Montag, 21. September 2009

Werksbesetzung Arbeiterbewegung

Werksbesetzung – Arbeiterbewegung
Author D.Selzer-McKenzie
Die Fabrik liegt am Ende des In¬dustriegebiets von Chätelle¬rault. Sie hat der Hauptstraße die Rückseite zugekehrt, so dass, wer deti Eingang der wei¬ßen, großen Wellblechhalle se¬hen will, einen weiten Bogen fahren muss, vor¬bei an Pappschildern und Spruchbändern, auf denen steht: „Merci, Peugeot et Renault!", vor¬bei auch an dem Sarg aus schwarzem Papp¬mach& den jemand an eine Laterne gehängt hat, vorbei an all den Reliquien des Arbeits¬kampfes, der hier stattgefunden hat und des¬sen Parole noch immer an der vorderen Fassa¬de in dünnen schwarzen Lettern zu lesen ist: „Wir wollen die Abfindung! 30 000 Euro!" Darunter stehen dann noch andere, viel un-freundlichere Dinge.
Chätellerault ist eine kleine Stadt von 37 000 Einwohnern, sie liegt zwischen Tours und Poitiers, auf halbem Weg zwischen Paris und der französischen Atlantikküste. Jetzt, am Ende des Sommers, fahren viele Menschen auf dem Rückweg aus ihren Ferien an ihr vorbei, manche halten auch an. Es gibt hier eine schö¬ne Brücke, die Henri IV gebaut haben soll, und es gibt ein Automuseum, das sehr gut hierher passt, denn Chätellerault gilt seit langer Zeit als das „industrielle Zentrum" der Region Poi¬tou-Charentes. In den Industriegebieten, die die Stadt umschließen, findet man jede Menge kleiner Betriebe, die vor allem Zubehör für die Automobil- und die Flugzeugindustrie herstel¬len. Chätellerault ist eine klassische kleine Ar¬beiterstadt, in der viele Menschen so wirken, als hätte ein seltsames. Schicksal sie hierher- bestellt und dann nicht abgeholt.
Guy Eyermann ist einer dieser Menschen, aber er sieht fröhlich aus. Er hat etwas flegel¬haftes, seine Witze sind politisch nicht kor¬rekt, sein Lachen ist ansteckend. Als er an die¬sem Spätsommertag sein Gesicht an die Git¬terstäbe drückt, mit denen die Fabrik „New Fa¬bris" am Rande der Stadt umgeben ist, kommt ein Wachmann aus dem Büro gelaufen und grüßt ihn freundlich. „a va?" Jaja, sagt Eyer¬mann, „darf ich mal rein?". Aber der Ton in seiner Stimme lässt erkennen, dass es keine ernstgemeinte Frage ist. Er weiß, dass er die Erlaubnis nicht bekommen wird, und so ant¬wortet ihm der Wachmann auch leise: „Du weißt doch, dass ich das nicht darf."
Die Fabrik „New Fabris" produzierte Teile für die Autos von Renault und. Peugeot. Als die Finanzkrise kam, konnte das Unterneh¬men, das der italienischen Gruppe CEN gehör¬

te, weder seine Zulieferer noch seine 31 gestellten mehr bezahlen. Die Fabrik so; Sommer endgültig geschlossen werden eswber so weit kam, brachten die Arbeit gutes Dutzend Gasflaschen auf dem Firn lände an und verkabelten sie miteinan& drohten, die Fabrik explodieren zu h wenn man ihnen nicht eine Abfindu Höhe von 30 000 Euro zahle. Die Bilde gen durch das ganze Land. Sie sahen at könnten sie der Beginn eines sehr heißen mers in Frankreich sein.
Guy Eyermann hat neun Jahre lan „New Fabris" gearbeitet. Es war seine A be, die ankommenden Lastwagen zu entl und die leeren Fahrzeuge mit den Koll ren, Ölwannen und Riemenscheiben zi len, die die Arbeiter in der Fabrik fertig ten. Eyermann ist Mitglied der CGT, mächtigen, ehemals kommunistisch gei ten Gewerkschaft in Frankreich. Er lel Saint-Sauveur, einem winzigen Dorf in Nähe von Chätellerault. Seine Frau arb als Putzhilfe, seine älteste Tochter sucht de nach einem Job als Verkäuferin, die jii re macht Abitur. Bevor Eyermann anfing „New Fabris" zu arbeiten, war er acht J lang arbeitslos, jetzt ist er es wieder. Ei eine Abfindung von 12 000 Euro bekomi aber nicht die 30 000 Euro, die er eigen wollte.
