Freitag, 19. Juni 2015

Die untergegangene Stadt Herakleion – von Selzer-McKenzie


Die untergegangene Stadt Herakleion – von Selzer-McKenzie

Dein Video wird hier zu sehen sein: http://youtu.be/x3mS8xymKyE

 

Author D.Selzer-McKenzie

Die Stadt ist verloren: Ein ohrenbetäubendes Grol-len erschreckt die Menschen. Risse klaffen in al-len Gassen auf, Mauern bröckeln, Pharaonen- und Götterstatuen zerspringen auf dem Pflaster der Plätze. Das Erdbeben bringt in Sekunden Tempel ins Wanken, die für die Ewigkeit erdacht waren.

Für die meisten Bewohner aber kommt der Tod wohl über die Hafenmauer: Ein Tsunami rollt aus dem Mittelmeer an. Die meterhohe Wand aus SalzwasserAlgen und Sand schießt mit unwidersteh-licher Kraft durch die Straßen, reißt Brü-cken und Stege fort, lässt Schiffe kentern, überspült Wohnhäuser, Werkstätten und schließlich das Nonnenkloster am westli¬chen Stadtrand. Wer bis jetzt nicht flüch¬ten konnte, schreit, paddelt, strampelt um sein Leben. Überall Wasser: Es dringt bis in die Mauern ein, verflüssigt binnen kürzester Zeit die Lehmschichten in der Tiefe - und zieht so Tempeln, Granitko-lossen und Heiligenschreinen den Boden unter den Fundamenten weg.

Was auch immer die Herrscher der Stadt am Nil über Jahrhunderte gebaut haben - es stürzt ein, als sei es aus Schilf-rohr zusammengesteckt.

So könnte es sich abgespielt haben: An ein und demselben Tag, vielleicht in einer einzigen Stunde, versinkt im späten 8. Jahrhundert n. Chr. bei Alexandria ein gewaltiges Küstengebiet - und mit ihm jene sagenumwobene Hafenmetropole, die einst für Ägypten das Tor zur Welt war: Herakleion.

Niemand kann sagen, wie viele Men¬schen zu dieser Zeit in der Stadt noch ge¬wohnt haben, wie viele davon sich retten konnten. Für Dutzende, vielleicht Hun¬derte, wird es wohl kein Entrinnen gege¬ben haben.

Für Archäologen wie Franck Goddio jedoch ist die Naturkatastrophe auch ein Glücksfall. Denn während andere alter-tümliche Stätten an Land verwitterten, geplündert und überbaut wurden, konn-ten Herakleions Ruinen unter den Wellen wie in einer Zeitkapsel überdauern - vor Sandstürmen, Kriegen und Tourismus-Investoren geschützt. Und selbst wenn die Stadt damals längst an Bedeutung verlo¬ren hatte: Der Untergang hat am Boden des Ozeans auch das Erbe ihrer früheren Blütezeit konserviert. Und eröffnet so einzigartige Einsichten in die Lebenswelt der späten Pharaonenzeit.

Mehr als zweihun¬dert Jahre lang, zwischen 55o und 331 v. Chr., war Herakleion für Ägypten der wichtigste Seehafen am östlichen Mit¬telmeer - das Tor zum Macht¬gebiet Griechenlands. Hier trafen Siedler und Händler, Künste und Wertvorstellungen, Erfindun¬gen und Ideen aus zwei antiken Hochkul¬turen zusammen; ein frühes Beispiel jener multikulturellen, von ständigem Aus¬tausch lebenden Stadtgesellschaft, wie sie bis heute in Häfen weltweit zu finden ist.

Für zwölf Jahrhunderte blieb Hera-kleion nach der Katastrophe verschollen. Nur verwirrende Schriftquellen deuteten noch darauf hin, dass die Metropole je existiert hatte. Nicht wenige Forscher hielten sie für unauffindbar. Oder sogar für einen Mythos, ein „Atlantis am Nil".

Vor 14 Jahren hat der französische Archäologe Herakleion mit seinem Team unter Einsatz von hochempfindlichen Suchgeräten aufgespürt - in der Bucht von Abukir, sechs Kilometer vor der Küste bei Alexandria . Seither versucht er, längst vergangene Geschichten aus dem Meeresgrund her¬auszulesen.

