht mit Strickpulli und Schirmmütze am Strand und schaut hinaus aufs Meer — wie ein „Utkieker". So nannte man die Männer, die damals während der Uferpredigten nach Heringsschwärmen Ausschau hielten und den Pfarrer unterbrachen, sobald sie welche entdeckten. Dann stürzten sich alle in die Boote und warfen die Netze aus. Viele Heringe kommen nicht mehr vor-bei, dafür im Sommer jede Menge Touristen¬schwärme: „60 bis 70 Busse pro Tag", schätzt der Bauer. „Herbst ist die beste Zeit, da ist alles fried¬lich", sagt er und schaut wieder aufs Meer.
Erhalt der Natur
In Fischerhemd und mit Lederkäppi auf dem Kopf könnte man sich Ernst Heinemann auch gut als Fischer vorstellen — oder als Rinderzüchter, der er einmal war. Umso erstaunter sind Besucher, wenn sie erfahren, dass er Bürgermeister von Putgarten ist. Zu gern macht er sich einen Spaß daraus, die Menschen zu verblüffen, indem er seine ehrenamt¬liche Tätigkeit bei der Gemeinde nicht gleich offen¬bart. Zum Beispiel wenn er Gäste ermahnt, die ver¬botenerweise mit dem Auto bis zu den Leuchttürmen vorfahren, obwohl sie der Umwelt zuliebe das blau¬weiße Bähnlein dafür nutzen sollten. „Besucher ah¬nen oft nicht, dass im Grasstreifen, auf dem sie par¬ken wollen, Pflanzensamen gesät sind, die erst im nächsten Frühjahr sprießen", sagt Heinemann. Er kämpft für den Erhalt der Natur am Kap Arkona, denn es steht als Flächendenkmal unter Schutz.
Obendrein ist er ein Verfechter der natürlichen Lebensart und der naturbelassenen, regionalen Esskultur. Alles, was er herstellt, ist ohne künstliche Zusatzstoffe, vom Quittenlikör bis zum Sand-dornschinken. „Wir verkaufen keine Übernachtung und kein Essen, sondern eine Lebensphilosophie", so Heinemann.
Kiloweise Beeren
Jeden Herbst türmen sich im Gutshof-Garten Zweige mit prall gefüllten Sanddornfrüchten auf den Schubkarren, geerntet von der hauseigenen biologi¬schen Plantage. In Holzkisten warten kiloweise Bee¬ren auf ihre Verarbeitung. Urlauber können bei de¬ren Ernte helfen und danach ihren eigenen dick¬flüssigen Saft pressen lassen. Er enthält fünfmal mehr Vitamin C als der von Zitronen und dient ebenso der Abwehr von Erkältungen.
„Am besten schmeckt er in Pfefferminztee", versi-chert Angelika Berwing, die mit ihrem Mann an die-sem Tag den Rügenhof besucht, um die kleinen Powerfrüchte zu kaufen. Normalerweise erntet sie jedes Jahr wilden Sanddorn vor ihrer Haustür bei Glowe ein paar Büsche weiter südlich. In traditionel¬ler aufwendiger Arbeitsweise quetscht sie dabei die Beeren noch am Strauch mit der Hand aus. Das er-gibt über 30 Flaschen Saft. Bauer Heinemann macht aus Sanddorn auch Marmelade, Torte, Likör und Tee. Mit den Ernteresten räuchert er Salami. Der Garten hinter dem Haus leuchtet im Herbst knallbunt: Orange fließt der Sanddornsaft aus der Presse, in der grünen Hecke blühen lilafarbene Malven, am Baum hängen noch rotbäckige Äpfel. Nur am Geruch erkennt man, dass der Sommer vor-bei ist, denn aus der Gaststube duftet es nach Kohl und Kochwurst
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