Sokrates (469.BC )
Author D. Selzer-McKenzie
YoutubeVideo: https://youtu.be/yo78_LCTQ6E
Sokrates (Σωκράτης Sōkrátēs * 469 v. Chr. in Alopeke, Athen;
† 399 v. Chr. in Athen) war ein für das abendländische Denken grundlegender
griechischer Philosoph, der in Athen zur Zeit der Attischen Demokratie lebte
und wirkte. Zur Erlangung von Menschenkenntnis, ethischen Grundsätzen und
Weltverstehen entwickelte er die philosophische Methode eines strukturierten
Dialogs, die er Maieutik („Hebammenkunst“) nannte.
Sokrates selbst hinterließ keine schriftlichen Werke. Die
Überlieferung seines Lebens und Denkens beruht auf Schriften anderer,
hauptsächlich seiner Schüler Platon und Xenophon. Sie verfassten sokratische
Dialoge und betonten darin unterschiedliche Züge seiner Lehre. Jede Darstellung
des historischen Sokrates und seiner Philosophie ist deshalb lückenhaft und mit
Unsicherheiten verbunden.
Sokrates’ herausragende Bedeutung zeigt sich vor allem in
seiner nachhaltigen Wirkung innerhalb der Philosophiegeschichte, aber auch
darin, dass die griechischen Denker vor ihm heute als Vorsokratiker bezeichnet
werden. Zu seinem Nachruhm trug wesentlich bei, dass er das gegen ihn verhängte
Todesurteil wegen angeblich verderblichen Einflusses auf die Jugend sowie
Missachtung der Götter akzeptierte und eine Fluchtmöglichkeit aus Respekt vor
den Gesetzen nicht wahrnahm. Bis zur Hinrichtung durch den Schierlingsbecher beschäftigten
ihn und die zu Besuch im Gefängnis weilenden Freunde und Schüler philosophische
Fragen. Nahezu alle bedeutenden philosophischen Schulen der Antike haben sich
auf Sokrates berufen. Michel de Montaigne nannte ihn im 16. Jahrhundert den
„Meister aller Meister“[1] und noch Karl Jaspers schrieb: „Sokrates vor Augen
zu haben ist eine der unerlässlichen Voraussetzungen unseres
Philosophierens.“[2]
Sokrates habe die Philosophie als Erster vom Himmel auf die
Erde heruntergerufen, unter den Menschen angesiedelt und zum Prüfinstrument der
Lebensweisen, Sitten und Wertvorstellungen gemacht, bemerkte Cicero,[3] der
römische Politiker und vorzügliche Kenner der griechischen Philosophie.[4] In
Sokrates sah er die Abkehr von der ionischen Naturphilosophie personifiziert,
die bis 430 v. Chr. durch Anaxagoras in Athen prominent vertreten war. Dessen
Vernunftprinzip hatte Sokrates zwar beeindruckt, doch kritisierte er Anaxagoras
insofern, als er bei ihm die Anwendung der Vernunft auf menschliche
Problemstellungen vermisste.[5] Allerdings war Sokrates, anders als Cicero
glaubte, nicht der Erste oder Einzige, der die menschlichen Belange in den
Mittelpunkt seines philosophischen Denkens stellte.
Zu Sokrates’ Lebzeiten war Athen als Vormacht im Attischen
Seebund und infolge der Ausgestaltung der Attischen Demokratie das
politisch-gesellschaftlich tiefgreifendem Wandel und vielfältigen Spannungen
ausgesetzte kulturelle Zentrum Griechenlands. Daher gab es im 5. Jahrhundert v.
Chr. gute Entfaltungschancen für neue geistige Strömungen in Athen. Eine solche
breit angelegte, durch Lehrangebote auch wirksam hervortretende Geistesrichtung
war die der Sophisten, mit denen Sokrates so vieles verband, dass er den
Zeitgenossen oft selbst als Sophist galt: Das Interesse für das praktische
Leben der Menschen, für Fragen der Polis- und Rechtsordnung sowie der Stellung
des Einzelnen darin, die Kritik der hergebrachten Mythen, die
Auseinandersetzung mit Sprache und Rhetorik, außerdem Bedeutung und Inhalte von
Bildung – das alles beschäftigte auch Sokrates.
Was ihn von den Sophisten unterschied und zur
geistesgeschichtlichen Gründerfigur machte, waren die darüber hinausgehenden
Merkmale seines Philosophierens. Bezeichnend war z. B. sein stetiges, bohrendes
Bemühen, den Dingen auf den Grund zu gehen und z. B. in der Frage „Was ist
Tapferkeit?“, sich nicht mit Vordergründig-Augenscheinlichem zufriedenzugeben,
sondern den „besten Logos“ zur Sprache zu bringen, d. h. das von Zeit und
Örtlichkeit unabhängige, gleichbleibende Wesen der Sache.[6]
Methodisch neu zu seiner Zeit war die Maieutik, das von
Sokrates eingeführte Verfahren des philosophischen Dialogs zwecks
Erkenntnisgewinn in einem ergebnisoffenen Forschungsprozess. Originär
sokratisch war ferner das Fragen und Forschen zur Begründung einer
philosophischen Ethik. Zu den von Sokrates erzielten Ergebnissen gehörte, dass
richtiges Handeln aus der richtigen Einsicht folgt und dass Gerechtigkeit
Grundbedingung für einen guten Zustand der Seele ist. Daraus ergab sich für
ihn: Unrecht tun ist schlimmer als Unrecht erleiden.
Daran knüpft sich ein viertes Element des mit Sokrates
verbundenen philosophischen Neubeginns: die Bedeutung und Bewährung
philosophischer Einsichten in der Lebenspraxis. In dem mit seinem Todesurteil
endenden Prozess bescheinigte Sokrates seinen Widersachern, dass sie erkennbar
im Unrecht seien. Gleichwohl lehnte er anschließend die Flucht aus dem
Gefängnis ab, um sich nicht seinerseits ins Unrecht zu setzen. Die
philosophische Lebensweise und die Einhaltung des Grundsatzes, dass Unrecht tun
schlimmer ist als Unrecht leiden, gewichtete er höher als die Möglichkeit, sein
Leben zu erhalten.[7]
Sokratesbüste im Archäologischen Nationalmuseum Neapel
Lebensweg des Philosophen
Über den Werdegang des Sokrates ist für die erste Lebenshälfte
kaum etwas und danach auch nur Lückenhaftes bekannt. Die biographischen
Hinweise stammen im Wesentlichen aus zeitgenössischen Quellen, deren Angaben
sich allerdings teilweise widersprechen. Dabei handelt es sich um die Komödie
Die Wolken des Aristophanes und um Werke zweier Schüler des Sokrates: die
Memorabilien (Erinnerungen an Sokrates) des Geschichtsschreibers Xenophon und
Schriften des Philosophen Platon. Platons frühe Dialoge und seine Apologie des
Sokrates sind die wichtigsten Quellen zu Sokrates. Unter den Nachgeborenen
haben vor allem der Platon-Schüler Aristoteles und – im dritten Jahrhundert n.
Chr. – der Doxograph Diogenes Laertios Hinweise beigesteuert. Darüber hinaus
sind nur verstreute Notizen, Anmerkungen oder Anekdoten weiterer Autoren der
griechischen und der lateinischen Literatur überliefert, etwa bei Cicero oder
Plutarch.[8] Weitere frühe Informationen findet man in anderen antiken
Komödien.[9]
Herkunft, Bildung, Militäreinsätze
Laut Platon[10] war Sokrates 399 v. Chr. 70 Jahre alt,
woraus sich als Geburtsjahr das Jahr 469 v. Chr. ergibt. Gut gesichert ist das
Jahr seines Prozesses und Todes, 399 v. Chr. Wohl eine spätere Erfindung ist,
dass sein Geburtstag der 6. Tag des Monats Thargelion war.[11] Laut Diogenes
Laertios[12] stammte er aus dem athenischen Demos Alopeke und war Sohn des
Steinmetzes oder Bildhauers Sophroniskos. Platon teilt mit, dass die Mutter des
Sokrates die Hebamme Phainarete war.[13] Außerdem erwähnt Platon einen
Halbbruder mütterlicherseits namens Patrokles,[14] der wahrscheinlich mit dem
Patrokles von Alopeke identisch ist, der in einer Inschrift[15] auf der
athenischen Akropolis aus dem Jahr 406/405 v. Chr. als Wettkampfordner der
Panathenäen verzeichnet ist.[16]
Seine Ausbildung habe sich, so der deutsche Althistoriker
Alexander Demandt, in den gängigen Bahnen bewegt, was neben Alphabetisierung,
Gymnastik und Musikerziehung auch Geometrie, Astronomie und das Studium der
Dichter, zumal Homers, einschloss. Unter seinen Lehrern waren laut Platon auch
zwei Frauen, nämlich Aspasia, die Frau des Perikles, und die Seherin
Diotima.[17] Auf männlicher Seite werden neben dem bereits erwähnten
Naturphilosophen Anaxagoras, mit dessen Schüler Archelaos Sokrates eine Reise
nach Samos unternahm,[18] der Sophist Prodikos und der den Pythagoreern
nahestehende Musiktheoretiker Damon genannt.[19]
Zu einer Berufsausübung des Sokrates äußerte sich einzig der
im frühen 3. Jahrhundert n. Chr. schreibende Philosophiehistoriker Diogenes
Laertios, der sich auf eine heute verlorene Quelle berief.[20] Demnach hätte
Sokrates wie sein Vater als Bildhauer gearbeitet und sogar eine Charitengruppe
und eine Hermesfigur auf der Akropolis gestaltet. In den Überlieferungen seiner
Schüler ist davon aber nirgends die Rede, sodass er diese Tätigkeit zumindest
frühzeitig beendet haben müsste und auch wohl kaum zur Sprache brachte.
