Samstag, 20. Juni 2015

Wird Gott noch gebraucht?


Wird Gott noch gebraucht?

Author D.Selzer-McKenzie

Video: http://youtu.be/gN1jW53hh_o

Heute abend ist der Papst Muslim. Sedat Cukadar, 44 Jahre alt, bärtig, geschieden, zwei Kinder, tagsüber Kraftfahrer bei der Hamburger Stadtreinigung, lässt sich den brokatverzierten Ornat anlegen und begrüßt das Kirchenvolk. Neben ihm setzt Volker Schröder, 27, einen steifen Hut mit angeklebten Schläfenlocken auf seinen modisch kahl rasierten Kopf und wird zum orthodoxen Rabbiner. Und Dalila Ferrec, die Lippen im schwarzen Gesicht knallrot geschminkt, gibt in dunkler Soutane plus magentafarbenem Scheitelkäppchen eine katholische Bischöfin. Eine Frau? Der übergroße Jesus von Nazareth an der Kirchenwand schaut mit undeutbarem Gesichtsausdruck zu, wie sich schließlich auch sein irdischer Botschafter verwandelt: Pastor Ulfert Sterz erscheint mit Turban und FransenbartPerücke als Ajatollah.

„Die Insel" heißt das Stück von Björn Bicker, das Laienschauspieler zusammen mit Profis im Herbst 2014 in der Immanuelkirche in HamburgVeddel aufführen. Es ist eine MultimediaCollage über Identität, Heimat, Vorurteile, Stolz, Hoffnung. Die Eingangsszene ist nur ein Denkanstoß  und ein passender Auftakt für die

 

sen Artikel, der um Gott und die Welt kreisen wird. Nicht von Fundamentalismus und Hass soll die Rede sein, sondern von der Sehnsucht nach Spiritualität jenseits erstarrter Rituale. Von Gläubigen und Ungläubigen, deren Antworten auf die großen Fragen zwischen Himmel und Erde sich oft erstaunlich ähneln. Von Einstein, Sigmund Freud, dem Dalai Lama und einem englischen ComedianPaar, das dabei ist, so etwas wie eine Weltreligion ohne Gott zu stiften.

Geprobt wird hier ein noch unausgegorener Choral voller Dissonanzen, mal provokant, mal fröhlich, mal besinnlich. Den Refrain predigt das MultikultiEnsemble von der Veddel: „Kommt, die neue Stadt wartet auf euch!"

Ausgerechnet hier? Die Veddel, nur fünf SBahnMinuten vom Hamburger Hauptbahnhof entfernt, ist ein Stiefkind der Stadt, laut, zerschnitten von Autobahntrassen, Bahngleisen, Elbkanälen. Arm. Christen sind in der Minderheit. Von den s000 Bewohnern haben mehr als 7o Prozent „Migrationshintergrund"; bei den Jugendlichen sind es 91 Prozent. Die Kirche blieb selbst sonntags leer, deshalb öffnete der Pastor sie für alle. Stühle raus, Papphocker rein, Public Viewing bei FußballHighlights, Jamsessions, Filme. Ein Zukunft. Den Kirchen gehen überall die Frommen aus  sie brauchen Mut zur Erneuerung. Ein Geschenk des Himmels, wenn dann Propheten wie die Projektleiter des „New Hamburg"Festivals vom Deutschen Schauspielhaus anklopfen.

Die neue Stadt, die neue Zeit! Als Untermalung dazu ein paar Zahlen aus dem „Globalen Index Religiosität und Atheismus 2012", die der Meinungsforschungsverbund WINGallup International erhoben hat. Menschen aus 57 Ländern beantworteten die Frage: „Egal ob Sie einen Andachtsort besuchen oder nicht  würden Sie sich als religiöse Person, als nicht religiöse Person oder als überzeugten Atheisten beschreiben?" In Deutschland haben die Religiösen noch eine dünne Mehrheit von 51 Prozent, in der Schweiz bezeichneten sich 5o, in Österreich 42 Prozent als religiös. Der Trend weist, wie in fast allen Industrieländern, steil nach unten: Sieben Jahre zuvor lag der Anteil der Gläubigen in Deutschland noch bei 6o, in Österreich bei 53 und in der Schweiz bei 71 Prozent.

