Freitag, 8. April 2016

Evolution an der Börse


Evolution an der Börse

Author D.Selzer-McKenzie

https://youtu.be/FA_x5JS2XFg

Alles könnte so einfach sein — logisch, berechenbar. Wenn es nach der Effizienzmarkthypothese (EMH) ginge, wären die Märkte perfekt, Risiken klar kalkulierbar, und alle Ent¬scheidungen rational. Eine schöne, heile Welt, in der die Finanzmärkte akkurat, fast wie nach den Regeln der Physik funktionieren könnten.

Allerdings wird in der EMH, die über Jahrzehnte das Nonplusultra in der Finanzmarktforschung darstellte, eine wichtige Komponente nicht ausreichend berücksichtigt: der Mensch. Er ist es, der bei all der vermuteten Rationali¬tät der Akteure an den Märkten den ausgefeilten, eigentlich

Wie in der Natur wird auch an den Märkten ein ständiger Kampf ausgetragen. Ein Kampf um die beste Rendite. Die Adaptive Markets Theorie hat das Ziel, die Konzepte der Effizienzmarkttheorie mit denen der Behavioural Finance zu verbinden, indem das Konzept der Evolution aus der Biologie auf die Finanzmärkte übertragen wird,

schlüssigen Modellen immer wieder einen Strich durch die Rechnung macht. Mit seinem zeitweise (völlig) irratio¬nalen Handeln lässt er die schönen Theorien scheitern und löst Kursbewegungen aus, die ineffizient sind. Das sind Befunde aus der Anlagepraxis, die sich immer wieder zei¬gen und dazu geführt haben, dass man der EMH — abseits der Wissenschaft — schon lange nicht mehr über den Weg traut.

Behavioural Finance

Es muss also eine neue Theorie her. Das allerdings ist leichter gesagt als getan. Denn abseits der gelegentlichen Marktturbulenzen und Übertreibungen nach oben und unten leistet die EMH gute Dienste. In normalen Markt¬phasen kann man tatsächlich davon ausgehen, dass die Kurse weitgehend effizient sind. Doch es sind gerade die Ausnahmen, die zu heftigen Bewegungen führen und nach einer Erklärung suchen.

Seit den 1990er Jahren hat sich die Wissenschaft dem Thema der Ineffizienzen an den Märkten angenom¬men. Daraus ist der Ansatz der Behavioural Finance

 

hervorgegangen (siehe Coverstory X-press TRADING Januar 2016). Demnach weisen Marktteilnehmer unter bestimmten Bedingungen bestimmte Verzerrungen in der Wahrnehmung und/oder Informationsverarbeitung auf, die dazu führen, dass sie manchmal keine rationalen Ent¬scheidungen treffen. Herrscht eine extreme Marktphase vor und nimmt der Anteil irrational handelnder Akteure Überhand, kommt es zu ineffizienten Kursbewegungen. Das umfasst vor allem Exzesse wie Euphorie und Kursbla¬sen sowie Panik und Crashs.

Die Behavioural Finance war also ein großer Schritt in die richtige Richtung. Die Wissenschaft hat erkannt, dass die Märkte nicht immer berechenbar sind. Doch ein Problem blieb: Es gab weiterhin kein ganzheitliches Erklärungsmodell, das die Phänomene am Markt besser beschreiben konnte als die EMH. Die neue Theorie über zeitweise ineffiziente Märkte musste also in ein plausibles Modell gegossen werden.

Börse ist Evolution

Der Mann, der all das unter einen Hut brachte, ist Prof. Andrew Lo. Wenn er spricht, hören die erfolgreichen Hedgefonds-Manager zu. Sein Forschungsfeld, das Markt¬experten den „neuesten Schrei" in der Finanzmarktfor¬schung nennen können, verbindet EMH und Behavioural Finance und macht daraus die Adaptive Markets Hypothe-sis (AMH). Die Grundlage für diese Verbindung ist erstaun¬lich und überzeugend zugleich: Die AMH basiert auf den Prinzipien der Evolution — ein Begriff aus der Biologie, der auf Wettbewerb, Innovation beziehungsweise Mutation, Reproduktion und Selektion beruhte.