Konkrete Daten sind mit seinen militärischen Einsätzen im
Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.) verbunden: Als Hoplit mit schwerer
Bewaffnung nahm er an der Belagerung von Potidaia 431–429 v. Chr. sowie an den
Schlachten von Delion 424 v. Chr. und Amphipolis 422 v. Chr. teil. Das lässt
darauf schließen, dass er nicht unbemittelt war, denn die Kosten für ihre
Ausrüstung mussten die Hopliten selbst aufbringen.
Idealporträt des Alkibiades (Marmorbüste, 4. Jahrhundert v.
Chr.)
Dem Feldherrn Laches und dem eigenen Schüler Alkibiades
machte Sokrates im Felde großen Eindruck durch die Art, wie er Kälte, Hunger
und sonstige Entbehrungen zu ertragen in der Lage war und wie er im Falle des
militärischen Rückzugs bei Delion – statt wie andere kopflos zu flüchten –
gemessenen Schrittes und jederzeit verteidigungsbereit Besonnenheit und
entschlossenen Mut bewies.[21]
Den verwundeten Alkibiades rettete er in Potidaia samt
Waffen und lenkte eine Tapferkeitsauszeichnung, die ihm selbst zugestanden
hätte, auf Alkibiades. So wenigstens bezeugt es dieser in Platons Symposion und
berichtet, wie er Sokrates in Poteidaia erlebt habe:
„Da übertraf er im
Ertragen aller Beschwernisse nicht nur mich, sondern alle insgesamt. Wenn wir
irgendwo abgeschnitten waren, wie es auf Feldzügen vorkommen kann, und dann
fasten mussten, da konnten das die anderen lange nicht so gut aushalten.
Durften wir es uns aber wohlergehen lassen, so vermochte er als einziger das zu
genießen, besonders wenn er, was ihm freilich zuwider war, zum Trinken genötigt
wurde; da übertraf er uns alle. Und worüber man sich am meisten wundern muss:
Kein Mensch hat jemals den Sokrates betrunken gesehen.“[22]
Lehrtätigkeit und Schülerkreis
Seinen Wirkungsmittelpunkt hatte Sokrates auf dem belebten
Marktplatz von Athen, wie Xenophon verdeutlichte: „So tat gerade er stets alles
in voller Öffentlichkeit. Am frühen Morgen ging er nämlich nach den
Säulenhallen und Turnschulen, und wenn der Markt sich füllte, war er dort zu
sehen, und auch den Rest des Tages war er immer dort, wo er mit den meisten
Menschen zusammen sein konnte. Und er sprach meistens, und wer nur wollte,
konnte ihm zuhören.“[23] Die satirische Lesart dazu gab Aristophanes in seiner
Komödie Die Wolken, wo Sokrates Hauptfigur ist und vom Chor so angesprochen
wird:
„Du aber, du
Priester des kniffligen Worts, verkünde uns jetzt dein Begehren!
Denn keinem sonst
willfahrn wir so gern von allen Erhabenheitsschwätzern
Wie dem Prodikos:
ihm seiner Weisheit zu lieb, seiner Einsicht; und außer ihm dir noch,
Weil du stolz in
den Gassen herumflanierst und die Augen rundum lässest schweifen,
Stets barfuß und
ohne Empfindlichkeit und im Glauben an uns voller Dünkel.“[24]
Schon in dieser 423 v. Chr. aufgeführten Komödie wurde
Sokrates Atheismus und Verblendung der Jugend vorgehalten. Seine
Gesprächspartner in den Gassen Athens und auf der Agora gehörten beiden
Geschlechtern und nahezu allen Altersgruppen, Metiers und gesellschaftlichen
Rängen an, die in der Attischen Demokratie vertreten waren.
Die Schule von Athen von Raffael, Sokrates im Bild: Hintere
Reihe, linke Seite, der nach links gewandte Mann in der braunen Kleidung mit
den Händen gestikulierend
Unter Sokrates’ Schülern im engeren Sinn waren einige, die
später selbst in Geschichte und Geistesgeschichte eine Rolle spielten. Hierzu
zählen neben Platon, Xenophon und Alkibiades, auch Euklid von Megara,
Antisthenes, Aristipp, Aischines und Phaidon.[25] Über den Charakter des
Sokratischen Gesprächs ließ Platon den Alkibiades sagen:
„… wenn einer des
Sokrates Reden anhören will, so werden sie ihm anfangs ganz lächerlich
vorkommen, in solche Worte und Redensarten sind sie äußerlich eingehüllt, wie
in das Fell eines frechen Satyrs.
Denn von Lasteseln
spricht er, von Schmieden, Schustern und Gerbern, und scheint immer auf
dieselbe Art nur dasselbe zu sagen, so daß jeder unerfahrene und unverständige
Mensch über seine Reden spotten muß. Wenn sie aber einer geöffnet sieht und
inwendig hineintritt: So wird er zuerst finden, daß diese Reden allein inwendig
Vernunft haben, und dann dass sie ganz göttlich sind und die schönsten
Götterbilder von Tugend in sich enthalten und auf das meiste von dem oder
vielmehr auf alles abzwecken, was dem, der gut und edel werden will, zu
untersuchen gebührt.“[26]
Auch wenn vor allem Sokrates’ Schüler sein Fragen
anscheinend so auffassen mochten, stieß seine Gesprächsführung bei anderen auf
Unverständnis und Unmut:
„Sokrates, der
Lehrer, tritt regelmäßig als Schüler auf. Nicht er will andere belehren,
sondern von ihnen belehrt werden. Er ist der Unwissende, seine Philosophie
tritt auf in der Gestalt des Nichtwissens. Umgekehrt bringt er seine
Gesprächspartner in die Position des Wissenden. Das schmeichelt den meisten und
provoziert sie, ihr vermeintliches Wissen auszubreiten. Erst im konsequenten
Nachfragen stellt sich heraus, dass sie selbst die Unwissenden sind.“[27]
Engagierter Polisbürger
Schon lange vor der Uraufführung der Wolken muss Sokrates
eine prominente Figur im Athener öffentlichen Leben gewesen sein, denn
andernfalls hätte Aristophanes ihn kaum auf die genannte Art erfolgreich in
Szene setzen können. Auch eine nicht zu datierende Befragung des Orakels in
Delphi durch den Jugendfreund Chairephon setzte eine weit über Athen
hinausreichende Bekanntheit des Sokrates voraus.
In Platons Apologie schildert Sokrates den Vorgang: „Er
(Chairephon) fragte also, ob es jemanden gäbe, der weiser wäre als ich. Da sagte
Pythia, dass es keinen gäbe.“ Einen Zeugen dafür benannte Sokrates in dem
Bruder des verstorbenen Jugendfreunds.[28] Nach Xenophons Version lautete die
Orakelauskunft, dass niemand freier oder gerechter oder besonnener sei als
Sokrates. Aus diesem Orakelspruch leitete Sokrates, dem sein Nichtwissen vor
Augen stand, Platon zufolge den Auftrag ab, das Wissen seiner Mitmenschen zu
prüfen, um sich dessen zu vergewissern, was die Gottheit gemeint hatte.
Die Historizität der Orakelbefragung wurde allerdings schon
in der Antike bestritten[29] und wird auch von manchen modernen Forschern
verneint. Diese halten Chairephons Frage in Delphi für eine literarische
Fiktion aus dem Schülerkreis des Sokrates. Sie machen unter anderem geltend,
Chairephon habe zu einem Zeitpunkt, als Sokrates noch nicht berühmt war, keinen
Anlass gehabt, dem Orakel eine solche Frage zu stellen.[30] Die Befürworter der
Historizität meinen, Platon habe keinen Grund gehabt, eine so detaillierte
Geschichte zu erfinden und Sokrates in den Mund zu legen. Hätte dann ein Gegner
sie als Fiktion entlarvt, was damals leicht möglich gewesen wäre, so hätte dies
die Glaubwürdigkeit von Platons gesamter Darstellung der Verteidigungsrede des
Sokrates vor Gericht erschüttert.[31]
Büste des Perikles, römische Kopie nach griechischem
Original, Vatikanische Museen
Im Gegensatz zu den Sophisten ließ sich Sokrates nicht für
seine Lehrtätigkeit bezahlen. Er bezeichnete sich bewusst als Philosoph
(philos: Freund; sophia: Weisheit). Dieses Philosophieren, das oft mitten im
geschäftigen Treiben Athens stattfand, könnte vielleicht auch als Antwort auf
die Frage dienen, wie Athen sich als „Schule von Hellas“ behaupten und die
individuelle Entfaltung der jeweiligen Fähigkeiten und Tugenden der Bürger
fördern konnte.[32]
Insbesondere ambitionierte Nachwuchspolitiker prüfte
Sokrates mittels seiner Frage-Methodik gerne, um ihnen zu verdeutlichen, wie
weit sie noch davon entfernt waren, die Belange der Polis kompetent vertreten
zu können. Dies tat er nach dem Zeugnis Xenophons in wohlwollender Absicht auch
bei Platons Bruder Glaukon, der sich weder in den Staatsfinanzen noch bei der
Einschätzung militärischer Kräfteverhältnisse noch in Angelegenheiten der
inneren Sicherheit Athens als sattelfest erwies. Sokrates folgerte: „Sei
vorsichtig Glaukon, dein Streben nach Ruhm könnte sonst ins Gegenteil
umschlagen! Merkst du nicht wie leichtsinnig es ist, etwas zu tun oder zu
reden, wovon man nichts versteht? […] Wenn du im Staate Hochachtung und Ruhm
genießen möchtest, dann erarbeite dir zuallererst die Kenntnisse, welche du für
die Aufgaben brauchst, die du lösen willst!“[33] Auf Dauer machte sich Sokrates
mit seinen verbalen Untersuchungen, dem vielfältigen Infragestellen, Zweifeln
und Nachforschen sowohl Freunde als auch Feinde: Freunde, die seine Philosophie
als Schlüssel zur eigenen und gemeinschaftlichen Wohlfahrt und Weisheit
ansahen, und Feinde, die sein Wirken als Gotteslästerung und
gemeinschaftsschädigend einschätzten.