Der Niedergang betrifft nicht nur Mitteleuropa. Zu den Top Ten im Abwärts

 

trend gehören so unterschiedliche Länder wie Vietnam (Rückgang von 53 auf 3o Prozent) und Südafrika (von 83 auf 64 Prozent), aber auch die USA (von 73 auf 6o Prozent). Der Religionsindex belegt einen Zusammenhang mit den Lebensverhältnissen: je ärmer, desto frommer; je besser Verdienst und Bildung, desto ungläubiger. Dabei schwindet der Glaube schleichend. Wer ihn verliert, wird in der Regel nicht zum strikten Atheisten. Weitaus häufiger sind diejenigen, die aus Tradition und kultureller Wertschätzung lose mit der alten Religion verbunden bleiben.

Diese Gruppe könnte für ein ne__eSelbstverständnis stehen. Abkehr

strengen Glauben bedeutet

Verunsicherung, manchmal auch      

gültigkeit  kann aber auch den Blick

ten. Im Stück auf der Veddel ist es der interreligiöse Toleranz. „Wir wollen ni_ :missgünstig sein und nicht eifersüchtig heißt es in der Aufführung, „wir wolle: Priester sein, Priester einer neuen Religion. Einer Religion, die uns sagt, dass alle Religionen wertvoll sind."

Das ist für die Mitspieler mehr als dahergesagter Text. Eine 25jährige Erzieherin stellt sich im Kirchencafe später als „Alevitin, aber nicht religiös" vor. Die beiden Trainer des FC Veddel United, gläubige Muslime, predigen ihren bunt gemischten Jugendteams auf dem Fußballplatz, jede Herkunft und jede Religion zu achten. Die arbeitslose deutsche Atheistin, die keinen Fuß mehr in eine Kirche setzen wollte, ist plötzlich ziemlich häufig dort.

Anderthalb Jahre hatten die Künstlerischen Leiter des „New Hamburg"Projekts Zeit, Menschen und Institutionen auf der Veddel zum Mitmachen zu überreden. Aus ungezählten Interviews hat Björn Bicker dann „Die Insel" erarbeitet. Am Ende warben alle dafür: Vereine, der türkische Supermarkt, das Diakonische Werk, die islamische Gemeinde, Kitas, die Schule, die Flüchtlingsunterkunft.

Multireligiöses Durcheinander samt Ungläubigkeit zu respektieren, erscheint als guter Startpunkt für die Zukunft der globalisierten Welt. Die Entwicklung vollzieht sich leise. Sie birgt die Chance, Trennendes zu überwinden und die Ehrfurcht vor dem Unbegreiflichen mit dem modernen Weltbild zu versöhnen. Albert Einstein hat das Paradox elegant auf den Punkt gebracht. Er bezeichnete sich selbst als „tiefreligiösen Atheisten".

Wer wie Einstein den Zauber des Kosmos, die Geheimnisse der Natur und die Wunder des Lebens bestaunt, braucht keinen Gott und teilt doch eine Grundhaltung mit denen, die Gott als Schöpfer des Universums, als Erklärung und Chiffre für das Unbegreifliche verehren. Der Philosoph Ronald Dworkin (19312013) zieht daraus den Schluss, dass naturwissenschaftliche und religiöse Sichtweise viel näher beieinanderliegen als allgemein angenommen. In seinem Buch „Religion ohne Gott" schreibt er: das, was beide Gruppen „derzeit für eine unüberbrückbare Kluft halten", könnte nur eine „Meinungsverschiedenheit ohne moralische oder politische Bedeutung" sein.

Der Geschmack fürs Unendliche

Anthropologen schätzen, dass es im Lauf der Menschheitsentwicklung wo 000 Religionen gegeben haben mag, geboren zunächst aus Totenkulten. Wie umgehen mit dem heraufdämmernden Bewusstsein der eigenen Endlichkeit? Schon in einem rund 45000 Jahre alten Höhlengrab eines Neandertalers in Shanidar im heutigen Irak ergaben Pollenfunde Hinweise auf einen Grabschmuck mit mehreren Blumen und Pflanzenarten. Der amerikanische Evolutionsbiologe Edward 0. Wilson hält „die Prädisposition zu religiösem Glauben" für „die komplexeste und mächtigste Kraft des menschlichen Geistes". Sie sei aller Wahrscheinlichkeit nach „ein unauslöschlicher Bestandteil der menschlichen Natur".

Das bedeutet für Wilson keineswegs, dass Gott existiert. Er sieht Religiosität als eine „List der Gene" an, die einen Evolutionsvorteil bringt. Wer sich einer Religion und ihren sozialen Normen unterwirft, ordnet das Eigeninteresse dem der Gruppe unter und bringt „kurzfristige physiologische Opfer für langfristige genetische Vorteile". Denn das Individuum schränkt zwar die eigenen Spielräume ein. Doch es kann „die Vorzüge der Gruppenmitgliedschaft mit einem Minimum an Energieverausgabung und Risiko genießen".

