Dienstag, 2. Februar 2016

Jazz in New Orleans


Jazz in New Orleans

Author D.Selzer-McKenzie

Video: https://youtu.be/FuG7VurIn1s

Diese Stadt ist pure Musik: An jeder Ecke steht eine Band oder ein einzelner Musiker und vermittelt das Lebensgefühl von New Orleans. Das hat sich in den letzten zehn Jahren nicht verändert.  

• Es passiert jeden Abend zur gleichen Zeit, es sei denn, es regnet. Aber dann steht in New Orleans sowieso alles still, weil der Regen hier fällt wie in den Tropen. Aber sonst: immer zur gleichen Zeit, immer am gleichen Ort, Frenchmen Street Ecke Chartres, 22.50 Uhr: Zuerst kommen zwei Schlackse angeschlurft, Trompeten in den Hän¬den. Dann ein stämmiger Tubaspieler und von irgendwoher ein Posaunist, und noch einer und noch einer, bis acht oder zehn Musiker an der Ecke stehen. Einer gibt den Takt vor und plötzlich donnern die ersten geblasenen Jazzläufe durch

 

die Luft. Sie donnern, unglaublich laut, und drei Minuten später tanzt die ganze Straße. Paare dre-hen sich über den Asphalt, Passanten blockieren wippend die Fahrbahn, auf der anderen Seite stauen sie sich auch schon auf dem Gehsteig, und oben auf den Balkonen klopfen die Leute den Takt auf den Geländern mit. Die ersten Autos bleiben stecken, die ersten Fahrer steigen aus, und noch bevor das Eröffnungsstück der Brassband vorbei ist, reicht der Stau bis ins French Quarter hinein, und der Sound sowieso.

"In New Orleans wurde der Jazz geboren", heißt es ja immer, aber wenn man wissen möchte, was das wirklich heißt, dann muss man ihn hier gehört haben. Keine noch so umfangreiche CD-Sammlung, kein Live-Konzert und auch kein Festival zu Hause kann eine halbe Stunde an der Frenchmen Street Ecke Chartres ersetzen. Übri-

 

gens auch keinen dieser wunderbaren Spätnach¬mittage im Spotted Cat, einem dieser sympathi¬schen Clubs, in denen die erste Band bereits um 16 Uhr auftritt. Und natürlich auch keinen der sehr stilsicheren Abende im neuen Irvin May-field Playhouse, wo die Damen im Publikum an ihren Martinis nippen und die Herren immer wieder kurz das Handgelenk schütteln, um die schicke 10.000-Dollar-Armbanduhr im besten Licht zu präsentieren.

Rund um die Uhr Jazz

Der Jazz ist überall in New Orleans, man muss ihn nicht erst groß und lange suchen — er ist ein¬fach da, er wurde in dieser Stadt erfunden. Vor über 100 Jahren hatten sich zwei gesucht und ge-funden, und deshalb lieben sie sich noch immer: New Orleans und die einzige Kunstform, die tat-sächlich in den USA geschaffen wurde. Die bei¬den lieben sich so heiß und innig, dass sie keinen Moment ohne einander auskommen können. Um Jazz in New Orleans zu hören, muss man sich nicht die Nacht um die Ohren schlagen (natürlich schlägt man sich die Nächte reihen¬weise um die Ohren) — um Jazz in New Orleans zu hören, muss man einfach nur in New Orleans sein. Zum Frühstück spielt eine Dixieland-Kapelle. Spätabends umschmeichelt ein Saxo¬phon vor dem Cafd Ohren und Kleingeldvorräte. Und in den Stunden zwischendrin quillt der Jazz aus allen Türen und Fenstern. New Orleans schläft so gut wie nie. Seine Musiker offenbar auch nicht. 95 Prozent der Besucher kommen nur deswegen hierher, der Rest hat sich verfahren.

Das Positive daraus ziehen

Sie schauen vorbei, um eine Überlebende zu be-gutachten. Vor gut zehn Jahren schien es, als sei New Orleans verloren. Hurrikan Katrina drückte gewaltige Flutwellen aus dem Mississippi-Delta heran, und weil die Dämme nicht hoch und stark genug waren und viele Viertel unter dem Meeres-spiegel liegen, liefen sie voll wie eine Badewanne. Es gab damals genügend Leute, die die Stadt abgeschrieben und orakelt hatten, dass sie nie wieder auf die Beine kommen würde. Aber dann rückten die Helfer an, junge Leute aus Seattle und San Francisco oder von sonst woher. Sie kamen für ein paar Tage Aufräumarbeit, tausende blieben für immer.