Übertragen auf die Märkte lässt sich daraus ableiten, dass es nicht den „einen" homogenen, rationalen Investor gibt, sondern viele individuelle Akteure mit teils völlig ver¬schiedenen Voraussetzungen und Erfahrungen, die sich bestimmten Gruppen zuordnen lassen: Fonds-Manager, Market Maker, Privatanleger und so weiter. Diese Akteure nutzen die ihnen jeweils zurVerfügung stehenden Informa¬tionen, Erfahrungen und Anlagemöglichkeiten, um für sich die besten Entscheidungen zu treffen.

Dabei stehen die Marktteilnehmer ständig in Konkur¬renz zueinander und „kämpfen" um die kleinen Vorteile, die sich immer wieder bieten, und damit um die beste risikobereinigte Rendite. Investoren, die sich am Markt behaupten, erlangen somit auf Dauer einen größeren Ein¬fluss auf das Marktgeschehen, da ihr relativer Anteil in der Population zunimmt. Durch die starke Konkurrenz an den Märkten und die hohen Renditechancen, die sich den „fit-testen" Marktteilnehmern bieten, sind die Prinzipien der evolutionären Biologie enorm präsent. Wer nicht erfolg¬reich ist oder zu häufig Fehler macht, wird früher oder spä¬ter aus dem Markt und damit aus der Population verdrängt.

Die Quelle der Ineffizienz

Grundsätzlich sind die Märkte durch diese Konkurrenz¬situation die meiste Zeit ziemlich effizient — es sei denn, die Gruppe der irrationalen Akteure nimmt Überhand. Das passiert zum Beispiel dann, wenn es zu einer Panik am Markt kommt. Wenn viele Investoren eine Beschleunigung nach unten sehen und ihre Portfolios immer weiter in den roten Bereich rutschen, kann es als Reaktion auf die hohe Volatilität zum Fluchtreflex kommen. Wie bei einem wilden Bären, der in der Steinzeit unser Leben bedroht, fühlen die Anleger die Angst, dass die Kurse ins Bodenlose fallen und wollen nur noch „lebend" aus der Sache entkommen. Sie verkaufen zu jedem Preis, ziehen dadurch die Kurse weiter nach unten, und lösen die nächste Runde der Angst-Ver¬käufe aus. Dies kann dazu führen, dass die Märkte sehr viel stärker fallen als mit rationalen Modellen erklärt werden

 

kann. Letztlich aber ist es nur eine (Fehl-)Reaktion vieler Anleger auf ein verändertes Marktumfeld, was die

bestehenden         Rendite/Risiko-Relati-

onen aus dem Gleichgewicht bringt. Professor Lo zufolge lassen sich diese Ineffizienzen von anderen Gruppen an Marktteilnehmern wiederum pro¬fitabel ausnutzen.

Insgesamt bedeutet das, dass der Grad an Markteffizienz im Zeitablauf variiert. Die Effizienz hängt dabei von den aktuellen Rahmenbedingungen an den Märkten, der Anzahl an Akteuren in einem Markt, der Größe der aktuellen Gewinnchancen und der Anpassungsfähigkeit der Akteure ab. Gemäß Prof. Lo ist die AMH eine Art neue, flexiblere EMH. Hier sind die Märkte eine Art ökologisches System, in dem verschiedene Gruppen beziehungsweise „Spezies" um eine knappe Ressource, nämlich die beste risikoadjus¬tierte Rendite, konkurrieren.

