Imre Kertesz 1929-2016
Author D.Selzer-McKenzie
https://youtu.be/NcrPU0DZdys
Imre Kertész [ˈimrɛ ˈkɛrte:s] (* 9. November 1929 in
Budapest; † 31. März 2016 ebenda[1]) war ein ungarischer Schriftsteller
jüdischer Abstammung. Er erhielt 2002 den Nobelpreis für Literatur.
Imre Kertész wurde am 9. November 1929[2] in Budapest
geboren.[3] Wegen seiner jüdischen Abstammung wurde er mit vierzehn Jahren im
Juli 1944[4] (im Verlauf eines gegen Miklós Horthy gerichteten
Gendamerieputsches in Budapest, der aber letztlich scheiterte)[5] über
Auschwitz in das Konzentrationslager Buchenwald und in dessen Außenlager Wille
in Tröglitz/Rehmsdorf bei Zeitz verschleppt.[6] Am 11. April 1945 wurde er
befreit[7] und kehrte nach Budapest zurück. Diese ihn bis heute prägende Zeit
im Lager verarbeitete er zuerst in dem 1973 vollendeten Roman eines
Schicksallosen.
Nach seinem Abitur 1948 fand Kertész von 1949 bis 1950 eine
Anstellung als Journalist bei der Tageszeitung Világosság, die er jedoch wieder
aufgeben musste, da diese zum Parteiorgan der Kommunisten erklärt wurde.
Daraufhin arbeitete er zunächst in einer Fabrik und dann in der Presseabteilung
des Ministeriums für Maschinenbau und Hüttenwesen. Ende 1951 wurde er zum
Militärdienst einberufen.
Nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst 1953 begann
Kertész in Budapest als freier Schriftsteller und Übersetzer zu arbeiten. Seine
schriftstellerische Tätigkeit wurde in seiner Heimat besonders nach dem
Aufstand von 1956 durch die kommunistische Diktatur eingeschränkt. Seinen
Lebensunterhalt sicherte er sich zunächst mit dem Schreiben von Texten zu
Musicals und kleinen Theaterstücken, die er aber nicht zu seinem
schriftstellerischen Werk zählt. Als Übersetzer übertrug er unter anderen Werke
von Friedrich Nietzsche, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Sigmund
Freud, Joseph Roth, Ludwig Wittgenstein und Elias Canetti, welche allesamt sein
eigenes Werk entscheidend prägten.
1953 lernte Kertész seine spätere Frau Albina Vas kennen,
mit der er bis zu ihrem Tod 1995 zusammenlebte.
1960 begann er mit der 13-jährigen Arbeit an dem Buch Roman
eines Schicksallosen, das zu einem der bedeutendsten Werke über den Holocaust
zählt und das seinen Ruhm begründete. Die meisten seiner Texte sind
autobiographisch inspiriert. Seine jüngste Buchveröffentlichung Letzte Einkehr.
Ein Tagebuchroman, die Kertész selbst als Abschluss seines Werkes bezeichnete,
datiert von 2014 (dt. 2015).
Eine breitere Rezeption seiner Arbeit setzte erst nach der
Wende von 1989 ein. Endlich wurde er auch im Westen bekannt (wobei die Kritikerin
Eva Haldimann schon seit 1977 in der Schweiz Rezensionen über seine ungarischen
Veröffentlichungen schrieb),[8] seine Werke wurden übersetzt, und er hatte zum
ersten Mal ein größeres Publikum.
1996 heiratete Kertész in zweiter Ehe die aus Ungarn stammende
Amerikanerin Magda Ambrus-Sass. 2001 nahm Kertész zunächst eine Arbeitswohnung
in Berlin und lebte schließlich mit seiner Frau dauerhaft in Berlin.
2002/2003 war er Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin,
von dem er eine Förderung zur Fertigstellung seines Romans Liquidation erhielt.
Im Oktober 2002 wurde Kertész mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.
Im Zusammenhang mit seinem (nicht ins Deutsche übersetzten)
Theaterstück Csacsifogat aus den 1950er Jahren hatte ein einstiger Freund, der
Autor und Dissident Pál Bán, gegen ihn einen Plagiatsvorwurf erhoben. Dieser
Anschuldigung, die in der Zeitung Soproni Ász am 14. November 2002
veröffentlicht wurde, widersprach Kertész.[9] In einer Tagebuchnotiz vom 17.
November kommentiert er den unmittelbar nach dem Nobelpreis gegen ihn
gerichteten Angriff: „Die Groteske, die mein Leben begleitet. […] es setzt mir
mehr zu als nötig.“[10]
Am 3. Oktober 2003 hielt Kertész auf Einladung der
Landesregierung von Sachsen-Anhalt die Festrede zur zentralen Feier der
Deutschen Wiedervereinigung[11] in Magdeburg.[12]
Am 29. Januar 2007 war Kertész Gastredner im Deutschen
Bundestag anlässlich des offiziellen Gedenktages der Befreiung des
Konzentrationslagers Auschwitz. Im Rahmen der Gedenkstunde zum Tag des Gedenkens
an die Opfer des Nationalsozialismus las er aus seinem Roman Kaddisch für ein
nicht geborenes Kind.[13]
Im November 2012 wurde in der Berliner Akademie der Künste
das Imre-Kertész-Archiv der Öffentlichkeit präsentiert. Dem Archiv hatte
Kertész schon seit Ende 2001 Manuskripte und Korrespondenz überlassen.[14]
Im November 2012 zog Kertész wegen seiner fortschreitenden
Parkinson-Erkrankung[15] wieder nach Budapest: „Ich habe Parkinson, sonst wäre
ich nie zurückgekommen.“[16] Tatsächlich stand er seinem Heimatland kritisch
gegenüber. Schon 1990 verließ er den ungarischen Schriftstellerverband, über
den er 2004 anlässlich antisemitischer Vorfälle, die eine größere
Austrittswelle verursachten, auch einen polemischen Essay verfasste.[17]
Kritisch über Ungarn äußerte er sich weiterhin in zwei Interviews von
2009.[18][19] Als er jedoch 2014 von Ministerpräsident Viktor Orban für den
Sankt Stephans-Orden nominiert wurde,[20] nahm er diesen höchsten ungarischen
Staatspreis trotz der Gefahr einer politischen Vereinnahmung seiner Person an,
denn er sehe die Notwendigkeit, in seinem Land einen „Konsens“
herzustellen.[21] Wie sein Verlag mitteilte, starb Imre Kertész am 31. März
2016.
