Oper Arena von Verona – von SelMcKenzie Selzer-McKenzie
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/JEgAj5o5L1A
4 Jedem Anfang
wohnt ein Zauber inne, vor allem aber diesem Anfang jetzt und hier, zur blauen
Stunde nach Sonnenuntergang. In der milden Brise flattern die Fahnen, und im
Amphitheater von Verona erlöschen, von un¬sichtbarer Hand gesteuert, nach und
nach fast alle Scheinwerfer. Tausende von Lichtpünktchen flackern im Parkett
und auf den Rängen, bewegen sich wie eine Kompanie von Glühwürmchen, die
Ballett tanzt. Als hier 1913 zum ersten Mal Verdis „Aida" aufgeführt
wurde, gab es keinen Strom an den Sitzplätzen in der Arena: Wer sein Libretto
studieren wollte, musste eine Kerze mitbringen. Das Ritual des Kerzenanzündens
hat überlebt.
Die Römer konnten Akustik
Auf der Bühne werden sie gleich die ganz große Oper geben
und das ewige Lied von Freundschaft und Liebe spielen, von Hass und Eifersucht,
von Erlösung und Tod. Unter freiem Himmel, ohne Mikrofon oder Verstärker, weil
die Römer schon vor 2000 Jahren etwas von Akustik verstanden. Die Musiker im
Orchestergraben sind trotz all ihrer einstudierten Professionalität ein wenig
nervös, was auch für die Sänger, Solisten und vie¬len Statisten gilt. Bei einer
typischen „Aida" nach traditionell monumental inszenierter Veroneser Art
umgibt ein Hofstaat von 500 Priestern, Soldaten, Sklaven, Dienern und
Schaulustigen
(und gerne auch ein paar Pferden) die nubische Prinzessin,
die mit Amneris, der Tochter des Pharaos Ramses, ums Herz des ägyptischen
Heerführers Radames kämpft. Die ersten Takte von Verdis Werk erlösen zwar die
15.000 Besucher in der Arena von der erwartungsvollen Erregung, die sich bei
ihnen den ganzen Tag lang
Die Schauspieler verbringen ihre Pause in den Katakomben der
Arena.
angestaut hat. Doch einer im Publikum bekommt feuchte Hände
- und konzentriert sich.
Er kommt zu jeder Vorstellung, die ganze Opern¬saison bis
Anfang September, und braucht für keine eine Eintrittskarte. Er hat seinen
festen Standort: von der Bühne aus gesehen rechts, etwas erhöht im Rang - bei
weitem nicht der bes¬te Platz, aber einer, von dem aus er das Gesche¬hen gut
beobachten kann Ob sie nun wie heute Abend „Aida" spielen oder wie in den
nächsten Tagen „Nabucco", „La Traviata", „Il Trovatore" und
„Rigoletto" - er braucht kein Libretto. Er kennt alle Opern auswendig,
singt sie im Kopf mit. Schwarze Hose, weißes Hemd, grau melier¬tes Haar mit
Seitenscheitel, blitzende Augen, eine tiefe Bariton-Stimme, vor allem aber zwei
flinke Hände, trotz der großen Beanspruchung ganz ohne Schwielen: Giancarlo
Soave ist der Cla¬queur der Arena di Verona. Er organisiert den Applaus der
14.999 anderen Zuschauer - ehren¬amtlich, ohne Bezahlung.
Signale fürs Publikum
Wenn der Tenor zur Arie „Celeste Aida" anhebt und die
holde Sklavin als Königin seiner Ge¬danken rühmt, beginnt es in Signore Soave
zu kribbeln. Noch ein paar Takte, der Solist hält in¬ne - und der Claqueur
setzt ein. „Brave, ruft er, klatscht energisch in die Hände und bricht damit
den Masse. Vom Parkett mit den gepolsterten Sesseln bis
hinauf in die letzte Reihe an der Kante des Amphitheaters, wo man auf den
kühlen römischen Steinquadern sitzt, frisst sich der Applaus durch die Reihen
wie ein vom Wind angefachtes Buschfeuer. „Ich ma¬che den Künstlern Mut. Und
signalisiere dem Publikum, wann es applaudieren kann. Die Leute sind
vorsichtig: Niemand will sich mit einem Klatschen zum falschen Zeitpunkt
blamieren", sagt Giancarlo Soave. Der rüstige 75-Jährige hat zwar früher
als Krankenpfleger gearbeitet, doch sein Leben gehört der Veroneser Oper.
„Star¬tenor Mario del Monaco hat mich vor vielen Jahrzehnten einmal gefragt, ob
ich für ihn den Applaus machen könne. Ich habe zugesagt und bin seither immer
hier." Ob er Publikum und Künstler mit seinen Beifallsbekundungen nicht
täuscht? „Ach was", sagt der Claqueur, „wem ei¬ne Vorstellung nicht
gefällt, dem gefällt sie nicht. Gegen 15.000 Besucher, denen eine Inszenierung
nicht passt, kann ich beim besten Willen nicht anklatschen."