Gelegentlich verstand sich Sokrates auch auf konkrete
Politikberatung. So berichtete Xenophon in seinen Erinnerungen über einen
Dialog zwischen Sokrates und Perikles, dem gleichnamigen Sohn des 429 v. Chr.
verstorbenen Staatsmannes Perikles, in dem es um Möglichkeiten ging, Athens im
Verlauf des Peloponnesischen Krieges geschwundene äußere Machtstellung in
Griechenland zurückzugewinnen. Nach einer ganzen Reihe allgemeiner Erwägungen
entwickelte Sokrates dem als fähigen Feldherrn eingeschätzten Perikles zuletzt
den Vorschlag, das in Richtung Böotien Attika vorgelagerte Gebirge militärisch
zu besetzen. Den ihm in der Sache Zustimmenden ermunterte er: „Wenn dir der
Plan gefällt, so führe ihn aus! Alle Erfolge, die du damit erringst, werden dir
Ruhm und der Stadt Vorteile bringen; gelingt dir aber etwas dabei nicht, so
wirkt es sich für die Allgemeinheit nicht schädlich aus und macht auch dir
selber keine Schande.“[34]
416 v. Chr. erschien Sokrates als Ehrengast auf dem
berühmten Symposion, das anlässlich des Tragödiensieges des jungen Agathon
stattfand und an dem in der platonischen Überlieferung auch Aristophanes und
Alkibiades in wichtiger Rolle teilnahmen. Das nächste biographisch datierbare
Ereignis fand zehn Jahre später statt und betraf Sokrates’ Verwicklung in die
Reaktion der Athener auf die Seeschlacht bei den Arginusen, wo die Bergung
Schiffbrüchiger unter Sturm fehlgeschlagen war. Als Gerichtshof in dem Prozess
gegen die Strategen, die die Militäroperation geleitet hatten, fungierte die
Volksversammlung. Zu dem geschäftsführenden Ausschuss des Rates der 500, den 50
Prytanen, gehörte zu diesem Zeitpunkt auch Sokrates. Zunächst schien es, als
könnten die Strategen ihre Unschuld nachweisen und freigesprochen werden. Am
zweiten Verhandlungstag aber änderte sich die Stimmung, und es kam zu der
Forderung, die Strategen gemeinsam schuldig zu sprechen. Die Prytanen wollten
den Antrag für ungesetzlich erklären, denn nur Einzelverfahren waren zulässig.
Da sich nun aber das Volk im Vollgefühl seiner Souveränität gar nichts
untersagen lassen wollte und den Prytanen die Mitverurteilung angedroht wurde,
gaben alle bis auf Sokrates nach.
Eine ganz ähnliche Haltung bewies Sokrates nach Platons
Zeugnis noch einmal 404/403 v. Chr. unter der Willkürherrschaft der Dreißig,
als er den Befehl der Oligarchen verweigerte, mit vier anderen gemeinsam die
Verhaftung eines für unschuldig erachteten Gegners der Herrschenden
durchzuführen. Er ging stattdessen einfach nach Hause, wohl wissend, dass es
sein Leben kosten könnte: „Damals bewies ich wahrlich wieder nicht durch Worte,
sondern durch die Tat, daß mich der Tod, wenn es nicht zu grob klingt, auch
nicht so viel kümmert, daß mir aber alles daran liegt, nichts Unrechtes und
Unfrommes zu tun.“[35]
Eine deutliche Bevorzugung eines bestimmten Verfassungstyps
oder die Ablehnung von Organisationsstrukturen der Attischen Demokratie, die
seinen Wirkungsrahmen bildete, ist bei Sokrates – anders als bei Platon – nicht
erkennbar. Martens sieht in Sokrates eher einen Förderer der Demokratie: „Mit
seiner Forderung nach kritischer Wahrheitssuche und Orientierung an der
Gerechtigkeit kann Sokrates als ein Begründer der Demokratie gelten. Dies
schließt eine Kritik an bestimmten demokratischen Praktiken nach ihren
Kriterien nicht aus. Dabei ist allerdings Sokrates’ Kritik in Platons Staat (8.
Buch) nicht unbesehen dem historischen Sokrates selber zuzuschreiben, sondern
man muß sie als Platons Auffassung verstehen. Allerdings hat auch Sokrates das
Prinzip der Sachentscheidung über das der Mehrheitsentscheidung gestellt
(Laches 184e), ein bis heute nicht überwundener Konflikt jeder Demokratie.“[36]
Ihm kam es vor allem darauf an, ein jeder Regierungsform übergeordnetes Recht
zu wahren und darin seinen Mitbürgern Vorbild zu sein. Klaus Döring schreibt
dazu: „Was den Umgang mit den jeweils Regierenden und den Institutionen der
Polis anbetraf, plädierte er für Loyalität, solange man nicht gezwungen werde,
Unrecht zu tun, also genau so zu verfahren, wie er selbst es machte. Wie jeder
wußte, hatte er selbst einerseits seine Bürgerpflichten peinlich genau erfüllt,
sich andererseits aber auch in prekären Situationen nicht davon abbringen
lassen, nie etwas anderes zu tun als das, was sich ihm nach gewissenhafter
Prüfung als das Gerechte erwies.“[37]
Prozess und Tod
Für den Prozess gegen Sokrates kommt ein vielfältiges
Motivgeflecht in Frage. Anklagen wegen Gottlosigkeit, sogenannte
Asebie-Prozesse, waren bereits vor Ausbruch des Peloponnesischen Krieges
betrieben worden. Damals hatten sie Persönlichkeiten im Umfeld des leitenden
Staatsmannes Perikles gegolten, der die Entwicklung der Attischen Demokratie
vorangetrieben hatte und repräsentierte. So waren in den 430er Jahren v. Chr.
Perikles’ Gattin Aspasia, der mit der Ausgestaltung der Akropolis beauftragte
Phidias und der Philosoph Anaxagoras unter Asebie-Anklage gestellt worden.[38]
Aristophanes hatte Sokrates in seiner Komödie Die Wolken
nicht nur als vermeintlichen Sophisten karikiert, sondern seinen Umgang mit
Begriffen auch als gefährliche Wortverdreherei kritisiert.[39] Zusätzliche
Ressentiments könnte Sokrates durch das mitbürger- und demokratiefeindliche
Verhalten zweier seiner Schüler auf sich gezogen haben: Alkibiades hatte
während und nach der Sizilischen Expedition wiederholt die Seiten gewechselt
und Kritias gehörte als Anführer zu jenen Dreißig, die 404/403 v. Chr. mit massiver
Unterstützung Spartas eine oligarchische Gewaltherrschaft errichtet hatten. Die
Fehlentwicklung, die Kritias und Alkibiades schließlich genommen haben, ist
jedoch nach Xenophon nicht wegen, sondern trotz des Umgangs mit Sokrates
eingetreten. Er zog daraus die Schlussfolgerung, dass jede erzieherische
Einwirkung eine Sympathiebeziehung voraussetze: „Kritias und Alkibiades traten
aber nicht mit Sokrates in Verbindung, weil er ihnen sympathisch war, sondern
weil sie es sich von vornherein zum Ziel gesetzt hatten, an die Spitze des
Staates zu treten …“ Beide hätten, nachdem sie auf der Grundlage Sokratischer
Gesprächsführung gegenüber Politikern einige Überheblichkeit entwickelt hatten,
den Kontakt zu Sokrates gemieden, um sich nicht von ihm ihrer Fehler überführen
zu lassen. Von den übrigen Sokrates-Schülern sei keiner auf eine schlechte Bahn
geraten, betonte Xenophon.[40]
Von dem Prozess des Sokrates 399 v. Chr. berichten – zum
Teil nicht übereinstimmend – sowohl Platon als auch Xenophon. Beide Autoren lassen
Sokrates sich im Sinne ihrer jeweils eigenen Ziele äußern: „Xenophon geht es
darum, Sokrates’ konventionelle Frömmigkeit und Tugend zu betonen, und Platons
Ziel ist es, ihn als ein Muster des philosophischen Lebens zu zeigen.“[41]
Xenophon und Platon waren allerdings bei Sokrates' Tod nicht selbst anwesend.
Allerdings wird die Darstellung Platons, der als Prozessbeobachter die Beiträge
des Sokrates in der Apologie ausführlich wiedergegeben hat, überwiegend als die
authentischere angesehen. Hauptsächlich um Prozess und Tod des Sokrates geht es
auch in Platons Dialogen Kriton und Phaidon.