Der Hang, höhere Mächte zu verehren, hat für Krieg und Frieden auf Erden gesorgt, hat Ideale der Liebe in die Welt gebracht und ungezählte Menschen mit der Drohung von Sünde und Hölle in Angst gehalten. Und er hat Monumente überwältigender Schönheit hinterlassen: Stonehenge, die Tempel der Maya, die Pyramiden. Wer Paris besucht, bewundert nicht nur die weltliche Ingenieurskunst des Eiffelturms, sondern auch NotreDame und SacreCoeur. Wer nach Istanbul reist, wird beeindruckt über die Bosporusbrücke und durch den erstaunlichen neuen Tunnel fahren, der unter dem Meeresboden Europa und Asien verbindet  und dann zur Hagia Sophia aus dem 6. Jahrhundert pilgern.

Michelangelos „Pietä" und Bachs Messen, Abermillionen Kruzifixe, orthodoxe Ikonen, buddhistische Thangkas und islamische Kalligrafien feiern Gott, das Überweltliche. Aber sie feiern auch die Menschen und zeugen von dem, was der Theologe Friedrich Schleiermacher unseren „Sinn und Geschmack fürs Unendliche" nannte.

Dieser Sinn überlebt hartnäckig, auch im Zeitalter von Aufklärung und Wissenschaft. 1844 hatte Marx die Religion als „Opium des Volkes" gegeißelt, 1882 hatte Nietzsche Gott für tot erklärt. Wie sich die Entwicklung fortsetzen würde, war im frühen zo. Jahrhundert dann Thema eines denkwürdigen Streits zwischen den beiden berühmten Seelenkundlern Sigmund Freud und Carl Gustav Jung. Freud beschrieb die Religion als „menschliche Zwangsneurose". Er war sich sicher, dass

 

die allgemeine Abkehr von ihr sich mit „schicksalhafter Unerbittlichkeit eines Wachstumsvorgangs" vollziehen werde. Die psychoanalytische Methode, das Unbewusste mit Mitteln der Vernunft ans Licht zu bringen, sah er als Beitrag zur Entzauberung des Himmels: Eine reife Persönlichkeit, die ihre tierischen und kindlichen Facetten erkennt und rational mit ihnen umgeht, hat Gott nicht nötig.

Sein Freund und späterer Widersacher Carl Gustav Jung dagegen warnte vor Rationalität ohne Emotionen: „2000 Jahre Christentum wollen adäquat ersetzt werden." Jung schwebte vor, die Psychoanalyse zu „verschwägern mit allem, was je wirksam und lebendig war", und „beim Intellektuellen den Sinn fürs Symbolische und Mythische" wiederzubeleben.

Ein Jahrhundert später könnten die beiden in Freuds letztem Wohnort London eine Bewegung studieren, die diese Idee aufgreift: gottlos, rational, ekstatisch.

Religion ohne Gott

Draußen ist London im Herbst, ein graunieseliger Sonntag, und die Uhrzeit, elf Uhr morgens, eigentlich zu früh für die DiscoLautstärke in der Halle. Aber der Perkussionist gibt sein Bestes, das Saxofon röhrt, der EBass wummert. Emma, die Sängerin mit der Soulstimme, legt los, und 350 Leute klatschen und singen: „We Built This City an Rock and Roll".

Schauplatz ist die „Sunday Assembly", eine Sonntagsversammlung ohne Gott, vielleicht die neue Weltreligion für Ketzer. Ein ComedianPaar hat sie im Jahr 2013 ins Leben gerufen. Sanderson Jones und Pippa Evans konnten nichts (er) beziehungsweise nichts mehr (sie) mit Gottesdienst und Gebet anfangen, fanden aber an religiöser Praxis „viel, was zu retten ist": das Zusammensein am Feiertag, das gemeinsame Singen, das Gefühl, Teil einer Gemeinde von Gleichgesinnten zu sein. „Wenn du Schuhe hast, die du sehr magst, und in einem ist ein Stein, der dich stört, schmeißt du doch nicht die Schuhe weg, sondern den Stein", ist ihre Devise.