Was war das für ein Ort, der zu hohen Festtagen den Pharao Ägyptens auf seiner reich geschmückten Nilbar¬ke empfing? Der ein Aus¬gangspunkt war für pracht¬volle Küstenprozessionen zu Ehren des Fruchtbarkeits-gottes Osiris? Und dessen Bewohner es sich in der am¬phibischen Welt des Nildel¬tas eingerichtet hatten, in der jährliche Schlammfluten immer wieder die Lage der Kanäle, der Felder, der Landhügel veränderten? Ein stetes Ringen mit den Urgewalten der Natur, den Launen der Götter, muss das gewesen sein. Ein Kampf, an dem die Menschen der Stadt doch letztendlich scheiterten.

Ganz langsam, nach mehr als 4o Ex¬peditionen und mit der Hilfe von inzwi¬schen rund 14000 verzeichneten Arte¬fakten, verdichten sich die Details nun zu einem Gesamtbild der Metropole.

Beharrlich treibt Goddio in Hera-kleion das weltweit mit Abstand ambitio¬nierteste Projekt voran, das in der Mee-resarchäologie je unternommen wurde. Er lässt die versunkene Stadt der Pharaonen wieder auferstehen. Mit Zeugen, die seine Tauchteams vom Grund des Mittelmeeres bergen. Zeugen aus Stein, aus Holz, aus Gold. Jeden Tag neu, jeden Tag mehr.

Drei Jahre lang habe ich auf diesen Moment gewartet. Immer wie¬der mussten Termine verscho¬ben, Genehmigungen erbeten werden. Ägypten kam nicht zur Ruhe. Nun endlich darf ich als erster Reporter die Arbeit der Forscher unter Wasser begleiten.

Franck Goddio nimmt mich mit in die Tiefe, auf eine Zeitreise. Sieben Meter unter den Wellen tasten wir uns an Mess¬leinen in die versunkene Hafenstadt vor.

Verwunschen sieht sie aus, ganz von Schleiern aus trübem Blau eingehüllt, kei¬ne drei Meter weit zu durchschauen.

Auf den Tempelruinen thronen nun neue gepanzerte Herrscher: Krebse und Schnecken. Über den Statuen kreisen Fi¬sche. Ein Oktopus sucht zwischen Säu-lenfragmenten Deckung. Und maskierte Gestalten, mit Saugrüsseln, Atemgeräten und hautengen Neoprenrüstungen ziehen schemenhaft durch die Straßen der Pha-raonenstadt. Wir schweben vorüber an Hunderten von Keramik¬scherben, die zwischen Muscheln und Haarsternen über den Sand verstreut sind. Überqueren die Plät-ze, auf denen griechische Händler einst ihre Silber-und Goldwaren gegen ägyp¬tische Salben, Elfenbein und Papyrus eintauschten. Passieren die Hafenanlagen, an denen noch Dutzende Schiffe festliegen, unter Wasser und von Schlick begraben.

Dann bedeutet mir Goddio, dass wir die innerste Tempelanlage erreicht haben, erschaffen zu Ehren von Amun-Gereb, Gott der Könige, König der Göt¬ter - und für seinen Sohn Chons, den die Griechen als Herakles anbeteten.

Was für ein Bauwerk muss dieses Heiligtum einst gewesen sein! Mauern von mehr als 1.5o Meter Länge umgaben es. Und auch wenn die riesigen Götter-und Königsstatuen aus Rosengranit, die früher den Eingang zierten, nicht mehr an ihrem Platz stehen, die Mauersteine von Algen bewachsen, die Wandmalereien weggewaschen sind: Die Würde des Hei¬ligtums lässt sich noch immer erahnen.

Goddio taucht voraus, 210 Grad Süd¬west, dem Kurs seines Kompasses nach. Dann dreht er etwas nach rechts. Stopp! Er ist fündig geworden. Entschieden zeigt der Wissenschaftler auf ein langes, von Sedimenten umwirbeltes Holzstück, das aus einer Mauer hervorragt. Es wirkt unscheinbar, ein versunkener, brauner Pfahl. Für Goddio aber scheint er von ein-zigartigem Wert zu sein.