Sokrates agierte vor Gericht demnach ganz so, wie man ihn im
öffentlichen Leben Athens schon über Jahrzehnte kannte: als peinlich
Untersuchender, Nachfragender und die Forschungsergebnisse schonungslos
Offenbarender. Den ersten und mit Abstand längsten Beitrag stellte seine
Rechtfertigung gegenüber den Anklagen dar. Auf den Vorwurf, er verderbe die
Jugend, reagierte er mit einer gründlichen Bloßstellung des Anklägers Meletos,
in die auch die Geschworenen und schließlich alle Bürger Athens von ihm
verwickelt wurden, als er den Meletos mit der Frage in die Enge trieb, wer denn
nun seiner Vorstellung nach für die Besserung der Jugend sorge, und dann sein
Fazit zog: „Du aber, Meletos, beweist hinlänglich, dass du dir noch niemals
Gedanken um die Jugend gemacht hast, und sichtbar stellst du deine
Gleichgültigkeit zur Schau, dass du dich um nichts von den Dingen bekümmert
hast, derentwegen du mich vor das Gericht bringst.“[42]
Auch die Anklage wegen Gottlosigkeit wies er zurück. Er
gehorche stets seinem Daimonion, das er als göttliche Stimme vorstellte, die
ihn gelegentlich vor bestimmten Handlungen warne. Den Geschworenen legte er
dar, dass er sich keinesfalls darauf einlassen werde, freizukommen mit der
Auflage, sein öffentliches Philosophieren einzustellen: „Wenn ihr mich also auf
eine so abgefasste Bedingung freilassen wolltet, so würde ich antworten: ich
schätze euch, Männer Athens, und liebe euch, gehorchen aber werde ich mehr dem
Gotte als euch, und solange ich atme und Kraft habe, werde ich nicht ablassen
zu philosophieren und euch zu befeuern …“[43]
In der Rolle des Angeklagten präsentierte er sich als
Verteidiger von Recht und Gesetzlichkeit, indem er es ablehnte, die Geschworenen
durch Mitleidsappelle und Bitten zu beeinflussen: „Denn nicht dazu nimmt der
Richter seinen Sitz ein, das Recht nach Wohlwollen zu verschenken, sondern um
das Urteil zu finden, und er hat geschworen – nicht gefällig zu sein, wenn er
gerade will, sondern – Recht zu sprechen nach den Gesetzen.“[44]
Mit knapper Stimmenmehrheit (281 von 501 Stimmen) wurde er
von einem der zahlreichen Gerichtshöfe der Attischen Demokratie für schuldig
befunden. Nach damaligem Prozessverfahren durfte Sokrates nach der
Schuldigsprechung eine Strafe für sich selbst vorschlagen. In seiner zweiten
Rede bestand Sokrates darauf, seinen Mitbürgern durch die praktische
philosophische Unterweisung nur Gutes getan zu haben und dafür nicht etwa die
beantragte Todesstrafe, sondern die Speisung im Prytaneion zu verdienen, wie
sie Olympiasieger erhielten. Angesichts des Schuldspruchs erwog er dann
verschiedene mögliche Strategien, hielt aber letztlich allenfalls eine
Geldstrafe für akzeptabel. Hiernach verurteilten ihn die Geschworenen nun mit
einer Mehrheit, die noch einmal um 80 auf 361 Stimmen anwuchs, zum Tode.[45]
In dem ihm zustehenden Schlusswort betonte Sokrates noch
einmal die Ungerechtigkeit der Verurteilung und beschuldigte die Ankläger der
Bosheit, nahm das Urteil aber ausdrücklich an und äußerte nach Platons
Überlieferung: „Vielleicht musste dies alles so kommen, und ich glaube, es ist
die rechte Fügung.“[46] Die unter den Geschworenen, die ihn hatten freisprechen
wollen, suchte er mit Ausführungen über die wenig schrecklichen Folgen des
Todes zu beruhigen und bat sie, für die Aufklärung seiner Söhne auf die Weise
zu sorgen, die er selbst den Athenern gegenüber praktiziert hatte: „Aber schon
ist es Zeit, dass wir gehen – ich um zu sterben, ihr um zu leben: wer aber von
uns den besseren Weg beschreitet, das weiß niemand, es sei denn der Gott.“[47]
Jacques-Louis Davids Der Tod des Sokrates (1787)
Darauf beharrte Sokrates auch den Freunden gegenüber, die
ihn im Gefängnis besuchten und zur Flucht überreden wollten. Gelegenheit dazu
ergab sich dadurch, dass die Hinrichtung, die normalerweise zeitnah zur
Verurteilung geschah, in diesem Fall aufgeschoben werden musste. Während der
jährlichen Gesandtschaft zur heiligen Insel Delos, die zu dieser Zeit
stattfand, durften aus Gründen ritueller Reinheit keine Hinrichtungen
vorgenommen werden.[48]
An Sokrates’ letztem Tag versammelten sich die Freunde,
unter denen Platon krankheitshalber fehlte, im Gefängnis.[49] Dort trafen sie
Xanthippe, die Frau des Sokrates, mit den drei Söhnen an. Zwei der Söhne waren
noch im Kindesalter, somit muss Xanthippe weit jünger gewesen sein als ihr
Mann. Sokrates ließ die laut wehklagende Xanthippe wegführen, um sich im
Gespräch mit den Freunden auf den Tod vorzubereiten. Seine Weigerung zu fliehen
begründete er mit dem Respekt vor den Gesetzen. Würden Urteile nicht befolgt,
verlören Gesetze überhaupt ihre Kraft.[50] Schlechte Gesetze müsse man ändern,
aber nicht mutwillig übertreten. Das Recht der freien Rede in der
Volksversammlung biete die Chance, von Verbesserungsvorschlägen zu überzeugen;
und notfalls könne, wer das vorziehe, auch noch ins Exil gehen. Den schließlich
gereichten Schierlingsbecher leerte Sokrates anscheinend vollständig gefasst.
In seinen letzten Worten bat er darum, dem Gott der Heilkunst Asklepios einen
Hahn zu opfern. Der Anlass dieser Bitte ist nicht überliefert, ihr Sinn ist in
der Forschung umstritten. Alexander Demandt meint, Sokrates habe damit
ausdrücken wollen, er sei nun vom Leben geheilt, der Tod sei die große
Gesundheit.[51]
Grundzüge sokratischer Philosophie
Büste Platons (römische Kopie des griechischen
Platonporträts des Silanion, Glyptothek München)
Was bliebe von dem Philosophen Sokrates ohne die Werke
Platons, fragt Figal[52] und antwortet: eine interessante Figur des Athener
Lebens im fünften Jahrhundert, kaum mehr; nachrangig vielleicht gegenüber
Anaxagoras, bestimmt gegenüber Parmenides und Heraklit. Platons zentrale
Stellung als Quelle Sokratischen Denkens birgt das Problem einer Abgrenzung
zwischen beider Vorstellungswelten, denn Platon ist in seinen Werken zugleich
als eigenständiger Philosoph vertreten. In der Forschung besteht eine
weitgehende Übereinstimmung darüber, dass die frühen platonischen Dialoge – die
Apologie des Sokrates, Charmides, Kriton, Euthyphron, Gorgias, Hippias minor,
Ion, Laches und Protagoras – den Einfluss der sokratischen Denkweise deutlicher
zeigen und dass die Eigenständigkeit der Philosophie Platons in seinen späteren
Werken ausgeprägter hervortritt.[53]
Zu den Kernbereichen Sokratischen Philosophierens gehören
neben dem auf Dialoge gegründeten Erkenntnisstreben die näherungsweise
Bestimmung des Guten als Handlungsrichtschnur und das Ringen um
Selbsterkenntnis als wesentliche Voraussetzung eines gelingenden Daseins. Das
Bild des in den Straßen Athens von morgens bis abends Gespräche führenden
Sokrates ist zu erweitern um Phasen völliger gedanklicher Versunkenheit, mit
denen Sokrates seinen Mitbürgern ebenfalls Eindruck machte. Für diesen
Wesenszug steht als Extrem Alkibiades’ Schilderung eines Erlebnisses in
Potideia, die in Platons Symposion enthalten ist:
„Damals auf dem
Feldzug […] stand er, in irgendeinen Gedanken vertieft, vom Morgen an auf
demselben Fleck und überlegte, und als es ihm nicht gelingen wollte, gab er
nicht nach, sondern blieb nachsinnend stehen. Inzwischen war es Mittag
geworden; da bemerkten es die Leute, und verwundert erzählte es einer dem
anderen, dass Sokrates schon seit dem Morgen dastehe und über etwas nachdenke.
Schließlich, als es schon Abend war, trugen einige von den Ioniern, als sie
gegessen hatten, ihre Schlafpolster hinaus; so schliefen sie in der Kühle und
konnten gleichzeitig beobachten, ob er auch in der Nacht dort stehen bleibe.
