Platon (428.BC – 348.BC)
narreted by D.
Selzer-McKenzie
YoutubeVideo: https://youtu.be/sJhNGlAQErQ
Platon (altgriechisch Πλάτων Plátōn, latinisiert Plato;
geboren 428/427 v. Chr. in Athen oder Aigina; verstorben 348/347 v. Chr. in
Athen) war ein antiker griechischer Philosoph.
Er war Schüler des Sokrates, dessen Denken und Methode er in
vielen seiner Werke schilderte. Die Vielseitigkeit seiner Begabungen und die
Originalität seiner wegweisenden Leistungen als Denker und Schriftsteller
machten Platon zu einer der bekanntesten und einflussreichsten Persönlichkeiten
der Geistesgeschichte. In der Metaphysik und Erkenntnistheorie, in der Ethik,
Anthropologie, Staatstheorie, Kosmologie, Kunsttheorie und Sprachphilosophie
setzte er Maßstäbe auch für diejenigen, die ihm – wie sein Schüler Aristoteles
– in zentralen Fragen widersprachen.
Im literarischen Dialog, der den Verlauf einer gemeinsamen
Untersuchung nachvollziehen lässt, sah er die allein angemessene Form der schriftlichen
Darbietung philosophischen Bemühens um Wahrheit. Aus dieser Überzeugung verhalf
er der noch jungen Literaturgattung des Dialogs zum Durchbruch und schuf damit
eine Alternative zur Lehrschrift und zur Rhetorik als bekannten Darstellungs-
und Überzeugungsmitteln. Dabei bezog er dichterische und mythische Motive und
Ausdrucksformen ein, um Gedankengänge auf spielerische, anschauliche Weise zu
vermitteln. Zugleich wich er mit dieser Art der Darbietung seiner Auffassungen
dogmatischen Festlegungen aus und ließ viele Fragen, die sich aus seinen
Annahmen ergaben, offen bzw. überließ deren Klärung den Lesern, die er zu
eigenen Anstrengungen anregen wollte.
Ein Kernthema ist für Platon die Frage, wie unzweifelhaft
gesichertes Wissen erreichbar ist und wie man es von bloßen Meinungen
unterscheiden kann. In den frühen Dialogen geht es ihm vor allem darum,
herkömmliche und gängige Vorstellungen über das Erstrebenswerte und das
richtige Handeln als unzulänglich oder unbrauchbar zu entlarven, um dem Leser
den Schritt von vermeintlichem Wissen zu eingestandenem Nichtwissen zu
ermöglichen. In den Schriften seiner mittleren Schaffensperiode versucht er mit
seiner Ideenlehre eine zuverlässige Basis für echtes Wissen zu schaffen.
Solches Wissen kann sich nach seiner Überzeugung nicht auf die stets
wandelbaren Objekte der Sinneserfahrung beziehen, sondern nur auf
unkörperliche, unveränderliche und ewige Gegebenheiten einer rein geistigen,
der Sinneswahrnehmung unzugänglichen Welt, die „Ideen“, in denen er die Ur- und
Vorbilder der Sinnendinge sieht. Der Seele, deren Unsterblichkeit er plausibel
machen will, schreibt er Teilhabe an der Ideenwelt und damit einen Zugang zur
dort existierenden absoluten Wahrheit zu. Wer sich durch philosophische
Bemühungen dieser Wahrheit zuwendet und ein darauf ausgerichtetes
Bildungsprogramm absolviert, kann seine wahre Bestimmung erkennen und damit
Orientierung in zentralen Lebensfragen finden. Die Aufgabe des Staates sieht
Platon darin, den Bürgern dafür optimale Voraussetzungen zu schaffen und
Gerechtigkeit umzusetzen. Daher setzt er sich intensiv mit der Frage
auseinander, wie die Verfassung eines Idealstaates diesem Ziel am besten dienen
kann. In späteren Werken tritt die Ideenlehre teils in den Hintergrund, teils
werden Probleme, die sich aus ihr ergeben, kritisch beleuchtet; im Bereich der
Naturphilosophie und Kosmologie jedoch, dem sich Platon im Alter zuwendet,
weist er den Ideen bei seiner Erklärung des Kosmos eine maßgebliche Rolle zu.
Platon gründete die Platonische Akademie, die älteste
institutionelle Philosophenschule Griechenlands, von der aus sich der
Platonismus über die antike Welt verbreitete. Das geistige Erbe Platons
beeinflusste zahlreiche jüdische, christliche und islamische Philosophen auf
vielfältige Weise. Auch der Aristotelismus als häufiger Ausgangspunkt für
alternative Modelle im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit beruhte auf der
Auseinandersetzung mit Platon.
In der Moderne wurde platonisches Gedankengut insbesondere
von den Denkern der „Marburger Schule“ des Neukantianismus (Hermann Cohen, Paul
Natorp) verwertet. Karl Popper griff Platons politische Philosophie an; sein
Vorwurf, es handle sich um eine Form von Totalitarismus, löste im 20.
Jahrhundert eine lang anhaltende Kontroverse aus.
Da die Platoniker Platon überschwänglich verehrten, wurden
über sein Leben zahlreiche teils phantastische Anekdoten und Legenden
verbreitet, die großenteils seiner Verherrlichung dienten.[2] Es wurde sogar
behauptet, er sei ein Sohn des Gottes Apollon, sein leiblicher Vater sei nur
sein Stiefvater gewesen.[3] Daneben gab es aber auch Geschichten, die seine
Verspottung und Diffamierung bezweckten.[4] Daher ist die historische Wahrheit
schwer zu ermitteln. Eine Hauptquelle ist Platons Siebter Brief, der heute
überwiegend für echt gehalten wird und auch im Fall seiner Unechtheit als
zeitgenössische Quelle von hohem Wert anzusehen wäre.
Herkunft
Verwandtschaft Platons[5]
Platon stammte aus einer vornehmen, wohlhabenden Familie
Athens. Sein Vater Ariston betrachtete sich als Nachkomme des Kodros, eines
mythischen Königs von Athen; jedenfalls war ein Vorfahre Aristons, Aristokles,
schon 605/604 v. Chr. Archon gewesen, hatte also das höchste Staatsamt
bekleidet. Unter den Ahnen von Platons Mutter Periktione war ein Freund und
Verwandter des legendären athenischen Gesetzgebers Solon.[6] Der Philosoph
hatte zwei ältere Brüder, Adeimantos und Glaukon, die in der Politeia als
Dialogteilnehmer auftreten, und eine ältere Schwester, Potone, deren Sohn
Speusippos später Platons Nachfolger als Leiter der Akademie (Scholarch) wurde.
Ariston verstarb schon früh; Periktione heiratete um 423 v. Chr. ihren Onkel
mütterlicherseits Pyrilampes, einen angesehenen Athener, der zu Perikles’ Zeit
als Gesandter tätig gewesen war. Pyrilampes hatte aus einer früheren Ehe einen
Sohn, Demos, der Platons Stiefbruder wurde. Aus der Ehe zwischen Periktione und
Pyrilampes ging Antiphon, ein jüngerer Halbbruder Platons, hervor.
Während Platons Stiefvater demokratisch gesinnt war,
gehörten zur Familie seiner Mutter Periktione mehrere prominente Politiker mit
oligarchischer Haltung: Ihr Onkel Kallaischros gehörte 411 v. Chr. dem durch
Putsch kurzzeitig an die Macht gekommenen Rat der Vierhundert an, ihr Vetter
Kritias war Mitglied des oligarchischen Rats der Dreißig („Dreißig Tyrannen“),
der 404/403 v. Chr. Athen regierte. Unter dessen Herrschaft wurde auch ihr
Bruder Charmides in ein oligarchisches Gremium berufen und fiel im Kampf gegen
die Demokraten.[7]
Kindheit und Jugend
Laut der Chronik des Apollodoros wurde Platon 428 oder 427
v. Chr. geboren,[8] nach der antiken Tradition am 7. Tag des Monats Thargelion
(Mai/Juni), dem mythischen Geburtstag des Gottes Apollon. An diesem Tag
feierten später – noch im 3. Jahrhundert n. Chr. – die Platoniker sein
Geburtstagsfest.[9] Schon im 3. Jahrhundert v. Chr. war eine Legende
verbreitet, wonach „Platon“ ursprünglich nur ein Beiname war, den er in
Anlehnung an das griechische Wort πλατύς (platýs „breit“) erhielt, womit
angeblich auf die Breite seiner Stirn oder seiner Brust angespielt wurde. Diese
Behauptung wird von der Forschung als unglaubwürdig betrachtet.[10] Auch eine
Überlieferung, wonach Platon ursprünglich den Namen seines Großvaters
Aristokles trug, ist eine im Rahmen dieser Legendenbildung entstandene
Erfindung.[11] Seine Kindheit und Jugend verbrachte Platon in der Zeit des
Peloponnesischen Krieges (431–404 v. Chr.), der mit der Kapitulation seiner
Heimatstadt endete. Als Sohn aus vornehmer Familie genoss er eine sorgfältige
Erziehung. Es wird berichtet, dass er Unterricht in Sport, Grammatik, Malerei,
Musik und Dichtung erhielt, seine poetischen Jugendwerke jedoch später
verbrannte; diese Behauptungen wurden allerdings möglicherweise nachträglich
aus seinen Dialogen abgeleitet.[12]
In die Philosophie führte ihn Kratylos ein,[13] ein Anhänger
Heraklits, nach dem Platon später seinen Dialog Kratylos benannte. Als
Zwanzigjähriger begegnete er Sokrates, dem er sich als Schüler anschloss. Bis
zu Sokrates’ Tod rund ein Jahrzehnt später blieb er bei ihm. Als Lehrer und als
Vorbild prägte Sokrates die geistige Entwicklung Platons.
Abwendung von der Politik und erste Reisen
Als nach dem Kriegsende 404 in Athen die von den siegreichen
Spartanern gestützte Terrorherrschaft der dreißig Oligarchen begann, zu denen
Verwandte Platons gehörten, wurde er zur Beteiligung am politischen Leben
eingeladen, lehnte jedoch ab, da er dieses Regime als verbrecherisch
betrachtete.[14] Aber auch die politischen Verhältnisse nach der
Wiederherstellung der Attischen Demokratie im Jahre 403 missfielen ihm. Ein
Wendepunkt in Platons Leben war die Hinrichtung des Sokrates im Jahre 399, die
ihn tief erschütterte. Das staatliche Vorgehen gegen seinen Lehrer wertete er
als einen Ausdruck moralischer Verkommenheit und als Beweis für einen
prinzipiellen Mangel im politischen System. Er sah nun in Athen keinerlei
Möglichkeit einer philosophisch verantwortbaren Teilnahme am politischen Leben
mehr und entwickelte sich zu einem scharfen Zeitkritiker. Diese Erfahrungen
veranlassten ihn dazu, seine Forderung nach einem von Philosophen regierten
Staat zu erheben.[15]
Nach dem Tod des Sokrates begab sich Platon mit anderen
Sokratikern für kurze Zeit nach Megara zu Euklid von Megara, der ebenfalls ein
Schüler des Sokrates war. In seinen Dialogen Phaidon und Theaitetos ließ er
später diesen Euklid als Sokrates’ Gesprächspartner auftreten. In der Folgezeit
soll er eine große Bildungsreise unternommen haben, die ihn laut verschiedenen
Quellen, deren Angaben zur Route allerdings widersprüchlich sind, nach Kyrene
zu dem Mathematiker Theodoros von Kyrene sowie nach Ägypten und Unteritalien
führte. Die Einzelheiten und die Datierung sind in der Forschung umstritten;
insbesondere wird bezweifelt, dass Platon jemals in Ägypten war. Einiges
spricht dafür, dass der Aufenthalt in Ägypten erfunden wurde, um Platon mit
ägyptischer Weisheitstradition in Verbindung zu bringen. Unklar ist, ob die
Bildungsreise mit der ersten Sizilienreise verbunden war oder schon einige
Jahre vorher stattfand.[16]
Erste Sizilienreise
Um 388 unternahm Platon seine erste Sizilienreise.[17]
Zunächst fuhr er nach Unteritalien, wo im 5. Jahrhundert die Philosophengemeinschaft
der Pythagoreer großen Einfluss erlangt hatte, dann aber in blutigen Unruhen
stark geschwächt worden war. In Tarent traf Platon den damals prominentesten
und politisch erfolgreichsten Pythagoreer, den Staatsmann und Mathematiker Archytas
von Tarent, der sein Gastfreund wurde. Von Archytas erhoffte er sich vor allem
mathematische Erkenntnisse.[18] Zu den Philosophen, denen er in Unteritalien
begegnete, soll auch Timaios von Lokroi gehört haben, den er später zum
Hauptgesprächspartner seines Dialogs Timaios machte; die Historizität dieser
Gestalt wird allerdings angezweifelt.[19] Danach reiste Platon nach Syrakus, wo
damals der Tyrann Dionysios I. herrschte.
Die Berichte über diesen ersten Aufenthalt in Syrakus sind
großenteils legendenhaft und umstritten. Da die Konfrontation eines aufrechten
Philosophen mit einem tyrannischen Herrscher in der Antike ein beliebtes
literarisches Motiv war, betrachtet die Forschung die überlieferten
Einzelheiten von Platons Begegnung mit dem Tyrannen und seinem Bruch mit ihm
skeptisch.[20] Jedenfalls hatte Platon mit Dionysios Kontakt, und der Ausgang
war für den Philosophen ungünstig; der Freimut Platons soll den Herrscher
erzürnt haben.[21] Enge Freundschaft schloss Platon jedoch mit Dionysios’
Schwager und Schwiegersohn Dion, der ein eifriger Platoniker wurde. Das
Luxusleben in der Magna Graecia, den griechischen Städten auf italischem Boden,
missfiel Platon.[22]
Laut Quellenberichten geriet Platon am Ende der
Sizilienreise in Gefangenschaft und wurde als Sklave verkauft, kam aber bald
wieder frei und konnte nach Athen zurückkehren. Ein Spartaner namens Pollis
soll ihn im Auftrag des Dionysios auf dem Sklavenmarkt von Aigina verkauft
haben, worauf der Käufer, ein gewisser Annikeris aus Kyrene, dem Philosophen
aus Großmut und Wertschätzung die Freiheit schenkte. Sehr wahrscheinlich war
aber Dionysios an der Episode nicht beteiligt; vielmehr wurde das Schiff, auf
dem der Philosoph von Sizilien heimkehrte, von den Spartanern oder den Ägineten
gekapert, die damals mit Athen im Krieg lagen.[23]
Schulgründung und Lehrtätigkeit
Platons Akademie, Mosaikfußboden in Pompeji, 1. Jahrhundert
n. Chr.
Nach seiner Rückkehr kaufte Platon um 387 v. Chr. bei dem
Akadḗmeia (Άκαδήμεια) genannten Hain des attischen Heros Akademos (Hekademos)
im Nordwesten von Athen ein Grundstück, wo er philosophisch-wissenschaftlichen
Unterricht zu erteilen begann und seine Schüler zu Forschungen anregte. Dabei
wurde er von Gastphilosophen und Gastwissenschaftlern sowie fortgeschrittenen
Schülern, die Lehraufgaben übernahmen, unterstützt. Da im Laufe der Zeit der
Name von dem Hain auf die Schule übertragen wurde, begannen sich die
Schulmitglieder Akademiker (Άκαδημαικοί Akademaikoí) zu nennen. So entstand die
Akademie, die erste Philosophenschule Griechenlands. Einen Anstoß dazu gab wohl
das Vorbild der Pythagoreergemeinschaft in Italien. Es bestand eine Rivalität
mit Isokrates, einem Lehrer der Rhetorik, der kurz zuvor – um 390 – eine Schule
der Beredsamkeit gegründet hatte; Platons Haltung zu den Bestrebungen des
Isokrates war kritisch.[24] Auf dem Grundstück der Akademie lebte und lehrte
Platon in den folgenden zwei Jahrzehnten.
Zweite Sizilienreise
Trotz der schlechten Erfahrungen auf der ersten
Sizilienreise ließ sich Platon nach dem Tod des 367 gestorbenen Tyrannen
Dionysios I. zu einer weiteren Reise nach Syrakus bewegen. Nachdem er zunächst
starke Bedenken gehegt hatte, machte er sich 366 v. Chr. auf den Weg. Er folgte
einer Einladung, die der Sohn und Nachfolger des Tyrannen, Dionysios II., auf
Veranlassung von Platons Freund Dion an ihn gerichtet hatte. Dion erstrebte für
sich eine maßgebliche Stellung am Hof. Platon hoffte, im Zusammenwirken mit
Dion seine politischen Vorstellungen durch Einflussnahme auf den jungen
Herrscher zur Geltung bringen und erproben zu können, günstigstenfalls ein
Staatswesen nach dem Ideal der Philosophenherrschaft einzurichten. Dion war
optimistischer als der von Anfang an eher skeptische Platon.[25]
Es zeigte sich jedoch, dass Dionysios II. zu einer umfassenden
Staatsreform nicht willens oder nicht in der Lage war; sein Hauptaugenmerk galt
der Sicherung seiner stets bedrohten Herrschaft. Am Hof konnte sich nur
durchsetzen, wer in den dortigen Intrigen und Machtkämpfen die Oberhand
behielt.[26] In den Auseinandersetzungen griff Dion zu konspirativen Mitteln,
was (wohl im Spätsommer 366) zu seiner Verbannung führte; er begab sich nach
Griechenland.[27] Nach diesem Fehlschlag reiste auch Platon im Jahre 365 ab. Es
wurde aber mit Dionysios vereinbart, dass beide nach einer Beruhigung der Lage
zurückkehren sollten. Zwischen Dion und Dionysios bestand eine Rivalität um die
Freundschaft Platons, und Dionysios war darüber enttäuscht, dass Platon Dion
den Vorzug gab.[28]
Dritte Sizilienreise
361 v. Chr. reiste Platon zum dritten Mal – wiederum
widerwillig und gedrängt – nach Sizilien. Archytas hatte ihn darum gebeten, in
der Hoffnung, dass Platon einen günstigen Einfluss auf den Tyrannen ausüben
werde, und Dionysios II., der die Anwesenheit des Philosophen wünschte, hatte
Druck ausgeübt, indem er das Eintreffen Platons zur Bedingung für eine
Begnadigung Dions machte. So entschloss sich Platon, zusammen mit seinen
Schülern Speusippos und Xenokrates auf einem von Dionysios geschickten Schiff
die Reise anzutreten.[29]
Das entscheidende Gespräch mit Dionysios verlief für Platon
enttäuschend. Nach Platons Darstellung bildete sich Dionysios zu Unrecht ein,
die philosophischen Lehren bereits zu verstehen, und zeigte keine Bereitschaft,
sich der Disziplin echter Schülerschaft zu unterwerfen und ein philosophisches
Leben zu führen. Außerdem hielt er die Zusage einer Rehabilitierung Dions nicht
ein und beschlagnahmte sogar dessen großes Vermögen.[30] In den Kreisen der
Platoniker und der Anhänger Dions hatte sich die Überzeugung verbreitet, dass
nur ein Sturz des Tyrannen eine Besserung der Lage bewirken könne. Speusippos
nutzte seinen Aufenthalt in Syrakus zur Betätigung in diesem Sinne, was dem
Tyrannen wohl nicht verborgen blieb.[31] Durch die Parteinahme seiner Freunde
und Anhänger für die Opposition geriet Platon in Verdacht und Bedrängnis,
insbesondere als er sich für einen des Hochverrats verdächtigten Parteigänger
Dions einsetzte.[32] Söldner des Dionysios, die Interesse am Fortbestand der
bestehenden Machtverhältnisse hatten, bedrohten ihn.[33] Aus dieser
lebensgefährlichen Lage rettete ihn Archytas, der von Tarent aus intervenierte
und ihm im Sommer 360 die Heimkehr nach Athen ermöglichte.