„Das ist einer der Pfähle, auf die der Naos des Tempels gestützt war", erklärt er mir später, als wir zurück auf das For-schungsschiff „Princess Duda" klettern. Der „Naos", ein Heiligenschrein aus Gra-nit, etwa zweieinhalb Tonnen schwer, war das Herz des Amun-Gereb-Tempels. In ihm bewahrten die Priester ein golde-nes Abbild des Königsgottes auf. In ge-schmückten Barken werden sie wohl erst von Memphis und später von Alexandria aus bis nach Herakleion gereist sein, um ihm zu huldigen. Um bis in das Allerhei¬ligste des Tempels zu schreiten und dort ¬vom Rasseln der Sistren begleitet, von Weihrauchfahnen verhüllt - Amun um den Segen des Himmels zu bitten.

„Zugegeben: Man braucht Fantasie, um solche Szenen aus den Spuren im Was¬ser herauszulesen", räumt Goddio ein.

Ja, zweifellos. Und was braucht man noch? Geld.

Zeit. Aber vor allem eine von unfassbarem Enthusi¬asmus getriebene Akribie, fast schon Besessenheit, um Informationen Stein-chen für Steinchen, Scherbe für Scherbe, Holzstück für Holzstück aus dem trüben Wasser zu fischen. Jahrelang.

Wie kann so etwas gelingen?

Die Entdecker stehen Schlange, vom Inneren der Kajüte bis weit nach draußen an Deck. Sie ha¬ben Plastiktüten mit Gold- und Bronze-schmuck mitgebracht, eine Vase aus Ala¬baster, ein elegant geschwungenes Marmorfragment, jede Menge Notizen.

Wie jeden Morgen waren die Taucher nach kurzer Lagebesprechung zu ihren Missionen ausgeschwärmt. Zentimeter für Zentimeter haben sie unter Wasser nach neuen Relikten geschürft - in einem Suchareal von einschüchternder Größei,8 Kilometer lang, 1,2 Kilometer breit und in der Tiefe von zahlreichen, oft komplex ineinander verschobenen Sediment-schichten unterlegt.

Vorsichtig, mit Messern und Sedi-mentpumpen, legen die Taucher darin Stein- oder Holzstrukturen frei, stöbern Ohrringe, Armreifen und Amulette auf, silberne Münzen, bleierne Tierfiguren, Lederriemen und Bronzegeschirr, Fruchtbarkeitsstatuetten, verzierte Knochen von Flusspferden und Antilopen.

Jetzt will Goddio die Ausbeute des Forschungsta¬ges bewerten. Er sitzt in der Messe der „Princess Duda" am Tisch, spitzt den Blei¬stift, nippt am Espresso -und bittet die Taucher dann ruhig, immer der Reihenach, zum Rapport.

Er hört zu, nickt kurz, „c'est inter-essant!", und schreibt auf: „Sediment-schicht, braunschwarz, schräg nach Wes¬ten hin geneigt." Alles richtig? Der Taucher bestätigt die Koordinaten.

Jedes Detail kann bedeutsam sein, ein Goldfund genauso wie ein Stück Holz, eine leichte Verfärbung im Lehm, ein sich veränderndes Gefälle. Goddio ist penibel: Er muss alles erfassen.

Er notiert die Beobachtungen und Funde in seinem Buch und verzeichnet sie anschließend in einer Karte, die er vom Laptop auf einen Wandbildschirm überträgt. Diese Karte ist das Gedächtnis der Expedition, ihr heimlicher Held. Auf ihr lebt die Stadt wieder auf.

Mehrere Hundert Informationsebe-nen kann Goddio dafür ein- oder aus-blenden: Messungen des Magnetfeldes, an denen sich Steinstrukturen im Unter-grund ablesen lassen, Strömungsprofile und Seismikdaten, die zur Interpretation von Bodenveränderungen benötigt wer-den. Die Lage der Schiffswracks und An¬ker, der Kalksteinstrukturen. Alle Fund¬stellen von Schmuck. Von Münzdepots. Oder von bronzenen Schöpfkellen, die das Team in der Tiefe zu Hunderten auf¬gespürt hat und die wahrscheinlich für Ri¬tuale benutzt wurden. Vielleicht lässt sich deren Bewandtnis ja aus dem Muster der Fundorte herauslesen?

