Korsika
Author D.Selzer-McKenzie
https://youtu.be/yL4h_TPkpHk
Menschenmassen laufen durch die Straßen, überall blitzt es -
die Osterfeierlichkeiten auf der Mittelmeerinsel sind in vollem Gange.
Besonders um das zu sehen, kommen die Touristen.
to- Perdono. Perdono mio, dio. Die Stimme des Pfarrers hallt
blechern durch das Megafon. Hun-derte Gläubige stimmen andächtig mit ein.
Plötz¬lich sinkt der Catenacciu zu Boden. Das 34 Kilo schwere Holzkreuz bleibt
dumpf auf ihm liegen. Die 16 Kilo schwere Eisenkette an seinem Knöchel wetzt
rasselnd über das eiskalte Steinpflaster.
Der Catenacciu ist barfuß. Seine purpurrote Bü-ßerkutte
maskiert ihn fast vollständig. Lediglich seine Pupillen sind durch die schmalen
Sicht¬schlitze seiner Kapuze erkennbar. In ihnen spie¬gelt sich ein wirres
Flackern der Kerzenlichter. Catenacciu stammt aus dem Korsischen und bedeutet
der Gefesselte. Der Begriff steht als Sy¬nonym für die bedeutendste
Osterfeierlichkeit Korsikas: die Büßerprozession in Sartene.
Auf dem Weg nach Golgatha
Am Karfreitag gegen 20.30 Uhr startet der Bu߬gang in der
Kirche Santa Maria Assunta. Dabei vollziehen katholische Würdenträger,
Honorati¬oren der Stadt und ein Großteil der Bürger Sarte-nes den Gang Christi
nach Golgatha.
Den Geistlichen folgt der Catenacciu. Er muss anonym
bleiben. Nur der Pfarrer kennt seine Identität. Die Liste derer, die den
Leidensweg Jesu Christi am eigenen Leib erfahren wollen, ist lang. Es heißt, es
seien häufig Straftäter, die ihre Taten auf diesem beschwerlichen Weg büßen
wollen. Sartenes Altstadtviertel Sant'Anna und Borgo bieten die perfekte
Kulisse dazu: Schmale Gassen, bröckelnder Putz und durch die schmiedeeisernen
Gitter der Balkone und Fens¬ter schimmern Grableuchten. Noch weit bis ins 20.
Jahrhundert hinein wütete in diesen Gassen eine Vendetta. Die
berühmt-berüchtigte Blut¬rache raffte seinerzeit einen beachtlichen Teil junger
Männer dahin.
Dem biblischen Drehbuch konform stürzt der Catenacciu
unterwegs dreimal. Simon von Kyre-ne, in einer weißen Büßerkutte, darf ihm
aufhel¬fen. Es folgen acht sogenannte kleine Büßer in schwarzen Kutten. Sie
transportieren eine Jesus¬figur, eingewickelt in ein Leichentuch und abge-deckt
durch einen schwarzen Baldachin auf einer Trage. Ein gespenstischer Umzug,
nervös erhellt vom Blitzlichtgewitter der Zuschauer und den Leuchten
zahlreicher Fernsehteams. Bei der an¬schließenden Messe droht die Kirche aus
allen
Nähten zu platzen. Viele Gläubige warten vor der massiven
Pforte und lauschen den knarzenden Lautsprechern. Nach dem Segen drängt alles
zum Altar, um eine hölzerne Darstellung Christi zu küssen. Währenddessen knien
der Catenacciu, Simon von Kyrene und die kleinen Büßer unweit davon am Ende des
Kirchenschiffs. „Manchmal erkennt man ihn an den Füßen", raunzte mir eine
ältere Korsin vor der Prozession zu. Tatsächlich, vor allem die älteren
Herrschaften werfen im Vorbeigehen gerne einen verstohlenen Blick auf die Füße
des Büßers. Bis zum nächsten Karfreitag werden sich wohl wieder zahlreiche
Mythen um die Identität des Cattenaciu ranken.
Auf den Spuren des „Paten"
Schon am Gründonnerstag startet die Osterpro¬zession in
Bonifacio. Die südlichste Stadt Korsi¬kas thront seiltänzerisch auf einem
mächtigen Kalksporn. Ihr verwinkeltes Altstadtlabyrinth nutzte schon Francis
Ford Coppola für seine Mafia Trilogie „Der Pate". Fünf Kirchen und sie¬ben
Bruderschaften geben ihr den Status einer religiösen Festung. Entsprechend
inflationär fal¬len auch die Prozessionen aus.