Werke
Prosawerke
Tetralogie der Schicksallosigkeit
Der Roman eines Schicksallosen bildet zusammen mit den
Bänden Fiasko, Kaddisch für ein nicht geborenes Kind und Liquidation eine
sogenannte „Tetralogie der Schicksallosigkeit“. Diese üblich gewordene
Einordnung seiner großen Romane zu einem Zyklus relativiert allerdings Kertész
selbst in seinem autobiographischen Dialogroman Dossier K. von 2006, in dem
einer seiner beiden Alter Egos sagt: „Trilogie, Tetralogie: das besagt für mich
nichts. Ich habe immer nur den Roman geschrieben, den ich gerade schrieb, […].
Mit einer Adorno-Paraphrase gesagt: Nach Auschwitz ist es nicht mehr möglich,
Romanzyklen zu schreiben.“ Jedoch habe er auch „nichts dagegen einzuwenden“,
wenn diese „organisch“ zustande gekommene Struktur so charakterisiert
werde.[22]
„Roman eines Schicksallosen“
1975 konnte Kertész in Ungarn seinen ersten Roman
Sorstalanság (Schicksallosigkeit) (dt. Mensch ohne Schicksal, 1990;
Neuübersetzung Roman eines Schicksallosen, 1996) veröffentlichen, der auf
seinen Erfahrungen von Auschwitz und Buchenwald aufbaut. An dem Buch hatte er
von 1960 bis 1973 gearbeitet. Zunächst wurde es 1973 von einem der staatlichen
Verlage Ungarns abgelehnt. Nach seiner Veröffentlichung 1975 wurde es lange
Zeit totgeschwiegen.[23] Erst 1985 brachte ihm die Neuauflage in einem liberaleren
politischen Klima die gebührende literarische Anerkennung.
Als Sorstalanság 1973 mit der Begründung abgelehnt worden
war, Kertész komme mit „«diesem Thema»“ (Auschwitz) angeblich „zu spät“,
antwortet er hierauf im Tagebuch: „Denke ich an einen neuen Roman, denke ich
wieder nur an Auschwitz.“[24] Dies bedeutet dennoch nicht, dass Sorstalanság
autobiographisch im einfachen Sinn des Wortes ist, also lediglich das
Lagererlebnis seines Autors wiedergibt, wie eine oberflächliche Lektüre
vermuten lassen könnte. Kertész selbst bemerkt dazu, dass er zwar eine
autobiographische Form verwendet, aber keinen autobiographischen Text
geschrieben habe: „Das Autobiographischste“ an dem Roman sei, dass es in ihm
„nichts Autobiographisches gibt.“[25] Seine frühen Arbeitsnotizen legen
vielmehr nahe, dass der erzählerisch dargestellte Arbeitsdienst eine Allegorie
für seine exemplarische „Arbeit an sich selbst“ ist, die er nach seiner
Befreiung aus dem Lager als werdender Autor in Budapest leistete. Mit dieser
unterscheide er sich vom zeittypischen „funktionalen Menschen“, der sich
ideologisch leiten lässt und so das „existentielle Erlebnis seines Lebens“
versäumt respektive „ohne eigenes Schicksal“ bleibt.[26] Als Schriftsteller
sehe er sich dagegen als jemand, der seine persönlichen Erlebnisse in eigener
Verantwortung zu deuten versucht, bei allem Zwang der Verhältnisse also
zumindest „die Sprache und die fertigen Begriffe nicht akzeptiert.“[27] Zum
Titel des Romans gibt Kertész in einer Notiz von 1965 Auskunft: „«Roman einer
Schicksalslosigkeit» – als möglicher Titel […]. Was bezeichne ich aber als
Schicksal? Auf jeden Fall die Möglichkeit der Tragödie. Die äußerste
Determiniertheit aber, die Stigmatisierung, die unser Leben in eine durch den
Totalitarismus gegebene Situation, in eine Widersinnigkeit presst, vereitelt
diese Möglichkeit: Wenn wir also als Wirklichkeit die uns auferlegte
Determiniertheit erleben statt einer aus unserer eigenen – relativen – Freiheit
folgenden Notwendigkeit, so bezeichne ich das als Schicksalslosigkeit.“[28]
Das Buch wurde 2003–2004 von Lajos Koltai unter dem Titel
Sorstalanság (dt. Fateless – Roman eines Schicksallosen) verfilmt. Die deutsche
Fassung wurde 2005 auf der Berlinale vorgestellt. Der Film folgt streng dem
Drehbuch Sorstalanság. Filmforgatókönyv, 2001 (dt. Schritt für Schritt, 2002)
von Kertész.[29]
„Fiasko“ und „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“
Die Erfahrung der Ablehnung von Sorstalanság hat Kertész in
A kudarc, 1988 (dt. Fiasko, 1999) geschildert. Hier zeichnete Kertész die
schwierige Entstehungsgeschichte seines Romanerstlings und die Existenz eines
Schriftstellers unter den Bedingungen einer Diktatur nach.
Dieser Roman wird als zweiter Teil der Tetralogie angesehen,
deren dritter Teil Kaddis a meg nem született gyermekért, 1990 (dt. Kaddisch
für ein nicht geborenes Kind, 1992) ist. In dem Roman geht es um die bleibenden
Folgen der Schoa, um das Überleben nach Auschwitz. Kaddisch ist der Titel eines
Gebets, das die Juden für ihre Toten sprechen. In Kaddis a meg nem született
gyermekért taucht die Hauptgestalt György Köves aus Sorstalanság und A kudarc
wieder auf. In Form seines Kaddisch gibt das Buch den Monolog eines
Schriftstellers und Holocaust-Überlebenden wieder, der nach Auschwitz kein
neues Leben mehr in eine Welt setzen will, die die Existenz von Auschwitz
zugelassen hat.