Und wirklich, er blieb stehen, bis es Morgen wurde und die Sonne aufging! Dann
verrichtete er sein Gebet an die Sonne und ging weg.“
Eros, attisch-rotfigurige Bobine des Malers von London D 12,
etwa 470/50 v. Chr., Louvre
Die Sokratische Gesprächsführung wiederum stand in
deutlichem Zusammenhang mit erotischer Anziehung.[54] Der Eros als eine der
Formen platonischer Liebe, im Symposion vorgestellt als großes göttliches
Wesen, ist der Mittler zwischen Sterblichen und Unsterblichen. Günter Figal
interpretiert: „Der Name des Eros steht für die den Bereich des Menschlichen
übersteigende Bewegung der Philosophie. […] Sokrates kann am besten
philosophieren, wenn er durch das ganz und gar unsublimierte Schöne eingenommen
ist. Das Sokratische Gespräch vollzieht sich nicht nach einmal gelungenem
Aufstieg auf jener unsinnlichen Höhe, wo nur noch die Ideen als das Schöne
erscheinen; vielmehr vollzieht es in sich immer wieder die Bewegung vom
menschlichen zum übermenschlichen Schönen und bindet das übermenschliche Schöne
dialogisch ans menschliche zurück.“[55]
Sinn und Methode Sokratischer Dialoge
→ Hauptartikel: Sokratische Methode
„Ich weiß, dass ich nicht weiß“, lautet eine bekannte, aber
stark verkürzende Formel, mit der verdeutlicht wird, was Sokrates seinen
Mitbürgern voraushatte. Für Figal ist die Einsicht des Sokrates in sein
philosophisches Nichtwissen (Aporie) zugleich der Schlüssel zu Gegenstand und
Methode Sokratischer Philosophie: „Im Sokratischen Reden und Denken liegt erzwungener
Verzicht, ein Verzicht, ohne den es keine Sokratische Philosophie gäbe. Diese
entsteht nur, weil Sokrates im Bereich des Wissens nicht weiterkommt und die
Flucht in den Dialog antritt. Sokratische Philosophie ist in ihrem Wesen
dialogisch geworden, weil das forschende Entdecken unmöglich schien.“[56]
Angeregt durch den Philosophen Anaxagoras hat Sokrates sich ursprünglich
besonders für die Naturforschung interessiert und sich wie dieser mit der
Ursachenfrage auseinandergesetzt. Er sei allerdings verunsichert worden, wie
Platon im Dialog Phaidon ebenfalls überliefert, weil es keine eindeutigen
Antworten gab. Die menschliche Vernunft hingegen, durch die alles, was wir über
die Natur wissen, vermittelt werde, konnte Anaxagoras nicht erklären. Daher habe
Sokrates sich von der Suche nach Ursachen ab- und dem auf Sprache und Denken
beruhenden Verstehen zugewandt, schlussfolgert Figal.[57]
Ziel des Sokratischen Dialogs in der von Platon
überlieferten Form ist die gemeinsame Einsicht in einen Sachverhalt auf der
Basis von Frage und Antwort. Weitschweifige Reden über den
Untersuchungsgegenstand akzeptierte Sokrates danach nicht, sondern bestand auf
einer direkten Beantwortung seiner Frage: „Im sokratischen Gespräch hat die
sokratische Frage den Vorrang. Die Frage enthält zwei Momente: Sie ist Ausdruck
des Nichtwissens des Fragenden und Appell an den Befragten, zu antworten oder
sein eigenes Nichtwissen einzugestehen. Die Antwort provoziert die nächste
Frage, und auf diese Weise kommt die dialogische Untersuchung in Gang.“[58]
Durch Fragen also – und nicht durch Belehren des Gesprächspartners, wie es die
Sophisten gegenüber ihren Schülern praktizierten – sollte Einsichtsfähigkeit
geweckt werden, eine Methode, die Sokrates, so Platon, als Maieutik bezeichnet
hat: eine Art „geistige Geburtshilfe“. Denn die Änderung der bisherigen
Einstellung als Ergebnis der geistigen Auseinandersetzung hing davon ab, dass
die Einsicht selbst erlangt bzw. „geboren“ wurde.
Der Erkenntnisfortschritt in den Sokratischen Dialogen
ergibt sich in charakteristischer Abstufung: Im ersten Schritt suchte Sokrates
dem jeweiligen Diskussionspartner klarzumachen, dass seine Lebens- und
Denkungsart unzureichend seien. Um seinen Mitbürgern zu zeigen, wie wenig sie
über ihre eigenen Ansichten und Einstellungen bisher nachgedacht hatten,
konfrontierte er sie anschließend mit den unsinnigen bzw. unangenehmen
Konsequenzen, die sich daraus ergeben würden. Der platonischen Apologie nach
hat das Orakel von Delphi Sokrates die Prüfung des Wissens seiner Mitmenschen
auferlegt. Pleger zufolge umfasst der sokratische Dialog also stets die drei
Momente der Prüfung des anderen, der Selbstprüfung und der Sachprüfung. „Bei
dem von Sokrates begonnenen philosophischen Dialog handelt es sich um ein
zetetisches, das heißt untersuchendes Verfahren. Die Widerlegung, der Elenchos
(ἐλεγχος), geschieht unvermeidlich nebenher. Sie ist nicht das Motiv.“[59]
Nach dieser Verunsicherung forderte Sokrates seinen
Gesprächspartner zum Umdenken auf. Er lenkte das Gespräch unter Anknüpfung an
den Erörterungsgegenstand – sei es z. B. Tapferkeit, Besonnenheit,
Gerechtigkeit oder Tugend überhaupt – hin auf die Frageebene, was das
Wesentliche am Menschen sei. Sofern die Gesprächspartner den Dialog nicht
bereits vorher abgebrochen hatten, kamen sie zu der Erkenntnis, dass die Seele
als das eigentliche Selbst des Menschen so gut wie nur möglich sein müsse. Dies
hänge davon ab, in welchem Maße der Mensch das sittlich Gute tue. Was das Gute
ist, gilt es also herauszufinden.[60]
Für die Dialogpartner zeigte Platon im Verlauf der
Untersuchung regelmäßig, dass Sokrates, der doch vorgab nicht zu wissen,
alsbald deutlich mehr Wissen zu erkennen gab, als sie selbst besaßen. Anfangs
oft in der Rolle des scheinbar wissbegierigen Schülers, der seinem Gegenüber
die Lehrerrolle antrug, erwies er sich zuletzt klar überlegen.
Seine Ausgangsposition wurde dadurch häufig als
unglaubwürdig und unaufrichtig wahrgenommen, als Ausdruck von Ironie im Sinne
von Verstellung zum Zweck der Irreführung. Döring hält es gleichwohl für
ungewiss, dass Sokrates mit seinem Nichtwissen im Sinne der gezielten
Tiefstapelei ironisch zu spielen begann. Er unterstellt wie Figal die
Ernsthaftigkeit von dessen Bekundung im Grundsatz.[61] Doch auch wenn es
Sokrates um eine öffentliche Demontage seiner Gesprächspartner gar nicht ging,
musste sein Wirken viele der von ihm Angesprochenen gegen ihn aufbringen, zumal
auch Sokrates’ Schüler sich in dieser Form des Dialogs übten. Die Vorstellung
einer einheitlichen Sokratischen Methode weist Martens jedoch als ein auf
Platons Schüler Aristoteles zurückgehendes philosophiegeschichtliches Dogma
zurück, das besagt, Sokrates habe lediglich „prüfende“ Gespräche geführt, aber
keine „eristischen“ Streitgespräche oder „didaktischen“ Lehrgespräche.
Dagegen trifft laut Martens die Aussage Xenophons zu, dass
Sokrates die Gesprächsführung auf die jeweiligen Gesprächspartner abstimmte, im
Falle der Sophisten also auf die Widerlegung ihres vorgeblichen Wissens
(Sokratische Elenktik), im Falle seines alten Freundes Kriton aber auf
ernsthafte Wahrheitssuche.[62]
Diese vereinfachte Skizze Sokratischer Dialoge ist um ein
weiteres charakteristisches Moment zu ergänzen. In der Überlieferung Platons
leitet der Gang der Untersuchung oft nicht in gerader Linie von der Widerlegung
übernommener Meinungen über zu einem neuen Wissenshorizont. In Platons Dialog
Theaitetos werden beispielsweise drei Begriffsbestimmungen von Wissen
besprochen und als unzulänglich befunden; die Frage, was Wissen ist, bleibt
offen. Mitunter sind es nicht nur die Gesprächspartner, die in Ratlosigkeit
verfallen, sondern, weil er selbst keine abschließende Lösung anzubieten hat,
auch Sokrates. So zeigt sich nicht selten „Verwirrtsein, Schwanken, Staunen,
Aporie, Abbruch des Gesprächs“.[63]
Die Frage nach der Gerechtigkeit im Sokratischen Dialog
Ein besonders breites Untersuchungsspektrum entfalten sowohl
Platon wie auch Xenophon in ihren der Gerechtigkeitsfrage gewidmeten
Sokratischen Dialogen. Dabei wird Gerechtigkeit nicht nur als persönliche Tugend
untersucht, sondern es werden auch soziale und politische Dimensionen des
Themas angesprochen.
Das Beispiel Platons
Im sogenannten Thrasymachos-Dialog, dem ersten Buch von
Platons Politeia, sind es nacheinander drei Partner, mit denen Sokrates der Frage
nachgeht, was gerecht bzw. was Gerechtigkeit sei. Das Gespräch findet im
Beisein zweier Brüder Platons, des Glaukon und des Adeimantos, im Hause des
reichen Syrakusaners Kephalos statt, der sich auf Einladung von Perikles im
Athener Hafen Piräus einen Wohnort gesucht hat.[64]
Nach einleitenden Bemerkungen über die relativen Vorzüge des
Alters soll der Hausherr Kephalos dem Sokrates Auskunft darüber geben, was er
an dem ihm vergönnten Reichtum am meisten schätze. Es sei die damit verbundene
Möglichkeit, niemandem etwas schuldig zu bleiben, antwortet Kephalos.[65] Damit
ist für Sokrates die Gerechtigkeitsfrage angesprochen, und er wirft das Problem
auf, ob es gerecht sei, einem Mitbürger, von dem man Waffen geliehen habe,
diese auch dann zurückzugeben, wenn der unterdessen wahnsinnig geworden sei.
Wohl kaum, meint Kephalos, der sich hiernach zurückzieht und seinem Sohn
Polemarchos die Gesprächsfortsetzung überlässt.
Unter Berufung auf den Dichter Simonides äußert Polemarchos,
es sei gerecht, jedem das ihm Schuldige zukommen zu lassen, zwar nicht dem
Wahnsinnigen Waffen, wohl aber Freunden Gutes und Feinden Übles.[66] Das setzt
voraus, wendet Sokrates ein, dass man Gutes und Übles zu unterscheiden weiß.