 

Das Evangelium ä la Jones/Evans besteht aus drei Geboten: „Live better. Help often. Wonder more." Besser leben, oft helfen, mehr staunen  ein bei aller Kürze umfassendes Programm. „Love more" hatten sie ursprünglich erwogen, „aber das klang uns dann zu hippiemäßig", sagt Pippa Evans.

Mit ersten Gleichgesinnten tüftelte das Paar an der Umsetzung. Eine Liturgie nahm Gestalt an. Der Rahmen: Popsongs in XXLLautstärke, deren Texte nach KaraokeManier per Beamer an die Wand geworfen werden. Dazwischen anstelle der Predigt ein Viertelstundenvortrag über ein interessantes weltliches Thema. Dazu ein Kurzauftritt von Künstlern, die LiveKultur in den Saal bringen. Statt Glaubensbekenntnis illustriert ein Ge meindemitglied am eigenen Leben das Thema „live better"  an diesem Morgen wird Jack, der glatzköpfige, sehr beleibte Saxofonist, im Alltag Wirtschaftswissenschaftler, erzählen, auf wie viel unerwartete Unterstützung er stieß, als er nicht weiterkam mit dem Buch, an dem er schrieb. Dann ein paar Schweigeminuten zum Innehalten. Die Kollekte. Zum Schluss Tee und Gebäck für alle.

Die Idee aus London traf einen Nerv. Die Initiatoren sammelten per Crowdfunding knapp 34000 Pfund ein. Das reichte, um Filialen der NichtKirche in mehr als 6o Städten auf den Weg zu bringen: Paris, Amsterdam, Toronto und San Diego sind dabei, in Deutschland Berlin und Hamburg. Die Vervielfältigung funktioniert als GratisFranchise per Internet: Nachahmer, die Namen und Netzwerk nutzen wollen, müssen sich verpflichten, die Gebote und die Liturgie zu übernehmen, und eine Weile trainieren, bevor sie starten.

Der Londoner Assembly gelingt es, ein gemischtes Publikum anzuziehen. Junge und Alte, Vollbart neben Dreadlocks neben Gelhaar neben Glatze neben Pudelmütze neben Cowboyhut. Sneakers neben Pumps neben Metallic Boots. Man

trifft sich in der Conway Hall, einem altehrwürdigen Gebäude in der City, in dem sich Freidenker (siehe Seite 123) seit 1929 versammeln. „Sogar die Londoner Hipster kommen, die man sonst sonntags morgens nicht aus dem Bett kriegt", sagt die „Tea Queen" mit Pappgoldkrone auf dem Haar, deren Team „die Leute füttert, wenn die geistige Speisung vorbei ist".

„Let's Work Together"  der letzte Song klingt aus. Und dann ist es zu Ende. „Erhebend", „fröhlich", „inspirierend", „enthusiastisch" sind die Begriffe, die der Gemeinde beim Kekseknabbern einfallen. Ein gutes Dutzend Freiwillige stapelt Stühle, wäscht ab, nimmt Spenden für die „Food Bank" entgegen, die Lebensmittel nach Art der Tafeln an Bedürftige verteilt. Einige Kleingruppen haben sich gebildet, die sich zum Tennis oder zur Achtsamkeitsmeditation treffen. Letztlich soll es um mehr gehen als eine nette Stunde am Sonntag. Um eine weltliche Gemeinde, die der Isolation etwas entgegensetzt und sich gegenseitig stützt.

Die Blaupause für die Initiative hat der schweizerischbritische Philosoph Alain de Botton in seinem Buch „Religion für Atheisten" skizziert. Sein Credo: „Die Weisheit der Religionen gehört der gesamten Menschheit, auch den Rationalsten unter uns, und sie hat es verdient,

 

Kirche der Stille, Hamburg

Ein Gotteshaus ohne Kanzel und Altar  und offen für vielfältige spirituelle Übungen, etwa eine SufiHerzmeditation

auch von den größten Gegnern alles Übernatürlichen selektiv neu aufgegriffen zu werden."

Die frohe Botschaft der Sunday Assemblies unterscheidet sich von Religionsparodien wie dem „Jediismus", der sein Evangelium aus „Star Wars"Bruchstücken speist, oder der Mission der „Pastafaris", die das „fliegende Spaghettimonster" zum Weltschöpfer erklärt haben. Die drei Gebote von Jones/Evans lassen viel Raum für Eigeninitiative. Pop statt Papst und Kirche ohne Gott  der Ansatz passt in eine Welt, die tendenziell individualistischer und ungläubiger wird.