„Liquidation“
Den vierten Teil der „Tetralogie der Schicksallosigkeit“
bildet das Werk Felszámolás, 2003 (dt. Liquidation, 2003). Darin wird ein
ominöses Theaterstück, das der in Auschwitz geborene Autor B. (oder Bé) vor
seinem Selbstmord geschrieben hat, für einen mit ihm befreundeten Budapester
Intellektuellen, den Verlagslektor Ádám Keserű (nach ungar. keserű = bitter),
„zum Gegenstand obsessiven Gedenkens und Erinnerns“[30] an den nun abwesenden
Freund B. und an sein eigenes, gegenwärtiges Leben. Im Gegensatz zu dem
hinterlassenen Theaterstück bleibt indes ein ebenfalls von B. geschriebener
Roman, der die Grundlage des Theaterstücks gewesen sein soll, verschollen.
Judit, die geschiedene Frau von B., hatte ihn verbrannt.
„Es geht um
Auschwitz und nicht um romantische Ironie. Es geht nicht um die heitere
Unendlichkeit sich unablässig spiegelnder Fiktionen. Es geht um Tod, Mord,
Selbstmord und Liquidation. Held B. ist im Jahr 1944 in Auschwitz geboren und
im Stalinismus groß geworden. Er hat, wie Kertész, das eine Lager mit dem
anderen vertauscht. Doch anders als Kertész erträgt er die im Jahr 1990
anbrechende Freiheit nicht. Denn eine Freiheit ohne Mauern ist, genau genommen,
keine Freiheit, sondern ein Zustand. Ein Zustand, an den man sich gewöhnen
kann. An den er sich nicht gewöhnen wollte. Er war, heißt es an einer Stelle,
ein Schriftgelehrter. Es ist dieser Glaube an die Schrift als die einzige
Wahrheit, der diesem Werk über alle Beschwernisse hinweg große Würde verleiht.
Es ist ein Schriftglaube, wie man ihn aus den großen Kunstreligionen, aus den
Schriften der Buchheiligen Stéphane Mallarmé, Gustave Flaubert oder Edmond
Jabès – ihren Träumen von einem absoluten Buch über Nichts – zu kennen meint.
Aber das täuscht. Mit der poetischen Kabbala der vorletzten Jahrhundertwende
hat dieser Schriftglaube nichts zu tun. Sein Ursprung liegt nicht im Salon,
sondern im KZ. Seine Voraussetzung ist nicht Manierismus, sondern
Zerstörung.[31]“
– Iris Radisch, © Die Zeit, 2003
Erzählungen, Essays
Einer der frühesten von Kertész erhaltenen Texte ist die
Ende der 1950er Jahre geschriebene Erzählung Világpolgár és zarándok (dt.
Erdenbürger und Pilger, Erstveröffentlichung 2005).[32] Es handelt sich um eine
Nacherzählung der biblischen Geschichte von Kain und Abel, mit der Kertész
offenbar auf den jüngstvergangenen Judenmord anspielt. Ein weiterer Text aus
dieser Zeit ist das Fragment Èn,a hóhér (dt. Ich, der Henker), das Kertész in
den Roman Fiasko integrierte.[33] Damit parodiert er die „schwülstigen und
voller Paradoxien steckenden Bekenntnisse der Nazikriegsverbrecher, wie sie
damals in großer Zahl veröffentlicht wurden“[34]
1977 erschien von Kertész in Ungarn der Band A nyomkereső
(Der Spurensucher) mit zwei kurzen Prosatexten. In der Titelgeschichte (dt.
1999)[35] tritt der aus seinem Erstlingsroman bekannte Protagonist dreißig
Jahre nach seiner Deportation nach Auschwitz-Birkenau diese Reise noch einmal
an. Die für Kertész wichtige Kritikerin Eva Haldimann (Neue Zürcher Zeitung)
schreibt dazu 1977: „Der Sucher geht der grauenvollen Vergangenheit nach, die
er jedoch vergebens heraufzubeschwören versucht. Nichts ist gleichgeblieben,
das Erlebnis ist verkümmert; ja sogar der Besucher muss feststellen, dass die
Vergangenheit auch in ihm zu Schweigen geworden ist.“[36] Der zweite Kurzroman
dieses Bandes, Detektívtörténet (dt. Detektivgeschichte, 2004), ist in
Südamerika angesiedelt und schildert den Mechanismus des Terrors aus dem
Blickwinkel eines Mitglieds der politischen Polizei. Kertész gab an, formal
ähnele die Detektivgeschichte einem „Groschenroman“, wie übrigens auch schon
der Roman eines Schicksallosen, den er „in vielen Punkten“ nach denselben
„Gesetzen“ geschrieben habe.[37] Ebenfalls von Ende der 1970er Jahre datiert
die Erzählung A pad (dt. Die Bank, Erstveröffentlichung 2005).[38] Kertész
schildert dort, wie ein junger Budapester Journalist während des Stalinismus
die von ihm erwartete Linientreue verweigert. Nach einer quälenden Phase der
oberflächlichen Anpassung entschließt er sich endlich dazu, sich in seiner
Redaktion „– zum ersten Mal seit langem – wieder krank zu melden“, wodurch er
eine „aberwitzige Erleichterung“ erfuhr.[39]
Kurz nach der Wende von 1989 berichtet Kertész in den beiden
Erzählungen Budapest, Bécs, Budapest, 1990 (dt. Budapest, Wien, Budapest,
2001)[40] und Jegyzőkönyv, 1991 (dt. Protokoll, 1994)[41] von seinen ersten
Erfahrungen mit der neuen Reisefreiheit und der z. T. immer noch repressiven
ungarischen Bürokratie. Vor allem letzterer Text, der von einer schikanösen
Zollkontrolle handelt und eher als Gelegenheitsarbeit gedacht war, wurde in
Ungarn ein großer Erfolg. Hierüber schrieb Kertész rückblickend in Dossier K.
in Form eines Dialogs seiner beiden Alter Egos: „Ich wollte mich einfach nur
von dem beschämenden Erlebnis befreien.“ „Jedenfalls schlug die Novelle wie
eine Bombe ein; noch im Erscheinungsjahr trug Mihály Kornis den Text als
Monodrama auf der Literaturbühne des József-Katona-Theaters vor, Péter
Esterházy schrieb eine Brudernovelle dazu,[42] beide Geschichten erschienen
bald darauf, sowohl auf Ungarisch als auch auf Deutsch, zusammen in einem
schmalen Band und kamen auch als sogenanntes Hörbuch auf Kassetten in Umlauf.
