Mittwoch, 2. September 2009

Ritalin

Ritalin der kleine Modedroge

Author D.Selzer-McKenzie
Die ganze letzte Woche nahm ich Ritalin. Ich leide nicht an dem Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) und bin kein Zappelphilipp. Trotzdem bleibe ich manchmal nicht bei der Sache, an die ich mich erst mit viel Wenn und Aber mache. Ich streife durchs Büro, begutachte das Wachstum der Pflanzen oder büschele Unterlagen. Hänge mit benebeltem Kopf im Sessel und bin froh, wenn möglichst oft jemand den Kopf zur Tür reinstreckt. Anrufe nehme ich dankbar entgegen, ich checke alle halbe Minute die Mails, der Blick geht aufs Handy, von da raus zur Frau mit dem Hündchen auf dem Balkon vis-à-vis.
Ich könnte mich im Bewusstseinsstrom treiben lassen, den Kopf müde auf die Hand gestützt. Leider ist es aber nicht entspannend, so in Gedanken verhangen zu sein. Denn ich sollte Artikel fertigschreiben, habe Termindruck und fühle mich sehr ineffizient. Solche Tage, an denen man ein Flaneur in den eigenen Gedanken ist und auf halbem Weg zum Ziel auf der Strecke bleibt oder es nur auf mühsamen Umwegen erreicht, machen noch keine psychoaktiven Medikamente nötig. Im Grunde genommen. Der Leidensdruck, wenn man leisten sollte und nicht kann, mag von Person zu Person variieren. Für viele, die unter keiner diagnostizierten Störung leiden, fühlt es sich behindernd an: Dann greifen sie zu Stimulanzen wie Ritalin.
Immer mehr tun es, das besagen Umfragen und das zeigen die Verordnungsmengen von Ritalin, die sich in Deutschland innerhalb von neun Jahren verzehnfacht haben. Beliebt ist die pharmazeutische Aufrüstung der Gehirnleistung zunehmend bei Studenten, Ärzten, Forschern, viel reisenden Geschäftsleuten. Auch Mütter von hyperaktiven Kindern drücken manchmal eine kleine weiße Pille aus der Packung und sind dann überrascht, wie mühelos sie ihrem Kind bei den Schulaufgaben helfen können.
Sogenannte Smart Drugs, Medikamente, die klüger und wacher machen, sind vor einigen Jahren auf dem kulturellen Radar aufgetaucht. Ritalin ist nur eine Substanz unter anderen Neuropsychopharmaka, die zu nicht therapeutischen Zwecken verwendet oder deutlicher: missbraucht werden, um die Hirnleistung zu steigern. Im Fall von Ritalin stimuliert der Wirkstoff Methylphenidat jene Bereiche im Gehirn, die für die Aufmerksamkeitskontrolle und Wahrnehmung zuständig sind. Dadurch kann man sich besser konzentrieren, klarer denken, jeder Anflug von Müdigkeit ist verscheucht.
Wenn Ritalin ADHS-Patienten hilft, die leichte Ablenkbarkeit in Bahnen zu führen, das Herumhaspeln zu beenden, damit sie nicht mehr überall anstoßen und anecken, geht es gesunden Konsumenten um nichts anderes als: bessere Performance. Selbstoptimierung. Hirndoping, das ist das Wort, das durch die Medien geistert. Der Reflex ist, wenn man davon hört: wie verwerflich, ungeheuerlich, abschreckend. Gleichzeitig strahlt das Wort Leistung, Kraft und Größe aus. Um mitreden zu können, habe ich mich entschlossen, mich in einem Versuch selbst zu dopen. Mein Gehirn soll so stark werden wie die Schenkel von Lance Armstrong; und zwar nicht durch hartes Training, sondern durch Neurochemie.