Es geht ums Überleben

Da sich die Bedingungen an den Märkten permanent ver¬ändern, gibt es fortlaufend neue Quellen für größere oder kleinere Ineffizienzen. Marktteilnehmer, die sich am besten an das neue Umfeld anpassen können, erzielen nicht nur hohe Renditen, sondern haben vor allem die besten Über¬lebenschancen. Denn gerade das Überleben ist im AMH-Modell, parallel zum Vorbild in der Natur, entscheidend. Nur Marktteilnehmer, die ihr Überleben sichern, haben auch die Möglichkeit, in Zukunft von Ineffizienzen zu profi¬tieren. Genau wie in der Natur ist also dem nackten Über¬leben alles andere unterzuordnen. Lieber keine Rendite als nie wieder Rendite.

Genau dieser Überlebensdrang verursacht aber auch die größten Ineffizienzen. Wenn es sich in einem Crash so anfühlt, als ginge es um Leben oder Tod, dann funk¬tioniert das menschliche Gehirn auch genauso, als müsste man um sein Leben rennen. In der Wildnis war dies ein sinnvoller Mechanismus, aber an der Börse führt unüberlegtes Handeln oft zu den größten Fehlern. Das gilt insbesondere dann, wenn viele andere Marktteilneh¬mer gerade genauso denken und handeln, und damit

die Preise bereits „kaputt gemacht" haben.

Das Modell erklärt auch gut, warum bestimmte Anlagestrategien eine Weile funktionieren und dann versagen, nur um Jahre später eine Renaissance zu feiern. Beispiels¬weise interessierte sich Ende der 1990er Jahre kaum jemand für den Value-Handelsansatz, bei dem unter¬bewertete Aktien gekauft und überbe¬wertete Aktien leerverkauft werden. Der Grund: über Jahre dominierten Growth-Aktien mit hoher Bewer¬tung, die dennoch immer weiter auf noch höhere Niveaus stiegen. Value dagegen lief schlecht oder produ¬zierte sogar Verluste. Nur wenige Value-Investoren hielten lange genug durch, um dann nach Platzen der New-Economy-Kursblase den Lohn einzustreichen, als Value plötzlich wieder massiv outperformte. Einer dieser Investoren war einer der heute reichsten Anleger der Welt: Warren Buffett.

Letztlich hängt die Profitabilität einer Strategie also auch von der Anzahl der Anwender — also der Größe der jeweiligen Population — ab. Oder anders ausgedrückt: Je weniger Wölfe unterwegs sind, desto prächtiger fällt die Beute (die Rendite) aus. Haben sich die Wölfe aber nach den fetten Jahren so stark vermehrt, dass die Beute kaum noch zu finden ist, werden wohl einige der Raubtiere verhun¬gern. Dann ist die Zeit gekommen, Risiken zu reduzieren, das Erreichte zu schützen und sich an die neue Situation anzupassen — also nach alternativer, wenig gejagter Beute Ausschau zu halten und sich anderen Märkten beziehungs¬weise anderen Strategien zu widmen.

Es kommt auf den Markt an

Die AMH zeigt auch, warum die Märkte die meiste Zeit ziemlich effizient sind. Wenn gerade keine extremen Stim¬mungen am Markt vorherrschen, sind die Akteure kaum von Angst und Gier in ihrer Wahrnehmung getäuscht und können überwiegend rational entscheiden. In dieser Situa¬tion werden die kleinsten Ineffizienzen sofort erkannt und ausgenutzt.

 

Allerdings lassen sich nicht alle Märkte über einen Kamm scheren. Aufgrund unterschiedlicher Akteure kann es sein, dass Markt A effizient ist, aber Markt B gerade eine ineffiziente Übertreibung erlebt. Grundsätzlich hocheffizi¬ent sind Märkte, an denen starkerWettbewerb herrscht. Ein Beispiel hierfür sind zehnjährige US-Staatsanleihen. Dort ist es (fast) unmöglich, systematisch Überrenditen zu erzie¬len. Gäbe es keine Transaktionskosten, wäre dieser Markt wohl „perfekt" im Sinne der EMH. Umgekehrt sind inho-mogene, illiquide Märkte mit nur wenigen Teilnehmern einer Gruppe oft ineffizient — insbesondere dann, wenn Spezialwissen erforderlich oder der Informationszugang begrenzt ist. Ein gutes Beispiel hierfür bieten die Kunst¬märkte, etwa bei Gemälden aus einer ganz bestimmten Epoche. Die richtigen Informationen sind hier Gold wert.

