Evolution an der Börse
Author D.Selzer-McKenzie
https://youtu.be/FA_x5JS2XFg
Alles könnte so einfach sein — logisch, berechenbar. Wenn es
nach der Effizienzmarkthypothese (EMH) ginge, wären die Märkte perfekt, Risiken
klar kalkulierbar, und alle Ent¬scheidungen rational. Eine schöne, heile Welt,
in der die Finanzmärkte akkurat, fast wie nach den Regeln der Physik
funktionieren könnten.
Allerdings wird in der EMH, die über Jahrzehnte das
Nonplusultra in der Finanzmarktforschung darstellte, eine wichtige Komponente
nicht ausreichend berücksichtigt: der Mensch. Er ist es, der bei all der
vermuteten Rationali¬tät der Akteure an den Märkten den ausgefeilten,
eigentlich
Wie in der Natur wird auch an den Märkten ein ständiger
Kampf ausgetragen. Ein Kampf um die beste Rendite. Die Adaptive Markets Theorie
hat das Ziel, die Konzepte der Effizienzmarkttheorie mit denen der Behavioural
Finance zu verbinden, indem das Konzept der Evolution aus der Biologie auf die
Finanzmärkte übertragen wird,
schlüssigen Modellen immer wieder einen Strich durch die
Rechnung macht. Mit seinem zeitweise (völlig) irratio¬nalen Handeln lässt er
die schönen Theorien scheitern und löst Kursbewegungen aus, die ineffizient
sind. Das sind Befunde aus der Anlagepraxis, die sich immer wieder zei¬gen und
dazu geführt haben, dass man der EMH — abseits der Wissenschaft — schon lange
nicht mehr über den Weg traut.
Behavioural Finance
Es muss also eine neue Theorie her. Das allerdings ist
leichter gesagt als getan. Denn abseits der gelegentlichen Marktturbulenzen und
Übertreibungen nach oben und unten leistet die EMH gute Dienste. In normalen
Markt¬phasen kann man tatsächlich davon ausgehen, dass die Kurse weitgehend
effizient sind. Doch es sind gerade die Ausnahmen, die zu heftigen Bewegungen
führen und nach einer Erklärung suchen.
Seit den 1990er Jahren hat sich die Wissenschaft dem Thema
der Ineffizienzen an den Märkten angenom¬men. Daraus ist der Ansatz der Behavioural
Finance
hervorgegangen (siehe Coverstory X-press TRADING Januar
2016). Demnach weisen Marktteilnehmer unter bestimmten Bedingungen bestimmte
Verzerrungen in der Wahrnehmung und/oder Informationsverarbeitung auf, die dazu
führen, dass sie manchmal keine rationalen Ent¬scheidungen treffen. Herrscht
eine extreme Marktphase vor und nimmt der Anteil irrational handelnder Akteure
Überhand, kommt es zu ineffizienten Kursbewegungen. Das umfasst vor allem
Exzesse wie Euphorie und Kursbla¬sen sowie Panik und Crashs.
Die Behavioural Finance war also ein großer Schritt in die
richtige Richtung. Die Wissenschaft hat erkannt, dass die Märkte nicht immer
berechenbar sind. Doch ein Problem blieb: Es gab weiterhin kein ganzheitliches
Erklärungsmodell, das die Phänomene am Markt besser beschreiben konnte als die
EMH. Die neue Theorie über zeitweise ineffiziente Märkte musste also in ein
plausibles Modell gegossen werden.
Börse ist Evolution
Der Mann, der all das unter einen Hut brachte, ist Prof.
Andrew Lo. Wenn er spricht, hören die erfolgreichen Hedgefonds-Manager zu. Sein
Forschungsfeld, das Markt¬experten den „neuesten Schrei" in der
Finanzmarktfor¬schung nennen können, verbindet EMH und Behavioural Finance und
macht daraus die Adaptive Markets Hypothe-sis (AMH). Die Grundlage für diese
Verbindung ist erstaun¬lich und überzeugend zugleich: Die AMH basiert auf den
Prinzipien der Evolution — ein Begriff aus der Biologie, der auf Wettbewerb,
Innovation beziehungsweise Mutation, Reproduktion und Selektion beruhte.