Am Osterwochenende holen alle Bruderschaften ihre reich
verzierten Heiligenschreine und Kreu¬ze hervor und schreiten mit ihnen von der
Ober¬in die Unterstadt. Über die Zugbrücke, früher der einzige Zugang zur
Altstadt, gelangen sie zu ei¬nem Wegkreuz an den steilen Klippen. Von hier aus
liegt Sardinien fast in Rufweite. An Tagen, wo der Wüstenwind Scirocco über die
Meerenge fegt und die Stadt in seinen Sandschleier hüllt, glaubt man Afrika
riechen zu können. Über eine steile Treppe gelangen die Umzüge in den
windge¬schützten Naturhafen der Neustadt. Dort lässt sich der Alltag vor allem
bei Helligkeit kaum aus der Ruhe bringen. Die Fischhändler verkaufen Fische,
Muscheln und Krustentiere unweit der Hafenkapelle. Touristen lassen sich mit
kleinen Motorbooten zu den romantischen Grotten in der Steilküste schippern.
Andere beäugen das Schauspiel aus sicherer Entfernung bei einem Ca& au
lait. Trotz der Ku-Klux-Klan-ähnlichen Kutten, der barfüßigen Büßer und dem
mysti¬schen Gemurmel von Gebetsformeln - bei Tages¬licht fehlt der Zeremonie
einfach der Spukeffekt. Doch schon in der Dämmerung entfalten die Fa¬ckeln und
Laternen ihre volle Wirkung. Wenn die Gemeinschaft der Gläubigen dann noch am
Friedhof mit seinen schummrigen Familiengruf-ten vorbeigeht, ist Gänsehaut
garantiert.
Lauter Salut
zum Abschluss der Messe
Weniger unheimlich, dafür umso lauter gestaltet sich die
orthodoxe Variante der Feierlichkeiten am Ostersonntag. In Carg se an der
Westküste, wo im 17. Jahrhundert 800 griechische Emigran¬ten auf der Flucht vor
der ottomanischen Knecht¬schaft anlandeten, wird die Wiederauferstehung Christi
mit feierlichem Geläut verkündet. Noch beim Verlassen der Kirche feuern
Ministranten
die ersten Gewehrsalven aus ihren Schrotflinten ab.
Gleichzeitig surren die Videokameras los. Fotografen, hoch oben in den Platanen
vor dem Kirchenportal um Gleichgewicht bemüht, hoffen auf das ultimative Motiv.
Hoher Wert auf der Straße
Der Archimandrit schwingt das Weihrauchfass. Helfer tragen
eine in Gold gehaltene Ikone durch die Stadt. Das byzantinische Kunstwerk aus
dem 12. Jahrhundert ist von unschätzbarem Wert. Sie zeigt die Jungfrau Maria
mit dem Jesuskind und im unteren Bildteil die Heiligen Spiridon und Nikolaus.
Der orthodoxe Goldreigen wird wie¬derholt von heftigen Gewehrsalven
erschüttert. Junge Mädchen, rausgeputzt wie Christina Agui-lera in einem
Musikvideo, sorgen für Nachschub. Aus schmucklosen Plastiktüten reichen sie den
Ministranten eine Platzpatrone nach der ande¬ren. Auf einem Hügel am Ortsrand
wird ein Ge¬bet gesprochen. Weit reicht der Blick in die noch leicht
verschneiten Bergketten Korsikas und auf das sattblaue Meer. In diesem
Urlaubspanorama wirkt der von schwer bewaffneten Messdienern eskortierte
Archimandrit mehr als bizarr. Nach dem feierlichen Umzug gibt der Archi-mandrit
der Lokalpresse noch heftig gestikulie¬rend ein Interview. Danach rauchen er
und seine Ministranten genüsslich eine Zigarette. Kaum verlaufen sich die
Menschenmassen in den Gas¬sen, wirkt Cargse, als wäre nie etwas geschehen. Im
Nu gewinnt die beschauliche Kleinstadt seine küre Identität als Badeort zurück.
Lediglich das Trottoir erweckt den Eindruck, als hätten sich rivalisierende
Straßengangs einen erbitterten Revierkampf geliefert: Unzählige Patronenhül¬sen
zeichnen exakt den Weg der Prozession nach
- das ist Ostern auf Korsisch.
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