Der Kampf, den er mit seinen Kolleg€ diesem Sommer geführt hat, vermittelte Eindruck, als wäre in Frankreich mal wi die Anarchie ausgebrochen, als bewegte das Land vielleicht nicht auf eine Revolt zu, aber doch in Richtung jener „sozialer plosion", vor der Henri Guaino, der wict. te Berater des französischen Präsidenten las Sarkozy, schon gewarnt hat. Es sah so als wäre ganz Frankreich von Kapitalist€ ; setzt und als würde nur ein kleines gallig Dorf dagegen Widerstand leisten. Und it Tat hat die Auseinandersetzung um „Ne‘ bris" den Ort ein bisschen berühmt gern Seit Bestehen der Stadt sind vermutlich n viele Fotos und Filme von ihr gemacht wo wie in den vergangenen Monaten. Der taine Martinot etwa, der als Polizist die schehnisse aus nächster Nähe verfolgt sagt, dass Chätellerault seit je eine kleine liche Stadt gewesen sei. „Aber jetzt sinc sehr in Mode."
Am 16. Juni, es war ein Dienstag, stellt ordentliches Gericht in Lyon die Zahlt unfähigkeit von „New Fabris" fest. Die Ater könnten nun zu Hause bleiben, sagte ih-nen der Direktor. Die Auftraggeber Renault und Peugeot-Citroen würden ihre Maschinen abholen, das Lager werde ausgeräumt, ge¬schlossen, und das sei dann das Ende.
Am Abend dieses Tages traf sich Guy Eyer¬mann mit ein paar Freunden in der Fabrik. Pa¬trick Beaupoux war dabei, der 28 Jahre lang am Fließband gearbeitet hat. Auch Alain Cuau — „Cocu" genannt —, der mit 36 Arbeits¬jahren einer der dienstältesten Angestellten hier war. Beide Männer sind klein und rund und überaus freundlich. Man kann sich vorstel¬len, wie sie mit einer Handvoll Kollegen bei¬sammenstanden und überlegten, was nun zu tun sei. Guy Eyermann sagt, er habe zunächst die Idee gehabt, auf dem Fabrikgelände Feuer zu legen. Aber ein Kollege machte den Vor¬schlag, man könne doch ein paar Gasflaschen aufstellen, so wie es die Arbeiter der Firma 'APM im Jahr 2008 auch getan hatten. Er habe darüber eine Reportage im Fernsehen gese¬hen, die eine halbe Stunde gedauert habe.
Als Eyermann am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe an der Fabrik ankam, waren an dem beigefarbenen Transformatorenhäus¬chen mitten auf dem Gelände acht Gasfla¬schen montiert. Sie waren über Drähte mitein¬ander verbunden, und die Botschaften, die man mit der Installation verbreiten wollte, hat¬te jemand mit schwarzer Farbe an die weiße Wand gesprüht. Eyermann sagt, er wisse nicht, wer das alles in der Nacht gemacht habe. Aber da sagt er natürlich nicht die Wahr¬heit, denn er weiß genau, wer es war. Er muss es wissen.
ei allem, was sich in den folgen
den Wochen in Chätellerault ab
gespielt hat, stand er in der vor
dersten Linie. Er leitete die Voll
versammlungen, zu denen die Ar
beiter regelmäßig — „immer mon
tags und donnerstags" — auf dem Fabrikgelän
de zusammenkamen. Er stellte sich auf die
zwei Stufen vor dem Büro, verkündete den
neuesten Stand der Verhandlungen, schlug
vor, wie weiter zu verfahren sei, und ließ die
anderen abstimmen. „Meistens sind sie mir ge
folgt." Er hat auch zu der Demonstration gela
den, die Ende Juni durch Chätellerault zog
und zu welcher der Pfarrer von Saint-Jacques
aus Solidarität die Glocken seiner Kirche läu
ten ließ. Er führte den Sternenmarsch auf das
Rathaus, an dessen Ende ein paar Dutzend
Protestier die herauseilenden Angestellten ge¬rade
ge¬rade noch rechtzeitig daran hindern konnten, ihnen das große gusseiserne Tor vor der Nase zu verschließen. Man wolle den Bürgermeis¬ter sprechen, ließ man wissen. Und der Bürger¬meister, der die bisherigen Bitten nach einem Gespräch stets abgelehnt hatte, ließ die Arbei¬ter nun, wo sie schon einmal da waren, in ei¬nen großen Saal in einem Seitenflügel des Ge¬bäudes führen. Dort haben die Arbeiter Mon¬sieur Abelin dann gefragt, was er für sie zu tun gedenke. Eyermann gibt zu, sie hätten ihm auch gesagt, dass sie ihn für unfähig hielten, woraufhin der Bürgermeister sehr rot gewor¬den sei, sich furchtbar aufgeregt habe und ein ums andere Mal wiederholt habe, er sei ja nicht der liebe Gott.