Energieschub aus der Apotheke
Ich überrede meinen Hausarzt, mir die kleinste Packung zu verschreiben. Ritalin fällt unter das Betäubungsmittelgesetz; um es in der Apotheke zu beziehen, reicht ein einfaches Rezept nicht. Das Päckchen gibt es für 16,54 Euro mit 20 Pillen à zehn Milligramm, für ein 50er-Paket zahlt man 27,04 Euro. Ich soll mich an die Dosis von ein bis zwei Tabletten täglich halten, der Abstand zwischen den Einnahmen sollte mindestens vier Stunden betragen. Manche Erwachsene mit ADHS schlucken 60 und mehr Milligramm Ritalin pro Tag. Muss ich mit Nebenwirkungen rechnen? Bei dieser niedrigen Dosierung kaum, sagt mein Arzt.
Was höchstens auftreten könne, seien Kopfschmerzen, der Appetit sei vielleicht kleiner, Schlaflosigkeit, erhöhter Puls. Ich dürfe kein Herz-Kreislauf-Problem haben. Und werden auf längere Sicht bei meinem Versuch ein paar Hirnzellen absterben? Eine halbe Flasche Wein oder ein Glas Whisky täglich seien schädlicher, kommt die Antwort. Nach neuestem Wissensstand gebe es bei Kindern, die über Jahre mit Ritalin behandelt werden, keine neurologischen Schäden. Bei gesunden Menschen seien die Langzeitfolgen bisher zu wenig erforscht.
Mittwochmorgen, neun Uhr, ich schlucke die ersten zehn Milligramm Arbeitswut und Selbstdisziplin. In den nächsten Minuten wird das Methylphenidat die Wiederaufnahme des Neurotransmitters Dopamin in meinen Nervenzellen hemmen. Nach einer Dreiviertelstunde spüre ich den Energieboost in Kopf und Körper: Das Herz schlägt kräftig. Es stellt sich eine Art Hochgefühl ein, die ersten zwei Stunden ansteigend, eine leicht euphorisierende Wirkung. Ich möchte aufspringen und mich bewegen, wenn mir die Arbeit am Computer nicht verlockender erschiene. Erst als es nach zwei Stunden an der Bürotür klopft, schrecke ich auf.
Meine Gesichtshaut spannt, ich muss regungslos auf den Monitor gestarrt haben, habe mich geistig verzahnt mit dem Text. Dass ich auf die Toilette muss, ist ein lästiges körperliches Bedürfnis. Meine Beine tragen meine Gedanken wie ein Wiesel durch den Flur, meine Gedanken haben Beine. Am Mittag habe ich leider eine Verpflichtung und muss meine wunderbare Arbeit verlassen. Beim Stehlunch betreibe ich intensiv Smalltalk. Bin ich zu hektisch? Wirke ich getrieben? Ich habe das Gefühl, ich reiße meine Augen auf und verschlucke das Gegenüber beinahe, fixiert auf sein Gesicht. Blinzeln!
Abends ist es noch immer so, als zöge ein Magnet all meine Gedanken an. Als ich fürs Abendessen einkaufen gehe, kreise ich nicht drei Stunden lang um die Regale, unentschieden, ob ich Tomaten oder Gurken kaufen soll. Ich weiß plötzlich klar, was ich will. Überhaupt kein Kochtalent, probiere ich zum ersten Mal seit Langem etwas Neues aus. Ein Psychiater hat mal erzählt, wie er einem Patienten für dessen Abschlussprüfung Ritalin verschrieb: Erstmals gelang dem Bäckerlehrling der Tortenboden, endlich fiel der Teig nicht mehr auseinander.
Die Pille macht fähiger. Selbstbewusst. Mein Freund erzählt irgendwas, ich sehe, wie er die Lippen bewegt. Aber ich klebe mental an anderem. Ich denke zum Beispiel, dass ich erst in zwölf Stunden wieder im Büro bin und an meiner Arbeit sitzen kann. Hunger, den habe ich an diesem Abend. Und weil ich auf eine weitere Pille später am Tag verzichte, schlafe ich auch gut.