Umsturz in Syrakus
Nach dem Scheitern von Platons Bemühungen beschloss Dion,
mit seinen Anhängern zur Gewalt zu greifen. Dabei ermutigten und unterstützten
ihn Mitglieder der Akademie, der er auch selbst angehörte. Platon hielt sich
davon fern, da er weiterhin im Gastfreundschaftsverhältnis zum Tyrannen stand,
doch widersetzte er sich diesen Aktivitäten seiner Schüler nicht.[34] 357 wagte
Dion den Feldzug mit einer kleinen Streitmacht von Söldnern. Es gelang ihm bald
nach seiner Landung auf Sizilien, Dionysios mit Hilfe von dessen zahlreichen
Feinden zu stürzen und in Syrakus die Macht zu übernehmen. Ob bzw. inwieweit er
tatsächlich eine platonische Staatsordnung einführen wollte (wovon Platon
selbst bis zuletzt überzeugt war), ist umstritten.[35] Jedenfalls versuchte er,
die Verfassung umzugestalten, stieß dabei aber auf heftigen Widerstand und
wurde verdächtigt, eine neue Tyrannenherrschaft errichten zu wollen. Dies
führte nach mancherlei Wirren und Kämpfen 354 zu seiner Ermordung. Als Platon
von Dions Tod erfuhr, dichtete er ein Epigramm, mit dem er dem geliebten Freund
ein literarisches Denkmal setzte. An Dions Verwandte und Parteigänger in
Sizilien richtete er den siebten Brief, in dem er sein Verhalten begründete und
erläuterte.
Alter und Tod
Seine letzten Lebensjahre verbrachte Platon lehrend und
forschend. In hohem Alter wandte er sich mit einem öffentlichen Vortrag Über
das Gute an ein breites, nichtphilosophisches Publikum, bei dem er jedoch auf
Verständnislosigkeit stieß.[36] Er starb 348/347 v. Chr. und wurde auf dem
Gelände der Akademie oder in dessen Nähe bestattet.[37] Sein Testament ist
erhalten. Da er unverheiratet und kinderlos war, fiel sein Erbe an einen Neffen
oder Großneffen, den Knaben Adeimantos. Zu seinem Nachfolger als Leiter der
Akademie (Scholarch) wurde sein Neffe Speusippos gewählt.
Werke
Die dreibändige Gesamtausgabe von Platons Werken, die der
Drucker Henri Estienne (latinisiert Henricus Stephanus) im Jahr 1578 in Genf
veröffentlichte, war bis ins frühe 19. Jahrhundert die maßgebliche Edition.
Nach der Seitennummerierung dieser Ausgabe (Stephanus-Paginierung) werden
Platons Werke noch heute zitiert.
Überlieferung und Echtheit
Papyrusfragment der Politeia aus Oxyrhynchos, 3. Jahrhundert
n. Chr., Sackler Library, Oxford
Alle Werke Platons, die in der Antike bekannt waren, sind
erhalten geblieben, abgesehen vom Vortrag Über das Gute, von dem es eine
Nachschrift des Aristoteles gab, die verloren ist. Hinzu kommen Werke, die
unter Platons Namen verbreitet waren, aber möglicherweise oder sicher unecht
sind; auch sie gehören größtenteils zum Corpus Platonicum (der Gesamtheit der
traditionell Platon zugeschriebenen Werke), obwohl ihre Unechtheit teils schon
in der Antike erkannt wurde. Insgesamt sind 47 Titel von Werken bekannt, die
Platon verfasst hat oder für die er als Autor in Anspruch genommen worden
ist.[38] Das Corpus Platonicum besteht aus den Dialogen (darunter das
unvollendete Spätwerk Kritias), der Apologie des Sokrates, einer Sammlung von
13 Briefen sowie einer Sammlung von Definitionen, den Horoi. Außerhalb des
Corpus überliefert sind eine Sammlung von Dihairesen, zwei weitere Briefe, 32
Epigramme und ein Gedichtfragment (7 Hexameter); mit Ausnahme eines Teils der
Gedichte stammen diese Werke sicher nicht von Platon.[39]
Seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. beschäftigten sich
Philologen der Alexandrinischen Schule mit den Werken Platons. Einer von ihnen,
Aristophanes von Byzanz (3./2. Jahrhundert v. Chr.), ordnete die Schriften in
Trilogien. Die verbreitetste antike Gruppierung ist jedoch diejenige in neun
Tetralogien (Vierergruppen), also 36 Werke, nämlich 34 Dialoge, die Apologie
und die Briefsammlung.[40] Die Tetralogienordnung, deren Entstehungszeit
umstritten ist, wurde nach inhaltlichen Gesichtspunkten durchgeführt; dabei
ging es den antiken Platonikern hauptsächlich um die didaktisch-pädagogische
Frage, in welcher Reihenfolge ein Schüler die Schriften lesen sollte.
Der heutige, von der Mehrheit der Gelehrten akzeptierte
Forschungsstand in der Echtheitsfrage der 36 Werke, aus denen die Tetralogien
bestehen, ist folgender:
Neben der Apologie
sind 24 Dialoge sicher echt: Charmides, Euthydemos, Euthyphron, Gorgias, Ion,
Kratylos, Kritias, Kriton, Laches, Lysis, Menexenos, Menon, Nomoi („Die
Gesetze“), Parmenides, Phaidon, Phaidros, Philebos, Politeia („Der Staat“),
Politikos („Der Staatsmann“), Protagoras, Sophistes („Der Sophist“), Symposion
(„Das Gastmahl“), Theaitetos, Timaios
5 sind umstritten
(Dubia): Alkibiades I,[41] Hippias maior („Großer Hippias“),[42] Hippias minor
(„Kleiner Hippias“),[43] Kleitophon,[44] Theages[45]
5 sind sicher
unecht (Spuria): Alkibiades II, Epinomis, Anterastai (lateinisch Amatores),
Hipparchos, Minos
Von den Briefen sind alle außer dem Dritten, Sechsten,
Siebten und Achten sicher unecht; der Siebte Brief wird überwiegend als echt
akzeptiert, die drei übrigen sind umstritten.[46]
Neben den 34 Dialogen der Tetralogien enthält das
traditionelle Corpus Platonicum noch weitere, die heute jedoch als „Anhang“ zum
Corpus (Appendix Platonica) ausgesondert sind, da sie sicher unecht sind. Alle
unechten Dialoge gehen anscheinend auf Mitglieder der Älteren und der Jüngeren
Akademie zurück. Sie sind im Zeitraum zwischen dem 4. und dem 2. Jahrhundert v.
Chr. entstanden. Manche wurden wohl schon früh in die Tetralogienordnung
aufgenommen und verblieben trotz bereits bestehender Zweifel in ihr, wobei der
Wunsch, am Schema von neun Tetralogien festzuhalten, eine Rolle gespielt haben
dürfte. Heute betrachtet die Forschung die unechten Dialoge nicht allein unter
dem Gesichtspunkt der Fälschung, sondern sieht in ihnen Beispiele für eine
Platons Stil und Argumentationsweise nachahmende Auseinandersetzung mit von ihm
aufgeworfenen Problemen. Außerdem wird in neueren Untersuchungen nicht mehr an
einer strikten Trennung von echten und unechten Schriften festgehalten;
vielmehr wird die Möglichkeit aufgezeigt, dass es sich bei manchen
zweifelhaften und unechten Dialogen um Entwürfe Platons bzw. Ausarbeitungen
solcher Entwürfe durch seine Schüler oder spätere Platoniker handelt. Auch bei
den sicher authentischen Dialogen, besonders den späten, rechnet man mit
Überarbeitung durch Mitglieder der Akademie. Es ist auch bezeugt, dass Platon
selbst seine Werke beständig fortentwickelt hat.[47]
Die erste Seite der im Jahr 895 für Arethas angefertigten
Sammlung der Werke Platons, des berühmten Codex Clarkianus
Die Textüberlieferung basiert in erster Linie auf den
zahlreichen mittelalterlichen Handschriften, die sich letztlich auf zwei antike
Abschriften zurückführen lassen. Der Vergleich der handschriftlichen
Überlieferung mit den vielen teils umfangreichen Platonzitaten in antiker
Literatur zeigt, dass der vorliegende Textbestand weitgehend einheitlich und
zuverlässig ist. Die handschriftliche Überlieferung setzt im späten 9.
Jahrhundert ein. Der Patriarch von Konstantinopel Photios I., ein führender
Gelehrter des 9. Jahrhunderts, ließ eine Sammlung aller unter Platons Namen
überlieferten Werke in zwei Codices anfertigen. Diese beiden Bände sind heute
verloren, doch der Text des Patriarchen war die Basis späterer, teils
prachtvoller Abschriften, die einen Großteil der heute vorliegenden
Textüberlieferung ausmachen. Eine weitere Sammelhandschrift von Platons
Schriften entstand im Auftrag von Arethas, einem Schüler des Photios.[48] 1423
brachte der Humanist Giovanni Aurispa eine vollständige Sammlung von Platons
Werken aus Konstantinopel nach Italien. Eine Ergänzung zu den mittelalterlichen
Textzeugen bilden die vielen antiken Papyri, die allerdings nur Textfragmente
enthalten.[49] Der älteste Papyrus stammt aus dem späten 4. oder frühen 3.
Jahrhundert v. Chr.[50]
Chronologie
Eine absolute Datierung der einzelnen Werke ist sehr
schwierig, da sie kaum Hinweise auf historische Ereignisse ihrer Abfassungszeit
bieten und die Handlung der Dialoge in der Regel in die Lebenszeit des Sokrates
gesetzt ist, also in die Zeit vor dem eigentlichen Beginn von Platons
schriftstellerischer Tätigkeit.[51] In manchen Fällen kann zumindest der
Zeitraum der Entstehung eingegrenzt werden, etwa dank Anspielungen auf
Datierbares oder auch durch das Einsetzen der Rezeption.
Die relative Datierung der Schriften innerhalb des
Gesamtwerks wird in der Forschung seit dem späten 18. Jahrhundert intensiv
diskutiert, da die Ermittlung der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung
Voraussetzung für alle Hypothesen über die Entwicklung von Platons Denken ist.
Eindeutige interne Kriterien sind Querverweise in den Dialogen, die aber nur
vereinzelt vorkommen. Externe (historische) Kriterien sind Hinweise auf
datierbare Ereignisse, die sich aber teilweise nicht eindeutig zuordnen lassen.
Die Argumentation basiert daher hauptsächlich auf philologischen Beobachtungen
und auf Überlegungen zu einer stimmigen philosophischen Entwicklung. Dabei geht
es unter anderem um Hypothesen, wonach ein Dialog auf einem anderen aufbaut und
die Kenntnis der dort entwickelten Gedankengänge voraussetzt. Die wichtigsten
Kriterien sind aber nicht inhaltlicher, sondern sprachlicher Art. Hierbei
relevante sprachliche Merkmale ergeben sich zum einen aus einer allgemeinen
Stilanalyse, die allerdings wegen ihres subjektiven Charakters und wegen
Platons großer Variationsbreite in der Stilkunst kaum zwingende Folgerungen
gestattet; zum anderen geht es um die Detailergebnisse der Anwendung sprachstatistischer
Methoden, die bereits 1867 begann.[52] Grundlage der Sprachstatistik ist die
Beobachtung, dass das Vorkommen und die Häufigkeit der Verwendung einzelner
Wörter oder auch Partikelkombinationen für einzelne Schaffensphasen eines
Autors charakteristisch sein können. Anhaltspunkte solcher Art ergeben sich
außerdem aus der Satzrhythmik und aus Hiaten.
Die Kombination dieser Ansätze hat eine grobe Dreiteilung in
frühe, mittlere und späte Werke ermöglicht, die sich – mit einigen Schwankungen
– als herrschende Lehrmeinung etabliert hat. Allerdings wird diesem Schema
hinsichtlich einzelner Werke immer wieder widersprochen und die Solidität
seiner Basis bestritten. Eine Reihe von Grenzfällen ist weiterhin ungeklärt.
Hinzu kommt, dass für diejenigen Platonforscher, die den Aspekt der
wiederholten Überarbeitung mancher Dialoge betonen, die Ergebnisse der sprachstatistischen
Untersuchungen kaum Gewicht haben. Außerdem bleibt die Reihenfolge innerhalb
der drei Gruppen zu einem erheblichen Teil unsicher oder gänzlich unklar.
Nach der heute vorherrschenden Auffassung[53] ist aufgrund
der stilistischen Analyse folgende Gruppierung relativ plausibel (mit
alphabetischer Reihenfolge innerhalb der Gruppen):
Frühwerke Apologie,
Charmides, Euthydemos, Euthyphron, Gorgias, Hippias minor (falls echt), Ion,
Kratylos, Kriton, Laches, Lysis, Menexenos, Menon, Phaidon, Protagoras,
Symposion
Werke der mittleren Zeit Parmenides,
Phaidros, Politeia, Theaitetos
Späte Werke Kritias,
Nomoi, Philebos, Politikos, Sophistes, Timaios
Bei der Betrachtung nach inhaltlichen Gesichtspunkten ergibt
sich ein ähnliches Bild, doch scheinen dann Kratylos, Phaidon und Symposion
eher der Mittelgruppe als den Frühwerken anzugehören, während Parmenides und
Theaitetos, die stilistisch noch zur Mittelgruppe gerechnet werden, inhaltlich
gesehen bereits zum Spätwerk gehören. Darin liegt kein Widerspruch zu den
Ergebnissen der Stilanalyse, da die Phasen einer philosophischen Entwicklung
nicht genau denen der stilistischen entsprechen müssen. Terminologisch kann
aber aus den unterschiedlichen Kriterien der Periodisierung Verwirrung
resultieren.
Literarische Form
Das Dialogprinzip
→ Hauptartikel: Platonischer Dialog
Sokrates im Gespräch mit dem jungen Xenophon. Detailansicht
aus Raffaels Die Schule von Athen (1510–1511), Fresko in der Stanza della
Segnatura (Vatikan)
Alle Werke Platons mit Ausnahme der Briefe und der Apologie
sind nicht – wie damals das meiste philosophische Schrifttum – als Lehrgedichte
oder Traktate, sondern in Dialogform geschrieben; auch die Apologie enthält
vereinzelt dialogische Passagen. Dabei lässt Platon eine Hauptfigur, meist Sokrates,
mit unterschiedlichen Gesprächspartnern philosophische Debatten führen, die von
Einschüben wie indirekten Berichten, Exkursen oder mythologischen Partien
abgelöst und ergänzt sowie mit ihnen verwoben werden; lange monologische Reden
kommen darin ebenfalls vor. Auch andere Sokrates-Schüler wie Xenophon,
Aischines, Antisthenes, Euklid von Megara und Phaidon von Elis verfassten Werke
in der Form des sokratischen Dialogs (Σωκρατικοὶ λόγοι Sokratikoì lógoi),[54]
doch Platon erlangte auf diesem Gebiet eine so überragende Bedeutung, dass die
Antike ihn (wenn auch nicht einhellig) als Erfinder dieser damals noch jungen
literarischen Gattung betrachtete. Er verhalf dem sokratischen Dialog zum
Durchbruch und zugleich zur Vollendung.[55]
Die Dialogform unterscheidet sich von anderen Textformen
deutlich:
Sie spricht den
Leser durch die künstlerische Ausführung an.
Sie befreit von
der Erwartung systematischer Vollständigkeit; Ungeklärtes darf offenbleiben.
Sie bildet einen
Prozess der Erkenntnisgewinnung ab, der auch zur Revision von Positionen führt,
und regt damit stärker als eine Lehrschrift zum aktiven Mitdenken an.
Der Autor nimmt
nicht zu den vorgetragenen Thesen Stellung; er tritt hinter seine Figuren
zurück[56] und überlässt die Urteilsbildung dem Leser.
Das Denken stellt
sich der argumentativen Kontrolle durch die Gesprächspartner.
Eine starre
Terminologie, wie Platon sie generell scheut, kann vermieden werden.[57]
Ort und Zeit der Dialoge sind oft genau angegeben; so bilden
etwa der Besuch beim inhaftierten Sokrates (Kriton), das Haus eines reichen
Atheners (Politeia), ein Gastmahl (Symposion), ein Spaziergang außerhalb Athens
(Phaidros) oder die Wanderung zu einem Heiligtum (Nomoi) das konkrete Umfeld.
Die realitätsnahe Rahmengebung erweckt den Eindruck einer historischen
Begebenheit und vermittelt Authentizität. Es handelt sich allerdings nicht um
authentische Gesprächsprotokolle, sondern um literarische Fiktionen. Häufig
werden auch Quellen der Überlieferungen, Berichte oder Mythen, welche in die
Dialoge eingeflochten sind, präzise beschrieben und beglaubigt, beispielsweise
beim Atlantis-Mythos im Timaios und im Kritias.
Der aus Platons Perspektive gezeichnete Sokrates, in dessen
Gestalt sich historische und idealisierte Züge mischen, steht im Zentrum der
weitaus meisten Dialoge. Eine Abgrenzung zwischen Platons eigener Philosophie
und der des historischen Sokrates, der sich nur mündlich geäußert hat, ist
unter diesen Umständen schwierig; sie gehört seit langem zu den wichtigsten und
umstrittensten Themen der Forschung. Oft werden die frühen aporetischen Dialoge
als relativ wirklichkeitsgetreue Wiedergaben der Ansichten des historischen
Sokrates angesehen und daher zur Gewinnung eines Bildes von der originären
sokratischen Philosophie genutzt. Am besten eignet sich zu diesem Zweck wohl
die Apologie. Spätestens in den mittleren Dialogen, in denen die Ideenlehre in
den Vordergrund tritt, gewinnt Platons eigenes Denken an Gewicht. Manche
Forscher setzten in der angenommenen Entwicklung vom sokratischen zum originär
platonischen Philosophieren eine Übergangsphase an, der sie unter anderem
Euthydemos, Hippias maior, Lysis, Menexenos und Menon zurechnen. Platon selbst
bleibt in seinen Werken stets im Hintergrund; lediglich in der Apologie[58] und
im Phaidon[59] fällt sein Name am Rande.[60]
Der platonische Sokrates dominiert den Dialog. Er bestimmt
den Gesprächsverlauf, indem er ihm die entscheidenden Impulse gibt, und er
verhilft seinen Partnern auf maieutische Weise zu Einsichten und Erkenntnissen.
Er widerlegt die Meinungen anderer; damit kontrastiert der Umstand, dass seine
eigenen Äußerungen sich stets als unangreifbar erweisen. Meist sind sich die
Gesprächspartner zunächst ihrer Sache sicher, werden dann aber von Sokrates auf
Mängel in ihren Gedankengängen oder in ihren ungeprüften Vorannahmen aufmerksam
gemacht, bis sie die Fehlerhaftigkeit ihrer bisherigen Meinungen einsehen.
Großenteils handelt es sich bei den Dialogpartnern um individuell gezeichnete Figuren,
für die historische Vorlagen nachweisbar sind. In den frühen Dialogen sind es
meist Personen, die eine direkte oder indirekte Verbindung zum jeweiligen Thema
erkennen lassen, beispielsweise Priester, Dichter, Staatsmänner, militärische
Kommandeure, Erzieher oder Redner, denen der Leser aufgrund ihres Berufes
Kompetenz auf dem betreffenden Gebiet zutraut. Erst in den Spätwerken weisen
die Dialogteilnehmer oftmals einen spezifisch philosophischen Hintergrund auf,
wie ihre einschlägigen Vorkenntnisse zeigen.[61] Die Dialogform ermöglicht es
Platon, die sprachliche Gestaltung der freien Rede gelegentlich bestimmten
bekannten Eigentümlichkeiten seiner Protagonisten anzugleichen.
Die Zahl der Diskutierenden schwankt zwischen zwei und vier.