Was für ein irres Detailgeflecht! Es sieht komplizierter aus als ein Stadtplan Ringe aus Kalksandstein, groß wie  Lastwagenreifen, geben den Forschern  Rätsel auf. Handelte es sich möglicherweise um Segmente für den Brunnenbau? Und für jede Spezial¬frage sind Experten an Bord. Insgesamt 4o Forschungstaucher, Wissenschaftler und Helfer vom Europäischen Institut für Unterwasserarchäologie (IEASM), vom Zentrum für maritime Archäologie in Ox¬ford und vom ägyptischen Oberstenrat für Altertümer (SCA): Ägyptologen, Schiff¬bauforscher, Keramikexperten.

Ihre Funde, ihre Expertise - all das konzentriert Goddio in seiner Karte, sei-nem eigenen Heiligtum. Immer wieder brütet er noch bis spät in die Nacht über ihr, huscht im Raster der Messungen hin und her, unansprechbar versunken. Er muss entscheiden, in welchem Quadran-ten am nächsten Tag weitergegraben wird. Wo es sich lohnen könnte - denn jede Tauchstunde ist kostbar.

Es gilt, den Überblick zu behalten, Zusammenhänge zu sehen: Dieses Stück einer Alabaster-Vase etwa, die einer der Taucher am Rand eines Schiffswracks entdeckt hat - könnte es zu einer anderen, vor ein paar Jahren ein Stück entfernt aufgelesenen Alabaster-Scherbe passen? Goddio ruft das Foto davon auf den Schirm. Tatsächlich: die Bruchränder bei¬der Funde passen perfekt zusammen. Um sie herum lagen Gehäuse von wertvollen Purpurschnecken, Votivanker, Bleistücke.

Lässt sich daraus der Weg jener Festtagsprozession rekonstruieren, von der bislang nur Bild- und Schriftquellen früherer Zeiten erzählen?

Allein dort untersucht er ein Meeresge-biet, das ungefähr ebenso groß ist wie die Stadtfläche von Paris.

Als „intellektuelle Droge" hat Goddio das Mysteriöse der Tiefe einmal bezeich¬net. Für sie zwängt er sich jedes Jahr mehrere Monate

lang in die engen, abgelege¬nen Welten archäologischer Forschungsschiffe. Dies sei sein „Urlaub", sagt er. Da-zwischen lebt er zur Aus¬wertung von Funden und für die Vorbereitung neuer Expeditionen abwechselnd in Paris und Madrid - fern vom Meer. Tauchen gehe er außerhalb der Missionen ohnehin nie: keine Zeit, kein Interesse.

Den Gestus des Diplomaten hat er sich bis heute erhalten. Immer höflich, korrekt, auch ein Stück weit unnahbar. Ein Abenteurer? Dieses Etikett weist God-dio von sich. Seine Arbeit bestehe doch vielmehr darin, „Abenteuer zu verhin¬dern" nämlich Erkenntnisse aus den Meeren zu bergen, ohne dabei Unfälle zu riskieren.

Unbestreitbar ist: Ar¬chäologische Expeditionen im Ozean, dem „inneren Weltraum", bergen Gefah¬ren. Und sind nun einmal viel komplizierter (und da-mit teurer) als Grabungen an Land. Nur zwei Mal am Tag, meist für jeweils zwei Stunden, kön¬nen die Taucher im Wasser arbeiten. Und wenn sie unten sind, um Neues zu entde¬cken - dann können sie das Neue oft nicht einmal sehen.

 Als ich an einem Tag Patrice Sandrin folge, dem technischen Zeichner der Ex-pedition, ist das Mittelmeerwasser so trüb, dass man kaum eine Armlänge weit blicken kann. Der Forscher kaut miss¬mutig auf seinem Atemgerät herum. Er will die Lage einiger Kalksteinblöcke am Boden verzeichnen, die zur Pharaonen-zeit vielleicht eine Straße gebildet haben. Einen einzigen GPS-Punkt hat Sandrin dafür mit einer Boje markiert. Von hier aus muss er zaubern: Er misst, quasi blind in der milchigen Tiefe, mit einem Ma߬band die Abstände zwischen den Steinen; mit einem Winkelmesser berechnet er ihre Position zueinander, er „triangu¬liert". Die Flossen am Gürtel befestigt, hüpft Sandrin über dem Meeresgrund hin und her, als spaziere er auf dem Mond herum. Er hält Zahlen mit Bleistift auf seiner Schreibtafel fest. Guckt genervt, als ein Tintenfisch vorbeischwimmt und das Sediment zu dichten Wolken aufwühlt. Doch dann ist es geschafft:

 

Amande Coignard, werden durch die Bergung „trauma-tisiert", was sie nur durch vorsichtiges Betupfen mit bestimmten Laugen oder Säuren (je nach Material des Artefakts) lindern kann.