Technische Analyse

Unter der EMH kann mit Fundamentaler oder Technischer Analyse kein Vorteil erzielt werden. Die AMH nimmt dage¬gen an, dass Trader durch ihr Handeln mit der Zeit lernen, welche Ansätze ihr Überleben sichern und welche nicht. Solange eine bestimmte Marktphase stabil vorherrscht, können dann die jeweils bewährten Strategien konsequent

umgesetzt werden. Schwieriger ist es dagegen, wenn sich das Umfeld ändert. An den Märkten gibt es immer wie¬der Strukturbrüche, nach denen sich eine neue Markt¬phase einstellt, in der plötzlich andere Regeln gelten. Jetzt kommt es darauf an, sich schnell anzupassen und neue Strategien zu entwickeln. Anfangs ist dies von hoher Unsi¬cherheit geprägt, aber eine schnelle Anpassung bietet ent¬sprechend auch große Chancen.

Die Komplexität des Marktes ist letztlich das Ergebnis der verschiedenen Strategien und Heuristiken aller Markt¬teilnehmer. Prof. Lo vergleicht dies mit dem Amazonas Regenwald, in dem die Vielfalt ebenfalls aus der Interak¬tion einer großen Anzahl an Arten resultiert. Steigt an den Märkten die allgemeine Risikofreudigkeit — meist in Auf¬schwüngen, sogenanntes „Risk-Off-Szenario" — so nimmt entsprechend die verbleibende Risikoprämie (Equity Risk Premium), die am Markt erzielbar ist, ab. Gemeint ist damit die Differenz der Renditen aus Aktien gegenüber einer „sicheren" Anlage zum Beispiel in Staatsanleihen. Umge¬kehrt steigt die Prämie in „Risk-On-Zeiten',' also vor allem in Abschwungphasen. Beides ist unter den gegebenen Rahmenbedingungen rational, obwohl es mit teils deut¬lich verschiedenen Kursniveaus einhergeht. Je nachdem,

 

wie die Masse der Marktteilnehmer auf Basis ihrer Erfahrungen auf eine gegebene Situation reagiert und sich anpasst, resultiert daraus die jewei¬lige Marktdynamik.

Fazit

Die Effizienz der Märkte ist nicht konstant. Anleger müssen Abschied von der Idee nehmen, Kurse anhand von „Naturgesetzen" beschreiben zu können. Die AMH erklärt anhand der Prinzipien der evolutionären Biologie, wie es zu Phasen höherer oder nied¬rigerer Effizienz kommen kann. Allem technischen Fortschritt zum Trotz kön¬nen die Märkte heute also phasen¬weise ineffizienter als jene vor zehn oder 20 Jahren sein. Daran sollten sich Trader stets erinnern, wenn die Märkte wieder einmal verrücktspie-len und es scheinbar keine rationale Erklärung für das Kursgeschehen

gibt. Es sind oft nur vorübergehende Phasen, die durch

Reaktionen und Anpassungen der Marktteilnehmer an ein

neues Umfeld entstehen.

Das bedeutet auch, dass die Profitabilität bestimmter Strategien kommt und geht. Um in diesem Umfeld zu überleben — das wichtigste Ziel jedes Marktteilnehmers noch vor der Gewinnerzielung —, muss er sich flexibel an ein verändertes Umfeld anpassen können. Nur so lässt sich dauerhaftes Kapitalwachstum erreichen und an die nächste Generation weitergeben. Investoren, die sich lang-fristig bewährt haben, sind die Vorbilder für die nächste Generation von Anlegern, die deren Stil weitertragen und

ihn gegebenenfalls erneut anpassen.

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