Übertragen auf die Märkte lässt sich daraus ableiten, dass
es nicht den „einen" homogenen, rationalen Investor gibt, sondern viele
individuelle Akteure mit teils völlig ver¬schiedenen Voraussetzungen und
Erfahrungen, die sich bestimmten Gruppen zuordnen lassen: Fonds-Manager, Market
Maker, Privatanleger und so weiter. Diese Akteure nutzen die ihnen jeweils
zurVerfügung stehenden Informa¬tionen, Erfahrungen und Anlagemöglichkeiten, um
für sich die besten Entscheidungen zu treffen.
Dabei stehen die Marktteilnehmer ständig in Konkur¬renz
zueinander und „kämpfen" um die kleinen Vorteile, die sich immer wieder
bieten, und damit um die beste risikobereinigte Rendite. Investoren, die sich
am Markt behaupten, erlangen somit auf Dauer einen größeren Ein¬fluss auf das
Marktgeschehen, da ihr relativer Anteil in der Population zunimmt. Durch die
starke Konkurrenz an den Märkten und die hohen Renditechancen, die sich den
„fit-testen" Marktteilnehmern bieten, sind die Prinzipien der
evolutionären Biologie enorm präsent. Wer nicht erfolg¬reich ist oder zu häufig
Fehler macht, wird früher oder spä¬ter aus dem Markt und damit aus der
Population verdrängt.
Die Quelle der Ineffizienz
Grundsätzlich sind die Märkte durch diese
Konkurrenz¬situation die meiste Zeit ziemlich effizient — es sei denn, die
Gruppe der irrationalen Akteure nimmt Überhand. Das passiert zum Beispiel dann,
wenn es zu einer Panik am Markt kommt. Wenn viele Investoren eine
Beschleunigung nach unten sehen und ihre Portfolios immer weiter in den roten
Bereich rutschen, kann es als Reaktion auf die hohe Volatilität zum
Fluchtreflex kommen. Wie bei einem wilden Bären, der in der Steinzeit unser
Leben bedroht, fühlen die Anleger die Angst, dass die Kurse ins Bodenlose
fallen und wollen nur noch „lebend" aus der Sache entkommen. Sie verkaufen
zu jedem Preis, ziehen dadurch die Kurse weiter nach unten, und lösen die
nächste Runde der Angst-Ver¬käufe aus. Dies kann dazu führen, dass die Märkte
sehr viel stärker fallen als mit rationalen Modellen erklärt werden
kann. Letztlich aber ist es nur eine (Fehl-)Reaktion vieler
Anleger auf ein verändertes Marktumfeld, was die
bestehenden Rendite/Risiko-Relati-
onen aus dem Gleichgewicht bringt. Professor Lo zufolge
lassen sich diese Ineffizienzen von anderen Gruppen an Marktteilnehmern
wiederum pro¬fitabel ausnutzen.
Insgesamt bedeutet das, dass der Grad an Markteffizienz im
Zeitablauf variiert. Die Effizienz hängt dabei von den aktuellen
Rahmenbedingungen an den Märkten, der Anzahl an Akteuren in einem Markt, der
Größe der aktuellen Gewinnchancen und der Anpassungsfähigkeit der Akteure ab.
Gemäß Prof. Lo ist die AMH eine Art neue, flexiblere EMH. Hier sind die Märkte
eine Art ökologisches System, in dem verschiedene Gruppen beziehungsweise
„Spezies" um eine knappe Ressource, nämlich die beste risikoadjus¬tierte
Rendite, konkurrieren.
Es geht ums Überleben
Da sich die Bedingungen an den Märkten permanent ver¬ändern,
gibt es fortlaufend neue Quellen für größere oder kleinere Ineffizienzen.
Marktteilnehmer, die sich am besten an das neue Umfeld anpassen können, erzielen
nicht nur hohe Renditen, sondern haben vor allem die besten Über¬lebenschancen.