„Es stimmt schon, dass wir nicht immer freundlich sind", sagt Eyermann. „Aber die an-deren sind es auch nicht."
Als sie in Boulogne-Billancourt nahe Paris die Geschäftsführer von Renault sprechen wollten, wurden sie nicht empfangen, obwohl sie sich hartnäckig auf die Straße zum Firmen¬sitz gelegt hatten. In Poissy, wo Peugeot-Ci¬troen seinen Geschäftssitz hat, geschah dassel¬be, also auch nichts. Und weil es mittlerweile schon Mitte Juli war, weil die großen Ferien immer näher rückten, die ganze Aktion nun schon einen Monat dauerte und den Männern außer eben ein paar Artikeln in den lokalen Zeitungen nichts, aber auch gar nichts ge- bracht hatte, da entschlossen sie sich, noch ein bisschen mehr „Krach zu machen".
Sie zogen ein paar Maschinen, die auf dem Fabrikgelände von „New Fabris" standen, vor das Transformatorenhäuschen und zündeten sie an. Die Maschinen waren schon alt und ei¬nigermaßen wertlos, denn die teuren Geräte wollte man ja an die beiden Autokonzerne ver¬kaufen, nach dem Motto: Wir verkaufen euch eure Maschinen und bessern von dem Geld un¬sere Abfindungen auf! Aber dass es so war, wusste fast niemand
Dieses Mal kamen jede Menge Fotografen und Kamerateams aus ganz Frankreich. In die ganze Welt sandten sie die martialisch ausse¬henden Bilder, auf denen Guy Eyermann und seine Kollegen zu sehen sind, wie sie vor mannshoch auflodernden Flammen auf dem Gelände stehen, hinter ihnen die schwarze Schrift an der Wand und die Zahl.
Als die Maschinen brannten, rückte die Feu¬erwehr an. Die Polizei hatte sich die ganze Zeit über sehr zurückgehalten; sie fuhr zwar immer wieder an der Fabrik vorbei, aber sie
griff nicht ein. Die Feuerwehrmänner indes
passten auf, dass die Flammen nicht auf die
Gasflaschen übergriffen. Während sie so da
standen, erklärten sie den Arbeitern auch,
dass die leeren Flaschen im Grunde viel ge¬fährlicher seien als die vollen. Die Männer hat¬ten nur jede zweite Flasche tatsächlich mit Gas gefüllt, und nun erfuhren sie, dass in die¬sen Flaschen Unterdruck bestehe — wenn sie mit Feuer in Berührung kämen, dann könnten sie wie Raketen in den Himmel schießen, um an irgendeinem entfernten Ort wieder auf den Boden zu schlagen. Wenn Guy Eyermann heu¬te davon erzählt, hält er seine Hände vor die Brust und tut so, als würde er ein Lenkrad hal¬ten. „Stellen Sie sich vor, jemand fährt auf der
N 10, und ihm fällt so ein Ding auf den Wa¬gen. Man hätte dann nur noch von ihm gere¬det und nicht mehr von uns."
Mittlerweile hatte beinahe jede französi¬sche Zeitung und jeder Fernsehsender die Ge¬schichte der Firma „New Fabris" in das Land und auch zu den anderen Arbeitern getragen, deren Fabriken im Laufe der Krise in Schwie¬rigkeiten geraten waren. Die Ereignisse in Chätellerault waren der vorläufige Höhepunkt all der Aktionen, mit denen diese Angestellten im Land versucht hatten, auf sich aufmerksam zu machen. In Villemur-sur-Tarn im französi¬schen Südwesten hatten Arbeiter des Autozu¬lieferers Molex ihren Chef als Geisel festgehal¬ten. In Niederlassungen der Firmen Sony, Ca¬terpillar, 3M und FM Logistics geschah dassel
be. In Compiegne, einem Ort im Norden Frank
reichs, randalierten die Arbeiter der Firma
Continental in der Unterpräfektur.
achdem die Arbeiter in Chä¬tellerault die Maschinen ange¬zündet hatten, bot der französi¬sche Industrieminister Chris¬tian Estrosi an, ihre Unterhänd¬ler in Paris zu treffen — unter
der Bedingung, dass zunächst die Gasflaschen
abmontiert würden. Guy Eyermann ließ die
Vollversammlung abstimmen und riet ihr, das
Angebot anzunehmen. Das tat sie.