Bei Ärzten z. B. sei klar, worin sie Sachkenntnis benötigten, worin aber die
Gerechten? In Geldangelegenheiten, erwidert Polemarchos, kann sich damit aber
nicht behaupten. Mit dem Argument, dass ein wirklicher Sachkenner sich nicht
nur in der Sache selbst (dem rechten Umgang mit Geld), sondern auch in ihrem
Gegenteil (der Unterschlagung) auskennen müsse, stürzt Sokrates Polemarchos in
Verwirrung. Bei der Unterscheidung zwischen Freunden und Feinden sei zudem ein
Irrtum mangels Menschenkenntnis leicht möglich, ergänzt Sokrates; und vor allem
sei es doch nicht die Sache des Gerechten, überhaupt irgendjemandem zu schaden.
Mit dieser Negativauskunft kehrt die Untersuchung zu ihrem Ausgangspunkt
zurück. Sokrates fragt: „Da sich nun aber gezeigt hat, dass auch dieses nicht
die Gerechtigkeit ist noch das Gerechte, was soll denn einer sonst sagen, dass
es sei?“[67]
Nun schaltet sich aufbrausend der bisher nicht zu Wort
gekommene Sophist Thrasymachos ein, erklärt alles bisher Gesagte für leeres
Geschwätz, kritisiert, dass Sokrates nur fragt und widerlegt, statt eine klare
eigene Vorstellung zu entwickeln, und bietet gegen Geld an, dies nun
seinerseits zu tun. Mit Unterstützung der anderen Anwesenden nimmt Sokrates das
Anerbieten an und wendet gegen die Vorhaltungen des Thrasymachos lediglich
demütig ein, dass derjenige nicht mit Antworten vorpreschen könne, der nicht
wisse und auch nicht vorgebe zu wissen: „Also ist es ja weit billiger, dass du
redest, denn du behauptest ja, dass du es weißt und dass du es vortragen
kannst.“[68]
Thrasymachos bestimmt daraufhin das Gerechte als das dem
Stärkeren Zuträgliche und begründet dies mit der Gesetzgebung in jeder der
verschiedenen Regierungsformen, die eben entweder den Interessen von Tyrannen
oder denen von Aristokraten oder denen von Demokraten entspreche. Gerecht sei,
so bestätigt Thrasymachos die Nachfrage des Sokrates, auch der Gehorsam der
Regierten gegenüber den Regierenden.[69] Indem Sokrates sich die Fehlbarkeit
der Regierenden von Thrasymachos anerkennen lässt, gelingt es ihm, dessen
ganzes Konstrukt auszuhebeln; wenn die Regierenden sich in dem ihnen
Zuträglichen irren, führt auch der Gehorsam der Regierten nicht zur
Gerechtigkeit: „Kommt es nicht alsdann notwendig so heraus, dass es gerecht
ist, das Gegenteil von dem zu tun, was du sagst? Denn das den Stärkeren
Unzuträgliche wird dann den Schwächeren anbefohlen zu tun. – Ja beim Zeus, o
Sokrates, sprach Polemarchos, das ist ganz offenbar.“[70]
Thrasymachos sieht sich gleichwohl nicht überzeugt, sondern
durch die Art der Fragestellung überlistet, und beharrt auf seiner These. Am
Beispiel des Arztes zeigt ihm Sokrates jedoch, dass ein wahrer Sachwalter des
eigenen Metiers stets am Nutzen des anderen, hier des Kranken, und nicht am
eigenen orientiert ist: so folglich auch die fähigen Regierenden an dem für die
Regierten Zuträglichen.[71]
Nachdem Thrasymachos im Weiteren auch damit gescheitert ist
zu zeigen, dass der Gerechte zu wenig auf den eigenen Vorteil achtet, um im
Leben zu etwas zu kommen, während der die Ungerechtigkeit im großen Stil auf
die Spitze treibende Tyrann daraus höchstes Glück und Ansehen gewinnt – dass
also die Gerechtigkeit für Naivität und Einfalt stehe, die Ungerechtigkeit aber
für Klugheit[72] – leitet Sokrates über zur Betrachtung des Kräfteverhältnisses
zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Auch da, so ergibt sich schließlich
gegen die Ansicht des Thrasymachos, hat die Ungerechtigkeit einen schlechten
Stand: Ungerechte sind untereinander uneins und mit sich selbst zerfallen,
meint Sokrates, wie sollen sie da in Krieg oder Frieden ankommen gegen ein
Gemeinwesen, in dem die Eintracht der Gerechten herrscht? Schließlich aber ist
Gerechtigkeit für Sokrates auch die Voraussetzung des individuellen
Wohlbefindens, der Eudaimonie, denn sie habe für das Wohl der Seele die gleiche
Bedeutung wie die Augen für die Sehkraft und die Ohren für die
Hörfähigkeit.[73]
Thrasymachos stimmt dem Erörterungsergebnis zuletzt in allem
zu. Sokrates bedauert allerdings zum Schluss, dass auch er in der Frage, was
nun das Gerechte in seinem Wesen ausmache, über alle Verzweigungen des
Gesprächs hinweg zu keinem Ergebnis gelangt sei.[74]
Xenophons Dialogvariante
In dem von Xenophon überlieferten Dialog zu Gerechtigkeit
und Selbsterkenntnis bemüht Sokrates sich um Kontakt zu dem noch jungen
Euthydemos, den es auf die politische Bühne drängt. Bevor Euthydemos sich zum
Gespräch bereitfindet, hat er bereits wiederholt ironische Bemerkungen des
Sokrates über seine Unerfahrenheit und mangelnde Lernbereitschaft auf sich
gezogen. Als ihn Sokrates eines Tages direkt auf seine politischen Ambitionen
anspricht und auf Gerechtigkeit als Qualifikationsmerkmal verweist, bestätigt
Euthydemos, dass man ohne Sinn für Gerechtigkeit nicht einmal ein guter
Staatsbürger sein könne und dass er selbst davon nicht weniger besitze als
jeder andere.[75]
Daraufhin beginnt Sokrates, fährt Xenophon fort, ihn
ausführlich zur Unterscheidung von gerechten und ungerechten Handlungen zu
befragen. Dass ein Feldherr das Eigentum in einem ungerechten Feindstaat
plündern lässt und raubt, erscheint Euthydemos im Verlauf der Unterredung
ebenso gerecht, wie er überhaupt alles Feinden gegenüber als gerecht ansieht,
was gegenüber Freunden ungerecht wäre. Doch auch Freunden schuldet man z. B.
nicht in jeder Lage Aufrichtigkeit, wie sich am Beispiel des Feldherrn zeige,
der seinen entmutigten Truppen zur Stärkung der Kampfmoral fälschlich das
baldige Eintreffen von Bundesgenossen ankündigt. Dem bereits stark
verunsicherten Euthydemos legt Sokrates nun die Frage vor, ob eine absichtliche
oder eine unabsichtliche Falschaussage das größere Unrecht sei, wenn Freunde
dadurch Schaden nähmen. Euthymedos entscheidet sich für den absichtlichen
Betrug als das größere Unrecht, wird aber auch darin von Sokrates widerlegt;
denn wer in eigener Unkenntnis betrüge, sei ja des rechten Weges offenbar
unkundig und im Zweifel orientierungslos.[76] In dieser Lage sieht sich, so
Xenophon, nun auch Euthydemos: „Ach, bester Sokrates, bei allen Göttern, ich
habe allen Fleiß darauf gewandt, Philosophie zu studieren, weil ich des
Glaubens war, dadurch würde ich in allem ausgebildet, was ein Mann braucht, der
nach Höherem strebt. Jetzt nun muß ich erkennen, daß ich mit dem, was ich bisher
gelernt, nicht einmal imstande bin, darauf Antwort zu geben, was zu wissen
lebensnotwendig ist, und es gibt keinen anderen Weg, der mich weiterführte!
Kannst du dir vorstellen, wie mutlos ich bin?“[77]
Dieses Eingeständnis nimmt Sokrates zum Anlass, auf das
Orakel von Delphi zu verweisen und auf die Tempelinschrift: „Erkenne dich
selbst!“ Euthydemos, der Delphi bereits zweimal aufgesucht hat, bekennt, dass
ihn die Aufforderung nicht nachhaltig beschäftigt habe, weil er bereits
hinreichend über sich Bescheid zu wissen meinte. Da hakt Sokrates ein:
„Was ist deine
Ansicht: Wer kennt sich selber besser: der, der nur seinen Namen weiß, oder
der, der es macht wie die Käufer von Pferden? Die glauben nämlich, daß sie ein
zur Wahl stehendes Pferd erst dann kennen, wenn sie untersucht haben, ob es
folgsam oder störrisch, stark oder schwach, schnell oder langsam, ja überhaupt
in allem, was man von einem Pferde erwartet, brauchbar oder unbrauchbar ist.
Genauso erkennt erst der seine Stärke, der sich der Prüfung unterwarf,
inwieweit er den an Menschen herantretenden Aufgaben gerecht wird.“[78]
Dem stimmt Euthydemos zu; doch das genügt Sokrates nicht. Er
will darauf hinaus, dass Selbsterkenntnis größte Vorteile, Selbsttäuschung aber
schlimmste Nachteile mit sich bringe:
„Denn wer sich
selbst kennt, der weiß, was für ihn nützlich ist, und vermag zu unterscheiden,
was er kann und was nicht. Wer das betreibt, was er versteht, der erwirbt sich,
was er benötigt, und es geht ihm gut; andererseits hält er sich von dem fern,
was er nicht versteht, und so begeht er keine Fehler und bleibt vor Unheil
bewahrt.“[79]
Die richtige Selbsteinschätzung bilde auch die Basis für das
Ansehen, in dem man bei anderen stehe, und für erfolgreiches Zusammenwirken mit
Gleichgesinnten. Wer darüber nicht verfüge, gehe meist fehl und mache sich zum
Gespött.
