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Ein Reisebericht von D.Selzer-McKenzie
Es ist 29 Grad heiß in 1hwa. Der Bus rumpelt durch die Schlaglöcher der Asphaltstraße. Drinnen schuftet die Klimaanlage und kühlt 19 schwitzende Gemüter. Mitten in der Steppe stoppt der Fahrer. Die Reisenden steigen aus und lassen sich während der Pause vom Wind die Haare fönen. Die Berge sind weit weg. Kein Baum, kein Haus, an dem das Auge sich festhalten kann. Das Land ist ein einziger blau¬er Himmel mit einem silbrig-grünen Streifen Beifuß am Boden, der nach Wildnis duftet. Am liebsten möchte man auf den Bus klettern in der Hoffnung, dass das Auge von dort oben einen Anker findet.
Riesiger Kreis aus Steinen
Ein paar Steppenadler erfüllen den visuellen Wunsch und kreisen über den Köpfen. Vielleicht wollen sie nur auf die flachen Steine am Boden auf¬merksam machen, die einen riesigen Kreis bilden und der Grund für den Busstopp sind. Hier hat 2001 ein deutsch-russisches Archäologenteam einen Sensationsfund gemacht, der von seiner Bedeutung mit dem Grabfund Tutanchamuns in Ägypten ver-glichen wird: Ein skythisches Fürstengrab mit über 6000 Schmuckstücken aus Gold! Nachdem ein Teil davon in Ausstellungen als „Das Gold der 'Iliwa" um die Welt ging, wird der Schatz des sogenannten
Arzan II jetzt im Nationalmuseum in der Hauptstadt Kyzyl von uniformierten Bodyguards bewacht.
In Tuwa sind archäologische Funde keine Selten¬heit. Allein in der Ebene bei Arzan liegen hunderte Hügelgräber, die meisten unerforscht. Tuwa ist eine unabhängige russische Republik im Süden Sibi¬riens und ein Stecknadelkopf in der sibirischen Landkarte — gerade mal halb so groß wie Deutsch¬land. Keine andere Region der Erde ist weiter von den Ozeanen entfernt. Und es ist wohl das einzige Land, in dem Polar- und gleichzeitig Wüstentiere zu Hause sind: Rentiere und Kamele, afrikanische Trappen und Schneehühner. Im Sommer ist es in diesem Teil Sibiriens backofenheiß und im Winter gefrierschrankkalt. Die Temperaturspanne reicht von plus 50 bis minus 50 Grad. Dauerfrost gibt es hier nicht. Der fängt erst weiter nördlich an.
Hier an der Grenze zur Mongolei lebte das Türkvolk jahrhundertelang nomadisch. Im Laufe der Ge-schichte eroberten viele Völker die Region: Hunnen, Uiguren, Kirgisen, Mongolen und Chinesen. Die meisten Tuwa, die äußerlich den Mongolen ähneln, sind in der Hauptstadt tätig und schicken ihre Kinder hinaus, damit sie sich um das Vieh küm-mern. Es gibt nur zwei Straßen, die ins Land führen, aber noch keinen Eisenbahnanschluss. Doch in ein paar Jahren soll die Anbindung an die Transsibiri
sche Eisenbahn fertig sein. Dann wird ein Touristen boom erwartet.
Auf eigene Faust zu reisen ist schwierig, zumal di lliwiner eine alttürkische Sprache sprechen, di selbst Russen und Mongolen nicht verstehen. Dahe buchen die meisten Urlauber dieselbe organisiert Bus-Rundreise über verschiedene Veranstalter
führt von der sibirischen Stadt Krasnorjarsk nach Tuwa und in die Nachbarrepublik Chakassien. Ein Besuch der beiden größten Wasserkraftwerke steht ebenso auf dem Programm wie Schuschenskoje, das Dorf, in dem Lenin von 1897 bis 1900 in Verban¬nung lebte. Das Wohnhaus gehört zu einem kleinen Museumsdorf, das die sibirische Lebensart um die Jahrhundertwende zeigt. Anschließend geht es über das Sayangebirge, durch kleine Dörfer, weite Steppen und schließlich durch die Wälder der Taiga. Über¬nachtet wird in Jurten oder einfachen Hotels.