[…] Wenn ich die Erzählung aus der Sphäre der Tagesaktualität zurücknehme und
sie in die Reihe meiner Werke eingliedere, dann muss ich diese Novelle heute
als Ausgangspunkt meiner Neubesinnung bezeichnen, als Resultat eines ersten
Sichumblickens in der neuen Situation. Der ersten Verblüffung….“[43] In der
weiteren Erzählung Az angol lobogó, 1991 (dt. Die englische Flagge, 1999)
wiederholt Kertész in komprimierter Form die bereits im zweiten Teil von Fiasko
dargestellte Wandlung des Protagonisten vom ›Journalisten‹ zum ›Fabrikarbeiter‹
und schließlich zum künstlerischen ›Autor‹.[44]
Nach der Wende entstanden zum ersten Mal auch essayistische
Texte und Reden, die für eine tagesaktuelle Rezeption bestimmt waren. Diese
Texte von 1990 bis 2004 sind in Die exilierte Sprache enthalten. Zuvor erschien
in Ungarn bereits der Sammelband A gondolatnyi csend, amíg kivégzőosztag
újratölt, 1998 (dt. Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschießungskommando
neu lädt, 1999).
Autobiographische Werke
„Galeerentagebuch“
1992 veröffentlichte Kertész das Gályanapló (dt.
Galeerentagebuch, 1993). In dieser „Galeerenarbeit der Selbstdokumentation“[45]
geht Kertész Fragen der Determiniertheit und Freiheit des Individuums sowie der
verlorenen Möglichkeit seiner Entfaltung in einer totalitären Welt nach. Das
als Roman deklarierte Werk ist ein Tagebuch in literarisch aufbereiteter,
redigierter Form. Es umfasst die Jahre 1961–1991. Neben persönlichen
Erfahrungen dokumentiert Kertész dort seine Auseinandersetzung mit einer
Vielzahl philosophischer und literarischer Autoren der Weltliteratur, die
jeweils für seine eigene Arbeit relevant waren (Kant, Schopenhauer, Nietzsche,
Freud, Camus, Sartre, Adorno, Kafka, Thomas Mann, Márai, Beckett u. a.).
„Ich – ein anderer“
„Meine einzige Identität ist die des Schreibens“, bekennt
Kertész in Valaki más. A változás krónikája, 1997 (dt. Ich – ein anderer,
1998).[46] Dieser Roman ist eine Art Fortsetzung des Galeerentagebuchs für die
Jahre 1991 bis 1995, in denen sich Kertész’ Leben grundlegend veränderte: Aus
dem Gefängnisleben wird ein rastloses Nomadenleben mit Lesereisen durch viele
Länder, an dem er Gefallen findet, das ihn in der ständigen Zerstreuung aber
auch bedrückt. Durch die Umstände sieht er sich genötigt, seine Identität neu
zu definieren. Dabei nimmt er die Position eines Individuum ineffabile ein, das
sich generell einer Objektivierung entzieht. Schon 1977 hatte er im
Galeerentagebuch bemerkt, mit dem „Schreiben“ versuche er, seine
„Determiniertheiten“ zu überwinden und „nicht als das zu erscheinen, was ich
bin“[47]. Um seine Würde zu wahren verweigert er nun ebenso jede kollektive
Identität, wie etwa die als Jude, „über den man in der Mehrzahl reden kann, der
ist, wie die Juden im allgemeinen sind, dessen Kennzeichen sich in einem
Kompendium zusammenfassen lassen wie die einer nicht allzu komplizierten
Tierrasse“[48], aber auch eine Identifizierung mit seiner früheren persönlichen
Existenz: „Schon seit langem suche ich weder Heimat noch Identität. Ich bin
anders als sie, anders als die anderen, anders als ich.“[49]
Ich – ein anderer ist eine Reise durch verschiedene Städte,
Lebensphasen und durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Budapest, Berlin,
Wien, Leipzig, München, Tel Aviv – alles Orte, die der Erzähler in seinen
Reisen aufsucht, auf Lesetour, für einen Vortrag, um einen Preis
entgegenzunehmen. Kertész legte 1997 mit diesem Buch einen Roman vor, der mehr
noch als seine bisherigen Werke wie Roman eines Schicksalslosen oder
Galeerentagebuch mit Autobiographischem verwoben ist oder sogar
autobiographisch ist.
Gleichzeitig ist Ich – ein anderer auch das Zeugnis einer
existenziellen Krise zwischen „Leben und Tod“, die der Erzähler, der seine
Identität als „sich selbst schreibende Identität“ definiert, durchlebt: „mein
Körper strebt Richtung Tod, mein Kopf dreht sich zum Leben um, mein Fuß holt
unschlüssig zu einem Schritt aus. Einem Schritt wohin? Egal, denn wer den
Schritt tut, bin schon nicht mehr ich. Das ist ein anderer.“[50]
„Dossier K.“
Eine Art autobiographisches Kreuzverhör präsentierte Kertész
2006 mit dem Roman K. dosszié (dt. Dossier K.: eine Ermittlung, 2006). In der
Folge eines Interviews, das sein Freund Zoltán Hafner über Monate hinweg mit
ihm führte und auf Tonband aufzeichnete, gelangte Kertész zu der Idee einer
Selbstbefragung, in der sich das autobiographische Ich mit seinem eigenen
eloquenten Kritiker auseinandersetzt. In einem Interview sagte er der
Stuttgarter Zeitung über sein Lebenstrauma und die Rolle des Schreibens:
„Wenn ich im
Konzentrationslager überleben will, muss ich seiner Logik folgen. Diese
willentliche oder nicht willentliche Kollaboration ist die größte Schande des
Überlebenden, er kann sie nicht eingestehen. Der Schriftsteller kann es. Denn
die Literatur besitzt eine besondere Aufrichtigkeit.[51]“
– Imre Kertész, (Stuttgart, 2006)
Viel mehr als seine Person – angesichts der Erfahrung von
Auschwitz eine unsichere Größe – rückte Kertész sein Werk in den Vordergrund:
„Sein Selbstverhör zieht die ästhetische Konsequenz dieser Erfahrung“,
kommentierte die tageszeitung und stellte weiter fest, Kertész habe nicht den
Anspruch, „eine moralische Instanz zu sein. Eben deshalb ist er es.“[52]
„Letzte Einkehr“
Anlässlich Kertész’ 80. Geburtstag druckte die Neue Zürcher
Zeitung (NZZ) vom 7. November 2009 von ihm das Anfangskapitel eines damals noch
in Arbeit befindlichen Prosastücks: Die letzte Einkehr – Doktor Sonderberg.