Meditation vor dem Bücherregal
Anderntags spüre ich einen kleinen Widerstand davor, die nächste Pille zu schlucken und mich ans Schreiben zu machen. Ich werde in den kommenden Stunden die Welt ausschließen, ob ich will oder nicht. Ich will, sobald das Methylphenidat wirkt. Werde ganz selbstgenügsam. Wenn Ritalin süchtig machen würde, dann nach diesem Angetriebensein am Anfang. Es fällt mir beim Schreiben viel leichter, Entscheidungen zu treffen. Braucht es dieses Statement, wo setze ich den Schwerpunkt? Die Worte vermehren sich ungebremst. Andererseits denke ich weniger zusammenhängend.
Ich hafte an den Abschnitten, bringe sie nicht in einen großen Zusammenhang. Das Denken ist wie ein Laser, zu konzentriert, als dass es bis zum nächsten Abschnitt reichte. Alles jenseits des Computerbildschirms behindert. Werfe ich trotzdem einen Seitenblick, bleibe ich einen Moment lang hängen. Stehe neben dem Bücherregal, bis ich nach einigen Minuten merke, dass ich noch immer dastehe und vergessen habe, was ich wollte. Ich falle in eine Art neurochemisch gestützte Instantmeditation. Ich erreiche einen Grad der Versunkenheit, der anachronistisch anmutet.
Man ist es heute gewohnt, mehrere Tätigkeiten miteinander zu verrichten. Wird man im Büro nicht von jemandem unterbrochen, unterbricht man sich nach ein paar Minuten selbst. Ein Neuro-Enhancer wie Ritalin reduziert die Wahrnehmung radikal: Der einzige Link, mit dem ich noch verbunden bin, ist der Text, an dem ich gerade schreibe. Ihm gilt mein alleiniges Interesse. Wie oft bei chemischen Substanzen, die eine gewisse Ausstrahlung haben, gibt es auch zu Methylphenidat eine hübsche Entstehungsgeschichte. Entdeckt beziehungsweise synthetisiert wurde der Wirkstoff 1944 von Leandro Panizzon, einem Mitarbeiter des Pharmakonzerns Ciba, heute Novartis . Im Selbstversuch testete er die Substanz zusammen mit seiner Frau Marguerite, die alle nur Rita nannten.
Auf ihr beruht der Handelsname von Methylphenidat: Ritalin. Überliefert ist, dass Marguerite merkte, wie sie auf Methylphenidat besser Tennis spielte. Ritalin kam 1954 auf den deutschsprachigen Markt und wurde zuerst als mildes Psychotonikum verwendet, das gegen erhöhte Ermüdbarkeit hilft. Seine Wirkung hielt man für vergleichbar mit Koffein, bis in die 60er-Jahre bekam man es rezeptfrei. Erst später wurde Ritalin dem Betäubungsmittelgesetz unterstellt.
Natürlich spielt Rita nicht in der gleichen Liga wie LSD oder Ecstasy - sie wirkt nicht rauschhaft, macht keine Halluzinationen. Darum ist die Substanz für Tätigkeiten geeignet, die stark rational und strukturiert sind, Fleiß und Konzentration erfordern. Chemieformeln büffeln, Paragrafen auswendig lernen, zehn Stunden im OP stehen, nach einem langen Flug einen Vortrag halten. Tatsächlich, am dritten Tag schlucke ich die Pille abends, und der angestaute Bürokram erledigt sich bis spät in die Nacht wie von selbst.
Hedonistisch, so viel ist bereits klar, macht die Pille nicht. Drogen werden gern Generationen zugeteilt: LSD steht für die Rebellion gegen den bürgerlichen Mief in den 70er-Jahren. Mit Kokain plusterten die Yuppies in den 80ern ihr Ego auf. Ecstasy gehörte der 90er-Spaßjugend. Konsumenten von Neuropsychostimulanzen wie Ritalin erhoffen sich einen Gewinn der geistigen Produktivität. Als Droge der Vernunft passt es in unsere auf Leistung und Effizienz getrimmte Zeit.