Denn gerade das Überleben ist im AMH-Modell, parallel zum Vorbild in der Natur,
entscheidend. Nur Marktteilnehmer, die ihr Überleben sichern, haben auch die
Möglichkeit, in Zukunft von Ineffizienzen zu profi¬tieren. Genau wie in der
Natur ist also dem nackten Über¬leben alles andere unterzuordnen. Lieber keine
Rendite als nie wieder Rendite.
Genau dieser Überlebensdrang verursacht aber auch die
größten Ineffizienzen. Wenn es sich in einem Crash so anfühlt, als ginge es um
Leben oder Tod, dann funk¬tioniert das menschliche Gehirn auch genauso, als
müsste man um sein Leben rennen. In der Wildnis war dies ein sinnvoller
Mechanismus, aber an der Börse führt unüberlegtes Handeln oft zu den größten
Fehlern. Das gilt insbesondere dann, wenn viele andere Marktteilneh¬mer gerade
genauso denken und handeln, und damit
die Preise bereits „kaputt gemacht" haben.
Das Modell erklärt auch gut, warum bestimmte
Anlagestrategien eine Weile funktionieren und dann versagen, nur um Jahre
später eine Renaissance zu feiern. Beispiels¬weise interessierte sich Ende der
1990er Jahre kaum jemand für den Value-Handelsansatz, bei dem unter¬bewertete
Aktien gekauft und überbe¬wertete Aktien leerverkauft werden. Der Grund: über
Jahre dominierten Growth-Aktien mit hoher Bewer¬tung, die dennoch immer weiter
auf noch höhere Niveaus stiegen. Value dagegen lief schlecht oder produ¬zierte sogar
Verluste. Nur wenige Value-Investoren hielten lange genug durch, um dann nach
Platzen der New-Economy-Kursblase den Lohn einzustreichen, als Value plötzlich
wieder massiv outperformte. Einer dieser Investoren war einer der heute
reichsten Anleger der Welt: Warren Buffett.
Letztlich hängt die Profitabilität einer Strategie also auch
von der Anzahl der Anwender — also der Größe der jeweiligen Population — ab.
Oder anders ausgedrückt: Je weniger Wölfe unterwegs sind, desto prächtiger
fällt die Beute (die Rendite) aus. Haben sich die Wölfe aber nach den fetten
Jahren so stark vermehrt, dass die Beute kaum noch zu finden ist, werden wohl
einige der Raubtiere verhun¬gern. Dann ist die Zeit gekommen, Risiken zu
reduzieren, das Erreichte zu schützen und sich an die neue Situation anzupassen
— also nach alternativer, wenig gejagter Beute Ausschau zu halten und sich
anderen Märkten beziehungs¬weise anderen Strategien zu widmen.
Es kommt auf den Markt an
Die AMH zeigt auch, warum die Märkte die meiste Zeit ziemlich
effizient sind. Wenn gerade keine extremen Stim¬mungen am Markt vorherrschen,
sind die Akteure kaum von Angst und Gier in ihrer Wahrnehmung getäuscht und
können überwiegend rational entscheiden. In dieser Situa¬tion werden die
kleinsten Ineffizienzen sofort erkannt und ausgenutzt.
Allerdings lassen sich nicht alle Märkte über einen Kamm
scheren. Aufgrund unterschiedlicher Akteure kann es sein, dass Markt A
effizient ist, aber Markt B gerade eine ineffiziente Übertreibung erlebt.
Grundsätzlich hocheffizi¬ent sind Märkte, an denen starkerWettbewerb herrscht.
Ein Beispiel hierfür sind zehnjährige US-Staatsanleihen. Dort ist es (fast)
unmöglich, systematisch Überrenditen zu erzie¬len. Gäbe es keine
Transaktionskosten, wäre dieser Markt wohl „perfekt" im Sinne der EMH.