Sokrates entwickelt seinen Gedankengang in der Auseinandersetzung mit seinen
bewusst gewählten Gesprächspartnern, wobei er sich ihnen immer nur nacheinander
zuwendet. Mit einem Wechsel des Gesprächspartners geht häufig eine abrupte
Veränderung des Niveaus der Debatte einher. Solche Wechsel treten auch ein,
wenn der dominierende Gesprächspartner auf nicht anwesende Personen ausweicht,
indem er vom Verlauf eines früheren Dialogs mit anderen Personen berichtet, wie
etwa im Fall der Rede der Diotima über den Eros im Symposion. Ziel des Dialogs
ist die Übereinstimmung (ὁμολογία homología) der Gesprächspartner im Ergebnis
der Erörterung. Je nach Art des Themas und Kompetenz der Teilnehmer führt der
Dialog zu einer für alle zufriedenstellenden Lösung oder auch in eine
ausweglose Argumentationssituation (Aporie, ἀπορία aporía „Ratlosigkeit“). Wenn
etwas geklärt werden müsste, aber in der aktuellen Gesprächskonstellation eine
Überforderung wäre, überträgt Platon diese Aufgabe bewusst der
Auseinandersetzung mit einem anderen Gesprächspartner.[62]
Die Dialoge stellen äußerst unterschiedliche Anforderungen
an die intellektuellen Fähigkeiten der Leser. Daher ist nicht klar, welches
Zielpublikum Platon gewöhnlich im Auge hatte. Wahrscheinlich ist, dass sich
seine Dialoge teils primär als werbende (protreptische) Schriften an eine
breitere Leserschaft wandten, während anspruchsvolle Werke wie der Timaios in
erster Linie für philosophisch Vorgebildete und Schüler der Akademie bestimmt
waren. Jedenfalls wollte Platon auf die gebildete Öffentlichkeit einwirken, um
Außenstehende für die Philosophie zu gewinnen und auch um seine politischen
Überzeugungen zu verbreiten.[63] Allerdings sah er auch die Gefahr von
Missverständnissen, wenn seine Schriften in die Hände von Lesern gelangten, die
unfähig waren, sie ohne weitere Hilfen zu erschließen.[64]
Es ist davon auszugehen, dass es sich beim zeitgenössischen
Publikum sowohl um Leser als auch um Hörer handelte, und dass dem Vorlesen und
Diskutieren ein hoher Stellenwert zukam.[65] Die Dialoge, die auch Parallelen
zum griechischen Drama zeigen und stellenweise Tragödienzitate aufweisen,
wurden in der Antike bisweilen wie Dramen aufgeführt oder rezitiert.[66]
Merkmale der Dialoggruppen
Frühwerke
Platons frühe Werke stellen in plastischer Anschaulichkeit
und dramatischer Lebendigkeit Personen und deren Meinungen dar. In einer Reihe
von Dialogen dieser Phase geht es um die Suche nach Antworten auf die für
Sokrates wichtigsten und drängendsten Fragen; gefragt wird etwa nach dem Wesen
der Frömmigkeit (Euthyphron), der Tapferkeit (Laches), der Besonnenheit
(Charmides), der Tugend (Hippias minor) sowie der Freundschaft und Liebe
(Lysis).
Vor allem von vermeintlichen Experten erwartet Sokrates
diesbezüglich stichhaltige Antworten, doch zeigt sich bei eingehender
Befragung, dass sie keine befriedigenden Auskünfte zu bieten haben. In einigen
Dialogen bleibt die anfangs gestellte Aufgabe ungelöst; sie werden als
aporetische Definitionsdialoge bezeichnet. Die Aporie bedeutet aber nicht, dass
Platon von der Unlösbarkeit des Problems überzeugt war, sondern kann auch
darauf zurückzuführen sein, dass der Dialogpartner für die Erarbeitung einer
Lösung unzureichend qualifiziert war.[67] Als Debattierer treten oft
unerfahrene, aber wissbegierige Jünglinge auf.
Eine Dialoggruppe dieser Phase hat die scharfe
Auseinandersetzung mit bekannten Sophisten wie Gorgias oder Protagoras zum
Thema, deren Haltung zur Ethik und zur Pädagogik der platonische Sokrates
energisch entgegentritt. Unter dem bei ihm abwertend gemeinten Begriff „Sophisten“
fasst Platon unterschiedliche Denker zusammen, die als Lehrer umherzogen und
gegen Entgelt unterrichteten, ansonsten aber wenig gemeinsam hatten. Bei ihm
erscheint der typische Sophist als Inbegriff eines Vermittlers von wertlosem
Scheinwissen. Platons polemische Darstellung bietet kein zuverlässiges Bild der
Persönlichkeiten und Lehren der historischen Sophisten.[68] Eine andere Gruppe
von Dialogen spielt szenisch und zeitlich im Umfeld der Verurteilung des
Sokrates.
Die Grundmethode, die Sokrates in diesen Dialogen anwendet,
ist die Widerlegung (ἔλεγχος élenchos „Untersuchung“, „Prüfung“) der
ursprünglichen Ansichten seiner Gesprächspartner, die sich als naiv und
unreflektiert erweisen. Durch solche Befreiung von Scheinwissen tritt der
Mangel an echtem Wissen zutage. Dabei legt Sokrates didaktisch Wert darauf,
dass der Gesprächspartner durch eigene Anstrengungen im Verlauf der geistigen
Auseinandersetzung Wissen erwirbt. Diese Kunst der Gesprächsführung vergleicht
Sokrates selbst mit der „Hebammenkunst“ seiner Mutter (μαιευτική τέχνη maieutikḗ
téchnē, daher Maieutik). Gemeinsam wird eine Definition der Begriffe gewonnen.
Dem folgt die Suche nach Gründen für die Wahrheit bestimmter Überzeugungen.
Sokrates prägt durch seine Persönlichkeit und seine Ironie die ganze
Diskussion. Durch seine Fragestellungen lenkt er den Gesprächspartner in die
gewünschte Richtung.
Das Ziel der philosophischen Bemühungen ist es, sich der
Wahrheit zu nähern und damit Orientierung für das Leben zu gewinnen, indem man
erkennt, worin die rechte Lebensweise besteht und wie sie begründet ist. Bei
dieser Wahrheitssuche grenzt sich Platon von „sophistischer“ und „rhetorischer“
Streitkunst ab, die er vehement ablehnt, da sie nicht auf Erkenntnis
ausgerichtet sei, sondern sich damit begnüge, Kniffe zur Verfügung zu stellen,
um einer Auffassung unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt zum Sieg zu verhelfen.
Mittlere und späte Werke
Die Dialoge, die nach inhaltlichen Kriterien zur
Mittelgruppe zusammengefasst werden, unterscheiden sich deutlich von den
Frühwerken. Sie gelten als Platons literarische Meisterwerke. Zwar stehen auch
in dieser Phase oftmals Definitionsfragen im Zentrum der Erörterung, doch führt
die Untersuchung nicht mehr in aporetische Situationen. Stattdessen wird die nun
eingeführte Ideenlehre zumeist als bekannte, einsichtige und daher keiner
ausführlichen Begründung mehr bedürftige Grundlage des Gespräches
vorausgesetzt. Während in den Frühwerken vorwiegend ethische Fragen debattiert
wurden, geht es im mittleren Werk um ein breiteres Spektrum philosophischer
Probleme, darunter Themen wie Tod und Unsterblichkeit der Seele (Phaidon), der
ideale Staat (Politeia), Liebe (Phaidros) und erotische Anziehung (Symposion),
Sprachphilosophie (Kratylos) und das Schöne (Hippias maior).
Auch in späten Werken wird die Ideenlehre erprobt, so etwa
in der Auseinandersetzung mit den Fragen nach dem Sein (Parmenides und
Sophistes) und dem Wissen (Theaitetos) und Problemen der Naturphilosophie
(Timaios). Die Ideenlehre bildet aber nicht wie in den mittleren Dialogen die
Grundlage der Argumentation. Ein anderer Themenschwerpunkt der Spätwerke ist
die politische Philosophie (Politikos und Nomoi). Häufig greifen die Spätwerke
auf bereits erarbeitete Einsichten zurück oder modifizieren die Thesen früherer
Werke erheblich. Auch in der literarischen Gestaltung ist eine Entwicklung von
der mittleren zur späten Periode hin feststellbar. Schon in einigen mittleren
und dann besonders in den späten Dialogen tritt die Figur des bisher
dominierenden Protagonisten Sokrates etwas zurück, und umfangreiche Monologe,
die auch von anderen Personen gehalten werden (wie etwa im Timaios), nehmen zu.
Das mythische Element
→ Hauptartikel: Platonischer Mythos
In die Dialoge sind eine Reihe von Mythen eingebaut, darunter
der Atlantis-Mythos im Timaios[69] und Kritias, die Mythen von den
Kugelmenschen[70] und der Geburt des Eros[71] im Symposion, die Mythen von
Gyges,[72] Er[73] und den Autochthonen[74] in der Politeia, die Mythen vom
Seelengespann[75] und von Theuth[76] im Phaidros, der Mythos vom Goldenen
Zeitalter im Politikos,[77] der Welterschaffungsmythos im Timaios und mehrere
Jenseitsmythen.[78]
Platon bietet seine Mythen in erzählerisch gestalteten
Monologen dar, welche meist zu Beginn oder am Ende eines Gespräches
eingeflochten sind. Typisch für diese Mythen ist, dass sie nicht nachprüfbare
Behauptungen aufstellen. Manchmal kommen göttliche Figuren als Akteure ins
Spiel, oder es ist von ferner Vergangenheit die Rede. In manchen Passagen
verwendet Platon Metaphern und bildhafte Gleichnisse. Stets geht es darum, den
Gehalt theoretischer Aussagen anschaulich zu machen, ihn allegorisch auf eine
konkret wirkende Ebene zu übertragen und ihm zusätzliche Überzeugungskraft zu
verschaffen. So sollen Platons Mythen etwa den Zustand der Welt (Politikos),
ihre Entstehung (Timaios), menschliche Fähigkeiten (Theuth-Mythos), das Wesen
der Seele (Phaidros) oder ihr Fortleben im Jenseits (Phaidon) illustrieren. Mit
seinen mythologischen Exkursen greift Platon in vielen Fällen auf bestehende
Traditionen sowie religiöse und philosophische Vorstellungen zurück, die in der
Sophistik, der Orphik oder dem Pythagoreismus gängig waren und die er
abwandelt, um sie in den Dienst seiner Absichten zu stellen und seinen
Überzeugungen anzupassen.[79]
Generell lassen sich Mythen, die Platon Sokrates vortragen
lässt, von solchen unterscheiden, die andere Dialogteilnehmer erzählen. Unter
den Mythen, die nicht Sokrates in den Mund gelegt werden, finden sich neben
Berichten, die bestimmten Quellen zugeschrieben werden, auch solche, die ohne
Hinweis auf eine Quelle Glauben beanspruchen, und aitiologische Sagen, die
erklären sollen, wie etwas zustande gekommen ist. So trägt der Sophist
Protagoras im gleichnamigen Dialog den Mythos des Prometheus über die
Entstehung der Kultur vor, um seine Behauptung zu untermauern, dass Tugend
(aretḗ) nach der Art der Sophisten gelehrt werden könne.[80] Ähnlich will der
Komödiendichter Aristophanes im Symposion mit dem Mythos der Kugelmenschen
veranschaulichen, dass Erotik als Streben nach Wiederherstellung einer
ursprünglichen Einheit und Ganzheit zu deuten sei.
Der bekannteste und umstrittenste platonische Mythos ist der
von Atlantis, den Platon Kritias mit Berufung auf eine Tradition von Zeugen und
angeblichen schriftlichen Belegen im nach ihm benannten Dialog und im Timaios
erzählen lässt.[81] In diesen Dialogen schildert Platon die mächtige Seemacht
Atlantis, die einst im Krieg der mit idealen Zügen ausgestatteten Landmacht
Ur-Athen unterlag und schließlich im Meer versank. Dieser Mythos wird meist als
Illustration der behaupteten Überlegenheit des platonischen Idealstaates der
Politeia aufgefasst.[82] Religiös-erbaulichen Zwecken dienen Platons
Jenseitsmythen, in denen er Sokrates das Schicksal der unsterblichen Seele nach
dem Tod beschreiben lässt.
Die Bedeutung des Wortes Mythos variiert bei Platon
erheblich. Oft scheint es einen Gegensatz zum Begriff Logos auszudrücken, der
in der Philosophie eine auf Begründungen gestützte Aussage bezeichnet. Mythos
und Logos können aber auch miteinander verwoben sein, und häufig gibt Platon
einen Mythos als Logos und damit als in der Realität fundiert aus; vielfach
betont er den Wahrheitsgehalt des Erzählten. Es kommen Mythen vor, bei denen
sich die Erzähler auf Quellen berufen, für die sie einen
Glaubwürdigkeitsanspruch erheben, wie etwa der Mythos des Er in der
Politeia.[83] Anderenorts schreibt Platon von einer Mischung aus Wahrem und
Falschem im Mythos und bezeichnet Mythen als Geschichten für Kinder.[84] In den
Dialogen grenzt er mancherorts den Mythos vom Logos scharf ab, doch an anderer
Stelle überlässt sein Sokrates die Entscheidung, ob eine Erzählung als Mythos
oder Logos einzuschätzen ist, dem Urteil der Gesprächspartner.[85]
In der Platonforschung sind daher unterschiedliche
Interpretationen der Stellung des Mythos zum Logos vorgeschlagen worden. Manche
Gelehrte sehen im Mythos eine dem Logos untergeordnete Form.[86] Andere nehmen
an, dass Mythos und Logos als gleichermaßen legitime Zugänge zur Wahrheit
präsentiert werden. Demnach fasst Platon den Mythos nicht im Sinne eines
Gegensatzes zum Logos auf; vielmehr handelt es sich um zwei komplementäre
Annäherungen an die Wirklichkeit, zwei verschiedenartige Wege zum Verständnis
der Welt, von denen der eine mit Vernunftgründen abgesichert ist, während der
andere Aspekte vor Augen stellt, die auf rationalem Weg schwer begreiflich zu
machen sind.[87] Je nach dem Verständnis ihres Sinnes und Zwecks sind die
Mythen seit der Antike hinsichtlich ihres literarischen und philosophischen
Werts sehr unterschiedlich beurteilt worden.[88]
Philosophie
Ideenlehre
→ Hauptartikel: Ideenlehre
Die Einführung der Ideenlehre wird häufig als die Trennlinie
zwischen sokratischer und platonischer Philosophie gesehen. In den frühen
aporetischen Definitionsdialogen beschäftigt sich der Sokrates Platons primär
mit ethischen Themen. Er fragt danach, welche Eigenschaften eine bestimmte
Tugend wie Gerechtigkeit oder Tapferkeit ausmachen oder durch welche Merkmale
das Gute gekennzeichnet ist. Jedoch bleiben die dort erwogenen Definitionen für
ihn ungenügend, weil sie entweder zu eng oder zu allgemein gefasst sind und
daher keine präzise Bestimmung des Inhalts des jeweils zu definierenden
Begriffs ermöglichen.
Dagegen befasst sich Platon in den mittleren Dialogen mit
dem Wesen einer Tugend oder eines beliebigen Objekts, ohne sich auf die Suche
nach Definitionsmerkmalen zu beschränken. Ein Mensch mag zwar als gerecht
bezeichnet werden, jedoch ist er nicht an und für sich gerecht; ein Gegenstand
kann schön genannt werden, aber er ist niemals der Inbegriff des rein Schönen.
Alle Dinge, denen aufgrund von Urteilen, die in Sinneserfahrungen gründen, eine
bestimmte Eigenschaft – etwa „schön“ – zugeschrieben wird, haben in höherem
oder geringerem Maß Anteil an deren an sich gedachtem Prinzip, an einer Idee (ἰδέα
idéa), etwa dem „Schönen an sich“.
Ideen als transzendente Objekte
Die platonische Idee ist − im Unterschied zum modernen
Begriff „Idee“ − kein mentales Erzeugnis, kein Einfall oder Gedanke. Platon
geht davon aus, dass die Welt, wie sie vom Menschen sinnlich wahrgenommen wird,
einem der sinnlichen Wahrnehmung entzogenen, jedoch realen und eigenständig
existierenden Reich der Ideen nachgeordnet ist, welches nur auf geistigem Weg
erkannt werden kann. Die Idee ist für Platon das wahre Seiende, ihr Sein ist
das Sein im eigentlichen Sinne. Den sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen
hingegen kommt nur ein bedingtes und damit unvollkommenes Sein zu. Zur Idee
gelangt, wer von den unwesentlichen Besonderheiten des einzelnen Phänomens
abstrahiert und seine Aufmerksamkeit auf das Allgemeine richtet, das den
Einzeldingen zugrunde liegt und gemeinsam ist. So beschreibt er im Symposion,
wie man von der sinnlichen Wahrnehmung eines schönen Körpers zur Schönheit der
Seele, der Sitten und der intellektuellen Erkenntnisse und schließlich zu dem
„seiner Natur nach Schönen“, also der Idee des Schönen gelangen kann. Hierbei
handelt es sich um den Inbegriff dessen, was schön ist, denn nur die Idee des
Schönen ist unbeeinträchtigt durch unschöne Anteile.[89] Ebenso ist die Idee
der Gerechtigkeit frei von den ungerechten Aspekten, die jeder ihrer
Manifestationen in der physischen Welt anhaften.
Eigenschaften und Bedeutung der Ideen
Schematische Darstellung der platonischen Ideenlehre
Die Ideen als eigentliche Wirklichkeit sind absolute,
zeitunabhängig bestehende Urbilder. Da sie nicht dem Entstehen, dem Wandel und
dem Vergehen unterliegen, sind sie von göttlicher Qualität. Einem Einzelding
kommt Schönheit immer nur in begrenztem Grade zu, so dass schöne Dinge
hinsichtlich des Ausmaßes ihrer Schönheit vergleichbar sind. Die Idee des
Schönen hingegen ist solchem Mehr oder Weniger entzogen, denn das Schöne als
Idee ist absolut (ohne Abstufung oder Einschränkung) schön. Da Ideen in höherem
Maße wirklich sind als die sinnlich wahrnehmbaren Einzelgegenstände, kommt
ihnen ontologisch (in der Lehre von der Hierarchie der seienden Dinge) ein
höherer Rang zu als den Sinnesobjekten. Die Ideen machen das eigentliche Wesen
der Eigenschaften aus und verleihen den Dingen deren Form. Als nicht wandelbare
Entität sind sie der Gegenstand, auf den sich Denken und Erkenntnis richten,
denn allein von Unveränderlichem kann es Wissen geben, von stets mangelhaften
und in Veränderung begriffenen Sinnesdingen nicht. Die Objekte, die der Mensch
wahrnimmt, verdanken ihr Sein dem objektiven Sein der jeweiligen Idee und ihre
jeweilige besondere Beschaffenheit den verschiedenen Ideen, an denen sie Anteil
haben. Der seinsmäßigen (ontologischen) Höherrangigkeit der Ideen entspricht
eine erkenntnismäßige (epistemische). Alles Wissen über sinnlich Erfahrbares
setzt ein richtiges Verständnis der jeweils zugrunde liegenden Idee voraus.
Diese platonische Vorstellung ist somit der Auffassung entgegengesetzt, dass
die Einzeldinge die gesamte Wirklichkeit ausmachen und hinter den
Allgemeinbegriffen nichts steht als ein menschliches Bedürfnis, zur
Klassifizierung der Phänomene Ordnungskategorien zu konstruieren.
Platon greift das ursprünglich von Parmenides von Elea
entwickelte Konzept eines einzigen Seins hinter den Dingen auf und wendet
diesen Gedanken auf zahlreiche philosophische Fragen an. So weist er in der
Politeia darauf hin, dass die Mathematiker ihre axiomatischen Voraussetzungen
nicht klären, sondern sie als evident betrachten. Ihr Interesse gelte nicht den
geometrischen Figuren, die sie mehr oder weniger unvollkommen in der Natur
finden oder selbst zeichnen. Es gehe ihnen in der Geometrie nicht um
empirische, sondern um ideale Gegenstände. Dabei werde vorausgesetzt, dass ein
nichtempirisches Objekt – etwa das Viereck und seine Diagonale – das Ziel der
Bestrebungen ist und nicht dessen in der Natur vorgefundene Abbilder.[90] Von
dieser Auffassung des Verhältnisses zwischen Idee und Abbild ausgehend bestimmt
Platon beispielsweise das Schöne an sich, das Gute an sich, das Gerechte an
sich oder das Fromme an sich.[91]
Jedes Phänomen der physischen Welt hat demnach Anteil an der
Idee, deren Abbild (εἰκών eikṓn, εἴδωλον eídōlon) es ist. Die Art dieser
Teilhabe (μέθεξις méthexis) bestimmt im Einzelfall, in welchem Ausmaß dem
Objekt die Eigenschaft zukommt, die es von der Idee empfängt. Die Idee ist die
Ursache dafür, dass etwas so ist, wie es ist. So legt das Schöne, das Gerechte
oder das Gleiche fest, dass die Einzeldinge, die als schön, gerecht oder gleich
wahrgenommen werden, diese Eigenschaften in bestimmtem Ausmaß aufweisen. Ein
Mensch kann daher nur als schön bezeichnet werden, weil und insofern er an der
Idee des Schönen teilhat. Die Idee ist zugleich in dem jeweiligen Objekt
anwesend (παρουσία parusía „Anwesenheit“).