Ähnlich dem Selbstgespräch in Dossier K. steht der Protagonist Sonderberg in
Beziehung zu einer zweiten Figur, dem berichtenden Erzähler, der Sonderbergs
Aussagen wiedergibt. Sonderberg reflektiert über die biblische Geschichte von
Lot und dessen Flucht aus Sodom, wozu er eine Nacherzählung aus seiner eigenen,
heutigen Perspektive verfassen will. Die hauptsächliche Sünde der Sodomiter
sieht er dabei nicht in sexuellen Verfehlungen, sondern in deren Konformismus,
der jede Rationalität und Verantwortlichkeit untergräbt. Offenbar besteht ein
Bezug zu Kertész’ eigener Entscheidung von 2001, seinen Lebensmittelpunkt aus
Budapest nach Berlin zu verlegen. Entsprechend äußerte er sich zur gleichen
Zeit in den beiden Interviews von Tilman Krause, In Ungarn haben Antisemiten
das Sagen und Ungarn diskutiert über das WELT-Interview von Imre Kertész (5./
10. November 2009, Die Welt) kritisch über das kulturelle Klima in seinem
Heimatland und betont, er selbst wolle sich von allen nationalen oder
rassischen Gemeinschaften fernhalten.
2013 erschien von Kertész der Band Letzte Einkehr.
Tagebücher 2001–2009 (bzw. 2011 daraus die Tagebücher 2001–2003 auf Ungarisch:
Mentés másként). Der geplante Prosatext Die letzte Einkehr wurde nicht
vollendet, ist aber als Fragment in den Tagebuchband aufgenommen (allerdings
ohne das 2009 in der NZZ veröffentlichte Sonderberg-Kapitel). Im Tagebuch
beschreibt Kertész sein neues Leben im Westen, wo er eine Reihe von
Bekanntschaften mit prominenten Künstlern pflegt (u. a. Ligeti, Dorst,
Barenboim). Weiterhin berichtet er von der Fertigstellung neuer Romane
(Liquidation 2003, Dossier K. 2005) und der Entstehung des Films Fateless
(2003–2005). Dabei scheint immer auf, dass der literarische Ruhm nach dem
Nobelpreis 2002 (vielleicht noch mehr als einst die geistige Isolierung) für
Kertész’ Kreativität problematisch war und er sich ihren Erhalt hart erkämpfen
musste. Belastend war auch die bei ihm im Jahr 2000 diagnostizierte
Parkinson-Erkrankung, die ihn dazu zwang, als Schreibgerät einen Laptop zu
nutzen.[53] Durch das gesamte Buch zieht sich ferner sein Plan, mit Die letzte
Einkehr einen letzten fiktionalen Text zu schreiben, der ihn in
autobiographischer Manier gleichsam bis zu seinem Tod begleitet, im Gegensatz
zum Tagebuch aber vom persönlichen Detail abstrahiert. Dass dieser letztlich
nur als ein verstreut veröffentlichtes Fragment vorliegt, erinnert durchaus an
eine romantische Geste, denn Kertész hinterlässt einen bis zur Grenze des
Möglichen ausgeführten und dann demonstrativ unvollendet gelassenen Text. Für
diese Sicht spricht auch sein Tagebucheintrag vom 31. Juli 2001: „Dann wäre
also, könnte man sagen, jede große Kunst, jede bedeutende Stilrichtung für dich
romantisch? Aber natürlich, würde ich antworten. Es gibt zwei Arten von Kunst:
romantische und schlechte Kunst …“[54]
Auf der Grundlage der Tagebücher erschien 2014 (dt. 2015)
schließlich Letzte Einkehr. Ein Tagebuchroman (orig.: A végső kocsma), welches
Buch Kertész in der Widmung selbst als „Krönung“ seines (Gesamt-)„Werkes“
bezeichnet. Von den Tagebüchern unterscheidet es sich durch einige Kürzungen
und den weitgehenden Verzicht auf Daten, vor allem aber durch die Einfügung des
Sonderberg-Kapitels gegen Ende des Textes, wodurch dieser insgesamt einen
fiktiven Charakter annimmt. Denn die Tagebuch-Passagen können nun als die von
Sonderberg nacherzählte Geschichte von Lot gedeutet werden, wobei der
Schriftsteller Imre Kertész, der die Tagebücher verfasst hat, zu einer fiktiven
Figur in Sonderbergs Lot-Roman wird. Vorbildlich für diese Konstruktion, bei
der eine autobiographische Erzählung mit einer biblischen Geschichte kombiniert
wird, sind Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge von Rilke, wo
entsprechend die Fabel vom Verlorenen Sohn den Text abschließt.[55] Dieser war
(in Rilkes Fassung der Erzählung) von zu Hause geflohen, weil er die
vereinnahmende Liebe seiner Familie nicht ertrug; dazu analog ist Kertész’
geistige (und zeitweise auch nationale) Emigration.
Künstlerisches Selbstverständnis
Gedenktafel Markt 19 (Weimar) Imre Kertész
Poetologie
Das von Kertész vertretene Selbstverständnis als Autor ist
bestimmt durch den Anspruch, eine sogenannte „exilierte Sprache“ zu verwenden.