Die Mitte Asiens
Die meisten der 300.000 Einwohner Tuwas leben in der Hauptstadt Kyzyl. „Hier stehen wir in der Mitte Asiens", sagt Anna, die deutschsprachige Reisefüh¬rerin. Dabei zeigt sie auf den Obelisken, der vor ihr wie ein überdimensionaler Zeigefinger in den Him¬mel ragt. Am Fuße des Monuments vereinen sich die Flüsse Großer und Kleiner Jenissej zu einem mäch¬tigen Strom, der nach über 4000 Kilometern ins Nordpolarmeer fließt. Dann zeigt Anna auf den Horizont: „Der neu gemessene Mittelpunkt liegt aber weiter dort", sagt sie. 1000 Kilometer weiter südöst¬lich erhebt das chinesische Dorf Baojiacaozi in der Provinz Xinjiang ebenfalls den Anspruch auf die Mitte. Wer Recht hat, wird sich wohl nicht feststellen lassen, da es unterschiedliche Messmethoden gibt. In Tuwa wird auch der Ursprung der Kehlkopfmusik vermutet, die man hin und wieder in Deutschlands Fußgängerzonen hört. Eine Kostprobe davon erhal-ten die Urlauber abends im Jurtencamp: Andrey Mongush hat die Augen geschlossen. Auf der Stirn sammeln sich Schweißperlen. Er spitzt den Mund und presst ein seltsames Röhren hervor, das nicht
von dieser Welt zu sein scheint und Gänsehaut ver¬ursacht. Der Ton ist so tief und durchdringend, als wolle er die Steppe bis in den Ural beschallen. Gleichzeitig ertönt eine pfeifende, fast zwitschernde Melodie, so dass man unwillkürlich die Jurte nach einem verirrten Vogel absucht. Aber Andrey singt al¬lein — zwei Stimmen gleichzeitig. Das ist die Kunst des Chöömej, ein kompliziertes Zusammenspiel von Brust- und Bauchatmung. Es lockt nicht nur Musik¬wissenschaftler nach Zentralasien, sondern auch Anatomen und Physiologen. Wie viele seiner Landsmänner hat Andrey die tuwinische Tradition als Kind beim Rinderhüten vom Vater gelernt. Die alten Volkslieder handeln von Mädchen und Pferderennen. Ein Trommelfeuer imitiert dabei das Aufschlagen hunderter Hufe im heißen Steppen-sand. Auf seiner neuen CD mischt Andrey den Ge-sang mit Bassgitarre und Synthesizer. Dass der Stil ankommt, zeigen zahlreiche Auszeichnungen und Konzertanfragen. Vor ein paar Jahren ist er mit der Gruppe Huun Huur Tu durch Europa, die USA, Australien und Neuseeland getourt. „Das Kehlkopf- singen ist sehr anstrengend. Dabei fühle ich meinen Puls rasen und den Blutdruck steigen wie ein Ex¬tremsportler", sagt Andrey. Deshalb tankt er regel¬mäßig Energie bei einer befreundeten Schamanin.
Mystischer Glaube
Früher hatte jede Sippe einen eigenen Schamanen. Er oder sie beschwor die Geister für eine erfolgreiche Jagd, um Krankheiten zu heilen oder um Vergebung für Sünden zu bitten. Im Kommunismus der 40er- bis 60er-Jahre wurden alle Schamanen (wie auch Buddhisten) verfolgt. Man verbrannte ihre Trom¬meln, verbot jegliche Rituale. Erst nach Auflösung
der Sowjetunion begann der mystische Glaube wie¬der zu blühen. 1997 trat das freie Religionsrecht in Kraft. Seitdem haben sich viele Schamanen zu Or¬ganisationen zusammengeschlossen wie im Scha¬manenkrankenhaus in Kyzyl. Sie besitzen Handys und Websites und halten weltweit Konferenzen.
Weihrauch in der Nase
Am nächsten Abend kommt ein Schamane ins Jurtencamp, um der Gruppe viel Glück für die Reise zu wünschen. Es ist Vollmond — ein perfekter Tag für das Anrufen der Geister. Auf dem Kopf des Heilers thront ein gebogener Fächer aus Vogelfedem. Das Gesicht ist zerknittert wie Pergamentpapier. An sei¬nem Gewand hängen kleine Glöckchen, die bei je¬der Bewegung klingeln. Die Reisenden sitzen auf Holzbänken um das Lagerfeuer herum. Beißender Weihrauch steigt in die Nase. Der Schamane bewe¬delt jeden mit den dampfenden Sträuchern und murmelt dabei Unverständliches. Ohne Vorwarnung knallt er plötzlich mit einer Peitsche einmal auf je¬den Rücken — das soll böse Geister austreiben. Der Schmerz ist auszuhalten, aber die meisten zucken vor Schreck gehörig zusammen. Schließlich nimmt er Kontakt zur anderen Welt auf: Er trommelt, tanzt sich in Trance und krächzt dabei wie ein Rabe. Die lliwa hatten schon immer einen Hang zum Übersinnlichen. In ihrer Welt hat alles eine Seele. Die Berge sind Großväter, die Flüsse sind Schwestern und die Steine sind ganz und gar nicht leblos wie in unserer Welt. Wenn man einen Stein bewegt, weint er drei Tage lang, so heißt es. Mag sein, dass dieser Respekt vor der Natur ein Grund ist, warum der Schatz im Fürstengrab über Jahrtausende unent¬deckt in der Erde bleiben konnte
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