 

Aus dem alten Ägypten war bis vor Kurzem kein einziges bekannt. In Hera-kleion aber ist Goddios Team unter Wasser auf 64 zugleich gestoßen - den größten antiken Schiffsfriedhof, der je entdeckt wurde.

Auch während unserer Expedition gibt das Meer täglich neue, ver¬blüffende Funde preis. Eigenarti¬ge Balustraden aus Dolerit etwa, die am Wrack Nummer ii lagen. Oder Amulette mit Schlangen- und Horusfiguren.

Auf dem Deck des Forschungsschiffs stapeln sich Kisten voller Artefakte, die noch analysiert werden müssen. Einige sehen aus, als hätten Tempelpriester sie erst am Vortag im Schlick vergessen. Und wenn Figuren oder Schmuckstücke schon mit Krustenalgen und Korrosionsschichten überzogen sind, muss die Expertin, vorsichtig kratzend, eine eigene „Ausgrabung" vornehmen. Nur dass ihre Werkzeuge dabei - Skalpele, Pinzetten und Juwelierhämmer - weit filigraner aussehen als die der Taucher.

Tag für Tag gewinnt so das Stadtbild Herakleions an Schärfe. Und immer ge-nauer vermögen die Forscher um Goddio sich damit auszumalen, wie die Hafen¬metropole zu ihrer Blütezeit aussah.

Herakleion lag an der Mündung des westlichsten Nilarms - durch eine Sandbank vor Winden ge¬schützt. Die labyrinthisch verwobenen Ströme des Deltas flossen durch Schilf-rohrgebiete, Sümpfe und Akazienwälder. Dörfer mit Weizenfeldern und Wiesen für Rinder- und Schafherden traten im Um¬land als versprengte Inseln daraus hervor. Und auch die Stadt selbst war von Dut zenden Kanälen und Buchten, Stegen, Brücken und Wasserwegen zerschnitten: ein "Venedig Ägyptens".

Durch das Zentrum lief der große Kanal, der die Hafenbecken verband und von Herakleion weiter zu den benachbarten Städten Kanopos und später bis nach Alexandria führte.

Das Herz von Herakleion, der um-mauerte Tempelbezirk zu Ehren der Götter Amun-Gereb, Mut und Chons, lag am südlichen Ufer des großen Kanals: das wichtigste Heiligtum - und wohl zugleich auch das Wirtschaftszentrum der Stadt. Amun-Priester betrieben hier Schreib¬stuben, Bäckereien und Schlachthäuser. Maler und Bildhauer entwarfen neue Ver-zierungen für die Monumente des Him-mels. An der Tempelschule wurden junge Diener des Weltengottes in Mathematik, Fremdsprachen und Medizin ausgebildet.

Im Umland unterhielten die Priester Amuns zudem Ländereien, von denen Früchte, Fleisch und Korn über die Nil-arme bis nach Herakleion eingebracht wurden. Und so hatten sie wohl auch ihre Stimmungsvolle Stillleben arrangierte Fotograf Christoph Gerigk im Licht seiner Taucherlampen. Wie diese zzoo Jahre alte Öllampe aus schillernd angelaufener Bronze, gefunden beim Amun-Tempel

ren Anteil am schillernden Handel, der an den Kais der beiden Hafenbecken pulsier¬te. Kunsthandwerker und Heiler, Gaukler und fahrende Händler werden hier dicht an dicht ihre Stände und Werkstätten auf¬gebaut haben. Auf Altären opferten Pilger und Seefahrer den Göttern und warfen Münzen, Votivanker und Miniaturbarken als Opfergaben ins Wasser.

Von den Schiffen am Hafen verluden Sklaven Keramiken aus Sizilien, Zypern und der Ägäis: Mörser, Askoi-Gefäße und fein dekorierte Trinkschalen, Amphoren mit Wein und Olivenöl, Krüge voller Ha¬selnüsse. Andere Schiffe wurden mit Bün¬deln aus Ebenholz und Getreide bepackt, die von Ägypten den Weg nach Griechen¬land nehmen sollten.