Die Problematik des Begriffs „Ideenlehre“ und offene Fragen
Platon bereitet seine Äußerungen zu den Ideen nicht
systematisch auf, er präsentiert nirgends ein kohärentes Lehrgebäude. Daher
kann ein Verständnis des von ihm Gemeinten nur aus einzelnen Angaben in
zahlreichen Schriften gewonnen werden, wobei nur ein skizzenhaftes Bild
entsteht.[92] Der gängige Begriff „Ideenlehre“, der nicht von Platon selbst
stammt, entspricht daher dem, was überliefert ist, nicht genau. Auch verwendet
Platon für den Begriff „Idee“ verschiedene weitgehend synonyme Ausdrücke und
variiert unablässig in der Wortwahl.[93] In den späten Dialogen kommt die
Ideenlehre teilweise nicht vor, wird in Grundzügen abgewandelt oder im Timaios
auf neue Bereiche wie die Kosmogonie übertragen.
Aufgrund des unsystematischen, uneinheitlichen und
unfertigen Charakters von Platons schriftlich überlieferten Gedanken zu diesem
Thema, die sich zudem im Lauf seiner philosophischen Entwicklung änderten,
bleiben zahlreiche fundamentale Fragen offen, die seit der Antike kontrovers
diskutiert werden. Unklar ist etwa, welchen sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen
nach Platons Ansicht spezifische Ideen zugeordnet sind und welchen nicht. Im
Politikos scheint die Bestimmung eines Begriffs und damit die Existenz der
betreffenden Idee von einem rein formalen Kriterium abzuhängen und die Frage
nach Wert oder Rang dabei belanglos zu sein.[94] Im Parmenides hingegen ist
davon die Rede, dass Sokrates an der Existenz von Ideen einzelner Phänomene wie
Feuer oder Wasser zweifelte und die Vorstellung anstößig fand, dass
geringfügigen oder verächtlichen Dingen wie Kot oder Schmutz eigene Ideen
zugeordnet seien.[95] Anderenorts geht Platon davon aus, dass es nicht nur von
Naturdingen Ideen gibt, sondern auch von Dingen wie Tischen, die in der
physischen Welt nur als Produkte menschlichen Erfindungsgeistes existieren.
Offen bleiben die Fragen, ob von Mängeln, von Unvollkommenem und Schlechtem
Ideen anzunehmen sind[96] und wie genau die Beziehung zwischen den
Sinnesobjekten und ihren Ideen zu verstehen ist.
Seelenlehre
Eigenschaften und Teile der Seele
In Platons Philosophie ist die Seele (ψυχή psychḗ) als
immaterielles Prinzip des Lebens individuell unsterblich. Ihr Dasein ist von
dem des Körpers gänzlich unabhängig; sie existiert vor seiner Entstehung und
besteht nach seiner Zerstörung unversehrt fort (Prä- und Postexistenz). Daraus
ergibt sich die Rangordnung der beiden: Der Leib, der mancherlei
Beeinträchtigungen und letztlich der Vernichtung unterliegt, ist der
unsterblichen, unzerstörbaren Seele untergeordnet. Es steht ihr zu, über ihn zu
herrschen.[97] Der Körper ist das „Gefäß“, die „Wohnstatt“ der Seele, aber auch
negativ ausgedrückt ihr „Grab“ oder „Gefängnis“[98] – eine berühmt gewordene
Formulierung Platons.[99]
Im Tod löst sich die Seele vom Körper, das ewig Lebendige
trennt und befreit sich von der nur durch seine Einwirkung belebten
Materie.[100] Vom Leib entbunden kann die Seele auf ungetrübte Weise
erkennen,[101] weshalb der wahre Philosoph den Tod als sinnvoll anstrebt.
Solange sie sich jedoch im Körper befindet, nimmt die Seele eine vermittelnde
Stellung zwischen der Ideenwelt und der Sinnenwelt ein.[102] Zusammen mit den
körperlichen Faktoren und durch sich selbst erzeugt sie Wahrnehmungen,
Erkenntnisse, Meinungen, Affekte, Gefühlsregungen und Triebe und bewirkt
physische Effekte wie Wachstum, äußere Eigenschaften und Auflösung der
Körpermaterie.[103] Bedeutsam ist ihre Verbindung mit einem Körper nur für die
Dauer eines Lebens, in dessen Verlauf sie ihre Fähigkeiten wie Erkenntnis-,
Denk- und Strebevermögen und Eigenschaften (Tugenden und Untugenden) zur
Geltung bringt und Erfahrungen von Lust und Schmerz macht. Alle geistigen
Funktionen eines Individuums sind die ihrigen, so dass sie mit der Person
identisch ist. Ihre ethischen Entscheidungen bestimmen ihr Schicksal nach dem Tod.
Deshalb zielen für Platon alle philosophischen Bestrebungen nur auf die Seele;
daher mahnt sein Sokrates, „für Einsicht aber und Wahrheit und für deine Seele,
dass sie sich aufs beste befinde“, zu sorgen.[104]
Die Seele zeigt sich aus Platons Sicht nicht als
einheitliches, sondern als komplexes Phänomen. Sie setzt sich aus einem
begehrenden (ἐπιθυμητικόν epithymētikón), einem muthaften (θυμοειδές
thymoeidés) und einem vernünftigen (λογιστικόν logistikón) Teil zusammen. Die
drei Teile treten miteinander in Konflikt. Erstrebt wird aus philosophischer
Sicht ihre Harmonie unter der Vorherrschaft des Vernünftigen.[105] In einem
Mythos vergleicht Platon die Seelenteile mit einem Pferdewagen. Die Vernunft
muss als Wagenlenker die beiden sehr verschiedenartigen Pferde Willen und
Begierde lenken und die Begierde bändigen, um als herrschende Kraft die Seele
zur Erkenntnis zu führen.[106] Das Begehrende ist dabei auf Sinneswahrnehmung
ausgerichtet, es befriedigt körperliche Lüste wie Essen, Trinken und Fortpflanzung
oder erstrebt Mittel zur Befriedigung derartiger Lüste.[107] Der Wille als der
muthafte Seelenteil hingegen bringt Meinungen hervor, erkennt Schönes und Gutes
(jedoch nicht das Schöne und Gute an sich) und fällt wertende Urteile über die
eigene Person und andere. Beide sind dem Vernünftigen unterzuordnen – das
Begehrende, um seine triebhafte Unersättlichkeit zu zähmen, das Muthafte, um
seine positiven Qualitäten wie besonnener Eifer, Milde, Sanftmut, Respekt und
Menschenliebe gegenüber den negativen wie falscher Eifer, Misstrauen und Neid
zur Entfaltung zu bringen. Das Vernünftige zeigt sich in der Lust am Lernen und
Erkennen des Wahren, im wissenschaftlichen Streben.[108] Auf dem Gebiet der
Ethik kennzeichnet den vernünftigen Seelenteil die Fähigkeit zu erkennen, was
gut und zuträglich ist, und durch Zügelung der niederen Teile die
Selbstbeherrschung des Menschen zu ermöglichen.[109] Die Seelenteile bilden in
Platons ursprünglicher Seelenlehre eine unsterbliche Einheit; im Spätwerk
Timaios hingegen betrachtet er die niederen Seelenteile und die damit
verbundenen Affekte, Triebe und negativen Gefühlsregungen als sterbliche
Beimischungen zur unvergänglichen Vernunftseele.[110]
Beseeltheit nichtmenschlicher Wesen und Dinge
Platon (links) und Aristoteles mit dem Timaios bzw. der
Nikomachischen Ethik in Händen, Detailansicht aus Raffaels Die Schule von Athen
(1510–1511), Fresko in der Stanza della Segnatura (Vatikan)
Da für Platon eigenständige Bewegung ein Definitionsmerkmal
der Seele ist, fasst er auch Tiere und Gestirne als beseelt auf, im
Timaios[111] auch Pflanzen. Der Kosmos selbst verfügt über Vernunft, die ihren
Sitz in der Weltseele (ψυχή τοῦ παντός psychḗ tou pantós) hat. Ein
Schöpfergott, der Demiurg, bildete die Weltseele, verlieh ihr Teilhabe an den
Ideen und pflanzte sie in die Welt, um die Vernunft in das Weltganze zu bringen
und es dadurch vollkommener zu machen. Die Weltseele ist die Kraft, die sich
selbst und alles andere bewegt. Sie ist der Welt immanent, überall in ihr
verbreitet und umgibt sie zugleich.[112] Da sie durch ihre unterschiedlichen
Bestandteile an allem Anteil hat, vermag sie alles wahrzunehmen und zu
erkennen. Ihr Wesen ist demjenigen der menschlichen Vernunft gleich; daher
besteht Übereinstimmung zwischen der Seele des Menschen und der des Kosmos.
Argumente für die Unsterblichkeit der Seele
Das Bemühen, die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen,
gehört zu den vorrangigen Anliegen Platons. Im Phaidon lässt er Sokrates
argumentieren, dass Gegensätze wie Wachzustand und Schlaf zyklisch auseinander
entstehen. Auch für den Schritt vom Leben zum Tod ist demnach eine gegenläufige
Bewegung zurück zum Leben anzunehmen; anderenfalls würde alle Bewegung des
Lebens auf den Tod zielen und mit ihm definitiv enden, so dass es kein Leben
mehr gäbe.[113]
In einem weiteren Argument führt Platons Sokrates jeden
Lernprozess darauf zurück, dass die Seele Kenntnisse wiedererlangt, die ihr
nicht neu sein können; daher muss sie dieses potentielle Wissen aus ihrem
Dasein vor der Entstehung des Körpers mitbringen. Weil sie vor ihrem Eintritt
in einen Körper die Ideen an einem „überhimmlischen Ort“ (τόπος ὑπερουράνιος
tópos hyperouránios) geschaut und daher Wissen in reinster Form besessen hat,
kann sie innerhalb ihres menschlichen Daseins lernen, indem sie sich
schrittweise und in zunächst verfälschter, unreiner Weise an das einst
Wahrgenommene erinnert (Anamnesis-Lehre). Aus der Existenz der Ideen und dem
Zugang des Menschen zum von ihnen ermöglichten Wissen folgert Platon, dass die
Seele nicht zum Bereich des zeitlich Begrenzten gehört.[114]
Ein anderes Argument geht von der Überlegung aus, dass das
Sichtbare zusammengesetzt und daher auflösbar ist, das unsichtbare Geistige
hingegen einfach, unauflösbar und unvergänglich. Das spricht dafür, dass die
Seele dem Bereich des Unvergänglichen angehört, dessen Beschaffenheit der
ihrigen gleicht.[115] Ein weiteres Argument im Phaidon lautet, dass Gegensätze
nicht zugleich anwesend sein können; so ist Schnee mit Wärme unvereinbar. Daher
kann die als belebendes Prinzip schlechthin verstandene Seele den Tod nicht in
sich aufnehmen. Somit betrifft der Tod allein den belebten Leib, nicht das
diesen belebende Prinzip.[116]
Zudem stellt Platon in der Politeia die These auf, dass
jedem zerstörbaren Ding ein Übel zugeordnet ist, von dem es verdorben und
zerstört wird. Die Übel, welche die Seele betreffen, nämlich Ungerechtigkeit
und Laster, machen sie schlecht, doch lässt sich nicht beobachten, dass sie
ihre Zerstörung bewirken.[117] Eine andere Überlegung Platons besagt, dass die
Seele die Quelle aller Bewegung ist. Als Träger der Fähigkeit, immer von sich
aus bewegt zu sein und anderes zu bewegen, muss die Seele ungeworden und daher
unsterblich sein.[118]
Die Seele nach dem Tod
Zum Schicksal der Seele im Jenseits und zum „Wieder-Werden“
(πάλιν γίγνεσθαι pálin gígnesthai), der Seelenwanderung, äußert sich Platon
meist in mythischer Form. Er verwendet zwar keine Ausdrücke, die den Begriffen
„Seelenwanderung“ (im späteren Griechisch μετεμψύχωσις metempsýchōsis,
παλιγγενεσία palingenesía) und „Jenseits“ entsprechen, meint aber, wie aus
seinen Ausführungen ersichtlich ist, deren Inhalte. Dabei knüpft er an ältere
Konzepte an, wonach die Daseinsbedingungen nach dem Tod vom Verhalten im
irdischen Leben abhängen, wie schon Pythagoras, Empedokles und Pindar meinten.
Im Phaidon beschreibt er die Erde und das in einen oberen
und einen unteren Bereich gegliederte Jenseits. Im oberen Bereich ist die
„gleichsam wahre Erde“ lokalisiert. Dort führen die vom Körper befreiten Seelen
in reiner und wunderbarer Umgebung ein glückliches Leben in Gegenwart der
Götter, bis sie sich erneut inkarnieren. Im unteren Bereich erfahren fünf
Gruppen von Seelen Strafe und Reinigung, je nach der Schwere ihrer im Leben
begangenen Verfehlungen. So versinken die „unheilbaren“ Seelen im Tartaros,
während jene, die schon im Leben Reue empfanden und sich „heilbare“ Sünden
zuschulden kommen ließen, jährlich in die Nähe des Acheronsees gespült werden,
wo sie ihre einstigen Opfer um Verzeihung bitten. Einzig die durch die
Philosophie wahrhaft gereinigten Seelen werden von der „wahren Erde“ in ein
rein geistiges, nicht näher beschreibbares Jenseits aufgenommen.[119]
Im Dialog Gorgias führt Platon den Gedanken eines
Totengerichtes ein, der hier erstmals in der griechischen Kulturgeschichte
näher ausgeführt wird, in Anknüpfung an ältere Vorstellungen einer richtenden
Funktion von Göttern. Platons Totengericht besteht aus Minos, Rhadamanthys und
Aiakos. Die nackten Seelen werden dort anhand ihrer „Narben“ und „Schwielen“
geprüft, welche durch ein ungerechtes Leben entstanden sind, und in den
Tartaros oder das Elysion verwiesen.[120] Ähnlich beschreibt Platon in der
Politeia (Mythos des Er), wie die Seelen nach ihrer jeweiligen Lebensweise in
die Unterwelt verbannt und gereinigt oder an einen himmlischen Ort versetzt
werden. Nach tausend Jahren werden sie zur „Spindel der Ananke“ (Notwendigkeit)
geführt, welche die Gestirne in Bewegung hält. Von den Moiren beaufsichtigt,
wählen sie dort aus verschiedenen Lebensmodellen dasjenige, das sie künftig
verwirklichen wollen, und begeben sich erneut in die Inkarnation.[121]
Im Spätwerk Timaios behauptet Platon, dass die Seele im
Körper einer Frau wiedergeboren wird, wenn sie entsprechend ungünstige
Voraussetzungen mitbringt, und dass die Wiedergeburt bei besonderer
Unverständigkeit in einem Tierkörper erfolgen kann, wobei wiederum die Tierart
vom jeweiligen Ausmaß der Torheit der Seele im vorherigen Leben abhängt. Auf
der untersten Stufe, noch unter den Kriechtieren, stehen für Platon die
Wassertiere.[122]
Erkenntnistheorie und Definitionslehre
Definition und Merkmale von Erkenntnis und Wissen
Vor dem philosophiehistorischen Hintergrund der Auseinandersetzung
mit den Sophisten, die sich gewerbsmäßig mit Wissensvermittlung befassten,
wirft Sokrates – für Platon das Sinnbild des denkenden Menschen – im Theaitetos
die Frage auf, was Erkenntnis und Wissen (ἐπιστήμη epistḗmē) seien.[123]
Zunächst widerlegt er die Behauptungen „Wissen ist Wahrnehmung“[124] und
„Wissen ist richtige Meinung“.[125] Er bringt vor, eine richtige Meinung könne
nicht Wissen genannt werden, wenn sie zufällig wahr sei.[126] Aber auch die
traditionelle, in der Philosophiegeschichte klassische Bestimmung des Wissens
als „wahre Meinung mit Begründung“ verwirft der platonische Sokrates im
Theaitetos.[127] Im früher entstandenen Menon hatte Platon diese Definition
noch von Sokrates vortragen lassen; ihr zufolge entsteht dadurch, dass eine zutreffende
Ansicht begründet werden kann, Erkenntnis und in weiterer Folge bleibendes
Wissen.[128] Im Theaitetos wendet er sich davon ab, wobei er argumentiert, die
Begründung einer Meinung müsse wiederum begründet werden und ebenso die
Begründung der Begründung, was zu einem infiniten Regress führen würde. Die
Begründung einer Meinung besteht aus einer Verknüpfung von Elementen
(Aussagen), die sich nur dem Verständnis erschließt, wenn ihre Bestandteile
bereits bekannt sind, so wie man eine Silbe nicht erkennen kann, wenn man nicht
zuvor ihre einzelnen Buchstaben erlernt hat. Daher muss sich die Begründung auf
bereits vorhandenes Wissen stützen, um einer wahrheitsgemäßen Meinung den
Charakter von Wissen zu verleihen.[129] Die sich daraus ergebende Aussage „Wissen
ist durch Wissen begründete wahre Meinung“ ist jedoch als Definition
unbrauchbar, da der zu bestimmende Begriff in der Definition enthalten ist und
dies zu einem Zirkelschluss führen würde. Der Dialog endet aporetisch.[130]
In seiner Erkenntnistheorie unterscheidet Platon streng
zwischen Meinung (δόξα dóxa) oder Glauben ohne Wissen einerseits und wahrem
Wissen andererseits.[131] Sinneswahrnehmungen reichen nicht zum Erlangen der
Wahrheit aus,[132] sondern erzeugen lediglich Meinungen. Auch wenn eine Meinung
zutrifft, ist sie von prinzipiell anderer Beschaffenheit und anderen Ursprungs
als Einsicht.[133] Ein Zugang zur Wahrheit und damit Wissen erschließt sich der
Seele nur im Denken, das sich möglichst von der Sinneswahrnehmung emanzipiert
hat.[134]
Dementsprechend trennt Platon zwei Seinsbereiche: die
sinnlich wahrnehmbare Beschaffenheit und das nicht sinnlich wahrnehmbare
Wesenhafte. Bei deren Erkundung vollzieht der Mensch mehrere
Erkenntnisschritte, wie Platon im Siebten Brief am Beispiel des Kreises
demonstriert:[135]
Auf der niedersten
Stufe des Verständnisses geht es um die Bezeichnung eines Objekts, welche
lediglich auf sprachlicher Konvention beruht, also die Verwendung des Wortes
„Kreis“.
Darauf folgt die
Definition des mit dem Wort Bezeichneten, etwa „Ein Kreis ist das von seinem
Mittelpunkt überall gleich weit Entfernte“.
Der sprachlichen
Bestimmung übergeordnet ist das sinnlich wahrnehmbare Objekt, in diesem Fall
ein von einem Zeichner gefertigter Kreis, der jedoch stets unvollkommen ist.
Die begriffliche
Erkenntnis, also die kognitive Vorstellung eines Kreises, bildet den vorletzten
Erkenntnisschritt.
Auf der höchsten
Stufe steht die reine Vernunfterkenntnis, welche die Idee des Kreises erfasst.
Diese Unterscheidung findet sich auch im Liniengleichnis
wieder.[136] Dabei betrachtet Platon voneinander getrennte Seinsbereiche als
Abschnitte auf einer Linie. Die Linie zerfällt zunächst in die Hauptabschnitte
des Sichtbaren, also des sinnlich Wahrnehmbaren, und des Denkbaren, des sich
der Vernunft Erschließenden. Damit sind zugleich die Bereiche von Meinung und
Erkenntnis abgegrenzt. Der Abschnitt des sinnlich Wahrnehmbaren gliedert sich
wiederum in den Unterabschnitt der Abbilder (wie Schatten und Spiegelbilder)
und den der Körper (der Sinnesobjekte selbst), die sich hinsichtlich der
Deutlichkeit unterscheiden. Der Bereich des Denkbaren ist geteilt in ideale
geometrische Objekte und die Ideen.
Diesen hierarchisch geordneten Bereichen entsprechen, in
ihrer Wertigkeit aufsteigend, vier Erkenntnisstufen, nämlich bloße Vermutung,
bloße Überzeugung, Verstandeserkenntnis (διάνοια diánoia) und
Vernunfterkenntnis (νόησις nóēsis). Die Verstandeserkenntnis, realisiert in der
Mathematik, ist dadurch charakterisiert, dass sie auf nicht hinterfragten
Grundlagen basiert. Sie arbeitet mit wahren Meinungen, die ihrerseits durch
evident wahre Meinungen begründet sind. Deren Voraussetzung liegt aber
außerhalb des Bereichs dieser Meinungen und wird daher nicht in den Blick
genommen. Zu ihr kann lediglich die qualitativ höherrangige Vernunfterkenntnis
aufsteigen.