Diese Leute haben vieles verändert. Vor Katrina war New Orleans eine Stadt mit verkrusteten Sozialstruk¬turen, in der jeder jeden über zwei Ecken kannte und Neuankömm¬linge auch noch nach 15 Jahren als solche bezeichnet wurden. Wer aus

 

diesem Gefüge ausbrechen wollte, musste wegzie-hen, was viele junge Leute in den vergangenen Jahrzehnten auch taten. Und jetzt wird die Stadt plötzlich als Ort gehandelt, in dem man unbedingt wohnen muss. Zehn Jahre nach Katrina gibt es hier 600 Restaurants mehr als vor der Katastrophe. Und vor ihr gab es auch nicht gerade wenige.

Schone Grüße

aus der Vergangenheit

Beispielsweise der Lafitte's Blacksmith Shop ist schon ewig da: Jahrhunderte alt (Baujahr 1770) und seit dem Eröffnungstag offensichtlich nicht renoviert worden, weshalb man ständig mit dem Eintreffen der Bauaufsicht oder zumindest des Heimwerkerverbands rechnet. Das einzige Licht kommt von einer 15-Watt-Funzel — und von Ker-zen. Dazu gibt es einen Pianisten, dessen Töne perwollsanft durch den Raum schweben. Ist das romantisch? Das ist romantisch!

Genauso wie ein Abendessen im Antoine's, das seit 1840 existiert, also seit einer Zeit, in der im großen, weiten Rest des Kontinents abends noch Bohnen am Lagerfeuer gekocht wurden. 175 Jah¬re später wird man von einem Kellner umsorgt, der seine Umgangsformen aus dem 19. Jahrhun-

 

Früher war nur hier Fleisch erhältlich, inzwischen auch vieles andere: der French Market.

dert hinübergerettet zu haben scheint: Er be¬grüßt die Dame formvollendet mit einem ange¬deuteten Handkuss.

Auf jeden Fall muss man den Garden District noch gesehen haben. Dort, wo sich die ersten amerikanischen Bürger der einst französischen Stadt ihre Villen erbaut haben. Den City Park mit seinen mächtigen alten Bäumen. Und natür¬lich das French Quarter, das Herzstück der Stadt, ein gepflegtes Planquadrat aus dem 18. Jahrhun¬dert, gefüllt mit mehr Geschichte und Geschich¬ten als anderswo in den USA ganze Staaten. Hier in seinem historischen Kern sieht New Orleans aus wie ein Experiment aus Provence und Baha¬mas, mit den bonbonfarbenen Fassaden, den Gaslaternen, den schmiedeeisernen Balkonen und dem wuchernden Grün auf den Balkonen, das sich kaum in Schach halten lässt. Und von überall kommt Musik. Natürlich.

Bei Regen ist alles anders

Ob es auch ruhige Minuten gibt? Gibt es. Zum Beispiel, wenn es regnet. Aus bleigrauen Wolken, die so tief über den Palmen hängen, dass man meinen könnte, sie seien aufgepiekst worden. Die zusammen mit dem Dach der Eichen einen ver-dunkelnden Baldachin bilden, unter dem die Au¬tos die Lichter einschalten müssen. Eine Dunkel¬heit, die die komplette Stadt hermetisch vom Rest der Welt wegzuschließen scheint, als sei New Orleans sich selbst genug. In solchen Momenten sitzen die Einheimischen im Cafd und beobach¬ten, wie die Zeit vorübergeht. In der Ferne hän¬gen leise Jazz-Phrasierungen in der feuchten Luft. Es riecht nach nassem Asphalt, vom Winde ver¬wehten Blüten und Kaffee. „Do you know what it means to miss New Orleans?", heißt es in einem Klassiker, den Louis Armstrong und Billie Holi-day berühmt gemacht haben. Spätestens, wenn man wieder zu Hause ist, weiß man was es heißt diese Stadt zu vermissen

 

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