Damit widerstreite er der „totalitäre[n] Sprache“ offizieller Instanzen, welche
die Menschen dazu verleite, sich einer äußerlich aufgezwungenen „Rolle“ oder
„Funktion“ blind zu unterwerfen und damit ihre eigene „Persönlichkeit“ zu
verleugnen.[56] Der „Ideologie“, die häufig von „theoretischen Intellektuellen“
durch abstrakte „wissenschaftliche Betrachtungen“ legitimiert werde, setze er
als „Schriftsteller“ die konkrete „menschliche Erfahrung“ entgegen: „weit höher
als jeden theoretischen Ernst schätze ich die Erfahrung.“[57]
Ein weiteres Charakteristikum seiner schriftstellerischen
Tätigkeit ist das schon früh artikulierte „Verlangen, Zeugnis abzulegen“ von
der Möglichkeit einer individuellen „Existenz“.[58] Dies könne auf eine
durchaus sachliche Weise und ohne künstlerischen Anspruch im herkömmlichen
Sinne geschehen: „Zeigen (und Vorzeigen), wie der Kampf um die Herstellung
eines klaren Bewusstseins abläuft: das genügt – und nur das ist es, was
genügt.“ Das Ziel sei dabei keine „unwiderlegbare Wahrheit“, sondern lediglich
ein „Zeugnis“ für die „vielversprechende Möglichkeit des Funktionierens des
normalen Geistes“.[59]
Traditionslinien
In seinem Tagebuch Letzte Einkehr betont Kertész, obwohl er
„ungarisch schreibe“, gehöre er im Grunde nicht zur ungarischen Literatur,
sondern „zu jener in Osteuropa in Erscheinung getretenen jüdischen Literatur,
die in der Monarchie und dann in den Nachfolgestaaten hauptsächlich auf
Deutsch, aber nie in der Sprache der jeweiligen nationalen Umgebung geschrieben
wurde und nie Teil der nationalen Literatur“ gewesen sei. Damit setze er die
Linie fort, die von Franz Kafka und Paul Celan gezogen wurde. Letztlich sei die
jeweils gewählte Sprache, mit der „von der Ausrottung der europäischen Juden
erzählt“ werde, „zufällig“: „und welche Sprache es auch ist, sie kann nie
Muttersprache sein.“ Auch die „deutsche Sprache“, in die seine Werke – zu
seinem „Glück“ – übersetzt wurden, sei „nur zeitweilige Herberge,
vorübergehender Unterschlupf für die Obdachlosen“.[60]
Als konkretes Vorbild für Kertész’ Anliegen, ein „Zeugnis“
für ein funktionierendes geistiges Vermögen zu geben, kann der ungarische
Exilschrifteller Sándor Márai gelten, der 1934 (noch in Ungarn) am Schluss der
Bekenntnisse eines Bürgers formulierte: „wer heute schreibt“ wolle „nur Zeugnis
ablegen“ für den möglichen „Triumph des Verstandes“.[61]
Kertész machte deutlich, dass er sich generell an der
„Weltliteratur“ (und nicht am heimischen Literaturbetrieb) orientiert habe, in
deren Tradition er sich somit stellt. Zu Beginn seiner Arbeit habe er erkannt,
dass er „Zeit, Zeit, und zwar unendlich viel Zeit brauchte“, da er zunächst
„die ganze Weltliteratur lesen musste“.[62] Dafür sei er „nie in diesem
Literaturbetrieb gewesen“, sondern habe stets „ganz ruhig zu Hause gearbeitet“:
„Ich habe große Literatur gelesen, Dostojewski, Flaubert […].“[63]
Zur von Kertész gelesenen Weltliteratur zählen auch die
großen Werke der Philosophie. Ausdrücklich berief er sich auf die
Traditionslinie Kant/ Schopenhauer/ Nietzsche.[64] Letzteren bezeichnet er in
dem Vortrag Die exilierte Sprache sogar als seinen „Lehrmeister“, der ihn „mit
seinem radikalen Denken und seinem klaren, hinreißenden Stil“ entscheidend
beeinflusst habe.[65] Schließlich bringt er das in Dossier K. enthaltene
Selbstgespräch auch mit den Platonischen Dialogen in Verbindung. In der
Vorbemerkung zu seinem späten autobiographischen Text schreibt er: „Folgt man
[…] dem Vorschlag Nietzsches, der den Roman von den Platonischen Dialogen
herleitet, dann hat der Leser eigentlich einen Roman in der Hand.“[66]
Die Darstellbarkeit von Auschwitz
Laut Cornelius Hell war Imre Kertész einer der großen
künstlerischen und denkerischen „Deuter der Gegenwart, die er beharrlich als
Welt nach Auschwitz literarisch gestalte und denkerisch auslote“.[67] Seine
poetologischen Reflexionen gelten der Darstellbarkeit von Auschwitz, der
Bedeutung von Auschwitz für die europäische Kultur und Werteordnung und der
Rolle seines Judentums nach der Shoah.
Für Kertész kann „einzig die ästhetische Einbildungskraft“
eine „relevante Vorstellung vom Holocaust“ vermitteln.[68] Weder realistische
Bilder der KZ-Gräuel noch massenwirksame filmische Adaptionen des Stoffes, wie
die in Steven Spielbergs Film Schindlers Liste, würden dieser Aufgabe
gerecht.[69] László F. Földényi erläutert in seinem Imre-Kertész-Wörterbuch
diese ästhetische Position Kertész’, die dieser unablässig in
Tagebucheinträgen, Essays und Reden umkreist: Sie bedeute die Verwandlung der
unbeschreiblichen, das heißt prä-ästhetischen Erlebnisse, in beschreibbare, das
heißt ästhetische, ohne den realen Ereignissen durch die Ästhetik Gewalt
anzutun. Das heiße auch, dass die ästhetische Form den Rohstoff spiegeln müsse,
der jeder Gestaltung vorausgeht. Diese sei keine rein ästhetische Schöpfung,
sondern als poetisches Zeugnis ein „neues ethisches Gebot“.[70] Nach Kertész
ist die ästhetisch zu gewinnende Vorstellung „nicht mehr allein der Holocaust,
sondern die sich im Weltbewusstsein widerspiegelnde ethische Konsequenz des
Holocaust“.[71] Er argumentiert, „das Wesentliche“ bestehe letztlich weder in
tragischen Einzelschicksalen (z. B. dass „an Frau Schwarz Unrecht verübt,
eventuell auch ihre Familie ausgerottet worden ist“) noch in dem, „was mit den
Juden geschehen ist“, sondern in dem, „was mit den europäischen Werten
geschehen ist. Die Offenbarung des Holocaust besteht nämlich darin, dass wir
von einer Wertkrise zu einer endgültigen Zurücknahme der Werte gekommen sind.