Jede Erkenntnis, jedes Lernen vollzieht sich nach Platons
Ansicht als Wiedererinnerung (Anamnesis, ἀνάμνησις) an Ideen, welche die Seele
vor ihrem Eintritt in den Körper an einem „überhimmlischen“ Ort geschaut hat
und an die sie sich daher im Prozess der Erkenntnis erinnert. Erkenntnis und
Wissen verweisen daher auf das Reich der Ideen. Was der Mensch durch die
Einkörperung vergessen hat, kann er mit Hilfe von Sinneswahrnehmungen und Gesprächen
und durch die Anleitung eines Lehrers wiedererlangen.[137] So führt Sokrates im
Menon einen mathematisch nicht vorgebildeten Sklaven gezielt zur Lösung eines
geometrischen Problems, um zu zeigen, dass die Einsicht auf vorgeburtliche
Kenntnisse zurückgreift. Zu diesen richtigen Vorstellungen von dem, was er
nicht weiß, findet der Nichtwissende Zugang, wenn er entsprechend angeregt
wird, denn sie sind auf traumhafte Weise in ihm präsent.[138]
Die Dialektik als Methode der Erkenntnisgewinnung
Der Begriff Dialektik ist adjektivisch[139] und als
Substantiv[140] erstmals bei Platon nachweisbar, entgegen seiner sonstigen
Zurückhaltung bei der Einführung und systematischen Verwendung von
Fachbegriffen.[141] Der griechische Ausdruck hē dialektikē [téchnē] (ἡ
διαλεκτική [τέχνη]) leitet sich vom Verb „sprechen, sich unterhalten“
(διαλέγεσθαι dialégesthai) ab und bedeutet daher im engeren Sinne „(die Kunst
der) Gesprächsführung“. Wahrscheinlich führte Platon diesen Ausdruck ein, um
die dialogische Methode, die der platonische Sokrates vor allem in den frühen
Dialogen anwendet, begrifflich abzugrenzen.[142] Der durch die sokratische
Dialektik erreichbare Erkenntnisgewinn besteht zunächst darin, dass untaugliche
Definitionen als unzulänglich entlarvt werden. Der Dialektiker zeichnet sich
durch die Fähigkeit aus, das Wesen der zu definierenden Gegenstände abgrenzend
zu bestimmen und dabei Gegenargumente erfolgreich zu entkräften.[143]
Von dieser Entlarvung des Scheinwissens ausgehend gelangt
Platon in den mittleren Dialogen zu einer Dialektik, die sich als diskursive
Methode mit der Erkenntnis an sich befasst. Mit der Unzulänglichkeit sowohl der
sinnlichen Wahrnehmung als auch einer wahren Meinung begründet er die
Notwendigkeit einer Dialektik, die allein auf reinem Denken basiert. Diese
stellt er der Mathematik entgegen, die auf Axiome angewiesen sei und als
Geometrie gezeichneter Figuren bedürfe. Die Auffassung der Mathematiker von
ihrem Gegenstand vergleicht Platon mit Träumen,[144] weil sie gerade und
ungerade Zahlen, Winkelarten und sinnlich wahrnehmbare Konstruktionen benützen,
die sie jedoch als Hilfsannahmen für Axiome und Idealfiguren betrachten, welche
sie nur im Denken finden. Über ihre Axiome meinen sie weder sich selbst noch
anderen Rechenschaft zu schulden, als seien diese Annahmen für jeden
evident.[145] Mit Hilfe der Dialektik hingegen soll vorbedingungsfreies und
somit echtes Wissen erlangt werden, das nicht auf derartigen ungeprüften
Voraussetzungen fußt. Der Dialektiker muss daher alle unhinterfragten
Vorannahmen vermeiden. Er befasst sich mit Hypothesen, die er offen als solche
bezeichnet und überprüft. Damit gelangt er zu begründeten Annahmen, die Platon
als „Stufen und Ansätze“ auffasst, die zum „Voraussetzungslosen, zum Anfang von
Allem“ (ἀρχή ἀνυπόθετος archḗ anhypóthetos), nämlich der „Idee des Guten“
führen. Von dort schreitet der dialektisch denkende Philosoph darauf wieder zu
den von dieser Idee abhängigen niederen Ideen. So durchmisst er, ohne sich der
Sinneswahrnehmung zu bedienen, seinen Erkenntnisweg und gelangt dabei bis zum
wahren Anfang und obersten Prinzip, das nicht auf eine übergeordnete Ursache
zurückführbar ist.[146]
Der Dialektik weist Platon in der Politeia, dem Dialog über
den idealen Staat, eine zentrale Rolle für die Ausbildung der philosophischen
Herrscher zu. Nach verschiedenen Disziplinen wie Arithmetik, Geometrie,
Astronomie und Harmonik bildet sie den Abschluss ihres Bildungsganges,[147]
dessen Ziel der Aufstieg zur Idee des Guten als dem größten Lehrgegenstand
ist.[148]
Definitionsfindung
→ Hauptartikel: Dihairesis
Man kann innerhalb der platonischen Dialektik drei
wesentliche Methoden unterscheiden, die zu Erkenntnis führen: erstens die nach
Sokrates benannte Methode der sokratischen Widerlegung in den frühen Dialogen,
die zur Einsicht in das eigene Nichtwissen führt, zweitens die Methode der
hypothesis in den mittleren Dialogen, die aufgestellte Hypothesen prüft, und
drittens die Methode der Dihairesis in den späten Dialogen.[149] In den frühen
Dialogen, in denen Sokrates der Hauptakteur ist, wird meistens die Definition
eines Begriffs gesucht, mit der das Wesen des Bezeichneten eindeutig und
vollständig erfasst werden soll (beispielsweise Was ist das Fromme?). Die
Methode der Dihairesis ist in den späten Dialogen ein Mittel, ähnliche
Definitionsfragen zu beantworten. Mit ihr gelangt man von der Frage Was ist die
Angelfischerei? zur Definition Die Angelfischerei ist die Kunst einer
verwundenden Jagd auf Fische mit einem Haken bei Tage zum Zweck des
Erwerbs.[150]
Eros und Ästhetik auf dem Erkenntnisweg
Sokrates sucht Alkibiades bei Aspasia auf, Gemälde von
Jean-Léon Gérôme, 19. Jahrhundert
In Platons Symposion („Gastmahl“) beschreiben und preisen
mehrere Redner Eros, den Daimon (Geist) der auf „das Schöne“ gerichteten Liebe.
So betont Phaidros die ethische Dimension des Schönen. Er weist darauf hin,
dass die Liebe beim Verliebten das Streben nach einem tugendhaften Leben
fördert, da niemand in den Augen seines Geliebten ethisch hässlich erscheinen
will, sondern die Liebenden um ihrer Geliebten willen schöne Taten
vollbringen.[151] Platon verwendet den Begriff des Schönen nicht nur im engeren
Sinne für ästhetisch ansprechende Formen, Farben oder Melodien. Vielmehr
bezeichnet er als „schön“ auch Erfreuliches, Bewundernswertes und Entzückendes
im menschlichen Charakter und Verhalten, in Staat und Gesellschaft und darüber
hinaus rein geistige Objekte philosophischen Bemühens. All dies ist für ihn
eigentlich gleichartig, insoweit es Empfindungen derselben Art auslöst, und
fällt daher in dieser Hinsicht unter den gemeinsamen Begriff des Schönen.[152]
Allerdings ist nicht alles, was gefällt, schön; es gibt auch eine scheinbare
Schönheit, die nur flüchtige Annehmlichkeit erzeugt.
Teils widerlegt der platonische Sokrates im Symposion seine
Vorredner, teils überhöht er ihre Aussagen. Das Wirken des Eros lässt er weit
über den Bereich zwischenmenschlicher Leidenschaft hinausreichen, denn Liebe
ist für Platon die Triebfeder des menschlichen Strebens nach dem Schönen und
Guten. Diese beiden Bereiche sind eng miteinander verknüpfte Aspekte derselben
Wirklichkeit, deren höchste Ausformung geistige, ethische und körperliche
Vollkommenheit ist (Kalokagathia). Als höchstes Ziel menschlichen Strebens
fällt das Schöne mit dem Guten zusammen, es ist das Gute unter dem Aspekt von
dessen ästhetischer Anziehungskraft. Als Sohn der Penia, der Personifikation
der Armut, und des Poros (Fülle) treibt Eros den Menschen an, sich in der
Erkenntnis des Guten zu vollenden und dadurch glückselig zu werden. Ziel der
Liebe ist „Erzeugung und Geburt im Schönen“.[153]
Eine äußere Bedingung für die Betätigung des Eros ist die
Gegenwart des Schönen (τὸ καλόν to kalón). Außerdem muss die Seele, um für
Schönheit empfänglich zu sein, bestimmte Voraussetzungen mitbringen. Begegnet
ein Mensch dem Schönen in einer Form, in der es in der Sinneswelt vorkommt, so
erinnert sich die Seele an das wahre Schöne, das sie vor der Geburt geschaut
hat und von dem sie seit dem Beginn ihres irdischen Daseins getrennt ist. Wenn
dies geschieht, beflügelt die Wirkung des Schönen die Seele und erlaubt ihr,
sich stufenweise zum übersinnlich Schönen, der Idee des Schönen, zu erheben.
Zugleich nimmt sie den „Ausfluss der Schönheit“ in sich auf und erschaudert
angesichts dessen.[154]
So richtet sich Eros aufsteigend zunächst auf die anwesende
schöne Gestalt, dann allgemein auf alle schönen Körper, dann auf die schöne
Seele, das Schöne in der Gemeinschaft und der Wissenschaft, schließlich auf die
Idee des Schönen. Auf diesem Weg stellt das Fortpflanzungsstreben, das von der
Schönheit eines Körpers angeregt wird, die niedrigste Stufe dar. Ihm
übergeordnet ist der aus dem Eros entspringende Wunsch, moralische und
politische Tugenden zu erwerben, die zur Schönheit der Seele beitragen. Zu
ihrer Vollendung gelangt die Erkenntnis des Schönen erst in der Schau der Idee
des Schönen, nachdem der Betrachtende sich von aller Bindung an sinnliche
Wahrnehmung befreit hat.[155]
Zugleich fasst Platon Eros als maßgebliche Triebkraft des
philosophischen Erkenntnisstrebens auf, denn die Liebe des Philosophierenden
gilt der Weisheit, die zum Schönsten gehört.[156] Der Eros begeistert den
Philosophierenden für die Erkenntnis des wahrhaft Erstrebenswerten und
veranlasst ihn damit zu der geistigen Betätigung, die sich in der Schau der
Ideen vollendet. Der Weisheitsliebende (φιλόσοφος philósophos) strebt nach
Erkenntnis, weil er das, wonach er liebend sucht, noch nicht besitzt, das heißt
noch nicht weise ist. Wer hingegen entweder bereits wie die Götter weise ist
oder den Wert der Weisheit nicht erkannt hat, philosophiert nicht.
Ethik
Gerechtigkeit als Grundtugend
In mehreren Dialogen ist die Frage nach dem Wesen der
Gerechtigkeit (δικαιοσύνη dikaiosýnē) ein zentrales Thema. In der Politeia
definiert Platon Gerechtigkeit als die Bereitschaft eines Staatsbürgers, sich
nur den Aufgaben zu widmen, für die er von Natur aus geeignet ist und die daher
seinen Beruf ausmachen und seinem festgelegten Stand entsprechen, und sich
nicht in andere Belange einzumischen.[157] Ungerechtigkeit entsteht somit dann,
wenn die Grenzen der staatlich vorgegebenen Zuständigkeitsbereiche missachtet
werden. Analog dazu herrscht Gerechtigkeit innerhalb eines Individuums dann,
wenn seine Seelenteile (das Begehrende, das Muthafte und das Vernünftige) im richtigen
Verhältnis zueinander stehen.
Der platonische Sokrates verwirft in der Politeia mehrere
andere Bestimmungen des Gerechten, darunter die traditionellen, von den
Sophisten aufgegriffenen Gerechtigkeitstheorien, wonach es gerecht ist,
„Freunden Gutes zu tun und Feinden Böses“ oder „jedem das ihm Gebührende
zukommen zu lassen“.[158] Gegen die erstgenannte Ansicht wendet Sokrates ein,
dass es keinesfalls gerecht sein könne, jemandem zu schaden, vielmehr sei
solches Verhalten stets ungerecht.[159] Den sophistischen Gesprächspartner
Thrasymachos lässt Platon Gerechtigkeit als ein Mittel der Machthaber und
allgemein als das den Überlegenen Zuträgliche charakterisieren. Durch die
Gesetzgebung der Starken werde in jedem Staat festgelegt, was gerecht ist.[160]
Ein anderer im Dialog auftretender Sophist fasst Gerechtigkeit als
gesellschaftliche Konvention auf, durch welche die Bürger auf die Chance,
Unrecht zu tun, notgedrungen verzichten, um sich gegen die Gefahr abzusichern,
selbst zum Opfer von Unrecht zu werden.[161]
Diese sophistischen Definitionen sind aus Platons Sicht
untauglich, da sie Gerechtigkeit als Verpflichtung und Verhalten gegenüber
anderen, nicht als Qualität der Seele erklären.[162] Im Gegensatz zu
Aristoteles, der betont, dass die Tugend der Gerechtigkeit nur auf andere
bezogen verwirklicht werden könne,[163] hält Platon Gerechtigkeit für einen
inneren Zustand des Individuums, nicht für eine Absichtshaltung oder ein
Verhalten gegenüber anderen.[164] Gerechtigkeit ist damit eine Funktion der Seele.
So wie ein Mensch groß oder klein ist, weil er an der Idee
der Größe bzw. der Kleinheit in einem bestimmten Maß Anteil hat,[165] ist in
der platonischen Vorstellung ein Mensch gerecht aufgrund seiner Teilhabe an der
Idee der Gerechtigkeit. Die Menschen meinen, dass jeder an dieser Idee teilhat,
um einer Gemeinschaft angehören zu können, denn in der Gemeinschaft muss jeder
zumindest behaupten, gerecht zu sein.[166] Gerechtigkeit führt für Platon zur
Eudaimonie („Glückseligkeit“); das Leben eines Übeltäters hingegen ist
notwendigerweise elend.[167] Somit gehört Gerechtigkeit „zu dem Schönsten,
nämlich zu dem, was sowohl um seiner selbst willen wie wegen der daraus
entspringenden Folgen von jedem geliebt werden muss, der glücklich werden
will“.[168] Zugleich ist Gerechtigkeit eine „Bestform“ der Seele, die höchste
Tugend (ἀρετή aretḗ), welche die drei anderen, den drei Seelenteilen
zugeordneten Grundtugenden Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit in sich
vereint und ordnet. Im Dialog Kriton überliefert Platon, Sokrates habe im
Gefängnis nach seiner Verurteilung zum Tode eine mögliche Flucht abgelehnt mit
der Begründung, dass ein Gesetzesbruch ungerecht wäre.
Das Gute
Über die Frage nach dem Wesen einzelner Tugenden und dem
Tugendhaften an sich weist Platon hinaus, indem er die Idee des Guten einführt,
die alle Tugenden umfasst und ihnen somit übergeordnet ist. Zwar berührt Platon
das Thema des Guten in zahlreichen seiner Dialoge, doch entfaltet er seine
Gedanken über die Idee des Guten, also das Gute an und für sich, lediglich an
einer Stelle der Politeia. Dort stellt er das Gute als eine Idee dar, welche
die anderen Ideen an Würde und an Kraft überragt und nicht wie diese zum
wahrhaft Seienden gehört, sondern sich jenseits des Seins befindet.[169] Die
Ideen sind untereinander durch Teilhabe verbunden, weil sie auf die Idee des
Guten als oberstes Prinzip zurückgeführt werden können. Das nur knapp
dargestellte Konzept der Idee des Guten ist Gegenstand zahlreicher
Interpretationen. Die meisten Gelehrten meinen, dass die Idee des Guten für
Platon den Bereich des Seins transzendiert. Diese Auffassung ist allerdings
nicht unumstritten.[170]
Einer Bestimmung der Idee des Guten nähert sich Platons
Sokrates in der Politeia in drei Gleichnissen an (Sonnen-, Linien- und
Höhlengleichnis). Im Sonnengleichnis vergleicht er das Gute mit der Sonne als
seinem „Sprössling“. So wie das Sonnenlicht es ermöglicht, dass Dinge
wahrgenommen werden, wogegen im Dunkeln die Sehkraft eingeschränkt ist, so
lassen sich erst im Lichte der Idee des Guten andere Ideen erkennen. Die Idee
des Guten verleiht den Dingen ihre Erkennbarkeit, dem Erkennenden seine
Erkenntnisfähigkeit, allem Seienden sein Sein und allem – auch der
Gerechtigkeit – seinen Nutzen, da sie selbst Ziel und Sinn von allem ist.[171]
Daher ist ihre Erkenntnis das höchste Ziel des Philosophen und in der Politeia
Voraussetzung dafür, Philosophenherrscher zu werden. Wer einmal die Einsicht in
das Gute gewonnen hat, kann nicht mehr wider dieses bessere Wissen handeln; das
Problem der Akrasia (Willensschwäche, mangelnde Selbstbeherrschung) besteht für
ihn nicht. Das Gute wird damit zu einem absoluten Orientierungspunkt für das
praktische Handeln.
Eudaimonie und Lust
Platon unterscheidet scharf zwischen der Eudaimonie – dem
einer gelungenen Lebensführung entsprechenden erfreulichen, ausgeglichenen
Gemütszustand – und der körperlichen und seelischen Lust (hēdonḗ). Der Ausdruck
Eudaimonie wird im Deutschen gewöhnlich ungenau mit „Glück“ oder
„Glückseligkeit“ übersetzt. Platon hält die Eudaimonie für unbedingt
erstrebenswert; die Lust lehnt er zwar nicht ab, doch stuft er legitime
seelische Lust als niedriges Gut ein, und den Lustempfindungen, die aus der
Befriedigung leiblicher Bedürfnisse resultieren, billigt er keinen Wert zu.
Wenn die Vernunft innerhalb der Seele die Leitung innehat, was bei einer
philosophischen Lebensführung der Fall ist, kann Lust auf unbedenkliche Weise
erlebt werden.[172]
Angleichung an die Gottheit
Das Wesen der philosophischen Lebensweise bestimmt Platon
als Angleichung oder „Anähnlichung“ an die Gottheit, „soweit dies möglich ist“
(homoíōsis theṓ katá to dynatón).[173] Die Voraussetzung dafür ist die von
Natur aus bestehende Verwandtschaft der unsterblichen Seele mit dem Göttlichen.
Die Gottheit, in der alles Erstrebenswerte auf optimale Weise vereint ist,
bietet das Vorbild, das der philosophisch Lebende nachahmt, indem er nach einem
möglichst vollkommenen Besitz der göttlichen Merkmale Tugend und Wissen
trachtet. Jeder Mensch ahmt das nach, womit er sich gern und beständig
beschäftigt, und nimmt dadurch dessen gute oder schlechte Beschaffenheit an. Da
das unveränderliche Sein des Ideenkosmos von göttlicher Qualität ist, wird der
Betrachter, der sich ihm nachahmend zuwendet, selbst vergöttlicht. Auch die
Götter verdanken ihre Göttlichkeit ihrer Hinwendung zu den Ideen. Das geistige
Erfassen der Ideen und das von solcher Erkenntnis gelenkte Handeln führen den
Menschen zur Gottähnlichkeit, soweit die Bedingungen des Lebens in der
Sinnenwelt dies zulassen. Diesem Ziel nähert sich der Philosoph vor allem durch
seine zunehmende Vertrautheit mit den Ideen der Gerechtigkeit und der
Maßhaftigkeit, in denen das Göttliche in erster Linie hervortritt. Ein stets
wachsendes Verständnis der kosmischen Ordnung, die auf diesen Ideen beruht, ist
der Weg der Angleichung, auf dem der Wahrnehmende und Erkennende eine analoge
Ordnung in seine eigene Seele bringt. Überdies bewegt ihn die Angleichung an
die Gottheit dazu, für den guten Zustand der Sinnenwelt Verantwortung zu
übernehmen.[174]
Staatsphilosophie
Politeia, der Idealstaat der Philosophenherrscher
→ Hauptartikel: Politeia und Philosophenherrschaft
Die Frage nach der Gerechtigkeit ist der Ausgangspunkt der
Politeia (Der Staat), welche in der Tetralogienordnung daher den Untertitel
Über das Gerechte (περὶ δικαίου perì dikaíou) erhielt. Der platonische Sokrates
setzt darin der attischen Demokratie einen utopischen, vom
Gerechtigkeitsprinzip geleiteten Idealstaat entgegen. Mit dieser Übertragung
auf die Ebene des Staates soll die ursprünglich auf das Individuum bezogene
Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit eine umfassendere Antwort finden. Der
ideale Staat hat den Zweck, die Idee des Guten auf der physischen Ebene zu
verwirklichen; mit der Umsetzung der Gerechtigkeit soll eine Voraussetzung für
das gute Leben jedes Bürgers geschaffen werden. So wie im Kosmos und in der
Seele soll auch im Idealstaat eine harmonische Ganzheit verwirklicht werden.