Man vergnügt sich nicht mit Ritalin, das wegen seiner Eigenschaften auch als Mikro- oder Nanokokain gilt. Man fühlt sich großartig, hält vieles für machbar. Man überschätzt sich schnell. Kaum Selbstzweifel. Weil sich die Leistungsbereitschaft auf den Körper überträgt, ist Ritalin in der Partyszene angekommen. Nach der Einnahme steigt die Pumpkraft des Herzens, die Muskulatur wird besser durchblutet. Ich gehe mehrmals joggen und renne sogar die vielen Treppenstufen zu meiner Wohnung hoch, was ich noch nie geschafft habe. Als wären an meinen Füßen Sprungfedern befestigt.
Smart Drugs für die Menschheit
Während des Selbstversuchs trinke ich keinen Tropfen Alkohol, wie auf Ritas Packungsbeilage empfohlen. Ich habe das Gefühl, sehr gesund zu leben, trotz der täglichen Ration Chemie. Kein Ethanol, das die Gedanken vernebelt und die Sinne berauscht, stattdessen Chili im Gehirn. Warum sie nicht einfach Kaffee trinken oder es mit Traubenzucker und Koffeintabletten probieren, werden ritalingedopte Studenten in Internetforen oft gemahnt.
Die Getadelten könnten die Frage umdrehen: Was ist besser an anderen Aufputschmitteln? Steigern wir unsere Hirnfunktion nicht die ganze Zeit? Und noch mehr: Gehören zu Leistungsfähigkeit nicht auch eine gute Bildung selbst, ein bewusster Lebensstil, genügend Schlaf? So argumentieren Neurologen, die vorschlagen, Neuropharmaka zur Leistungssteigerung in einer Reihe von Innovationen zu sehen, mit denen der Mensch sich und sein Dasein verbessern will; vergleichbar mit den Möglichkeiten der Informationstechnologie.
Sie sagen: Die Gesellschaft muss auf das wachsende Bedürfnis nach kognitivem Enhancement antworten. Dann können wir alle profitieren. Wichtig ist, dass man risikobewusst umgeht mit den Substanzen. Und diese konsequent freigibt. Es gibt natürlich moralische Bedenken. Würden sich meine Arbeitskollegen betrogen fühlen, wenn ich aufgrund meiner täglichen Vitamin-R-Zufuhr zum Frühstück dreimal so viel schriebe wie sie? Hirndoping sei eine Form des Mogelns, wird in der Diskussion um leistungssteigernde Substanzen an Unis und in Schulen oft gesagt. Wer sich das Ritalin nicht leisten kann oder will, ist von vornherein benachteiligt.
"Eine technische Neuerung wie das Mobiltelefon besaßen am Anfang aber auch nicht alle", sagt der Philosoph Thorsten Galert, der sich an der Europäischen Akademie in Bad Neuenahr-Ahrweiler mit ethischen Fragen rund um Hirndoping beschäftigt. "Jene, die es sich leisten konnten, waren begünstigt. Sie hatten je nach Beruf beim Bewerbungsgespräch einen Wettbewerbsvorteil." Ungleiche Voraussetzungen, das gehöre zum Leben: "Wenn es um kognitive Fähigkeiten geht, kann ohnehin nicht von Chancengleichheit die Rede sein. Wer das Geld besitzt, veredelt seine geistigen Ressourcen durch exklusive Bildungsangebote."