„Auch in der
Politik siehst du ja, daß Staaten, die ihre Kraft falsch einschätzen und sich
mit mächtigeren Gegnern einlassen, entweder der Zerstörung oder der Versklavung
anheimfallen.“[80]
Nunmehr zeigt Xenophon Euthydemos als wissbegierigen
Schüler, der von Sokrates dazu angehalten wird, die Selbsterforschung damit
aufzunehmen, dass er sich um die Bestimmung des Guten in Abgrenzung vom
Schlechten kümmert. Darin sieht Euthydemos zunächst keine Schwierigkeit und
führt nacheinander Gesundheit, Weisheit und Glückseligkeit als Merkmale des
Guten an, muss aber jedes Mal die Relativierung durch Sokrates hinnehmen: „So
ist wohl, lieber Sokrates, das Glück das am wenigsten angefochtene Gut.“ –
„Sofern es nicht jemand, lieber Euthydemos, auf zweifelhaften Gütern
aufbaut.“[81] Als zweifelhafte Güter in Bezug auf das Glück vermittelt Sokrates
dem Euthydemos sodann Schönheit, Kraft, Reichtum, und öffentliches Ansehen.
Euthydemos gesteht sich ein: „Ja wahrhaftig, wenn ich auch mit dem Lob des
Glücks nicht recht habe, dann muß ich bekennen, daß ich nicht weiß, was man von
den Göttern erbitten soll.“[82]
Nun erst lenkt Sokrates das Gespräch auf des Euthydemos’
Hauptinteressengebiet: die angestrebte Führungsrolle als Politiker in einem
demokratischen Staatswesen. Was Euthydemos über das Wesen des Volkes (Demos)
sagen könne, will Sokrates wissen. Mit Armen und Reichen kenne er sich aus,
meint daraufhin Euthydemos, der zum Volk nur die Armen zählt. „Wen bezeichnest
du als reich, wen als arm?“, fragt Sokrates. „Wer nicht das Lebensnotwendige
besitzt, den nenne ich arm, den, dessen Besitz darüber hinausgeht, reich.“ –
„Hast du schon einmal die Beobachtung gemacht, daß manche, die nur wenig
besitzen, mit dem Wenigen zufrieden sind und sogar noch davon abgeben, während
andere an einem beträchtlichen Vermögen noch nicht genug haben?“[83]
Da fällt dem Euthydemos plötzlich ein, dass manche
Gewaltmenschen Unrecht begehen wie die Ärmsten der Armen, weil sie mit dem, was
ihnen gehört, nicht auskommen. Demnach, folgert Sokrates, müsse man die
Tyrannen zum Volk zählen, die Geringbemittelten aber, die mit ihrer Habe
umzugehen verstünden, zu den Reichen. Euthydemos beschließt den Dialog: „Meine
geringe Urteilskraft zwingt mich dazu, die Schlüssigkeit auch dieses Beweises
einzugestehen. Ich weiß nicht, vielleicht ist es das beste, ich sage gar nichts
mehr; ich bin doch nur in Gefahr, binnen kurzem mit meiner Weisheit am Ende zu sein.“[84]
Abschließend erwähnt Xenophon, dass viele von denen, die
Sokrates ähnlich zurechtgewiesen hatte, sich anschließend von ihm fernhielten,
nicht aber Euthydemos, der fortan meinte, nur in der Gesellschaft des Sokrates
ein tüchtiger Mann werden zu können.[85]
Annäherung an das Gute
Den unaufgebbaren Kern seines philosophischen Wirkens
entwickelte Sokrates den Geschworenen im Prozess laut Platons Apologie, indem
er jedem von ihnen für den Fall des Freispruchs bei einer künftigen Begegnung
Vorhaltungen ankündigte:
„Bester der
Männer, du, ein Bürger Athens, der größten und an Weisheit und Stärke
berühmtesten Stadt, du schämst dich nicht, dich um Schätze zu sorgen, um sie in
möglichst großer Menge zu besitzen, auch um Ruf und Geltung, dagegen um Einsicht
und Wahrheit und um deine Seele, daß sie so gut werde wie möglich, darum sorgst
und besinnst du dich nicht? Wenn aber einer von euch Einwendungen macht und
behauptet, er sorge sich doch darum, so werde ich nicht gleich von ihm ablassen
und weitergehen, sondern ihn fragen und erproben und ausforschen, und wenn er
mir die Tüchtigkeit nicht zu besitzen scheint, es aber behauptet, so schelte
ich ihn, dass er das Wertvollste am wenigsten achte, das Schlechtere aber
höher.“[86]
Nur Wissen um das Gute dient dem eigenen Besten und befähigt
dazu, Gutes zu tun. Denn, so folgerte Sokrates, niemand tut wissentlich Übles.
Sokrates bestritt, dass jemand gegen die eigene bessere Erkenntnis handeln
kann. Er verneinte damit die Möglichkeit der „Willensschwäche“, die später mit
dem von Aristoteles geprägten Fachausdruck Akrasia bezeichnet wurde. Diese
Behauptung gehörte in der Antike zu den bekanntesten Leitsätzen der Sokrates
zugeschriebenen Lehre.[87] Dabei handelt es sich zugleich um eines der
sogenannten Sokratischen Paradoxa, weil das mit der landläufigen
Lebenserfahrung nicht übereinzustimmen scheint. Paradox erscheint in diesem
Zusammenhang auch die Behauptung des Sokrates, nicht zu wissen.
Martens differenziert das Sokratische Nichtwissen. Demnach
ist es zunächst die Abwehr des sophistischen Wissens, auf die sich Sokrates’
Nichtwissen bezieht. Auch bei den Wissensprüfungen von Politikern, Handwerkern
und sonstigen Mitbürgern zeigt sich sein Nichtwissen als Abgrenzungswissen, als
„Ablehnung eines auf Konventionen beruhenden Wissens der Arete.“[88] In einer
dritten Variante handelt es sich um ein Noch-nicht-Wissen, das zu weiteren
Prüfungen anhält, und schließlich um die Abgrenzung von einem Evidenzwissen
über das gute Leben bzw. über die rechte Art zu leben. Demnach war Sokrates
davon überzeugt, dass man „mit Hilfe gemeinsamer vernünftiger Überlegung über
ein bloß konventionelles und sophistisches Scheinwissen hinaus wenigstens zu
vorläufig haltbaren Einsichten kommen könnte.“[89]
Nach Döring löst sich dieser scheinbare Widerspruch zwischen
Einsicht und Nichtwissen folgendermaßen auf: „Wenn Sokrates es für prinzipiell
unmöglich erklärt, daß ein Mensch ein Wissen davon erlange, was das Gute,
Fromme, Gerechte usw. sei, dann meint er ein allgemeingültiges und unfehlbares
Wissen, das unverrückbare und unanfechtbare Normen für das Handeln
bereitstellt. Ein solches Wissen ist dem Menschen nach seiner Auffassung
grundsätzlich versagt. Was der Mensch allein erreichen kann, ist ein partielles
und vorläufiges Wissen, das sich, mag es im Augenblick auch noch so gesichert
erscheinen, dennoch immer bewußt bleibt, daß es sich im Nachhinein als
revisionsbedürftig erweisen könnte.“[90] Sich um dieses unvollkommene Wissen zu
bemühen in der Hoffnung, dem vollendeten Guten möglichst nahe zu kommen, ist
demzufolge das Beste, was der Mensch für sich tun kann. Je weiter er darin
vorankomme, desto glücklicher werde er leben.
Figal interpretiert hingegen die Frage nach dem Guten als
über den Menschen hinausweisend. „In der Frage nach dem Guten liegt eigentlich
der Dienst für den delphischen Gott. Die Idee des Guten ist letztlich der
philosophische Sinn des delphischen Orakels.“[91]
Letzte Dinge
In seinem an den ihm gewogenen Teil der Geschworenen
gerichteten Schlusswort vor Gericht begründete Sokrates nach Platons Bericht
die Unerschrockenheit und Festigkeit, mit der er das Urteil hinnahm, unter
Hinweis auf sein Daimonion, das ihn zu keinem Zeitpunkt vor irgendeiner seiner
Handlungen im Zusammenhang mit dem Prozess gewarnt habe. Seine Äußerungen über
den bevorstehenden Tod drücken Zuversicht aus:
„Es muss wohl so
sein, daß es etwas Gutes ist, was mir zustieß, und unmöglich können wir richtig
vermuten, wenn wir glauben, das Sterben sei ein Übel. […] Laßt uns aber auch so
erwägen, wie groß die Hoffnung ist, daß es etwas Gutes sei. Eins von beiden ist
doch das Totsein: Entweder ist es ein Nichts-Sein, und keinerlei Empfindung
mehr haben wir nach dem Tode – oder es ist, wie die Sage geht, irgendeine
Versetzung und eine Auswanderung der Seele aus dem Orte hier an einen andern.
Und wenn es keinerlei Empfindung gibt, sondern einen Schlaf, wie wenn einer
schläft und kein Traumbild sieht, dann wäre der Tod ein wundervoller Gewinn
[…], denn dann erscheint die Ewigkeit doch um nichts länger als eine Nacht.
Wenn dagegen der Tod wie eine Auswanderung ist von hier an einen andern Ort und
wenn die Sage wahr ist, dass dort alle Gestorbenen insgesamt weilen, welches
Gut wäre dann größer als dies, ihr Richter? Denn wenn einer ins Reich des Hades
gelangt und, entledigt von diesen hier, die sich Richter nennen, dort die
Wahrhaft-Richtenden anträfe, die, wie die Sage berichtet, dort Recht sprechen,
Minos, Rhadamanthys und Aiakos und Triptolemos und alle andern Halbgötter, die
sich in ihrem Leben als gerecht bewährten, würde die Wanderung dorthin zu
verachten sein? Und gar mit Orpheus Umgang zu haben und mit Musaios und Hesiod
und Homer, um welchen Preis würde einer von euch das wohl erkaufen?“[92]
Nicht anders gab Sokrates sich den Freunden gegenüber, die
ihn an seinem letzten Tag im Gefängnis aufsuchten, laut Platons Dialog Phaidon.