Umgekehrt sind inho-mogene, illiquide Märkte mit nur wenigen Teilnehmern einer
Gruppe oft ineffizient — insbesondere dann, wenn Spezialwissen erforderlich
oder der Informationszugang begrenzt ist. Ein gutes Beispiel hierfür bieten die
Kunst¬märkte, etwa bei Gemälden aus einer ganz bestimmten Epoche. Die richtigen
Informationen sind hier Gold wert.
Technische Analyse
Unter der EMH kann mit Fundamentaler oder Technischer
Analyse kein Vorteil erzielt werden. Die AMH nimmt dage¬gen an, dass Trader durch
ihr Handeln mit der Zeit lernen, welche Ansätze ihr Überleben sichern und
welche nicht. Solange eine bestimmte Marktphase stabil vorherrscht, können dann
die jeweils bewährten Strategien konsequent
umgesetzt werden. Schwieriger ist es dagegen, wenn sich das
Umfeld ändert. An den Märkten gibt es immer wie¬der Strukturbrüche, nach denen
sich eine neue Markt¬phase einstellt, in der plötzlich andere Regeln gelten.
Jetzt kommt es darauf an, sich schnell anzupassen und neue Strategien zu
entwickeln. Anfangs ist dies von hoher Unsi¬cherheit geprägt, aber eine
schnelle Anpassung bietet ent¬sprechend auch große Chancen.
Die Komplexität des Marktes ist letztlich das Ergebnis der
verschiedenen Strategien und Heuristiken aller Markt¬teilnehmer. Prof. Lo
vergleicht dies mit dem Amazonas Regenwald, in dem die Vielfalt ebenfalls aus
der Interak¬tion einer großen Anzahl an Arten resultiert. Steigt an den Märkten
die allgemeine Risikofreudigkeit — meist in Auf¬schwüngen, sogenanntes
„Risk-Off-Szenario" — so nimmt entsprechend die verbleibende Risikoprämie
(Equity Risk Premium), die am Markt erzielbar ist, ab. Gemeint ist damit die
Differenz der Renditen aus Aktien gegenüber einer „sicheren" Anlage zum
Beispiel in Staatsanleihen. Umge¬kehrt steigt die Prämie in „Risk-On-Zeiten','
also vor allem in Abschwungphasen. Beides ist unter den gegebenen
Rahmenbedingungen rational, obwohl es mit teils deut¬lich verschiedenen
Kursniveaus einhergeht. Je nachdem,
wie die Masse der Marktteilnehmer auf Basis ihrer
Erfahrungen auf eine gegebene Situation reagiert und sich anpasst, resultiert
daraus die jewei¬lige Marktdynamik.
Fazit
Die Effizienz der Märkte ist nicht konstant. Anleger müssen
Abschied von der Idee nehmen, Kurse anhand von „Naturgesetzen" beschreiben
zu können. Die AMH erklärt anhand der Prinzipien der evolutionären Biologie,
wie es zu Phasen höherer oder nied¬rigerer Effizienz kommen kann. Allem
technischen Fortschritt zum Trotz kön¬nen die Märkte heute also phasen¬weise
ineffizienter als jene vor zehn oder 20 Jahren sein. Daran sollten sich Trader
stets erinnern, wenn die Märkte wieder einmal verrücktspie-len und es scheinbar
keine rationale Erklärung für das Kursgeschehen
gibt. Es sind oft nur vorübergehende Phasen, die durch
Reaktionen und Anpassungen der Marktteilnehmer an ein
neues Umfeld entstehen.
Das bedeutet auch, dass die Profitabilität bestimmter
Strategien kommt und geht. Um in diesem Umfeld zu überleben — das wichtigste
Ziel jedes Marktteilnehmers noch vor der Gewinnerzielung —, muss er sich
flexibel an ein verändertes Umfeld anpassen können. Nur so lässt sich
dauerhaftes Kapitalwachstum erreichen und an die nächste Generation
weitergeben. Investoren, die sich lang-fristig bewährt haben, sind die
Vorbilder für die nächste Generation von Anlegern, die deren Stil weitertragen
und
ihn gegebenenfalls erneut anpassen.
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