Kann man eine Arbeit Schwindel nennen, die unter Ritalin geschaffen wurde, weil sie nicht "aus eigener Kraft" zustande kam? Es gehe in diesem Fall nicht um meine Person, antwortet der Neuroethiker. Sondern um ein Ergebnis, das auch anderen zugute komme. "Anders ist es, wenn im Sport gedopt wird. Das ist ein zweckfreies Geschehen, wo man für die Leistung an sich Anerkennung erhält." Deshalb wäre es absurd, einem Nobelpreisträger den Preis abzuerkennen, der mit der Beichte an die Öffentlichkeit tritt, seinem Geist pharmazeutisch auf die Sprünge geholfen zu haben.
Die Forschungsarbeit hat einen Wert losgelöst von ihrem Entstehungsprozess; sie nutzt im besten Fall der Gesellschaft, der egal sein kann, ob geistige Muntermacher mit im Spiel waren. Spannender wird die Sache, wenn das Hirn nicht gleich eine Aufgabe findet - öffentlicher Nutzen hin oder her. Was macht man an seinem freien Tag, wenn man auf Ritalin ist? Manche Konsumenten berichten, dass sie unter Einfluss der Droge ihre Wohnung blitzblank geputzt oder die CD-Sammlung alphabetisch geordnet haben. Kanalisiert man die Aufmerksamkeit nicht auf die Aufgabe, die man erledigen muss, profitieren nebensächliche Tätigkeiten davon. Aufpassen.
Ich will den Moment des Höhenflugs nutzen und etwas Anspruchsvolles lesen. Nietzsche im Bücherregal hat bisher einzig Besucher beeindruckt, mich machte er nach drei Seiten nervös. Und plötzlich sitze ich seit einer Stunde auf dem Sofa und lese Nietzsche. Ich scanne "Menschlich, Allzumenschliches" nicht nach Schlüsselwörtern, sondern lese die Seiten von Anfang bis Ende, Satz für Satz, lese Gedanken auf wie reife Birnen. Ich schweife nicht ab zur Einkaufsliste oder dem gestrigen Abend, und selbst die Musik, die im Hintergrund läuft, habe ich völlig ausgeblendet. Würde ich wohl die 300 Bücher, die ich für die Literaturprüfung im Studium lesen musste, heute noch ohne Hirndoping bewältigen? Ich bräuchte sicher länger als damals, als man weniger Multitasking betrieb; als ich mich noch über die Telefonleitung ins Internet einwählen musste und nur zweimal täglich E-Mails checkte.
Doping für den Arbeitsmarkt
Man muss sich andererseits fragen, ob Konzentration wirklich in allen Lebenslagen erstrebenswert ist. Weil ich es gerade zur Hand habe, lese ich im Büchlein "Warum Denken traurig macht" von George Steiner. Er schreibt, dass absolute Konzentration nicht nur zu Erschöpfung, sondern langfristig auch zum Zusammenbruch führt. Für eine gesunde persönliche Entwicklung ist geistiges Mäandern wichtig. Sich mit biegsamem Geist einzulassen auf Gedanken, die in die Quere kommen, fördert eine Art von intuitiver Klugheit.
Das "Wellenspiel gewöhnlichen Denkens" bilde auch einen Schutzschild, schreibt Steiner: "Es ermöglicht uns, auf die spontanen Ansprüche und Reize des Alltags adäquat zu reagieren. Die Eruptionen konzentrierten Denkens, der Zwang zu Fokussierung könnten das Risiko geistiger Erschöpfung oder Beeinträchtigung in sich tragen. Gewissen Denkintensitäten haftet etwas Monomanisches an (Laser können Verbrennungen hervorrufen)." Und weil die scharfen Denkstrahlen alles wegschneiden, was belasten könnte, scheint eine Empfindung wie Traurigkeit gerade unerreichbar.