Hier geht es um das Vertrauen in den philosophischen Logos „auch angesichts des
schlechterdings Unausdenkbaren“, so Figal; „und da die Extremsituation nur zum
Vorschein bringt, was auch sonst gilt, ist diese Frage die nach der
Vertrauenswürdigkeit des philosophischen Logos überhaupt. Es wird zur letzten
Herausforderung für Sokrates, sich für diese stark zu machen.“[93]
Die Frage nach dem, was mit der menschlichen Seele beim Tod
geschieht, wurde von Sokrates in seinen letzten Stunden ebenfalls erörtert.
Gegen ihre Sterblichkeit spräche, dass sie an das Leben gebunden sei, Leben und
Tod sich aber gegenseitig ausschlössen. Allerdings könne sie beim Herannahen
des Todes ebenso verschwinden wie zerstieben. Figal sieht darin die vor Gericht
von Sokrates eingenommene offene Perspektive auf den Tod bekräftigt und
schlussfolgert: „Philosophie hat keinen letzten Grund, in den sie, sich selber
begründend, zurückgehen kann. Sie erweist sich als abgründig, wenn man nach
letzten Begründungen fragt, und darum muß sie, dort, wo es um ihre eigene
Möglichkeit geht, auf ihre Weise rhetorisch sein: Ihr Logos muß als stärkster
vertreten werden, und das geschieht am besten mit der Überzeugungskraft eines
philosophischen Lebens – indem gezeigt wird, wie einer dem Logos vertraut und
sich auf das, was der Logos darstellen soll, einläßt.“[94]
Nachwirkung
Die beispielgebende philosophiegeschichtliche Folgewirkung
von Sokrates' Denken erstreckt sich auf zwei Hauptbereiche: die antike
Zivilisation und die neuzeitliche westliche Philosophie, die mit der
Renaissance begann.
Die „kleinen Sokratiker“ und die großen Schulen der Antike
Die schriftstellerische und philosophische Größe Platons
überragt andere dünnere Überlieferungsstränge der Sokratischen Philosophie so
deutlich, dass von diesen meist als den „kleinen Sokratikern“ die Rede ist.[95]
Als prominentester Sokratiker der ersten Dekade nach Sokrates’ Tod galt
Antisthenes, der sich von Platons Ideenlehre mit der Bemerkung distanziert
haben soll: „Ein Pferd sehe ich, Platon, eine Pferdheit dagegen nicht.“ Platons
Antwort: „Du hast eben nur das Auge, mit dem man ein Pferd sieht, aber das
Auge, mit dem man eine Pferdheit erblickt, hast du noch nicht erworben.“[96]
Büste des römischen Kaisers und stoischen Philosophen Mark
Aurel
Im Bereich der Ethik hielt Antisthenes neben dem Wissen um
das Gute auch die Willenskraft des Sokrates für nötig, die dieser im Ertragen
von Entbehrungen bewiesen hatte. Letzteres wurde dann zum demonstrativen
Hauptmerkmal des Diogenes von Sinope und der Kyniker. Euklid von Megara und die
Megariker legten den philosophischen Akzent auf die Bedeutung und Einheit des
Guten, lehnten das von Sokrates bevorzugte Argumentieren mit Analogien jedoch
ab. Der ebenfalls in Megara geborene Stilpon machte die nachmals von den
Stoikern besonders wichtig genommene Affektbeherrschung zu seinem Schwerpunkt.
Zwei weitere den Megarikern zugerechnete Denker, Diodoros Kronos und Philon,
begründeten die Aussagenlogik, die dann ebenfalls zu den Kerngebieten der Stoa
zählte. Aristippos von Kyrene und die Kyrenaiker erklärten die Empfindung zum
Kriterium von Wahrheit und Erkenntnis und richteten ihr Weltbild an dem
Gegensatzpaar Lust und Unlust bzw. Schmerz aus. Damit bereiteten sie dem
Kernthema der epikureischen Schule den Weg, das Epikur dann zu einer eigenen
Lehre weiterentwickelte.
Als Epikureer und Stoiker am Ende des 4. Jahrhunderts v.
Chr. Schulen bildeten, waren die Platonische Akademie und der Aristotelische
Peripatos als wichtige Philosophenschulen in der Nachfolge des Sokrates längst
etabliert. Sokrates blieb über die Jahrhunderte im Bewusstsein aller großen
antiken Philosophenschulen präsent. Noch der römische Kaiser Mark Aurel im 2.
Jahrhundert bezog sich als letzter bedeutender Philosoph der Stoa auf ihn als
Vorbild:
„Wenn sich aber
deinen Blicken nichts Besseres zeigt als der Geist, der in dir wohnt, der sich
zum Herrn seiner eignen Begierden gemacht hat, sich genau Rechenschaft über
alle seine Gedanken gibt, der sich, wie Sokrates sagte, von der Herrschaft der
Sinne losreißt, sich der Leitung der Götter unterwirft und den Menschen seine
Fürsorge widmet, wenn alles andere dir gering und wertlos erscheint, so gib
auch nichts anderem Raum.“[97]
Der Traditionsstrang der neuzeitlich-westlichen Philosophie
Im frühen Christentum bildeten Prozess und Tod des Sokrates
eine gängige Parallele zur Kreuzigung Jesu, während des christlichen
Mittelalters trat Sokrates gegenüber Platon und vor allem Aristoteles an
Bedeutung aber weit zurück.[98] In Renaissance und Humanismus aber kam die mit
Sokrates verbundene Ernsthaftigkeit ethischen Forschens und Handelns erneut zur
Geltung, wie z. B. der Ausruf des Erasmus von Rotterdam zeigt: „Heiliger
Sokrates, bitte für uns!“[99] Dem Aufklärer Rousseau diente er als Zeuge für
seine Zivilisationskritik: „Sokrates preist die Unwissenheit! Glaubt man etwa,
unsere Wissenschaftler und Künstler würden ihn zu einem Wechsel seiner
Ansichten bewegen, wenn er unter uns auferstände? Nein, meine Herren, dieser
gerechte Mann würde weiterhin unsere eitlen Wissenschaften verachten.“[100]
Portrait von Søren Kierkegaard
Kant bemerkte im Zusammenhang mit der Untersuchung
verschiedener Arten von Unwissenheit, die des Sokrates sei eine „rühmliche“, da
sie im Gegensatz zur „gemeinen“ auf der Einsicht in die „Schranken der
Erkenntnis“ beruhe.[101] Hegel hingegen sah Sokrates nicht zu Unrecht
verurteilt, weil er das Prinzip der Subjektivität gegen die tradierte Religion
und Sitte in Stellung gebracht habe.[102] Kierkegaard sah in seiner
Dissertation „Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates“
als Erster einen deutlichen Kontrast zwischen Sokrates und Platon und
begründete dies vor allem mit der agnostischen Haltung des Sokrates dem Tod
gegenüber, die mit Platons Unsterblichkeitsbeweisen der Seele nicht
zusammengehe.[103] „Sokrates' unendliches Verdienst ist es gerade, ein
existierender Denker zu sein, kein Spekulant, der vergißt, was existieren
ist.“[104]
Nietzsche sah, von Rousseau abweichend, Sokrates als
„Mystagogen der Wissenschaft“, als Initiator einseitiger und umfassender
Verwissenschaftlichung des Lebens: „Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem
kräftigen Wahne angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr im
Wesen der Logik verborgener Optimismus scheitert.“[105] Wieder anders
akzentuiert urteilte im 20. Jahrhundert der Physiker und Philosoph Carl
Friedrich von Weizsäcker: „Philosophie ist die sokratische Rückfrage: Habe ich
verstanden, was ich soeben gesagt habe? Philosophie ist daher wesentlich
nachträglich. Sie fragt nach dem schon Gesagten. Sie ist aber eben damit
wesentlich vorbereitend. Ihre Antwort kann uns weiterhelfen und wird dieselbe
Rückfrage von Neuem hervorrufen.“[106]
Günter Figal (2006) fasst zusammen: „Das Denken des Sokrates
steht zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht; es bleibt bezogen auf das, woraus es
ist, und hat sich noch nicht zu einer fraglosen, in sich beruhigten Gestalt
ausgebildet. So verkörpert sich in Sokrates der Ursprung der Philosophie.
Dieser Ursprung ist kein historischer Beginn. Weil die Philosophie wesentlich
im Fragen besteht, lässt sie ihren Ursprung nicht hinter sich; wer
philosophiert, erfährt immer den Verlust der Selbstverständlichkeit und
versucht, zum ausdrücklichen Verstehen zu finden. […] Für Sören Kierkegaard,
Friedrich Nietzsche, aber auch für Karl Popper ist in der Gestalt des Sokrates
die Philosophie selbst gegenwärtig; Sokrates ist für sie die Gestalt der
Philosophie überhaupt, das Urbild des Philosophen.“[107]
Sokratesbüste im Museo Nazionale Romano, Palazzo Massimo
alle Terme, 1. Jahrhundert
Bildnisse
Zahlreiche antike Sokratesportraits zeigen markante
Merkmale: eingedrückte Nase, Halbglatze, wulstige Lippen, strähniges Haar und
Bart. Es ist aber nicht sicher, dass Sokrates tatsächlich so aussah.
Möglicherweise liegen diesen Bildnissen nicht wirkliche Kenntnisse über das
Aussehen des historischen Sokrates zugrunde, sondern literarische Schilderungen
des Gegensatzes zwischen Sokrates’ edlem Inneren und häßlichem Äußeren.[108]
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