Bezahlte Auspfeifer
Doch was ist, wenn ihm selbst eine Darbietung missfällt?
Wenn eine Stimme für Giancarlo Soave das falsche Timbre hat? Wenn der
Applaus-Initiator spürt, dass die sängerische Disposition des Solisten an
diesem Abend nicht stimmt, der Künstler seine Rolle also psychisch und physisch
nicht ausfüllen kann? Muss ein Sänger den Claqueur also auch fürchten, weil er
sich von
einem unsichtbaren Freund in einen unsicht¬baren Feind
verwandeln könnte? In einen Buh¬mann? In den 50er-Jahren, zur Zeit von Maria
Callas, fochten konkurrierende Primadonnen ihren kalten Krieg nämlich gerne
auch mit bezahlten Auspfeifern aus.
Ein Funken Magie
„Nein. Niemals! In all den 48 Jahren habe ich noch nie etwas
Schlechtes gerufen", entgegnet Giancarlo Soave und breitet theatralisch
seine Arme aus, als stehe er nun selbst auf der großen Bühne. Der Claqueur von
Verona zieht also bei weitem nicht alle Register seiner alten Zunft, die einst
mit harten Bandagen kämpfte und bereits Solisten erpresste, als der
Applausometer noch gar nicht erfunden war. Sein Klatschen, sagt er mit
leuchtenden Augen, sei auch immer ehrlich: »Ich lasse mich jeden Abend aufs
Neue verzau¬bern." So ist sein Applaus nie routiniert, sondern mal dankbar
(wenn ihn eine Sopranistin betört) und mal euphorisch (wenn sein Idol Pläcido
Domingo den Heldentenor gibt). Am Ende ist sein Klatschen eigentlich immer
erschüttert und hingerissen und begeistert zugleich, weil wieder einmal der
Funken Magie übergesprungen ist, der in jeder Oper steckt. Auf seinem
reservierten Sitz hält es ihn dann nicht mehr. „Viva Maes¬tro!", ruft der
Claqueur und springt auf. Und weil auch dem allergrößten Meister Ehre gebührt,
schallt dann noch ein „Viva Verdi! Viva! Viva!" durch die Arena.
Wenn um Mitternacht die letzten Takte Musik verklingen, ist
ein Opernabend in Verona aber noch lange nicht zu Ende: „Das Leben ist viel zu
kurz. Versäumte Freuden sind unwiederbring¬lich verloren. Da wäre es doch eine
Sünde, gleich ins Bett zu gehen. So eine Nacht muss man lang und langsam
ausklingen lassen", meint Robert Schweitzer, der seit 25 Jahren Reisen
nach Verona
organisiert. Das sehen anscheinend auch die Mitglieder des
Vereins „Verona Lirica" so, in dem sich 700 Opernbegeisterte organisiert
ha¬ben. Viele davon sind in den Cafs und Restau¬rants um die Arena anzutreffen.
Hier sitzt oft auch der Journalist Gianni Villani, der genau Buch geführt hat,
wie viele „Aidas" er hier schon gehört hat: 279. Auch Maria Callas hat er
in dem Amphitheater noch erlebt, bei seinem ersten Opernbesuch im Alter von
neun Jahren.
Seither dokumentiert der Reporter die Geschich¬te der
Festspiele und kennt auch die ganzen Anekdoten: „Die Sänger waren früher
unglaub¬lich abergläubisch. Sie hatten unzählige Amulette und Madonnenstatuen
in ihren Kabinen. Ein Solist ist auch nicht aufgetreten, weil er eine schwarze
Katze hinter der Bühne gesehen hatte." Doch manchmal meint es das
Schicksal auch gut mit den Organisatoren: Als bei einer
„Carmen"-Aufführung der Tenor erkrankte und auch sein Ersatz plötzlich
seine Stimme verlor, entdeckte ein Mitarbeiter einen amerikanischen Tenor im
Publikum, der eigentlich nur die Vorstellung genießen wollte. Doch der Gast
wurde beim Orchester versteckt und sang die Oper meis¬terlich - während sein
erkrankter Kollege auf der Bühne nur Pantomime spielte.
Wie die Luft zum Atmen
„Das Leben ohne Musik ist ein Fehler. In die Oper zu gehen
ist kein Hobby - wir brauchen sie wie die Luft zum Atmen", sagt Giuseppe
Tuppini, der Vorsitzende des Zirkels. Um seine zukünftige Ehefrau zu testen,
schleppte er sie zu insgesamt sieben Vorstellungen von „Turandot" -
hinter-einander. „Inzwischen sind wir verheiratet", schmunzelt er. „Aber
die Oper ist immer noch meine Geliebte."
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.