Es leuchtet ein, dass Ritalin schon als Antidepressivum verwendet wurde. Auch jede Melancholie geht auf Kosten der Superkonzentriertheit. Unter Ritalineinfluss wäre ich kaum zwei Stunden lang über den Friedhof Montparnasse in Paris flaniert, und ich hätte meinen Schatten nicht mal bemerkt, der in der Abendsonne auf die Grabsteine fiel. Flirten wäre nicht wie ein Schmetterling, den man zu fangen versucht, sondern angestrengt und aggressiver. Ich würde mich nicht mehr gedankenlos verlieben, sondern mit Verstand. Scharf denken macht unfrei: rumblödeln, absurde Ideen entwickeln? Nein. Auf sich selbst zurückgeworfen wird auch das Schreiben eng. Man hinterfragt sich nicht, tritt keinen Schritt zurück; die Kehrseite der fehlenden Selbstzweifel.
Genauso fehlt die Muße zum Rumliegen, zum Sich-Langweilen. Ins Freibad gehen oder arbeiten? Arbeiten! Wenn Ritalin ADHS-Betroffenen hilft, sich zu organisieren, nicht ständig ihren Impulsen nachzugeben und das zu tun, worauf sie gerade Lust haben, so wirkt es bei mir als Triebkontrolle. Immerhin habe ich während dieser Woche privat ein neues Hobby gefunden: Wir spielen nun allabendlich Schach.
Blick auf die Neurodemoskopie
Am vierten Tag fühle ich mich zum ersten Mal ausgebrannt. Ich will die Pille erst am Nachmittag schlucken. Um wacher und aktiver zu werden, wäre jetzt zwar Ritalin nötig. Nur mit der nahtlosen Einnahme vermeide ich den "Rebound", wie man den Zustand nennt, wenn die Wirkung nachgelassen hat - den Sturz in ein Energieloch. Beginnt die Pille zu wirken, verschwinde ich im Text. So geht es weiter, am fünften, sechsten, siebten Tag. Es schreibt und schreibt und schreibt. Zahlen über den unerlaubten Ritalinkonsum in Deutschland gibt es naturgemäß kaum - fest steht nur, dass das Medikament heute um ein Vielfaches häufiger verordnet wird als je zuvor.
Mit einer Zunahme von ADHS-Kindern allein ist das nicht zu erklären. In den USA dopen sich auf manchem Campus bis zu 25 Prozent der Studierenden mit verschreibungspflichtigen Stimulanzen. In einer Umfrage im April 2008 wollte die Fachzeitschrift "Nature" von ihren Lesern wissen, wie viele schon Ritalin oder das Narkolepsie-Medikament Modafinil geschluckt haben, um ihren Fokus und ihr Gedächtnis zu schärfen. Jeder Fünfte hatte schon. 86 Prozent der 1400 Teilnehmer fanden, dass gesunden Erwachsenen der Zugang zu Smart Drugs erlaubt sein sollte, und sahen in den leichten Nebenwirkungen ein annehmbares Risiko. Eine Umfrage in Deutschland zu "Doping am Arbeitsplatz" ergab, dass 13 Prozent Medikamente gegen Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen einnehmen.
Die ganze letzte Woche habe ich Ritalin genommen: Mit Ausnahme von mal 15 und mal 20 Milligramm immer nur eine Pille. Obwohl es an müden Tagen von Vorteil sein kann, sich an die Arbeit zu setzen, ohne einen Sinn zu hinterfragen, hat das Gefühl der Hyperfokussiertheit rückblickend etwas Erschöpfendes. Das Medikament eignet sich dann, wenn man sich an eine Tätigkeit peitschen muss und sich von jeder Mücke ablenken lässt. Aufgeputscht erlebte ich das Zwischenmenschliche als eher mühsam.
Leider wurde ich nicht zu Superwoman. Wie sagte Thorsten Galert noch über die Wirkung des Neurodopings? "So eine Pille verhilft Ihnen nicht zu geistigen Kräften, die Ihr Potenzial erheblich übertreffen. Sie schöpfen damit Ihre Fähigkeiten aus und zeigen Ausdauer beim Aufrufen Ihrer Leistungsfähigkeit." Klarer hätte man es auch unter Methylphenidat nicht sagen können. Geh jetzt, Rita.

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