Mit den Händlern und Siedlern aus dem hellenischen Reich, auch das kann Goddios Team aus den Funden erkenner kamen ständig neue Ideen und Moden -7 die ägyptische Stadt. Die Töpfer in Hera-kleion imitierten in ihren Werken griechi¬sche Stilformen. Die Hellenen schätzten im Gegenzug die Heilkünste und das ural¬te Wissen des Pharaonenreiches, wie ihre schriftlichen Quellen berichten; und die wandelbaren ägyptischen Gottheiten deu¬teten sie pragmatisch in ihre eigenen wir beteten Amun als Zeus, seine Ehefrau Mut als Hera, seinen Sohn Chons als den kindlichen Herakles an.

Später, als Alexander der Große Ägypten einnahm und seine Erben, die Ptolemäer, jahrhundertelang am Nil re-gierten, fiel es den neuen hellenischen Königen dadurch leicht, ihre Herrschaft zu legitimieren: Sie erklärten sich einfach selbst zu Pharaonen, zu Söhnen des Son¬nengottes, und setzten damit die vielseitig interpretierbare Mythologie des erober¬ten Reiches reibungslos fort.

Vor allem jedoch flossen die Wissens¬schätze Ägyptens über Begegnungsstätten wie Herakleion in die griechische Hochkultur ein. Weit über die Grenzen der Pharaonenwelt hinaus sind Spuren ihrer Kultur dadurch erhalten geblieben, haben sich bis in die Gegenwart, bis nach Europa fortgesetzt. Platon, Aristoteles, Herodot: All diese Gelehrten, die als Vor¬denker der Moderne gelten, haben immer betont, wie stark das Erbe Ägyptens ihr Wirken beeinflusst hat.

Herakleions Bürgern des 5. Jahrhunderts v. Chr. war das wohl gleichgültig. Für sie, die ihre einfachen Häuser aus Lehmziegeln und Schilfrohr vor allem im Süden des Tempelbezirks erbaut hatten, waren die kriegserfahrenen Griechen

vor allem ein Schutz: Denn als Tor zum Pharaonenreich war Herakleion ein lo-ckendes Ziel für Invasoren.

Verteidigungswälle säumten das öst¬liche Hafenbecken. Von einem Aussichts¬turm, dessen Reste die Taucher unter Wasser fanden, konnten Wachtposten an¬kommende Schiffe aus dem Mittelmeer schon von Weitem erblicken. So jedenfalls interpretieren Goddios Fachleute das Fundament.

Steile Wellen, aufgewirbelt vom Nordwind. Unter Wasser tobt ein Sandsturm. An einem der letzten Tage der Expedition tauche ich mit zwei Archäologen des Teams aus Oxford noch einmal zum Hafen ab. Wir wollen ein Schiff untersuchen: das Wrack 43.

Es gehört zu einer eigenartigen Flotte, die Goddios Mannschaft zwischen den Hafenruinen entdeckt hat. Und die einen Schiffstyp belegt, wie er bislang in Ägypten noch nie gefunden wurde: erbaut aus Akazienholz, datiert auf den Zeit¬raum zwischen dem 6. und dem 2. Jahr¬hundert v. Chr.

Die Schiffe sind lang, bis zu 26 Me-ter vom Bug bis zum Heck, schmal und flach - aber seetauglich dank eines kräf-tigen Ruderblatts, ihres mittigen Segel-masts und vor allem dank des deutlich zugeschnittenen Kiels, der die Wellen des Mittelmeeres durchschneiden kann.

Von den trägen, kiellosen Flussboo-ten für den Nil hebt diese Konstruktion sich klar ab. Sie war optimiert für Fahrten in Küstengebieten wie dem von Hera-kleion: Die Schiffe konnten im Nildelta sicher durch alle Untiefen manövriert werden, gleichzeitig aber auch Waren zwischen den Piers und den großen Frachtschiffen hin- und herbringen, die im tiefen Wasser jenseits der Brandung auf Reede lagen.

Schon Herodot hat in seinen Reise-notizen solche „Baris" ge¬nannten Transportschiffe aus Akazienholz erwähnt. Zum ersten Mal aber haben die Forscher um Goddio in Herakleion nun die Mög¬lichkeit, solche Boote tat¬sächlich zu untersuchen. Der Holzrumpf der Schiffe wurde aus kurzen, stabilen Planken zusammengesteckt, in denen die Rippen des Bootes zapfenför-mig verankert sind. Eine Präzisionsarbeit, die nur wenige Archäologen den ägypti¬schen Bootsbauern in der Antike zuge¬traut hätten.

