Jazz in New Orleans
Author D.Selzer-McKenzie
Video: https://youtu.be/FuG7VurIn1s
Diese Stadt ist pure Musik: An jeder Ecke steht eine Band
oder ein einzelner Musiker und vermittelt das Lebensgefühl von New Orleans. Das
hat sich in den letzten zehn Jahren nicht verändert.
• Es passiert jeden Abend zur gleichen Zeit, es sei denn, es
regnet. Aber dann steht in New Orleans sowieso alles still, weil der Regen hier
fällt wie in den Tropen. Aber sonst: immer zur gleichen Zeit, immer am gleichen
Ort, Frenchmen Street Ecke Chartres, 22.50 Uhr: Zuerst kommen zwei Schlackse
angeschlurft, Trompeten in den Hän¬den. Dann ein stämmiger Tubaspieler und von
irgendwoher ein Posaunist, und noch einer und noch einer, bis acht oder zehn
Musiker an der Ecke stehen. Einer gibt den Takt vor und plötzlich donnern die
ersten geblasenen Jazzläufe durch
die Luft. Sie donnern, unglaublich laut, und drei Minuten
später tanzt die ganze Straße. Paare dre-hen sich über den Asphalt, Passanten
blockieren wippend die Fahrbahn, auf der anderen Seite stauen sie sich auch
schon auf dem Gehsteig, und oben auf den Balkonen klopfen die Leute den Takt
auf den Geländern mit. Die ersten Autos bleiben stecken, die ersten Fahrer
steigen aus, und noch bevor das Eröffnungsstück der Brassband vorbei ist,
reicht der Stau bis ins French Quarter hinein, und der Sound sowieso.
"In New Orleans wurde der Jazz geboren", heißt es
ja immer, aber wenn man wissen möchte, was das wirklich heißt, dann muss man
ihn hier gehört haben. Keine noch so umfangreiche CD-Sammlung, kein
Live-Konzert und auch kein Festival zu Hause kann eine halbe Stunde an der
Frenchmen Street Ecke Chartres ersetzen. Übri-
gens auch keinen dieser wunderbaren Spätnach¬mittage im
Spotted Cat, einem dieser sympathi¬schen Clubs, in denen die erste Band bereits
um 16 Uhr auftritt. Und natürlich auch keinen der sehr stilsicheren Abende im
neuen Irvin May-field Playhouse, wo die Damen im Publikum an ihren Martinis
nippen und die Herren immer wieder kurz das Handgelenk schütteln, um die
schicke 10.000-Dollar-Armbanduhr im besten Licht zu präsentieren.
Rund um die Uhr Jazz
Der Jazz ist überall in New Orleans, man muss ihn nicht erst
groß und lange suchen — er ist ein¬fach da, er wurde in dieser Stadt erfunden.
Vor über 100 Jahren hatten sich zwei gesucht und ge-funden, und deshalb lieben
sie sich noch immer: New Orleans und die einzige Kunstform, die tat-sächlich in
den USA geschaffen wurde. Die bei¬den lieben sich so heiß und innig, dass sie
keinen Moment ohne einander auskommen können. Um Jazz in New Orleans zu hören,
muss man sich nicht die Nacht um die Ohren schlagen (natürlich schlägt man sich
die Nächte reihen¬weise um die Ohren) — um Jazz in New Orleans zu hören, muss man
einfach nur in New Orleans sein. Zum Frühstück spielt eine Dixieland-Kapelle.
Spätabends umschmeichelt ein Saxo¬phon vor dem Cafd Ohren und Kleingeldvorräte.
Und in den Stunden zwischendrin quillt der Jazz aus allen Türen und Fenstern.
New Orleans schläft so gut wie nie. Seine Musiker offenbar auch nicht. 95
Prozent der Besucher kommen nur deswegen hierher, der Rest hat sich verfahren.
Das Positive daraus ziehen
Sie schauen vorbei, um eine Überlebende zu be-gutachten. Vor
gut zehn Jahren schien es, als sei New Orleans verloren. Hurrikan Katrina
drückte gewaltige Flutwellen aus dem Mississippi-Delta heran, und weil die
Dämme nicht hoch und stark genug waren und viele Viertel unter dem
Meeres-spiegel liegen, liefen sie voll wie eine Badewanne. Es gab damals
genügend Leute, die die Stadt abgeschrieben und orakelt hatten, dass sie nie
wieder auf die Beine kommen würde. Aber dann rückten die Helfer an, junge Leute
aus Seattle und San Francisco oder von sonst woher. Sie kamen für ein paar Tage
Aufräumarbeit, tausende blieben für immer.