In Paris verhandelte man über die Abfin¬dung. Man nannte zunächst eine Summe von
11 000 Euro und einigte sich schließlich auf
12 000. Das Geld sollte zu gleichen Teilen
von den beiden Autokonzernen gezahlt wer
den, die im Gegenzug ihre wertvollen Maschi¬nen wieder erhielten. Auf die üblicherweise zu entrichtenden Steuern und Abgaben woll¬te der Staat verzichten. Und weil es nun schon auf Ende Juli zuging, weil die Arbeiter fürchteten, dass sich im August, in dem die Franzosen fast kollektiv in der Sonne liegen, wieder niemand für sie interessieren würde, und weil einige von ihnen selbst schon lange ihre Ferien gebucht hatten, beschlossen sie nahezu einstimmig und pünktlich am 31. Juli, ihren Protest zu beenden. Das war ein Frei
Guy Eyermann selbst blieb noch eine Wei¬le in seinem Dorf und fuhr dann genauso wie beinahe alle seiner Kollegen in den Urlaub. Erst als der August sich allmählich dem Ende zuneigte, kam einer nach dem anderen nach Hause zurück. Seitdem treffen sie sich manch¬mal bei Olivier, dem Wirt, dessen kleines Re¬staurant in der Nähe des Industriegebietes liegt und bei dem sie oft essen waren, als sie noch in der Fabrik arbeiteten. Patrick Beau¬poux ist da und Alain Cuau, zuweilen sind sie zu fünft, selten zu zehnt. Die anderen der 380 Arbeiter von „New Fabris", für die sie höhere Abfindungen erkämpft haben, hat Guy Eyer¬mann nicht mehr gesehen. Patrick Beaupoux fragt nach dem Kollegen Cyril, aber Eyer¬mann sagt: „Ich habe keine Ahnung, was er macht."
Guy Eyermann möchte in naher Zukunft ein Komitee gründen, das „Komitee der Ar¬beitslosen von Chätellerault". Er möchte zei¬gen, dass Arbeitslose nicht auf der faulen Haut liegen. „Wir wollen arbeiten", sagt er. Natürlich weiß er, dass es gerade für ihn, der in jede Kamera geredet hat und dessen Name in jeder Zeitung stand, schwierig werden dürf¬te, einen neuen Job zu finden. Aber er kann nicht so tun, als wäre nichts gewesen. Allen Arbeitern ging es am Anfang nur um das Geld. Aber einem von ihnen geht es jetzt ums Prinzip.
Gleich am nächsten Tag wollen die drei Männer in aller Frühe nach Compiegne fah¬ren, wo die Arbeiter von Continental vor Ge¬richt stehen, die im vergangenen Frühjahr die Unterpräfektur zerstört hatten. Sie waren im Sommer zu zahlreichen Demonstrationen nach Chätellerault gekommen, und so fühlen sich Beaupoux, Cuau und Eyermann nun ih¬rerseits zur Solidarität verpflichtet. Am Nach¬mittag müssen sie wieder zurück sein, weil sich der Industrieminister Estrosi für einen Besuch angekündigt hat. Er möchte eine Pa¬pierfabrik besichtigen, die nach allerlei Hin und Her von einer Nachbarstadt nach Chä¬tellerault verlagert werden und dort im Laufe der nächsten fünf Jahre einhundertfünfzig neue Arbeitsplätze schaffen soll. Eyermann hält den Besuch des Ministers aber für eine Werbeaktion, er und seine Freunde haben ein weiteres Mal angekündigt zu protestieren. Sie wirken, als könnten sie einfach nicht aufhö
ren.
Es ist noch früh, als sich die drei Männer an diesem Abend entschließen, nach Hause zu ge-hen. Es ist acht Uhr, ein lauwarmer Sommer¬abend, keine Wolke ist am Himmel zu sehen. Der Wind weht durch die Blätter der Kasta¬nienbäume, die Sonne wirft gelbes Licht auf die Straße. Um drei Uhr morgen früh wollen sie losfahren, und am Nachmittag müssen sie wieder hier sein. Beaupoux steht an seinem Wagen, er macht die Tür auf, winkt, die Nacht wird kurz. „Allez", sagt er, „es gibt Arbeit."

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