Die Offenbarung am Berg Sinai hat mit dem, was in Auschwitz offenbar worden
ist, ihre Geltung verloren.“[72]
„Atonales Schreiben“
Arnold Schoenberg (um 1948)
Theodor W. Adorno (1964)
Paul Celan, Tadeusz Borowski und Jean Améry sind für Kertész
Zeugen des literarischen Sprechens, das er „Nach-Auschwitz-Sprache“ nennt. Mit
einem Fachwort aus der Musik Arnold Schönbergs charakterisierte er sie als
„atonale Sprache“. Diese stütze sich nicht mehr auf eine „allgemein anerkannte
Moral“, die – entsprechend dem „humanistische[n] Weltbild des neunzehnten
Jahrhunderts“ – traditionell „das Beziehungsgeflecht von Sätzen und Gedanken“
bestimmt habe.[73] Földényi fasst die poetologischen Grundsätze Kertész’ in der
Sentenz zusammen: „Nach Auschwitz läßt sich nur noch in einer atonalen Sprache
authentisch schreiben“.[74] Damit bezieht er sich kritisch auf das zum
„Gemeinplatz“ verkommene[75] Verdikt Adornos: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu
schreiben, ist barbarisch.“ Andererseits gewann Kertész die konzeptionelle
Grundlage für sein Schreiben aus Adornos musikästhetischen Schriften: Durch die
Lektüre Adornos sehe er, dass die Technik seines Romans eines Schicksallosen
„der Zwölfton- bzw. Reihentechnik, also einer integralen Kompositionsmethode“
folge: „Sie verbietet freie Charaktere […] die totalitäre STRUKTUR diktiert die
Erzählung“. Kertész verneint also die herkömmliche Vorstellung einer dem
Determinismus enthobenen, voraussetzungslosen Freiheit – ungeachtet dessen
lässt er die Möglichkeit einer individuellen Verantwortung bestehen: „die
Erhellung besteht in der Prüfung unseres Anteils am Zustandekommen dieser
STRUKTUR“.[76] Aber eben ein solches Eingeständnis der „eigenen Beteiligung“ an
totalitären Strukturen, der ein „Akt der Freiheit“ sein könnte, werde gemeinhin
als befremdend empfunden und stoße „immer auf das Verbot der Überlebenden“.[77]
Nach Dietmar Ebert entspricht die Multiperspektivität in
diesem Roman der Atonalität in der Musik. Die Sprache in diesem Gegenentwurf
zum klassischen Bildungsroman sei durchsetzt von Situationsbeschreibungen,
fotografischen Ansichten, filmischen Sequenzen und surreal wirkenden Bildern.
Die Sprache des erzählenden Jungen sei sowohl klar und folgerichtig als auch
irritierend und befremdend. Wie in den Sinfonien Gustav Mahlers aus großen
sinfonischen Stürmen unmittelbar elegisch-schöne Passagen ertönten, tauchten in
der Prosa Kertész’ unvermittelt Sätze von sprachlicher Schönheit auf. So werde
die Verbindung zwischen der Kompositionsmethode Gustav Mahlers und Imre Kertész’
deutlich: In einer von Tod und Katastrophen geprägten Welt suchten sie – mit
den Worten Adornos gesprochen – nach „unerlaubtem Glück“.[78] Der nach Földényi
skandalöse und nur schwer zu verstehende Schlusssatz des Romans eines
Schicksallosen vom „Glück in Auschwitz“ in der Pause zwischen den Qualen[79]
wird unter dem Aspekt des atonalen Schreibens „als Schlussakkord jener
Provokation“ verstanden, mit der Kertész die „erwarteten Darstellungsmuster des
Holocaust durchbrochen hat“.[80]
Werke (in deutscher Übersetzung)
Mensch ohne
Schicksal. (Orig.: Sorstalanság.) Übersetzt von Jörg Buschmann. Rütten und
Loening, Berlin 1990, ISBN 3-352-00341-6.
Kaddisch für ein
nicht geborenes Kind. (Orig.: Kaddis a meg nem született gyermekért.) Übersetzt
von György Buda und Kristin Schwamm. Rowohlt, Berlin 1992, ISBN 3-499-22574-3.
Galeerentagebuch.
(Orig.: Gályanapló.) Übersetzt von Kristin Schwamm. Rowohlt, Berlin 1993, ISBN
3-499-22158-6.
mit Péter
Esterházy: Eine Geschichte. Zwei Geschichten. Übersetzt von Kristin Schwamm und
Hans Skirecki. Berlin Verlag, Berlin 1994. Neuausgabe: mit Péter Esterházy und
Ingo Schulze: Eine, zwei, noch eine Geschichte/n. Berlin Verlag, Berlin 2008,
ISBN 978-3-442-76202-6.
Eine
Zurückweisung. Buch und CD zum Brandenburgischen Literaturpreis 1995.
Brandenburgisches Literaturbüro, Vacat, Potsdam 1995, ISBN 3-930752-07-7.
Roman eines
Schicksallosen. (Orig.: Sorstalanság.) Neu übersetzt von Christina Viragh.
Rowohlt, Berlin 1996, ISBN 3-499-22576-X.
Ich – ein anderer.
(Orig.: Valaki más.) Übersetzt von Ilma Rakusa. Rowohlt, Berlin 1998, ISBN
3-87134-334-X.