Diese Leute haben vieles verändert. Vor Katrina war New
Orleans eine Stadt mit verkrusteten Sozialstruk¬turen, in der jeder jeden über
zwei Ecken kannte und Neuankömm¬linge auch noch nach 15 Jahren als solche
bezeichnet wurden. Wer aus
diesem Gefüge ausbrechen wollte, musste wegzie-hen, was
viele junge Leute in den vergangenen Jahrzehnten auch taten. Und jetzt wird die
Stadt plötzlich als Ort gehandelt, in dem man unbedingt wohnen muss. Zehn Jahre
nach Katrina gibt es hier 600 Restaurants mehr als vor der Katastrophe. Und vor
ihr gab es auch nicht gerade wenige.
Schone Grüße
aus der Vergangenheit
Beispielsweise der Lafitte's Blacksmith Shop ist schon ewig
da: Jahrhunderte alt (Baujahr 1770) und seit dem Eröffnungstag offensichtlich
nicht renoviert worden, weshalb man ständig mit dem Eintreffen der Bauaufsicht
oder zumindest des Heimwerkerverbands rechnet. Das einzige Licht kommt von
einer 15-Watt-Funzel — und von Ker-zen. Dazu gibt es einen Pianisten, dessen
Töne perwollsanft durch den Raum schweben. Ist das romantisch? Das ist
romantisch!
Genauso wie ein Abendessen im Antoine's, das seit 1840
existiert, also seit einer Zeit, in der im großen, weiten Rest des Kontinents
abends noch Bohnen am Lagerfeuer gekocht wurden. 175 Jah¬re später wird man von
einem Kellner umsorgt, der seine Umgangsformen aus dem 19. Jahrhun-
Früher war nur hier Fleisch erhältlich, inzwischen auch
vieles andere: der French Market.
dert hinübergerettet zu haben scheint: Er be¬grüßt die Dame
formvollendet mit einem ange¬deuteten Handkuss.
Auf jeden Fall muss man den Garden District noch gesehen
haben. Dort, wo sich die ersten amerikanischen Bürger der einst französischen
Stadt ihre Villen erbaut haben. Den City Park mit seinen mächtigen alten
Bäumen. Und natür¬lich das French Quarter, das Herzstück der Stadt, ein
gepflegtes Planquadrat aus dem 18. Jahrhun¬dert, gefüllt mit mehr Geschichte
und Geschich¬ten als anderswo in den USA ganze Staaten. Hier in seinem
historischen Kern sieht New Orleans aus wie ein Experiment aus Provence und
Baha¬mas, mit den bonbonfarbenen Fassaden, den Gaslaternen, den
schmiedeeisernen Balkonen und dem wuchernden Grün auf den Balkonen, das sich
kaum in Schach halten lässt. Und von überall kommt Musik. Natürlich.
Bei Regen ist alles anders
Ob es auch ruhige Minuten gibt? Gibt es. Zum Beispiel, wenn
es regnet. Aus bleigrauen Wolken, die so tief über den Palmen hängen, dass man
meinen könnte, sie seien aufgepiekst worden. Die zusammen mit dem Dach der
Eichen einen ver-dunkelnden Baldachin bilden, unter dem die Au¬tos die Lichter
einschalten müssen. Eine Dunkel¬heit, die die komplette Stadt hermetisch vom
Rest der Welt wegzuschließen scheint, als sei New Orleans sich selbst genug. In
solchen Momenten sitzen die Einheimischen im Cafd und beobach¬ten, wie die Zeit
vorübergeht. In der Ferne hän¬gen leise Jazz-Phrasierungen in der feuchten
Luft. Es riecht nach nassem Asphalt, vom Winde ver¬wehten Blüten und Kaffee.
„Do you know what it means to miss New Orleans?", heißt es in einem
Klassiker, den Louis Armstrong und Billie Holi-day berühmt gemacht haben.
Spätestens, wenn man wieder zu Hause ist, weiß man was es heißt diese Stadt zu
vermissen
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