Spiritualität, neu formuliert

Was vom „Geschmack fürs Unendliche" übrig bleibt, wenn viel Gegenwind weht, dafür ist Deutschland ein gutes Forschungsfeld. Die Teilung hat das Land zu einem Labor in Glaubensfragen gemacht. Während fast alle Minister in der alten Bundesrepublik ihrem Amtseid ein „sowahr mir Gott helfe" anfügten, war Hilfe von oben in der DDR unerwünscht. Der Staat trat in Konkurrenz zur Kirche, neue Religion war die „wissenschaftliche Weltanschauung". Wer sich zum Glauben bekannte, hatte mit schulischen und beruflichen Schikanen zu rechnen. Die Folge: Von 90 Prozent Christen zu Beginn der DDR waren 1989 nur noch 3o Prozent Kirchenmitglieder übrig, weniger als halb so viele wie in den alten Bundesländern.

Welche Spuren diese „forcierte Säkularität" hinterlassen hat, erkundet von einem liebevollchaotisch aussehenden Büro an der Universität Leipzig aus Monika WohlrabSahr. Die Theologin und Soziologin hat lange im Westen geforscht und ist nun Professorin für Kultursoziologie in einem Umfeld, wo Gott ein halbes Jahrhundert lang Staatsfeind war.

Was bedeutet das für die Fragen der Menschen nach Woher und Wohin? Um sich ein Bild zu machen, führten WohlrabSahr und ihr Team lange Familiengespräche mit Konfessionslosen und konfessionell Gebundenen. Jeweils zwei oder drei Generationen nahmen teil, redeten, stritten. Interessantestes Thema war die Frage, wie es nach dem Tod weitergeht. Was dabei zur Sprache kam, „gehört für mich zum Faszinierendsten,

 

das ich in meiner Forschung bisher erlebt habe", sagt WohlrabSahr.

Da ist die nach dem Krieg aus dem Sudetenland nach SachsenAnhalt geflüchtete Großmutter einer katholischen Familie, die noch überzeugt ist, dass „uns der Herrgott holt" und „der Geist in den Himmel" zieht. Ihr Sohn und die erwachsene Enkelin formulieren ihre ebenfalls katholische Sicht anders: Sie sprechen von der Unendlichkeit des Kosmos  und der weiterbestehenden Hoffnung, dass nach dem Tod „alles irgendwie klar wird".

Eine Großmutter aus einer Freidenkerfamilie ist sicher, dass nach dem Tod „nichts" passiert: „Da bin ich weg." Die Enkelin, studierte Verwaltungsfachfrau, widerspricht: Etwas werde ja weitergegeben an die Kinder und deren Kinder. Ihr Fazit für das Jenseits: „'n bisschen lebt ma' immer noch, aber nich' bewusst."

Ein ehemals ehrenamtlicher SEDParteisekretär liebäugelt mit Reinkarnation „als Blümchen oder als andrer Mensch". Eine Bauingenieurin, Jahrgang 1976, eigentlich strenge Rationalistin, sieht den Tod als Zerfall, einen Kreislauf des Verrottens. Dennoch glaubt sie, dieser Kreislauf könne dazu führen, dass es irgendwann „einen Menschen gibt, der ich bin". Eine Kunstgeschichtsstudentin, die in einer katholischen Arztfamilie aufgewachsen ist und im Kirchenchor singt, plädiert wiederum für das „Nichts", aber es sei „ein „Nichts, das keine Angst macht". Ihre Mutter hält dagegen, dass „irgendetwas" schon erhalten bleibe, etwas wie „Kraft, Materie oder Seele ..." , vielleicht „Energiehäufchen".

Die Neugier auf die existenziellen Fragen des Lebens ist in allen Gesprächen zu spüren. Monika WohlrabSahr hebt zwei Eindrücke hervor: Egal ob kirchlich gebunden und konfessionslos  die tastenden Formulierungsversuche unterscheiden sich kaum. Wenn es um Transzendenz geht, tun sich Gläubige ähnlich schwer wie Atheisten, auf überlieferte Vorstellungen wie Auferstehung zurückzugreifen.

Klar wird aber auch, wie unüblich es in der verweltlichten Gesellschaft ist, über existenzielle Vorstellungen zu reden, selbst in der Familie. Jeder bastelt sich eine PrivatWeltanschauung, die nicht auf die Probe gestellt wird. Oft zeigten sich die Teilnehmer von den Ansichten ihrer Angehörigen überrascht: „So etwas denkst du?"