Die englische
Flagge. Erzählungen. Übersetzt von György Buda und Kristin Schwamm. Rowohlt,
Reinbek b. Hamburg 1999, ISBN 3-498-03518-5.
Eine Gedankenlänge Stille, während das
Erschießungskommando neu lädt. Essays. Übersetzt von György Buda unter anderen.
Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1999, ISBN 3-499-22571-9.
Fiasko. (Orig.: A
kudarc.) Übersetzt von György Buda u. Agnes Relle. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg
1999, ISBN 3-499-22571-9.
„Heureka!“. Rede
zum Nobelpreis 2002. Übersetzt von Kristin Schwamm. Suhrkamp, Frankfurt am Main
2002, ISBN 3-518-06702-8.
Der Spurensucher.
Erzählung (Orig.: A nyomkereső). Übersetzt von György Buda. Suhrkamp, Frankfurt
am Main 2002, ISBN 3-518-22357-7.
Schritt für
Schritt. Drehbuch zum „Roman eines Schicksallosen“. Übersetzt von Erich Berger.
Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-518-12292-4.
Liquidation.
(Orig.: Felszámolás.) Übersetzt von Laszló Kornitzer u. Ingrid Krüger.
Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-518-41493-3.
Die exilierte
Sprache. Essays und Reden. Vorwort von Péter Nádas, übersetzt von Kristin
Schwamm, György Buda u. a., Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-518-45655-5.
Detektivgeschichte. (Orig.: Detektívtörténet.) Übersetzt von Angelika
und Péter Máté. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 2004, ISBN 3-498-03525-8.
Protokoll.
Erzählung. Mit Zeichnungen von Kurt Löb, übersetzt von Kristin Schwamm. Verlag
Thomas Reche, Neumarkt 2004, ISBN 3-85165-654-7.
Dossier K.: eine
Ermittlung. (Orig.: K. dosszié.) Übersetzt von Kristin Schwamm. Rowohlt,
Reinbek b. Hamburg 2006, ISBN 3-498-03530-4.
Heureka! Gespräche
und eine Rede. Mit Radierungen von Susanne Thuemer. Verlag Thomas Reche,
Neumarkt 2006, ISBN 3-85165-654-7.
Man musste durch
die Hölle gehen. In: Martin Doerry (Hrsg.): Nirgendwo und überall zu Haus.
Gespräche mit Überlebenden des Holocaust. DVA, München 2006, ISBN
3-421-04207-1, S. 152–159. (auch als CD)
Opfer und Henker. Erzählungen. Übersetzt von
Christian Polzin, Ilma Rakusa, Agnes Relle und anderen. Transit, Berlin 2007,
ISBN 978-3-88747-220-7.
Die letzte Einkehr
– Doktor Sonderberg. Vorabdruck der Einleitung eines in Arbeit befindlichen
Textes, übersetzt von Ilma Rakusa. Neue Zürcher Zeitung, 7. November 2009.
(Online)
Letzte Einkehr.
Tagebücher 2001–2009. Prosafragment. Übersetzung Kristin Schwamm, Adan
Kovacsics. Rowohlt Verlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-498-03562-4.
Letzte Einkehr.
Ein Tagebuchroman. Prosafragmente. Übersetzung Kristin Schwamm, Adan Kovacsics
und Ilma Rakusa. Rowohlt Verlag, Berlin 2015, ISBN 978-3-499-26910-3.
Briefe
Briefe an Eva
Haldimann. Übersetzt von Kristin Schwamm. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 2009,
ISBN 978-3-498-03545-7.
Preise und Ehrungen
Imre Kertész in Szeged, Ungarn 2007
Internationale Preise
Kertész wurde 1995 mit dem Brandenburgischen Literaturpreis,
1997 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, dem Jeanette
Schocken Preis der Stadt Bremerhaven, dem Friedrich-Gundolf-Preis der Deutschen
Akademie für Sprache und Dichtung, 2000 mit dem Herder-Preis, dem
WELT-Literaturpreis und dem Pour le mérite für Wissenschaft und Künste
ausgezeichnet. Im Jahre 2001 erhielt er die Ehrengabe zum
Adelbert-von-Chamisso-Preis und den Ehrenpreis der Robert-Bosch-Stiftung. Im
Jahre 2002 wurde er mit dem Hans-Sahl-Preis und 2004 mit der Goethe-Medaille aus
Weimar sowie dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern ausgezeichnet. Für sein
schriftstellerisches Gesamtwerk wurde Imre Kertész im Jahre 2002 als erster und
bislang einziger ungarischsprachiger Autor mit dem Literaturnobelpreis
ausgezeichnet.[81] Seit 2003 war Kertész Mitglied der Akademie der Künste,
Berlin, Sektion Literatur. 2006 erhielt er die Ernst-Reuter-Plakette Berlins
und den Wingate Literary Prize. Seit 2005 war er Ehrendoktor der Freien
Universität Berlin. Am 8. November 2006 fand in der Berliner Nikolaikirche die
Ehrung des ungarischen Literaturnobelpreisträgers mit dem Preis für Verdienste
um die deutsche und europäische Verständigung 2006 der Deutschen Gesellschaft
(1990) statt. Die Deutsche Gesellschaft würdigte damit einen Autor, dessen literarisches
Lebenswerk exemplarisch für die Auseinandersetzung mit der europäischen
Geschichte des 20. Jahrhunderts steht. „Völkerverständigung durch Aufklärung,
das ist es, was wir Imre Kertész verdanken.“ (Jutta Limbach, Präsidentin des
Goethe-Instituts und Laudatorin des Preisträgers). 2007 erhielt Imre Kertész
den Marion-Samuel-Preis der Augsburger Stiftung Erinnerung, 2008 den Preis für
Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museums Berlin und 2009 den
Jean-Améry-Preis. Im Oktober 2010 hat die Friedrich-Schiller-Universität Jena
das Imre Kertész Kolleg. Europas Osten im 20. Jahrhundert. Historische
Erfahrungen im Vergleich eingerichtet.[82] 2013 erhielt Kertész für sein
publizistisches Gesamtwerk den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch des Jahres
2012.