Zwischen dem Individuum und dem Staat besteht für Platon eine Analogie, denn so
wie sich Gerechtigkeit im Einzelnen als bestimmter innerer Ordnungszustand
entfaltet, so macht eine bestimmte Ordnung der Polis diese zu einem gerechten
Gemeinwesen. Daher hat jeder Stand und jeder Bürger die Aufgabe, zum
gemeinsamen Wohl beizutragen, indem er sich auf angemessene Weise harmonisch in
das Ganze einfügt und ihm dient.
Platon zeichnet in der Politeia den Werdegang eines Staates
hin zu seinem Idealmodell. Ein auf die menschlichen Grundbedürfnisse
ausgerichteter erster, primitiver Staat, als „Schweinepolis“ bezeichnet (ὑῶν
πόλις hyṓn pólis), bildet sich, da niemand für sich autark sein kann. Bei
fortschreitender Entwicklung gilt der Grundsatz der Arbeitsteilung aufgrund
unterschiedlicher Voraussetzungen und Begabungen der Bürger. Der Staat besteht
jedoch um eines höheren Ziels willen, nämlich der Gerechtigkeit, die sich in
der gerechten Verteilung der Aufgaben auf die Stände zeigt. Jeder soll im
Staatsgefüge eine seinen Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit ausüben. Daher
kann bereits ein einfacher Staat der Forderung nach einer gerechten Struktur
nachkommen, indem er durch das Prinzip gegenseitiger Hilfe die Erfüllung
grundlegender Bedürfnisse ermöglicht. Aus dem primitiven Staat entwickelt sich
stufenweise ein „üppiger“ und „angeschwollener“ Staat (τρυφῶσα/φλεγμαίνουσα
πόλις tryphṓsa/phlegmaínusa pólis), in dem sich ein kulturelles Leben
herausbildet und Luxusgüter zur Verfügung stehen.[175]
Struktur des Idealstaates nach der Politeia Stand Seelenteil Tugend
Philosophenherrscher das
Vernünftige Weisheit
Wächter das
Muthafte Tapferkeit
Handwerker und Bauern das
Begehrende Besonnenheit
Ein derart „angeschwollener“ Stadtstaat ist jedoch von
verhängnisvollen Entwicklungen wie Machtkämpfen, Kriegen und aufkommenden
Zivilisationsschäden bedroht. Als Alternative dazu entwirft Platon die Utopie
eines „gesäuberten“ Idealstaates. Dessen Bürgerschaft gliedert er in den
Handwerker- und Bauernstand (δημιουργοί dēmiurgoí), den Stand der Wächter
(φύλακες phýlakes) und den der Philosophenherrscher (ἄρχοντες árchontes). Zur
Erfüllung seiner standesspezifischen Aufgaben benötigt jeder Bürger eine der
Kardinaltugenden Besonnenheit (σωφροσύνη sōphrosýnē), Tapferkeit (ἀνδρεία andreía)
und Weisheit (σοφία sophía). Damit sind die drei Tugenden ebenso wie den drei
Seelenteilen (dem Begehrenden, dem Muthaften und dem Vernünftigen) auch den
drei Teilen der Bürgerschaft zugeordnet. Gerechtigkeit ergibt sich daraus, dass
jeder im Auftrag der Gemeinschaft das tut, was seinem Wesen und seinen
Begabungen entspricht (τὰ ἑαυτοῦ πράττειν tà heautû práttein;
Idiopragie-Forderung).
Mit der Begründung, das Schicksal habe den Menschen vor
ihrer Geburt unterschiedliche Fähigkeiten zugeteilt,[176] sieht Platon für die
Einordnung der Bürger in die drei Stände ein Aussiebungsverfahren vor. Die
Standeszugehörigkeit ist im platonischen Staat nicht erblich, sondern wird
gemäß der persönlichen Leistung im Bildungsprozess zugewiesen. Zu diesem Zweck
wird das neugeborene Kind den Eltern entzogen und Erziehern anvertraut, wobei
zwischen Jungen und Mädchen kein Unterschied gemacht werden soll. Dadurch soll
eine große Gemeinschaft entstehen, in der die Kinder keine Bindungen zu ihren
leiblichen Verwandten entwickeln. Der Staat plant und lenkt die Fortpflanzung,
schreibt sie vor oder untersagt sie, sowohl zum Zweck der Eugenik als auch um
die Bevölkerungszahl konstant zu halten. Die Erziehung der Nachkommenschaft
obliegt ausschließlich staatlichen Behörden; behinderte und aus unerwünschten
Verbindungen hervorgehende Neugeborene sollen wie in Sparta nicht aufgezogen,
sondern „verborgen“, d. h. ausgesetzt werden.[177] Bei der Aussetzung oder
Tötung von Säuglingen mit angeborenen Defekten handelt es sich um eine in der Antike
verbreitete Sitte.
Besonderen Wert legt Platon auf körperliche Ertüchtigung und
musische Ausbildung. Wer wegen unzureichender Leistungsfähigkeit frühzeitig aus
dem Bildungssystem ausscheidet, wird Bauer oder Handwerker. Für diesen Stand
bleiben Privateigentum und Familie bestehen. Eine strenge Zensur verbietet
unter anderem die als verderblich betrachtete Lektüre von Homer sowie manche
traditionelle Mythen. Insbesondere jene Stellen in Epen, Tragödien sowie
Komödien sind zu tilgen, welche Furcht vor dem Tod einflößen, zu Übermut
anregen oder gegen sittliche Vorstellungen verstoßen.[178] Durch Begabung wird
der Aufstieg in die beiden oberen Stände möglich. In diesen ist eine Güter- und
Familiengemeinschaft vorgeschrieben; daher wird in der Moderne vom
„platonischen Kommunismus“ gesprochen.
Die Ausbildung der Wächter zielt auf ihre besonderen
Aufgaben: als Krieger sind sie für die Landesverteidigung zuständig, außerdem
fungieren sie im Inneren als Exekutivorgan. Nur die Tüchtigsten werden in den
Stand der Herrscher eingereiht. Zur Regierung des Staates gelangen sie, nachdem
sie in Musik und Gymnastik, dann in der Mathematik und anderen Wissenschaften,
schließlich in der Dialektik Unterweisung erhalten haben sowie zur „Schau der
Ideen“ und des Guten selbst gelangt sind und verschiedene Ämter bekleidet
haben. Von den Herrschenden fordert Platon Liebe zur Weisheit. Sie sollen die
Philosophenherrschaft umsetzen, die im platonischen Staat die Voraussetzung für
ein vollendetes Gemeinwesen darstellt: „Solange in den Staaten nicht entweder
die Philosophen Könige werden oder die, welche jetzt Könige und Herrscher
heißen, echte und gründliche Philosophen werden, solange nicht die Macht im
Staate und die Philosophie verschmolzen sind, solange nicht den derzeitigen Charakteren,
die sich meist einem von beiden ausschließlich zuwenden, der Zugang mit Gewalt
verschlossen wird, solange gibt es, mein lieber Glaukon, keine Erlösung vom
Übel für die Staaten, ich glaube aber auch nicht für die Menschheit, noch auch
wird diese Verfassung, wie wir sie eben dargestellt haben, vorher zur
Möglichkeit werden und das Sonnenlicht erblicken.“[179]
Für die griechische Gesellschaft seiner Zeit ungewöhnlich
war Platons Meinung, dass die Rolle der Frauen nicht auf geschlechtsspezifische
Tätigkeiten zu beschränken war, sondern Frauen soweit irgend möglich dieselben
Aufgaben übernehmen sollten wie Männer. Sie sollten sogar, soweit es ihre
naturgegebenen Fähigkeiten erlaubten, als Wächterinnen ausgebildet werden und
als solche mit den Männern in den Krieg ziehen.
Nomoi, der zweitbeste Staat
→ Hauptartikel: Nomoi
In seinem Alterswerk Nomoi (Die Gesetze) wandelt Platon sein
erstes Staatskonzept, das er nun als allzu utopisch betrachtet, stark ab und
entwirft ein realistischeres Modell. Dabei gibt er insbesondere die
Gütergemeinschaft auf, obwohl er den auf Kollektiveigentum der Führungsschicht
ausgerichteten Staat weiterhin für den bestmöglichen hält.[180] An den Zielen
der Politeia soll sich der „zweitbeste“ Staat orientieren, dabei aber die im
älteren Konzept sehr hohen Anforderungen an die Bürger reduzieren. In den Nomoi
gibt es keine Philosophenherrschaft, vielmehr räumt Platon allen Staatsbürgern
die Möglichkeit zur Mitbestimmung ein,[181] da unbeschränkte Macht jeden
korrumpiere. Damit diese Versuchung nicht überhandnimmt, müssen die Gesetze im
Staat herrschen und ihn stützen. Neben sehr detaillierten Ausführungen zu
Erziehung, Gymnastik und der richtigen Lebensform finden sich in den Nomoi
daher auch konkrete Erläuterungen der nötigen Gesetzgebung.
Kunstverständnis
Als Verfasser von Prosa und gelegentlich auch Dichtung war
Platon ein hochbegabter Künstler, als gebildeter Ästhet dem Schönen zugewandt.
Unter philosophischem Gesichtspunkt war jedoch sein Verhältnis zur Kunst –
sowohl zur bildenden als auch zur darstellenden Kunst, zur Musik und Literatur
– zwiespältig, großenteils sogar ablehnend. Seine Kritik an der Kunst, die er
im Zusammenhang mit seiner Staatsphilosophie entwickelte, erregte seit der
Antike Aufsehen. Wegen der außerordentlich starken Wirkung der Kunst auf
empfindsame Gemüter vertrat er in der Politeia die Überzeugung, der Staat müsse
die Kunst reglementieren, um verhängnisvollen Auswirkungen schädlicher
Kunstformen auf die Gemeinschaft vorzubeugen. Daher ließ er in seinem Idealstaat
nur bestimmte Tonarten und Musikinstrumente zu. Dichter, die unerwünschte Werke
schufen, wollte er dort nicht dulden.[182] Nur Traditionelles, Bewährtes und
Einfaches fand seine Zustimmung; von Neuerungen wollte er nichts wissen, da sie
den einmal erreichten harmonischen, stabilen Idealzustand der Gesellschaft
beeinträchtigen könnten.[183]
Die Schönheit geometrischer Formen zog Platon derjenigen von
Lebewesen oder Kunstwerken vor, da diese nur relativ schön seien, während
bestimmten regelmäßigen geometrischen Figuren eine absolute Schönheit
zukomme.[184] Ordnung, Maß (Angemessenheit) und harmonische Proportionen
(συμμετρία symmetría) waren für ihn entscheidende Kriterien für Schönheit, da
sie den Dingen Einheit verliehen; aus willkürlicher Abweichung von dieser Norm
und Maßlosigkeit musste Hässlichkeit resultieren.[185]
Platons Missbilligung der bildenden Künste beruhte auf
seiner Überzeugung, dass in der hierarchischen Seinsordnung stets das relativ
Niedere lediglich ein Abbild des relativ Höheren und als solches im Vergleich
mit diesem in bestimmtem Maß unvollkommener sei. Somit konnte wahres
menschliches Verbesserungsstreben nur eine Abwendung von Abbildern und
Hinwendung zu Urbildern bedeuten. Da jedoch sowohl Malerei als auch Plastik für
Platon nichts als Nachahmungen der Natur waren (Mimesis-Konzept) und die Natur
ihrerseits ein Abbild der Ideenwelt war, sah er in der Beschäftigung mit
solchen Künsten nur einen Weg vom Urbild zum Abbild und damit einen Abstieg und
eine Verirrung. Solche Kunstwerke waren aus seiner Sicht bestenfalls getreue
Kopien und damit unnötige Verdoppelungen von Originalen, welche sie niemals
übertreffen konnten. Außerdem sah Platon in solchem Kunstschaffen eine
Spielerei und einen Zeitvertreib, eine Ablenkung von wichtigen Aufgaben.
Besonders scharf verurteilte er Werke der bildenden Kunst, mit denen der
Künstler nicht einmal möglichst getreue Nachahmung von Naturdingen anstrebt,
sondern Illusionen erzeugen oder Subjektives ausdrücken will. Dies verurteilte
er als schuldhafte Irreführung. Unter Ästhetik verstand er eine objektive
Gegebenheit, in der es kein subjektives Element geben dürfe.[186] Sein
abwertendes Urteil betraf nicht die Architektur, die er nicht zu den
nachahmenden (mimetischen), sondern zu den „erschaffenden“ (poietischen)
Künsten zählte, welche wirkliche Dinge hervorbringen, statt sie nur
abzubilden.[187]
Seine Kritik an bestimmten Musikformen und an der Dichtung
setzte hauptsächlich an einem anderen Punkt an, nämlich an der
demoralisierenden Wirkung, die er ihnen zuschrieb. Mit diesem Argument wandte
er sich gegen die lydische Tonart,[188] gegen Flötenmusik und gegen Dichtungen
wie diejenigen Homers und Hesiods. Er ging davon aus, dass schlechte Musik
niedere Affekte verstärke, die Herrschaft der Vernunft über das Gefühlsleben
bedrohe und so den Charakter verderbe, während schlechte Dichtung Lügen
verbreite. Andere Tonarten, religiöse Hymnendichtung und Lobgedichte auf gute
Menschen hingegen bewertete er positiv und schrieb ihnen einen günstigen
Einfluss auf die Charakterbildung zu. Was er in der Dichtung für gut befand,
das hielt er nicht für eigene Leistungen der Dichter, sondern er führte es auf
göttliche Inspiration zurück. Zur Beschreibung der bei solchem Schaffen
entstehenden Begeisterung verwendete er den ambivalenten, hier positiv
gemeinten Begriff Raserei (μανία manía); im inspirierten Dichter sah er einen
Mittler zwischen Göttern und Menschen.[189] Bei den dichterischen Formen
unterschied er nach dem Ausmaß des mimetischen Anteils in ihnen. Das Drama als
szenisch darstellende und daher rein mimetische Form und unmittelbare
Wiedergabe verwarf er gänzlich, zumal darin auch charakterlich fragwürdige oder
schlechte Personen auftreten, deren Nachahmung durch Schauspieler er für
charakterschädigend hielt. Die erzählenden und nur mittelbar wiedergebenden
Dichtungsformen mit geringem Mimesis-Anteil (Dithyrambos, Epos) hielt er für
akzeptabel, sofern die Inhalte moralisch nicht zu beanstanden waren.[190]
Naturphilosophie
→ Hauptartikel: Timaios
Mittelalterliche Handschrift der lateinischen
Timaios-Übersetzung des Calcidius
Im Phaidon berichtet der platonische Sokrates anschaulich,
wie er in seiner Jugend gehofft habe, in der Naturkunde die Ursache aller Dinge
zu finden, und wie er dabei enttäuscht worden sei. Selbst der Naturphilosoph
Anaxagoras habe sich nur mit dem sinnlich Wahrnehmbaren beschäftigt und sei die
Antwort auf das eigentliche „Warum“ schuldig geblieben.[191] Hier wird Platons
Distanz zur Naturwissenschaft deutlich; sein wahres Interesse gilt dem Geistigen
und – zwecks Hinführung zu diesem – der Mathematik. Der Gegenstand der
Naturwissenschaft hingegen ist die empirische Welt der Erscheinungen (φύσις
phýsis „Natur“), also aus Platons Sicht ein bloßes Abbild der reinen Ideen, dem
er nur ein defizitäres Sein zubilligt.[192]
Dem Timaios zufolge hat der mythische Demiurg (Schöpfer,
wörtlich „Handwerksmeister“, „Fachmann“) die dingliche Welt aus der Ur-Materie
gestaltet. Diese Aussage ist nach der Überzeugung antiker Platoniker und auch
nach dem heute in der Forschung vorherrschenden Verständnis nicht wörtlich im
Sinne einer Weltentstehung in der Zeit, sondern metaphorisch zu verstehen; die
Schöpfung ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein beständiger Prozess.[193]
Der Zustand der Welt ergibt sich aus dem Zusammentreffen zweier gegensätzlicher
Faktoren, nämlich der vernünftigen Einwirkung des Demiurgen, der sich an der
Ideenwelt orientiert und das Bestmögliche erreichen will, und dem chaotischen,
regellosen Charakter der Ur-Materie, welcher der erschaffenden und ordnenden
Tätigkeit des Demiurgen Widerstand entgegensetzt. Die Materie ist nicht vom
Demiurgen geschaffen, sondern bildet eine eigenständige Grundlage für sein
Wirken. Er ist kein allmächtiger Schöpfergott, sondern gleichsam ein göttlicher
Baumeister, der auf vorhandenes mangelhaftes Material angewiesen ist, aus dem
er im Rahmen des Möglichen etwas herstellt. Daher vergleicht Platon die
Ur-Materie (χώρα chóra) mit Rohmaterial, wie es Handwerkern zur Verfügung steht
(ὕλη hylē). Sie ist ihrer eigenen ursprünglichen Natur nach amorph, aber form-
und gestaltbar.
Die Ur-Materie weist eine räumliche Qualität auf, was aber
nicht im Sinne eines leeren Raums zu verstehen ist; eher kann man sie als ein
Feld betrachten, das nach Platons Angaben bereits Spuren der Elemente
aufweist.[194] Sie ist der gebärfreudige „Schoß des Werdens“, aus dem die
Körper entstehen,[195] das rein Empfangende, das – selbst formlos – alle Formen
aufnimmt. Feuer, Luft, Wasser und Erde sind die vier Grundformen der vom
Demiurgen gestalteten Materie, die sich mit Ausnahme der Erde ineinander
umwandeln können.[196] Diese vier Elemente bestehen aus vier Arten von
regelmäßigen Polyedern, die sich ihrerseits aus zwei Arten von kleinen
rechtwinklig-gleichschenkligen Dreiecken – einer Art geometrischer Atome –
zusammensetzen.[197] Die Elementardreiecke sind als einfachste geometrische
Figuren die Grundbausteine, aus deren unterschiedlichen Kombinationen sich die
Vielfalt der materiellen Objekte ergibt, etwa die Aggregatzustände des Wassers oder
die Abstufungen des Festen von Erde zu Stein. Mit dieser Kosmologie gehört
Platon zusammen mit Demokrit zu den Schöpfern der Vorstellung einer atomaren
Struktur der Materie und der Elemente und ist der Begründer eines
mathematischen Atomismus.[198]
Tetrahedron.gif Octahedron.gif
Icosahedron.gif Dodecahedron.gif Hexahedron.gif
Tetraeder – Feuer Oktaeder
– Luft Ikosaeder – Wasser Dodekaeder – Kosmos Würfel – Erde
Ein Hauptmerkmal des platonischen Kosmos besteht darin, dass
er nicht tot ist, sondern beseelt, lebendig und mit Vernunft ausgestattet, ein
ewiges, vollkommenes Wesen. Dies verdankt er der Weltseele, die ihn durchdringt
und umhüllt.[199] Die Weltseele ist das Prinzip der Weltbewegung und des
Lebens.