Jahrzehntelang hatten Forscher das Klischee gehegt, die Pharaonen hätten zwar überragende Tempel und Pyrami-den, aber bestenfalls einfache Schiffe er¬bauen können. Jetzt erweist sich, dass das nicht stimmt. Die Bootsbauer von Hera-kleion konnten sich durchaus mit jenen der Griechen oder Phönizier messen.

Wrack 43 birgt aber noch ein weiteres Geheimnis, das die Taucher vor meinen Augen freilegen, indem sie den Sand von den Planken fächeln. Das Wrack ist im Boden verankert! Vier dicke Holzpfähle, um den Rumpf herum tief in das Sedi¬ment eingerammt, halten es in der Tiefe gefangen. Und gleich daneben, so war in Goddios Karte an Bord des Forschungs¬schiffs zu erkennen, sollen noch sieben weitere Wracks im Sand liegen, die das¬selbe Schicksal erlitten haben.

Die Schiffe der Pharaonenzeit sind absichtlich versenkt worden.

Aber warum?

Sollten sie vielleicht in der nördlichen Hafenpassage ein künstliches Riff for¬men, um feindliche Schiffe bei einem Angriff zu stoppen? Oder galt ihr ge¬meinsamer Untergang eher dem Ziel. eine Brücke zu schaffen? Oder gar eine künstliche Insel im sich ständig verwan¬delnden Nildelta?

Die Forscher rätseln noch. Was sie wissen, ist nur, dass die Menschen Hera-kleions immer wieder versucht haben, sich diesem Wandel der Flussläufe anzu¬passen. Wie der Naos des Haupttempels, so wurden auch zahlreiche andere Bauten mit Holzpfählen abgestützt, wenn der Bo-den unter den Fundamenten aufweichte. Kalkblöcke wurden aus überschwemmten Arealen gerettet und auf neu aufgetauch¬ten Inseln wiederverwendet. Aus Goddios Funden lässt sich womöglich sogar bald belegen, dass ganze Stadtviertel abgetra¬gen und andernorts wieder aufgestellt wurden - wie Dutzende Frakturen und Überarbeitungen in den Steinblöcken nahelegen.

Am Ende aber hat sich das Wasser nicht aufhalten lassen: Herakleion war auf Sand gebaut. Unter der Last der Gebäude sackte der Boden Stück für Stück weg - bis das Erdbeben im 8. Jahrhundert der Stadt wohl den vernichtenden Stoß gab.

So vieles ist noch ungeklärt: Was liegt in den tieferen Schichten? In welcher fein austarierten Anordnung standen die Tempel der Stadt einst zueinander? Und was lässt sich daraus über die Entwicklung der Kulte hier an der Küste des Pharaonenreiches sagen, an der Schnittstelle zum europäischen Kulturraum?

Wenn Goddio träumen dürfte, würde er gern auch noch ein paar Grabkammern finden; die Nekropole der Stadt. Oder zumindest den Tempel zu Ehren der Göttin Mut, Amuns Frau. Kein Zweifel, dass es einen gab. Irgendwo müssten Spuren sein. Un¬ter Wasser. Im Sand.

„Das Problem ist", sagt Franck God-dio, 67 Jahre alt, „wenn du in die Geschichte der Stadt einmal eingetaucht bist, lässt sie dich nie wieder los."

Immer neue Technologien werden die Tiefe aus anderen Perspektiven be-leuchten können. Und mit jedem Fund wird Goddios Karte das Bild der Stadt feiner und feiner auflösen.

In diesen kartografischen Ebenen. in GPS-Punkten und Zahlenkolonnen. diesen Hieroglyphen der Moderne, wird Herakleion sich erhalten. Und so hat die Stadt mit dem Untergang in den Wellen eigentlich doch genau jenes Ziel erreicht. nach dem sich ihre Erbauer und alle Herr¬scher Ägyptens, die Pharaonen aus sämt¬lichen Dynastien, immer am meisten ge¬sehnt haben: Sie ist unsterblich geworden.

Die versunkene Stadt hat den Zeitstrom besiegt.



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