Neufundland Canada Reise Travel SelMcKenzie Selzer-McKenzie
Ein Reisebericht von D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/-tE0qikYVuI
4 »Das da hinten
ist es!" Der Mann beim Wohn-mobilverleih nickt Richtung Parkplatz. Das da
hinten ist ein Wohnmobil von der Größe eines Bahnwaggons. Oder beinahe. Vor
meinem inne¬ren Auge ziehen augenblicklich Wendemanöver auf Waldwegen, in
Randstreifen eingesunkene Reifen und die Suche nach drei bis vier
hinterein-anderliegenden freien Parkboxen auf. Ob sie viel-leicht eines drei,
vier Nummern kleiner haben? Haben sie nicht. Alles ausgebucht. Hochsaison.
"Sie werden sich in dem wie zu Hause fühlen", sagt der Mann beim
Wohnmobilverleih. „Es gibt nichts Schöneres, als mit so einem Fahrzeug durch
die Wildnis zu rollen!"
Dann wollen wir mal! Von Halifax in Nova Scotia Richtung
Norden, mit der Fähre rüber nach Neu-fundland, dann wieder Richtung Norden, bis
es nicht mehr weitergeht. Anschließend auf der an-deren Seite von Kanadas
östlichsten Provinzen zurück, und das alles in 14 Urlaubstagen.
Während der ersten Stunden Wohnmobilfahrt kommt Kanada nicht
so recht zum Zug. Kurven¬lage und Verhalten am Berg stehen im Vorder¬grund, zum
ersten Mal im Leben wird für über 250 Dollar getankt. Und wie so ein
bewohnbarer Sattelschlepper bei einer Vollbremsung reagiert - gleich mal
testen. Aber abseits seiner Küsten ist Nova Scotia sowieso nicht besonders
spannend.
Aber dann nach einer kleinen Brücke auf Cape Breton ist
alles anders. Plötzlich sind da Wälder, überall, tiefe, dunkle, bis zum
Horizont. Und am Horizont angekommen, reichen neue Wälder schon wieder bis zum
nächsten. Die Straße führt schnurstracks geradeaus. Irgendwann haben sich
Wälder und Zeitverschiebung heimlich verbün¬det und einen hypnotischen Tunnel
gebastelt, der einen einzusaugen droht. Dann ist es besser, sich um ein Zuhause
für die Nacht zu kümmern.
Landschaften wie Melodien
Am nächsten Morgen nieselt es, aber davon lässt sich dieses
Cape Breton nicht einschüchtern, oh nein: Wenn Landschaften Melodien sein
könn¬ten, dann wäre der Norden Nova Scotias der Fortissimo-Part einer
Ouvertüre, die mit mehr Pauken und Trompeten und Tschingderassa-bumm daherkommt
als Wagners Walküren. Ist das ein Land! Im Innern drückt sich die Straße an
lotrecht stürzenden Wänden entlang, tief unten glitzern Seen wie Pinselstriche
aus feinem Silber. Die Wälder sehen aus, als wüssten sie Dinge, die der Rest
des Planeten vergessen hat, an die sich nur noch sie erinnern können, sie und
der Wind. Und an den Küsten klatschen Land und See in schäumendem Aufruhr
zusammen. Gischt-Fon-
tänen schießen hoch hinauf in die Nebelwände. Es riecht nach
Salz und Tang, und der Sturm drückt heulende Beulen in die Welt. Wer hier
an¬hält und aussteigt, ist in 20 Sekunden salzglasiert. An einem kleinen See
irgendwo im Inselinnern gibt es dann den ersten Elch. Er liegt nach einem
kurzen „Ich vertrete mir mal die Beine"-Spazier¬gang mehr oder weniger
einfach auf dem Weg. Offensichtlich hat er gerade zu Mittag gegessen: Er gibt
komische Grunz- und Schmatzgeräusche von sich, während er aus seinen großen
Elch-augen hinüberschaut. Ein lauter Rülps, dann fal¬len ihm die Augen zu -
nicht zu fassen. Dann folgt leises Schnarchen.
Geschnarcht wird später auch auf der Überfahrt von Cape
Breton nach Neufundland - einige Fahrgäste halten ein Nickerchen. Alle anderen
sind putzmunter und tanzen zur Musik einer Liveband, die auf einer kleinen
Bühne in der Bar
schottische Freiheitslieder aus dem 18. Jahrhundert spielt.
In Neufund¬land haben sich viele schottische Auswanderer niedergelassen, solche
Musik kann man vor allem an der Westküste überall hören. „Ein Lied über unsere
Heimat", kündigt der Sänger die Zugabe an. Anschließend singt er von
Neufundlands Küsten, die seine Vorfahren an die Schott¬lands erinnert haben.