Nur gelegentlich äußert sich Platon unter pythagoreischem
Einfluss konkret zu naturwissenschaftlichen Fragen, wobei er gern die mythische
Form der Darbietung wählt. So findet sich im Schlussmythos der Politeia ein
Modell für die Planetenbewegungen.[200] In den Bereich der Naturlehre begibt
sich Platon auch mit seinem im Timaios unternommenen Versuch, die Seelenteile
anatomisch zu verorten. Er lokalisiert den erkennenden Seelenteil an einer
Stelle im Kopf, den mutigen Seelenteil an einer Stelle zwischen Hals und
Zwerchfell in der Nähe des Herzens und den begehrenden Seelenteil unter der
Herrschaft der Leber zwischen Zwerchfell und Nabel.[201]
Ungeschriebene Lehre
→ Hauptartikel: Ungeschriebene Lehre
Die Dialoge stellen nicht die gesamte Philosophie Platons dar,
sondern nur deren zur schriftlichen Verbreitung bestimmten Teil. Dies zeigt
insbesondere die gut bezeugte Existenz seines öffentlichen Vortrags Über das
Gute, der ein zentrales Thema behandelte, aber niemals schriftlich an die
Öffentlichkeit gebracht wurde. Von „ungeschriebenen Lehren“ Platons (ἄγραφα
δόγματα ágrapha dógmata) berichtet bereits sein Schüler Aristoteles.[202] Es
handelte sich um Lehrstoff, der nur mündlich in der Akademie fortgeschrittenen
Schülern vermittelt wurde. Platon hegte eine generelle Skepsis gegenüber der
Zweckmäßigkeit eines schriftlichen Diskurses[203] und war der Überzeugung,
bestimmte Erkenntnisse über sehr anspruchsvolle Themen seien grundsätzlich
nicht zur schriftlichen Darstellung und Verbreitung geeignet, da ein Verständnis
dieser Themen eine besondere Qualifikation des Lernenden voraussetze und nur in
einer Gesprächssituation erlangt werden könne. Das ist aber nicht im Sinne
einer Geheimhaltungsvorschrift oder eines Verbots schriftlicher Aufzeichnung zu
verstehen; vielmehr fertigten Schüler in der Akademie Aufzeichnungen an, deren
Existenz aus einer Reihe von Angaben antiker Quellen hervorgeht.[204]
Forschungsdiskussionen
Ein beträchtlicher Teil der heutigen Forschung ist der
Auffassung, dass der Gehalt der Lehren, die mündlicher Mitteilung vorbehalten
blieben, wesentlich über das in den Dialogen Dargelegte hinausging. Strittig
ist, ob Platon den Anspruch erhoben hat, mit seiner ungeschriebenen Lehre im
Besitz gesicherter Wahrheit zu sein, ob er also „Dogmatiker“ und erkenntnistheoretischer
Optimist war oder nur seinen Schülern Hypothesen zur Diskussion stellte.
Jedenfalls ist die ungeschriebene Lehre nicht als starres, doktrinär fixiertes
und autoritär verkündetes System zu verstehen. Vielmehr stand sie einer
kritischen Prüfung offen.[205] Sehr unterschiedlicher Meinung sind die
Philosophiehistoriker über die Frage, ob es sich überhaupt um ein
ausgearbeitetes System oder nur um einen Denkansatz handelte. Kontrovers
diskutiert wird auch, ob die ungeschriebene Lehre mit Platons sonstiger
Philosophie vereinbar ist und ob sie mit ihr zu einem konsistenten
Welterklärungsmodell zusammengefügt wurde.
Eine andauernde lebhafte Debatte in der Forschung dreht sich
um die Frage, ob bzw. inwieweit die ungeschriebene Lehre rekonstruierbar ist
und den Kern der platonischen Philosophie bildet.[206] Die Gelehrten der
sogenannten „Tübinger Schule“, zu der Hans Joachim Krämer,[207] Konrad
Gaiser[208] und Thomas A. Szlezák[209] zählen, bejahen diese Annahmen mit
großer Zuversicht, und auch andere Forscher wie Jens Halfwassen haben eingehend
dargelegt, warum sie die ungeschriebene Lehre für den wichtigsten Bestandteil
von Platons Unterricht halten und sein Gesamtwerk im Licht dieser Einschätzung
deuten.[210] Zu den zahlreichen Gelehrten, bei denen das Tübinger Platonbild
Zustimmung gefunden hat – wenn auch teilweise mit Abstrichen und Vorbehalten –,
zählen Michael Erler, Vittorio Hösle, Detlef Thiel, Rafael Ferber, Herwig
Görgemanns, Karl Albert, Heinz Happ, Klaus Oehler, John Niemeyer Findlay, Willy
Theiler, Hans-Georg Gadamer und Christina Schefer.[211] Da sich auch der
Mailänder Philosophiehistoriker Giovanni Reale nachdrücklich für diese
Auffassung ausgesprochen hat und Forscher aus seinem Umfeld dem zustimmten,
spricht man heute auch von einer „Tübinger und Mailänder Schule“.[212]
Die Gegenposition der Skeptiker, welche die Existenz oder
zumindest die philosophische Relevanz und die Rekonstruierbarkeit einer
ungeschriebenen Lehre Platons bezweifeln, hat besonders im englischsprachigen
Raum Anhänger gefunden. In den USA haben sich Harold Cherniss[213] und Gregory
Vlastos[214] als besonders entschiedene Vertreter dieser Richtung
profiliert.[215] In der deutschsprachigen Platon-Forschung lehnen u. a. Theodor
Ebert, Dorothea Frede, Andreas Graeser, Ernst Heitsch, Franz von Kutschera,
Günther Patzig und Wolfgang Wieland die Positionen der „Tübinger Schule“
ab.[216]
Die Urprinzipien
In der rekonstruierten ungeschriebenen Lehre geht es um die
Rolle des höchsten Prinzips, des absolut transzendenten Einen, das mit der Idee
des Guten gleichgesetzt wird, und um die Frage nach seiner Erkennbarkeit und
Mitteilbarkeit. Durch die Identifikation des Einen mit dem Guten kommt es zu
einer Verbindung von Ontologie und Ethik. Letztlich zielt das Konzept auf eine vereinheitlichte
Theorie von allem. Das Eine gilt als die Ursache der gesamten Hierarchie des
Seienden, der es selbst nicht angehört, der es vielmehr übergeordnet ist. Da
das Eine als oberstes Prinzip von nichts anderem hergeleitet werden kann, ist
sein Wesen nur negativ bestimmbar.
Weltstruktur nach Platons „ungeschriebener Lehre“ ↓
↑
Erstes
Prinzip (Einheit)
Das Eine, das Gute, das Schöne ↓
↑
Idee wahres Sein Absolutheit, Sein an sich,
Vollkommenes unbewegt
Seele Mathematik
Mittelstatus selbstbewegt
Materie Wahrnehmbares
Vergänglichkeit, Werden, Mangelhaftes fremdbewegt
Zweites Prinzip (unbestimmte Zweiheit)
So wie die Ideenlehre den Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren
auf die Ideenwelt zurückführt, führt die ungeschriebene Lehre die Vielfalt der
Ideen auf zwei einfache Urprinzipien zurück, welche die Existenz der Ideen und
damit auch diejenige der Sinnesobjekte erklären sollen. In diesem Modell beruht
die ganze Mannigfaltigkeit der erkennbaren Phänomene auf dem
Gegensatzverhältnis der beiden Urprinzipien. Daher wird die ungeschriebene
Lehre auch Prinzipienlehre oder „Protologie“ (Lehre vom Ersten) genannt. Das
erste Prinzip ist das Eine, die Grundvoraussetzung jeder Einheitlichkeit. Es
hat seine Entsprechung ontologisch im Sein, formal-logisch in der Identität,
Absolutheit und Unteilbarkeit, werthaft in der Tugend und Ordnung, kosmologisch
in der Ruhe, Beständigkeit und Unvergänglichkeit, seelisch in der Hinwendung zu
den Ideen. Das zweite Prinzip wird als unbestimmte Zweiheit bezeichnet. Es hat
seine Entsprechung ontologisch im Nichtsein, formal-logisch in der
Verschiedenheit, Relativität und Teilbarkeit, werthaft in der Schlechtigkeit
und Unordnung, kosmologisch in der Bewegung, Veränderung und Vergänglichkeit,
seelisch in den triebhaften, körpergebundenen Affekten. Das erste Prinzip
ermöglicht Begrenzung und damit Bestimmtheit und Geformtheit, das zweite steht
für grenzenlose Ausdehnung, Unbestimmtheit und Ungeformtheit.[217] Das
Zusammenwirken der beiden Prinzipien ermöglicht die Existenz aller seienden
Dinge. Je niedriger etwas ontologisch steht, desto stärker tritt darin die
Präsenz des zweiten Prinzips hervor.
Wie man sich das Verhältnis der beiden Urprinzipien
vorzustellen hat, geht aus den Quellen nicht klar hervor. Sicher ist immerhin,
dass dem Einen ein höherer Rang zugewiesen wird als der unbestimmten
Zweiheit.[218] Wegen der einzigartigen Rolle des Einen, das als einziges
Prinzip absolut transzendent ist, kann die Prinzipienlehre als letztlich
monistisches Modell bezeichnet werden.[219] Allerdings hat sie auch einen
dualistischen Aspekt, denn auch die unbestimmte Zweiheit wird als
unentbehrliches Urprinzip aufgefasst. Aus der fundamentalen Bedeutung beider
Urprinzipien ergibt sich eine „bipolare Struktur des Wirklichen“,[220] wobei
aber stets zu beachten ist, dass die beiden Pole nicht gleichgewichtig sind.
Der erkenntnistheoretische Aspekt
Ob Platon einen intuitiven, unmittelbaren Zugang zum
höchsten Prinzip für möglich gehalten und für sich selbst in Anspruch genommen
hat, ist umstritten, ebenso wie die Frage, ob er überhaupt eine gegenüber der
dialektischen Kunst eigenständige Intuition angenommen hat und in welchem
Verhältnis die intuitive Erkenntnis gegebenenfalls zum diskursiven Prozess
steht.[221] Gegen die Annahme intuitiver Erfassung der Idee des Guten plädieren
Forscher wie Peter Stemmer, der eine Beschränkung auf die Dialektik als
einzigen Erkenntnisweg annimmt und daher Platon eine tiefe Skepsis hinsichtlich
der Möglichkeit, die Idee des Guten mit Wissen zu bestimmen, unterstellt.[222]
Ein konsequenter Vertreter der Gegenposition ist Jens Halfwassen. Er führt die
neuplatonische Lehre von der intuitiven Betrachtung des Einen und Guten, die
eine Selbstaufhebung des dialektischen Denkens voraussetzt, auf Platon selbst zurück
und rehabilitiert damit das neuplatonische Platonverständnis.[223] Noch weiter
in diese Richtung geht Christina Schefer.[224] Sie trägt Indizien für ihre
Ansicht vor, wonach im Zentrum von Platons Denken weder die geschriebene
Ideenlehre noch die ungeschriebene Lehre stand, sondern eine „unsagbare“
religiöse Erfahrung, die Theophanie des Gottes Apollon. In dieser
Platon-Deutung erhält somit auch die ungeschriebene Lehre den Charakter von
etwas Vorläufigem.
Rezeption
Platon beeinflusste mit seinem vielseitigen Werk die gesamte
Geschichte der Philosophie bis heute auf mannigfaltige Weise. Vor allem prägte
er mit seiner Annahme einer eigenständig existierenden geistigen Wirklichkeit
die Entwicklung der Disziplin, die später Metaphysik genannt wurde. Seine tiefe
Wirkung auf die Nachwelt war und ist zu einem erheblichen Teil auch seinen
stilistischen Fähigkeiten zu verdanken. Der „sokratische Dialog“ als
literarische Form ist seine Schöpfung.
Antike
In der Antike galt Platon als Meister des Dialogs. Seine Dialoge
wurden mehr geschätzt als die Werke anderer Sokratiker und die für eine
breitere Leserschaft bestimmten Schriften seines bekanntesten Schülers
Aristoteles, die im Unterschied zu dessen fachwissenschaftlichen Lehrschriften
nicht erhalten geblieben sind.
Aristoteles
Aristoteles, römische Kopie (1. oder 2. Jahrhundert), Louvre
Aristoteles hielt auch nach seinem Ausscheiden aus Platons
Schule an wesentlichen Teilen des platonischen Gedankenguts fest. Er verwarf
aber einige Kernbestandteile des Platonismus, darunter die Annahme eigenständig
existierender Ideen, welche zu einer unnötigen Verdopplung der Dinge
führe,[225] die Unsterblichkeit der individuellen Seele und den Grundsatz, dass
der Mensch nur aus Unwissenheit gegen das Gute handelt (Problem der Akrasia).
Nachdrücklich wandte er sich gegen Platons Staatslehre, besonders gegen die in
der Politeia vorgetragene Forderung der Gütergemeinschaft.[226] Seine eigene
Philosophie entwickelte er in kritischer Auseinandersetzung mit dem
Platonismus.
Die zum Teil schroffe Kritik des Aristoteles an Auffassungen
Platons, seine betonte Distanzierung von manchen Überzeugungen seines Lehrers
akzentuiert die Unterschiede zwischen ihnen und lässt die ebenfalls vorhandenen
gewichtigen Übereinstimmungen in den Hintergrund treten. Der Gegensatz zwischen
Platonismus und Aristotelismus zieht sich durch die Philosophiegeschichte,
wobei teils Vermittlungsversuche unternommen wurden, teils Platoniker und
Aristoteliker auf klare, mitunter scharfe und polemische Abgrenzung ihrer Positionen
Wert legten.
Akademie
Der institutionelle Träger der Philosophie Platons war
zunächst die Platonische Akademie, die mit ihren Nachfolgegründungen in Athen
fast ein Jahrtausend lang bestand, allerdings mit langen Unterbrechungen. In
der römischen Kaiserzeit waren Alexandria und Rom neben Athen die wichtigsten
Zentren des Platonismus; die Schulen außerhalb Athens trugen aber nie die
Bezeichnung „Akademie“.
Ob die Ausarbeitung der Gedanken Platons zu einem
abgeschlossenen System der philosophischen Welterklärung bereits von ihm selbst
in der sogenannten ungeschriebenen Lehre vorangetrieben wurde oder erst nach
seinem Tod einsetzte, wird kontrovers diskutiert. Die Tübinger Schule und die
an sie anknüpfende Forschung[227] geht davon aus, dass die Systembildung
bereits von Platon selbst vorgegeben war. Die Gegenposition vertraten besonders
Gregory Vlastos sowie im deutschsprachigen Raum Kurt von Fritz, Peter Stemmer
und Jürgen Mittelstraß. Ihrer Ansicht zufolge entwickelten erst Platons
Nachfolger in der „Alten Akademie“, die bis 268/264 v. Chr. bestand, eine
systematische Lehre. In der anschließend von Arkesilaos von Pitane begründeten
„Jüngeren Akademie“ (auch „Mittlere Akademie“ genannt) kam es zu einem
Kurswechsel. Unter Berufung auf die Sokratische Aporetik folgte man einer
skeptischen Grundrichtung in der Erkenntnistheorie und bestritt die
Erreichbarkeit sicheren Wissens. Die Wirren des Ersten Mithridatischen Krieges,
in dem die Römer 86 v. Chr. Athen eroberten, setzten dem Unterricht in der Akademie
ein Ende.
Mittelplatonismus
Antiochos von Askalon unternahm einen Neuanfang mit betonter
Abkehr von der skeptischen Haltung, die er für unplatonisch hielt. Er gründete
eine neue Schule, die er im Sinne einer Rückkehr zum ursprünglichen Konzept
Platons „Alte Akademie“ nannte. Zu seinen Schülern gehörte Cicero, der sich 79
v. Chr. in Athen aufhielt. Damit begann die Zeit des Mittelplatonismus, dessen
Vertreter sich insbesondere mit theologischen und kosmologischen Fragen
auseinandersetzten. Die Mittelplatoniker griffen zum Teil stoische und
aristotelische Ideen auf, die nach ihrer Ansicht mit der Lehre Platons
übereinstimmten. Daneben gab es aber auch eine von Numenios vertretene
Richtung, die zur ursprünglichen Lehre Platons zurückkehren und den Platonismus
von stoischen und aristotelischen „Irrlehren“ reinigen wollte.
Neuplatonismus
Relief
Mutmaßliche Darstellung Plotins auf einem Sarkophag im Museo
Gregoriano Profano, Vatikanische Museen
Um die Mitte des 3. Jahrhunderts entstand der
Neuplatonismus. Dieser moderne, erst im 19. Jahrhundert geprägte Begriff
bezeichnet eine Richtung, die besonders die metaphysischen und religiösen
Aspekte der platonischen Tradition betonte und detaillierte Modelle einer
hierarchisch gestuften Weltordnung entwarf. Diese Strömung spielte in der
Philosophie der Spätantike eine dominierende Rolle. Als Begründer des
Neuplatonismus gilt – zusammen mit seinem Lehrer Ammonios Sakkas – Plotin, der
in Rom eine Schule gründete. Plotin betrachtete sich aber nicht als Neuerer,
sondern wollte nur ein getreuer Ausleger der Lehre Platons sein. Sein
prominentester Schüler war Porphyrios, der in einer Kampfschrift den religiösen
Platonismus gegen das erstarkende Christentum verteidigte. Ein Schüler des
Porphyrios, Iamblichos von Chalkis, verfeinerte das System, wobei er manche
Ansichten Plotins und Porphyrios' verwarf. Er übte einen bestimmenden Einfluss
auf die um 410 gegründete neuplatonische Schule von Athen aus, die nach langer
Unterbrechung die dortige Tradition der Akademie erneuerte. Daneben war auch
Alexandria, wo Plotin studiert hatte, ein bedeutendes Zentrum des spätantiken
Neuplatonismus. Diese letzte Blüte des Neuplatonismus dauerte bis ins frühe 6.
Jahrhundert. Unter den späten Neuplatonikern hatte Proklos die stärkste
Nachwirkung; prominente Philosophen aus der Schule von Athen waren ferner
Damaskios und Simplikios.
Die Platoniker in den Philosophenschulen von Rom, Athen und
Alexandria waren fast alle scharfe Gegner des Christentums, das sie für
unvereinbar mit der Lehre Platons hielten. In der letzten Phase ihrer Existenz
war die neuplatonische Schule von Athen der wichtigste Hort des geistigen
Widerstands gegen das Christentum; daher ordnete Kaiser Justinian I. im Jahre
529 ihre Schließung an.
Kirchenväter
Konzepte Platons und seiner Schule flossen in der Epoche der
spätantiken Patristik über die Kirchenväter in die christliche Philosophie ein,
meistens ohne Hinweis auf ihre Herkunft. Prominente griechischsprachige Kirchenschriftsteller
wie Clemens von Alexandria, Origenes, Basilius der Große und Gregor von Nyssa
griffen in ihren theologischen Werken auf die platonische Gedankenwelt und
Terminologie zurück. Bei den lateinischsprachigen Kirchenvätern, die meist über
keine unmittelbare Kenntnis der Dialoge verfügten, dominierte eine negative
Grundhaltung, die von einer tiefen Verachtung aller nichtchristlichen
Philosophie gespeist war. Im Osten wie im Westen des Reichs war die Meinung
verbreitet, dass Platon zwar der beste unter den vorchristlichen Philosophen
sei, aber alle heidnischen Bemühungen um Wissen und Weisheit irregeleitet und
verderblich seien oder bestenfalls eine mangelhafte, überholte Vorstufe wahrer
christlicher Erkenntnis darstellten.
Eine Sonderstellung nahm allerdings Augustinus von Hippo,
der langfristig einflussreichste Kirchenvater des Westens, hinsichtlich der
Platon-Rezeption ein. Er setzte sich intensiv mit Platon und neuplatonischer
Philosophie auseinander, erhielt dabei wesentliche Anregungen und drückte seine
Wertschätzung für einzelne platonische Lehren aus. Eingehend beschrieb er aber
auch die gewichtigen Unterschiede zwischen seiner christlichen Position und
derjenigen Platons.
Mittelalter
Im Frühmittelalter und bis um die Mitte des 12. Jahrhunderts
war in der lateinischsprachigen Gelehrtenwelt West- und Mitteleuropas von den
Werken Platons ausschließlich der Timaios in den unvollständigen lateinischen
Übersetzungen von Calcidius und Cicero bekannt; er war nur in wenigen
Handschriften verbreitet. Dennoch wirkten platonische Einflüsse auf indirektem
Weg stark auf das Geistesleben ein, da neben Augustinus auch weitere damals
populäre antike Schriftsteller wie Macrobius, Martianus Capella und vor allem
Boethius platonisches Gedankengut vermittelten. Als angeblicher Schüler des
Apostels Paulus stand Pseudo-Dionysius Areopagita, ein sehr stark neuplatonisch
beeinflusster Kirchenschriftsteller des frühen 6. Jahrhunderts, in hohem
Ansehen. Er trug maßgeblich zur platonischen Prägung der mittelalterlichen
Theologie bei. Besonders tief von den Werken des Pseudo-Dionysios geprägt war
die Philosophie des irischen Denkers Johannes Scottus Eriugena, der im 9.
