Am Ende stand der grosse Coup Roman von D.Selzer-McKenzie
ISBN 978-1-4717-2815-7, 1337 Seiten, € 7,80
Der Abstieg begann für Casimir Sauerampfer mit einer
Busfahrt. Es war ein neuerer Bus, keiner dieser älteren
Doppel‐
decker, er trug die Nummer 70 und bediente die Du Cane Road in
East Acton ‐ nur ein kurzes Stück auf dem nördlichen Abschnitt
der Busroute, auf der es nicht sonderlich viel Bemerkenswertes zu
sehen gab. Der südliche Abschnitt war ansehnlicher, führte am
Victoria and Albert Museum und an den stattlichen weißen
Gebäuden von Queen's Gate in South Kensington vorbei. Im
Norden jedoch lagen Stationen, die sich wie eine Liste zu
meidender Örtlichkeiten in London lasen: die Swift Wash
Laundry an der North Pole Road, H. J. Bent
Bestattungsinstitut
(Einäscherung und Bestattung) auf der Old Oak Common Lane,
das unsägliche Gewirr von Läden an der turbulenten Kreuzung,
wo die Western Avenue zum Western Way wird und Autos und
Lastwagen dem Stadtzentrum zustreben. Drohend über all dem,
fast wie Charles Dickens' Feder entsprungen, ragt Wormwood
Scrubs auf: nicht das von Bahnlinien begrenzte Stück Land
namens Wormwood Scrubs, sondern das gleichnamige
Gefängnis, das halb wie eine Festung, halb wie eine Klinik
aussieht und ein Ort nicht enden wollender düsterer Realitäten
ist.
Doch an diesem Januartag nahm Casimir Sauerampfer nichts von
alledem zur Kenntnis, was draußen vor den Busfenstern vor‐
überglitt. Er war in Begleitung dreier weiterer Personen und
spürte eine vage Hoffnung, dass sein Leben im Begriff war, sich
zum Positiven zu wenden. Bis jetzt hatten East Acton und
ein
winziges Reihenhaus an der Henchman Street seine Lebensum‐
stände umrissen: ein schäbiges Wohnzimmer und eine schmie‐
rige Küche im Erdgeschoss, drei Schlafzimmer oben und ein
Fleckchen Grün vor dem Eingang, um welches die Gebäude
sich hufeisenförmig drängten wie Kriegerwitwen um ein Grab.
Vor fünfzig Jahren mochte die Siedlung einmal hübsch gewesen
sein, doch eine jede Generation ihrer Bewohner hatte Spuren
hinterlassen, und die Spuren der derzeitigen Bewohner bestan‐
den vornehmlich aus Müll vor den Haustüren, zerbrochenem
Spielzeug auf dem Gehweg, der die Gebäude miteinander ver‐
band, Plastikschneemännern und pummeligen Nikoläusen und
Rentieren, die von November bis Mai auf den Dächern der Er‐
kerfenster residierten, und einer Schlammpfütze inmitten des
Rasens, die sich dort acht Monate des Jahres hielt und in der es
wimmelte wie in dem Labor eines Insektenforschers. Joel war
froh, diesen Ort hinter sich zu lassen, auch wenn sein Abschied
eine lange Flugreise und ein neues Leben auf einer Insel mit sich
brachte, die vollkommen anders war als die einzige Insel, die er
bislang kannte.
»Ja‐mai‐ka.« Seine Großmutter sagte das Wort nicht, sie into‐
nierte es vielmehr. Glory Campbell zog das »mai« in die Länge,
bis es sich wie eine warme Brise anhörte, einladend und lau und
verheißungsvoll. »Was sagt ihr dazu, ihr drei? Ja‐mai‐ka.«
»Ihr drei« waren die Campbell‐Kinder ‐ Opfer einer Tragödie,
die sich eines Samstagvormittags auf der Old Oak Common Lane
zugetragen hatte. Glorys ältester Sohn, der Vater der Kinder, war
inzwischen ebenso tot wie ihr Zweitältester, wenn auch unter
völlig anderen Umständen. Die Kinder hießen Joel, Ness und
Toby. Oder »arm' klein' Dinger«, wie Glory sie gern nannte, seit
ihr Freund, George Gilbert, seinen Ausweisungsbescheid
bekommen hatte und sie ahnte, worauf sein Leben fortan
hinauslaufen würde.
»Arm' klein' Dinger« ‐ diese Ausdrucksweise war neu und
ungewohnt für Glory. Seit die Campbell‐Kinder bei ihr lebten
‐
was seit gut drei Jahren der Fall war und zum Dauerzustand zu
werden schien ‐, hatte sie stets größten Wert auf eine
korrekte
Sprache gelegt.
Sonntag, 16. Dezember 2012
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