Schluss mit Kanada
Die Fähre legt an. Wir fahren von Bord und weiter Richtung
Norden und dann immer geradeaus. Irgend¬wie ist es gleich spürbar. Mit den
Kilometern wird das Gefühl stärker, und der Blick auf die Karte schafft
Gewissheit: Hier ist langsam Schluss. Schluss mit der Zivilisation, Schluss mit
Kanada. Etwa ab Green Point. Oder ab Daniel's Harbour. Die Bäume weichen
zurück, werden erst mickriger, dann deutlich weniger. Dafür kommen die Sümpfe,
Tümpel, kleine Seen, große schimmernde Flächen. Das Land wird weit, das Land
wird offen, das Land wird leer, zwischen hier und Grönland leben nur noch ein
paar tau¬send Menschen. Hier geht Kanada zu Ende. Und ein paar hundert
Kilometer weiter nördlich wur¬de die Neue Welt entdeckt von den Wikingern,
wahrscheinlich um das Jahr 1000 herum. Der ers¬te auf kanadischem Boden
geborene Wikinger hieß übrigens Snorre. Wie der aus „Wickie und die starken
Männer".
Nachfahren der Wikinger
Solche Geschichten erzählen sie überall und immer wieder,
die Menschen in den kleinen Lebensmittelgeschäften, die Tankstellenpächter und
die Campingplatzbesitzer, wenn sie einem beim Einparken des großen Wohnmobils
gehol¬fen haben. Dass die Inuit eigentlich Nachfahren
der Wikinger seien, ganz bestimmt. Dass es im Innern
Neufundlands 20 Mal so viel Wölfe wie Menschen gebe. Und dass der Eisberg, der
einst die Titanic versenkte, so nah an der kleinen Stadt Twillingate an der
Ostküste vorbeigetrieben sein soll, dass er locker hätte weggeschleppt werden
können, wenn zu ahnen gewesen wäre, auf wel¬chem unheilvollen Kurs er sich
befand!
Iceberg-Watching-Zentrum
Twillingate klammert sich so an den Rand Neu¬fundlands, als
habe es Angst hinunterzufallen. Der sympathische Ort macht sein Geld
tatsäch¬lich mit Eisbergen, die mit der Strömung aus Grönland kommen. Weil so
ein bläulich schim-mernder Eisberg ein ziemlich tolles Erlebnis ist, hat sich
das Städtchen zum Iceberg-Watching-Zentrum Neufundlands - ach was - der Welt
er¬nannt. Leider lassen sich heute keinerlei Eisberge von den Aussichtspunkten
an der Küste ausma-chen. Aber ein feiner, leerer Campingplatz. Das Wohnmobil
lässt sich direkt am Rand einer klei¬nen Klippe parken. Während eines Biers auf
ei¬nem Felsen ackert sich draußen über dem Meer die Sonne durch die eherne
Wolkenschicht. Ein warmes Licht strömt über das Land. Und hinten
am Horizont ist bereits zu sehen, wie der Abend ein kleines
Eckchen Ewigkeit auf die Erde holt.
Am nächsten Morgen die Küstener-kundung. Rest-Kanada hat
seine Seen, Neufundland hat Buchten, Landzungen und Halbinseln. Selbst dort, wo
die Küstenlinie auf der Landkarte für ein oder zwei Zen¬timeter relativ gerade
ausschaut, ver¬läuft sie in Wirklichkeit wild gezackt - Kartografen-Maßstäbe
sind viel zu plump, um Neufundlands fein zise¬lierte Gestade nachzuzeichnen.
Hin¬ter jeder Kurve recken sich Fels¬nasen und Vorsprünge neugierig ins Meer,
jede Siedlung hat mindestens zwei oder drei dieser geologischen Hallodris. Fast
überall haben die Menschen sie in Beschlag genommen, haben kleine Hütten auf
sie gesetzt, Stege gebaut, Stufen in den Fels geschlagen. Als wollten sie jeden
Quadratmeter nutzen, ihren Nachbarn aber gleichzeitig Platz und Luft las¬sen.
Als wollten sie sich vergewissern, dass ihre Heimat ein Land für alle bleibt.
Und eines, in dem die Dinge Raum zum Atmen und Wachsen haben.
Erstaunlicherweise bleibt einem ein Stück davon, ein Stück
von der Ruhe, von der Luft, von dem Gefühl, durchatmen zu können. Es ist einem
nicht ganz klar, woher es kommt, dieses gute Gefühl. Doch das hat Kanada mit
einem ge¬macht - das ist die Weite Neufundlands und das sind die Wälder von
Nova Scotia, die das ange-richtet haben. Und so geht es weiter, auf die Fähre
und in Nova Scotia wieder hinunter und zurück bis nach Halifax, wo man dem Mann
vom Wohnmobilverleih ein „Es gibt wirklich nichts Schöneres, da hatten Sie
recht" zuruft.
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