Jahrhundert lebte und einen so konsequenten Neuplatonismus vertrat, dass sein
Werk deswegen kirchlich verurteilt wurde.
Einen markanten Aufschwung erlebte der vom Timaios
ausgehende mittelalterliche Platonismus im 12. Jahrhundert durch die „Schule
von Chartres“. Dabei handelte es sich um einen Kreis von mehr oder weniger
stark platonischem Denken verpflichteten Philosophen und Theologen in Chartres,
den der dort lehrende berühmte Philosoph Bernhard von Chartres († nach 1124)
ins Leben gerufen hatte. Bernhard galt als der bedeutendste Platoniker seiner
Epoche. Zu seinen Schülern gehörten Wilhelm von Conches und Gilbert von
Poitiers. Weitere prominente Vertreter dieser Richtung waren Thierry von
Chartres und Bernardus Silvestris. Die Platoniker in Chartres setzten sich
eingehend mit den Übereinstimmungen und Unterschieden zwischen der Kosmologie
des Timaios und der christlichen Schöpfungslehre auseinander und bemühten sich
um eine Harmonisierung. Ein anderes Schwerpunktthema war der platonische
Schönheitsbegriff.
Als mit der Übersetzungsbewegung des 12. und 13.
Jahrhunderts die Werke des Aristoteles zunehmend in lateinischer Übersetzung
Verbreitung fanden und zur Grundlage der scholastischen Wissenschaft wurden,
führte dies zu einem Siegeszug des Aristotelismus und zur Zurückdrängung des
Platonismus, der jedoch weiterhin – vor allem in neuplatonischer Gestalt –
präsent blieb. Schon im Hochmittelalter und vor allem im Spätmittelalter lebte
der antike Gegensatz zwischen Platonismus und Aristotelismus erneut auf. Er lag
der Problemstellung des mittelalterlichen Universalienstreits zugrunde.
Verwirrung schuf dabei der Umstand, dass die sehr einflussreiche neuplatonische
Schrift Liber de causis („Buch der Ursachen“) irrtümlich als Werk des
Aristoteles galt. Im späten 13. und im 14. Jahrhundert dominierte an den
Universitäten weiterhin der Aristotelismus, doch traten außerhalb des
Universitätsbetriebs unter den Ordensgelehrten auch neuplatonisch gesinnte
Denker wie Dietrich von Freiberg, Meister Eckhart und Berthold von Moosburg
hervor. Zu dieser neuplatonischen Strömung gehörte im 15. Jahrhundert auch
Nikolaus von Kues.
Im Byzantinischen Reich hielt der Gelehrte Stephanos von
Alexandria im 7. Jahrhundert in Konstantinopel Vorlesungen über Themen der
platonischen Philosophie; ansonsten fand aber zwischen der Schließung der
Akademie im 6. Jahrhundert und der Mitte des 11. Jahrhunderts keine vertiefte
Auseinandersetzung mit Platon statt. Allerdings machte sich neuplatonischer
Einfluss über die Lehren des Pseudo-Dionysius Areopagita geltend,
beispielsweise im Bilderstreit, in dem sich die letztlich siegreichen Anhänger der
Bilderverehrung eine neuplatonische Argumentationsweise zunutze machten. Eine
Wiederbelebung der Platonstudien verdankte Byzanz dem bedeutenden Gelehrten und
Staatsmann Michael Psellos († nach 1077), der wegen seiner Vorliebe für den
Platonismus sogar in den Verdacht mangelnder Rechtgläubigkeit geriet.[228]
Auch in der arabischsprachigen Welt des Mittelalters wurde
Platon rezipiert. Im 9. Jahrhundert wurden in der Übersetzerschule des
Nestorianers Hunayn ibn Ishaq in Bagdad mehrere Dialoge ins Arabische übersetzt
(Politeia, Nomoi, Timaios, Sophistes). Muslimische Philosophen wie al-Farabi im
10. Jahrhundert und Avicenna im 11. Jahrhundert setzten sich mit dem
Neuplatonismus auseinander. Die Werke des Universalgelehrten Avicenna wirkten
in lateinischer Übersetzung auf die abendländische Philosophie ein, die damit
indirekt einem zusätzlichen platonischen Einfluss ausgesetzt war.
Frühe Neuzeit
Marsilio Ficino, Biblioteca Medicea Laurenziana, Florenz
Die „Wiedergeburt“ der antiken Bildung und die „Rückkehr zu
den Quellen“ im Renaissance-Humanismus wirkte sich auch auf die
Platon-Rezeption aus. Im 15. Jahrhundert wurden die bisher größtenteils im
Westen unbekannten Dialoge Platons und Werke von Neuplatonikern in griechischen
Handschriften entdeckt, ins Lateinische übersetzt und kommentiert. Aus dem
untergehenden Byzantinischen Reich gelangten zahlreiche kostbare
Klassiker-Handschriften nach Italien. Die Kenntnis der Originalwerke Platons
führte aber nicht zu einer Distanzierung vom Neuplatonismus, vielmehr orientierte
sich die Platon-Interpretation der Humanisten an der immer noch lebendigen
neuplatonischen christlichen Tradition, zumal deren Vertreter sich auf die
Autorität der neuplatonisch geprägten Kirchenväter berufen konnten. Der
Gegensatz zwischen Platon und Aristoteles bildete weiterhin ein Problem, das in
der Streitfrage nach dem Vorrang des einen oder des anderen artikuliert wurde.
Teils ergriffen die Humanisten für Platon oder für Aristoteles Partei, teils
nahmen sie vermittelnde Positionen ein. Platons Werke waren weit besser als
diejenigen des Aristoteles geeignet, den ausgeprägten Sinn der Humanisten für
literarische Ästhetik anzusprechen; zudem war die von den Humanisten verachtete
scholastische Wissenschaft aristotelisch.
Der wohl konsequenteste Platoniker unter den Humanisten war
der byzantinische Gelehrte Georgios Gemistos Plethon, der sich zeitweilig in
Italien aufhielt und die dortigen Humanisten beeindruckte. Er folgte der
platonischen Lehre so radikal, dass er sogar in religiöser Hinsicht die Konsequenz
zog, sich vom Christentum loszusagen und zur Religion der antiken Platoniker zu
bekennen. In der 1439 in Florenz verfassten Abhandlung Über die Unterschiede
zwischen Aristoteles und Platon, einer Kampfschrift, verteidigte er die Lehren
Platons gegen die Kritik des Aristoteles.[229]
Der berühmte Florentiner Humanist und Platon-Übersetzer
Marsilio Ficino bemühte sich um eine Erneuerung des Platonismus auf
neuplatonischer Grundlage, wobei er besonders von Plotin ausging. Allerdings
gab es, wie neuere Forschung gezeigt hat,[230] in Florenz keine „Platonische
Akademie“ als feste Einrichtung, sondern nur einen lockeren Kreis von mehr oder
weniger platonisch gesinnten Humanisten ohne institutionellen Rahmen.
Im 17. Jahrhundert bildete sich in Cambridge der Kreis der
„Cambridger Platoniker“, zu dem Ralph Cudworth und Henry More gehörten. Diese
Philosophen erstrebten eine Harmonisierung von Religion und Naturwissenschaft,
wofür ihnen der Neuplatonismus eine geeignete Grundlage zu bieten schien.
Im Zeitalter der Aufklärung dominierte die Auffassung,
Platons Philosophie sei überholt, ein Irrweg und nur noch von historischem
Interesse. Vor allem seiner Metaphysik wurde in weiten Kreisen ein
Realitätsbezug abgesprochen. Besonders entschieden wandte sich Voltaire gegen
die platonische Ontologie, gegen die Ideenlehre und gegen die im Timaios
dargelegte kosmologische Denkweise. In der kurzen satirischen Erzählung Songe
de Platon[231] verspottete er Platons Vorstellung von der Weltschöpfung und
charakterisierte ihn als Träumer. Anklang fanden im 18. Jahrhundert allerdings
Platons Ästhetik und sein Liebesbegriff (beispielsweise bei Frans Hemsterhuis
und Johann Joachim Winckelmann), was sich in einer Bevorzugung der einschlägigen
Dialoge (Symposion, Phaidros) zeigte.
Moderne
Die Aspekte, die in der Moderne in den Vordergrund traten,
waren zum einen die Suche nach dem historischen Platon in der klassischen
Altertumswissenschaft, zum anderen die Frage nach der Möglichkeit einer fortdauernden
Aktualität seines Denkens unter den Bedingungen modernen Philosophierens.
Altertumswissenschaftliche Forschung
Friedrich Schleiermacher, Bildnis von Hugo Bürkner
Im englischen Sprachraum trug der einflussreiche Gelehrte
Thomas Taylor (1758–1835) durch seine Platon-Übersetzungen, die lange
nachwirkten, maßgeblich zur Verbreitung eines stark von der traditionellen
neuplatonischen Perspektive geprägten Platon-Bildes bei. Er knüpfte auch
persönlich an die religiösen Auffassungen der antiken Neuplatoniker an. Zur
selben Zeit setzte in der deutschen Altertumsforschung eine entgegengesetzte
Entwicklung ein; man bemühte sich um die Herausarbeitung der historischen
Gestalt Platons und um eine genaue Abgrenzung seines authentischen Denkens von
allen späteren Deutungen und Systematisierungsbestrebungen der Platonischen
Akademie und der Neuplatoniker. Friedrich August Wolf (1759–1824) edierte
einzelne Dialoge, sein Schüler Immanuel Bekker (1785–1871) veröffentlichte
1816–1823 eine kritische Gesamtausgabe der Werke – die erste seit 1602.
Eine außerordentlich große und nachhaltige Wirkung erzielten
die deutschen Übersetzungen der meisten Werke Platons, die der Theologe und
Philosoph Friedrich Schleiermacher ab 1804 publizierte. Schleiermacher war der
Überzeugung, Platon habe seine Schriften nach einem vorgefassten Plan in einer
festgelegten Reihenfolge ausgearbeitet, jeder Dialog baue auf dem
vorhergehenden auf und sie stellten ein zusammenhängendes Ganzes dar. Es gebe
keine ungeschriebene Lehre, die über die schriftlich fixierte Philosophie
Platons hinausreiche. Schleiermacher gehörte mit seinem Freund, dem
Frühromantiker Friedrich Schlegel, zu den führenden Vertretern der damals
starken Strömung, welche die Bestrebungen, ein hinter den Dialogen stehendes
philosophisches System Platons zu erschließen, kritisierte und die Auslegung
dem Leser überließ. Statt der Frage nach einem Lehrgebäude nachzugehen, betonte
man den dialogischen Charakter des platonischen Philosophierens. Für
Schleiermacher sind Dialogform und Inhalt unzertrennlich, die Form ergibt sich
aus Platons Überzeugung, dass das Erfassen eines fremden Gedankens eine
Eigenleistung der Seele sei; daher müsse man die Dialoge als dazu konzipiert
verstehen, den Leser zu dieser Tätigkeit zu bewegen. In seiner Dialogtheorie
ging Schleiermacher von einer didaktischen Absicht Platons aus, die der
Anordnung des Dialogwerks zugrunde liege. Ihm ging es nicht um eine Spiegelung
von Platons eigener Entwicklung in der chronologischen Aufeinanderfolge seiner
Werke.[232] Erst Karl Friedrich Hermann trug 1839 in Auseinandersetzung mit
Schleiermacher den Entwicklungsgedanken vor.[233] Er gliederte die
philosophische Entwicklung Platons in Phasen, denen er die Dialoge zuordnete.
1919 veröffentlichte der klassische Philologe Ulrich von
Wilamowitz-Moellendorff seine umfangreiche Platon-Biographie,[234] in der er
den Lebensgang herausarbeitete und die Werke aus philologischer Sicht würdigte.
Dort befasste er sich auch mit der Frage nach der von manchen Gelehrten
bezweifelten Echtheit eines Teils der Platon zugeschriebenen Schriften, die
bereits im 19. Jahrhundert lebhaft diskutiert worden war. Im 20. Jahrhundert
gelang es den Forschern, hinsichtlich der meisten Werke Konsens zu erzielen und
die ausufernde Authentizitätsdebatte auf einige wenige Dialoge und Briefe zu
begrenzen. In der zweiten Jahrhunderthälfte gewann die Beschäftigung mit der
ungeschriebenen Prinzipienlehre, der man zuvor meist mit großer Skepsis
begegnet war, stark an Bedeutung. Fragen nach ihrer Relevanz und Rekonstruierbarkeit
gehörten zu den intensiv und kontrovers diskutierten Themen der
Platonforschung, ein Konsens ist nicht erreicht worden.
Rezeption Platons als Philosoph und Schriftsteller
Für Hegel standen die späten Dialoge (Parmenides, Sophistes,
Philebos) im Vordergrund. Sie interessierten ihn unter dem Gesichtspunkt der
Dialektik, denn er betrachtete die Dialektik Platons als Vorläufer seines
eigenen Systems. Stärker von Platon und vom Neuplatonismus beeinflusst war
Schelling. Er griff auf Begriffe wie den der Weltseele zurück, wobei er deren
Bedeutung abwandelte.
Die im 19. und frühen 20. Jahrhundert weit verbreitete
Verehrung Platons bezog sich auch auf seinen Stil. Man las die Dialoge als
literarische Kunstwerke und pries die Übereinstimmung von literarischer Form
und philosophischem Inhalt. Neben der Schönheits- fand die Liebesthematik, die
schon in der Platon-Rezeption Hölderlins eine wichtige Rolle spielte,[235]
besondere Beachtung. Zu den Platonikern zählte auch der Dichter Percy Bysshe
Shelley.[236] Doch nicht nur Dichter und Romantiker, sondern auch Philologen
begeisterten sich für den Schriftsteller Platon. So meinte
Wilamowitz-Moellendorff, dass Platons gelungenste Dialoge „[…] an echtem
Kunstwerte die vollkommenste Prosadichtung heute noch sind, also wohl bis zum
jüngsten Tage bleiben werden. Ihr Stil war gewissermaßen gar kein Stil, denn er
war immer wieder anders. Es ließ sich alles in ihm sagen, was ein Hirn denken
und ein Herz fühlen kann, und es ließ sich in jeder Tonart sagen, tragisch und komisch,
pathetisch und ironisch.“[237]
Wilamowitz bewunderte sowohl die schriftstellerische als
auch die philosophische Leistung Platons. Sein Zeitgenosse und Gegner Nietzsche
hingegen übte vernichtende Kritik an beidem:
„Plato wirft, wie mir scheint, alle Formen des Stils
durcheinander, er ist damit ein erster décadent des Stils: er hat etwas
Ähnliches auf dem Gewissen, wie die Cyniker, die die satura Menippea erfanden.
Dass der Platonische Dialog, diese entsetzlich selbstgefällige und kindliche
Art Dialektik, als Reiz wirken könne, dazu muss man nie gute Franzosen gelesen
haben, – Fontenelle zum Beispiel. Plato ist langweilig. – Zuletzt geht mein
Misstrauen bei Plato in die Tiefe: ich finde ihn so abgeirrt von allen
Grundinstinkten der Hellenen, so vermoralisirt, so präexistent-christlich – er
hat bereits den Begriff „gut“ als obersten Begriff –, dass ich von dem ganzen
Phänomen Plato eher das harte Wort „höherer Schwindel“ oder, wenn man's lieber
hört, Idealismus – als irgend ein andres gebrauchen möchte.“[238]
Der platonische Sokrates ist für Nietzsche ein Vertreter der
„Sklaven- und Herdenmoral“ und als solcher ein Verneiner des „Lebensprinzips“,
der sich dem Willen zur Macht widersetzt. Während Platon das überlegene
Individuum in den Dienst des Staates stellt, tritt Nietzsche für eine
umgekehrte Rangordnung ein.[239] Nietzsche verurteilt Platons Abwendung von der
Welt der Sinne, die er als Flucht in das Reich der Ideen deutet. Aus seiner
Sicht entspringen die Erkenntnisfähigkeiten des Menschen keiner höheren
geistigen Sphäre, sondern sind lediglich Werkzeuge des blinden Willens, der sie
verwendet, um sich die Welt anzueignen. Daher benutzt er Platons Terminologie
ironisch, um die hierarchische Wertordnung des Platonismus umzukehren: „Meine
Philosophie umgedrehter Platonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so
reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel.“[240]
Während bei Platon die Philosophie über der Kunst steht,
weil sie sich unmittelbar mit den Ideen beschäftige, steht für Nietzsche die
Kunst über der Philosophie, weil sich nur im künstlerischen Zugang zur Welt der
alles antreibende Wille erschließe. Nur im „künstlerischen Schein“ lasse sich
der Wille einfangen.
Wollte Nietzsche sich durch diese radikale Umwertung vom
Platonismus befreien, so bleibt er für Martin Heidegger dennoch im Denkhorizont
einer platonischen, die Welt in Sinnliches und Geistiges spaltenden Tradition,
die zu überwinden sei. In Platons metaphysischer Annahme, dass Sinnliches und
Geistiges getrennten Seinsbereichen angehören und zwischen ihnen eine
hierarchische Ordnung besteht, sieht Heidegger den Anfang eines
Verfallsprozesses der abendländischen Philosophiegeschichte, der mit Nietzsche
einen letzten Höhepunkt erreicht habe. Wie Platon versuche auch Nietzsche alles
Seiende auf ein einziges wahrhaft Seiendes zurückzuführen, nämlich den blinden
Willen zur Macht. Heidegger resümiert: „[…] demzufolge bezeichnet Nietzsche
seine eigene Philosophie als umgekehrten Platonismus. Weil Platonismus, ist
auch Nietzsches Philosophie Metaphysik.“[241]
In der „Marburger Schule“ des Neukantianismus wurde eine
Neuinterpretation der Ideenlehre unternommen, deren Hauptvertreter Paul Natorp
war. Natorp versuchte die platonische Philosophie mit der kantischen in
Einklang zu bringen. Nach seiner Deutung sind die platonischen Ideen als
Regeln, Gesetze, Hypothesen oder Methoden des Denkens zu verstehen.[242]
Eine radikale Gegenposition zur betonten Abwendung vieler moderner
Denker vom Platonismus vertrat der russische Religionsphilosoph Wladimir
Sergejewitsch Solowjow († 1900), der Platon studierte und ins Russische
übersetzte. Er war stark von platonischer Metaphysik beeinflusst. Besonders
beeindruckte ihn Platons Idee eines sich der Gottheit nähernden, vergöttlichten
Menschen. Auch sonst fand Platons Gedankengut bei einzelnen osteuropäischen
Philosophen Anklang. Zu ihnen gehörte vor allem Tomáš Garrigue Masaryk
(1850–1937), der Gründer der Tschechoslowakei.
Da praktisch alle Themen, die in der Philosophiegeschichte
eine Rolle spielen, bereits bei Platon zu finden sind, bemerkte der britische
Philosoph und Mathematiker Alfred North Whitehead 1929 pointiert, die
europäische philosophische Tradition bestehe aus einer Reihe von Fußnoten zu
Platon.[243]
Während des Zweiten Weltkriegs verfasste Karl Popper, der
Begründer des Kritischen Rationalismus, unter dem Eindruck der damaligen
politischen Verhältnisse eine fundamentale Kritik an Platons Staatstheorie. Er
sah den platonischen Idealstaat als Gegenmodell zu einer demokratischen,
offenen Gesellschaft, deren Vorkämpfer Perikles gewesen sei, und behauptete,
Platon habe die Lehren des Sokrates pervertiert und ins Gegenteil
verkehrt.[244] Platon habe die Suche nach einer überlegenen Staatsordnung auf
die Machtfrage reduziert, statt nach Institutionen zu fragen, die Herrschaft
begrenzen und dem Machtmissbrauch vorbeugen können. Mit seinem Konzept eines
kleinen, statischen, abgeschlossenen Ständestaats sei er ein Vorläufer des modernen
Totalitarismus und Feind des Individualismus und der Humanität. Außerdem wandte
sich Popper gegen den unwandelbaren Charakter der platonischen Idee des Guten.
Seine Streitschrift löste eine lebhafte Debatte aus.[245]
In vielen modernen Kontexten wird der Begriff „Platonismus“
für einen wie auch immer gearteten metaphysischen Realismus von Begriffen bzw.
Universalien verwendet, da diese „realistischen“ Positionen
(„Universalienrealismus“) eine mehr oder weniger entfernte Ähnlichkeit mit
Platons Ideenlehre aufweisen, die als ein Hauptbestandteil seiner Philosophie
bekannt ist.
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