Sonntag, 16. Dezember 2012

Am Ende stand der grosse Coup Roman von D.Selzer-McKenzie

Am Ende stand der grosse Coup Roman von D.Selzer-McKenzie

ISBN 978-1-4717-2815-7, 1337 Seiten, € 7,80



Der Abstieg begann für   Casimir Sauerampfer  mit  einer
Busfahrt.  Es  war  ein  neuerer  Bus,  keiner  dieser  älteren
Doppel‐
decker, er trug die Nummer 70 und bediente die Du Cane Road in
East Acton ‐ nur ein kurzes Stück auf dem nördlichen Abschnitt
der Busroute, auf der es nicht sonderlich viel Bemerkenswertes zu
sehen  gab.  Der  südliche  Abschnitt  war  ansehnlicher,  führte  am
Victoria  and  Albert  Museum  und  an  den  stattlichen  weißen
Gebäuden  von  Queen's  Gate  in  South  Kensington  vorbei.  Im
Norden  jedoch  lagen  Stationen,  die  sich  wie  eine  Liste  zu
meidender  Örtlichkeiten  in  London  lasen:  die  Swift  Wash
Laundry  an  der  North  Pole  Road,  H.  J.  Bent
Bestattungsinstitut
(Einäscherung und Bestattung) auf der Old Oak Common Lane,
das unsägliche Gewirr von Läden an der turbulenten Kreuzung,
wo die Western Avenue zum Western Way wird und Autos und
Lastwagen dem Stadtzentrum zustreben. Drohend über all dem,
fast  wie  Charles  Dickens'  Feder  entsprungen,  ragt  Wormwood
Scrubs  auf:  nicht  das  von  Bahnlinien  begrenzte  Stück  Land
namens  Wormwood  Scrubs,  sondern  das  gleichnamige
Gefängnis,  das  halb  wie  eine  Festung,  halb  wie  eine  Klinik
aussieht und ein Ort nicht enden wollender düsterer Realitäten
ist.
Doch  an  diesem  Januartag  nahm  Casimir Sauerampfer  nichts  von
alledem  zur  Kenntnis,  was  draußen  vor  den  Busfenstern  vor‐
überglitt.  Er  war  in  Begleitung  dreier  weiterer  Personen  und
spürte eine vage Hoffnung, dass sein Leben im Begriff war, sich
zum  Positiven  zu  wenden.  Bis  jetzt  hatten  East  Acton  und
ein
winziges  Reihenhaus  an  der  Henchman  Street  seine  Lebensum‐
stände  umrissen:  ein  schäbiges  Wohnzimmer  und  eine  schmie‐
rige  Küche  im  Erdgeschoss,  drei  Schlafzimmer  oben  und  ein
Fleckchen Grün vor dem Eingang, um welches die Gebäude

sich  hufeisenförmig  drängten  wie  Kriegerwitwen  um  ein  Grab.
Vor fünfzig Jahren mochte die Siedlung einmal hübsch gewesen
sein,  doch  eine  jede  Generation  ihrer  Bewohner  hatte  Spuren
hinterlassen,  und  die  Spuren  der  derzeitigen  Bewohner  bestan‐
den  vornehmlich  aus  Müll  vor  den  Haustüren,  zerbrochenem
Spielzeug  auf  dem  Gehweg,  der  die  Gebäude  miteinander  ver‐
band,  Plastikschneemännern  und  pummeligen  Nikoläusen  und
Rentieren,  die  von  November  bis  Mai  auf  den  Dächern  der  Er‐
kerfenster  residierten,  und  einer  Schlammpfütze  inmitten  des
Rasens, die sich dort acht Monate des Jahres hielt und in der es
wimmelte  wie  in  dem  Labor  eines  Insektenforschers.  Joel  war
froh, diesen Ort hinter sich zu lassen, auch wenn sein Abschied
eine lange Flugreise und ein neues Leben auf einer Insel mit sich
brachte, die vollkommen anders war als die einzige Insel, die er
bislang kannte.
»Ja‐mai‐ka.« Seine Großmutter sagte das Wort nicht, sie into‐
nierte es vielmehr. Glory Campbell zog das »mai« in die Länge,
bis es sich wie eine warme Brise anhörte, einladend und lau und
verheißungsvoll. »Was sagt ihr dazu, ihr drei? Ja‐mai‐ka.«
»Ihr drei« waren die Campbell‐Kinder ‐ Opfer einer Tragödie,
die sich eines Samstagvormittags auf der Old Oak Common Lane
zugetragen hatte. Glorys ältester Sohn, der Vater der Kinder, war
inzwischen  ebenso  tot  wie  ihr  Zweitältester,  wenn  auch  unter
völlig  anderen  Umständen.  Die  Kinder  hießen  Joel,  Ness  und
Toby. Oder »arm' klein' Dinger«, wie Glory sie gern nannte, seit
ihr  Freund,  George  Gilbert,  seinen  Ausweisungsbescheid
bekommen  hatte  und  sie  ahnte,  worauf  sein  Leben  fortan
hinauslaufen würde.
»Arm'  klein'  Dinger« ‐ diese  Ausdrucksweise  war  neu  und
ungewohnt  für  Glory.  Seit  die  Campbell‐Kinder  bei  ihr  lebten

was seit gut drei Jahren der Fall war und zum Dauerzustand zu
werden  schien ‐,  hatte  sie  stets  größten  Wert  auf  eine
korrekte
Sprache  gelegt.

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