Die Unentschlossenheit in Bezug auf die eigenen Glaubensvorstellungen kommt auch in der großen gesamtdeutschen sozialwissenschaftlichen ALLBUSUmfrage 2012 zum Ausdruck. Die Hälfte der Erwachsenen in Deutschland (50,3 Prozent) ist der Meinung: „Religion und Wissenschaft stehen nicht in Widerspruch miteinander." 44,5 Prozent sehen das anders. Doch mit einem großzügig ausgelegten Gottesbegriff lösen auch Skeptiker den Widerspruch auf. Mehr als 7o Prozent aller Befragten unterschreiben den Satz: „Gott befindet sich nicht irgendwo da oben, er ist lediglich im Herzen der Menschen." Und egal wo sein Platz ist bei der größten aller Sinnfragen vertraut die Mehrheit ganz auf sich selbst. Die Aussage „Das Leben hat nur dann einen Sinn, wenn man ihm selber einen Sinn gibt", bejahen fast 90 Prozent. Seht selbst, probiert!

„Kommt, die neue Stadt wartet auf euch!" Der Ruf aus der Immanuelkirche auf der Veddel spiegelt dieses Wagnis wider: Sinngebung nicht mehr an Gott zu delegieren  selbst dann, wenn man ihn verehrt. Und Sinn nicht nur in der Erfüllung materieller Wünsche zu finden, sondern in einem größeren Ganzen. Die Belohnung? Ein friedliches Zusammenraufen: „Wir sind Albaner, Mazedonier, Ghanaer, Türken, Kurden, Muslime, Aleviten, Iraker, Sunniten, Christen, Männer, Frauen, Mittelalterfreaks, Borderliner, Architekten, Fotografen, Hundebesitzer ...", skandieren die Mitspieler beim „New Hamburg"Festival, „woanders auf der Welt schneiden sie sich deshalb die Kehle durch/Schlagen sich die Köpfe ein/ Sprengen ihre Gotteshäuser in die Luft".

Bei der Aufgabe, zumindest im eigenen Umkreis den Frieden auf Erden mitzugestalten, sind alle gefordert: Theisten, Deisten, Atheisten, Agnostiker. Die neue Zeit lebt in den christlichen Kirchen, die ihre Stimme für die Armen und Schwachen erheben, und in den neuen Sunday Assemblies. Ein Gott? Kein Gott? Göttinnen? „Sieh selbst!", heißt die Antwort, wenn jeder sein eigener Wegweiser ist. Die

 

neue Zeit, das sind interreligiöse Arbeitskreise, die Interessenten in Moscheen, jüdische Gemeinden, YogaZentren, christliche Kirchen und buddhistische Gruppen einladen. Suchende finden Antworten in Seminarhäusern wie dem Benediktushof in Holzkirchen, wo klassische Übungswege im Angebot sind: ZenMeditation, Vipassana, Yoga, Sufismus aus den östlichen Weisheitstraditionen und Kontemplation aus dem Westen. So können Sinnsucher ihren „Geschmack fürs Unendliche" ergründen und praktisch erfahren.

Ganz Mutige begreifen spirituelle Praxis als Gesamtlebenskunstwerk. Zum Beispiel in Schloss Tempelhof im Landkreis Schwäbisch Hall, einer Dorfgenossenschaft, in der wo Erwachsene und 4o Kinder leben und „praktisch alle Weltreligionen vertreten" sind. Es gibt keine Führungsfigur  der Grundsatz lautet „AllLeader". Die Bewohner wirtschaften vielfältig: Es gibt bisher bereits rund 35 Menschen, die in verschiedenen Projekten (Landwirtschaft, Gemeinschaftsküche, freie Schule, Bäckerei, Käserei, Seminarhaus, Baubetrieb, Verwaltung) arbeiten und zum Teil nach Bedarfseinkommen bezahlt werden. Das heißt, jeder gibt, was er kann, und bekommt, was er braucht sodass eine Schreibkraft mit vielen Kindern auch mehr bekommen kann als zum Beispiel ein Vorstand. Andere arbeiten ehrenamtlich oder auch als Freiberuflermit eigenen Betrieben. Alle verbringen 20 „Sozialstunden" pro Monat in einem der Gemeinschaftsprojekte. Für wichtige Entscheidungen gilt das Konsensprinzip.

Der Gong schlägt vor dem gemeinsamen Frühstück in der Kantine. Danach der Morgenkreis, bei dem sich alle an der Hand fassen und eine lange Weile schweigen, um sich gemeinsam in den Tag einzustimmen. Dann kann der Tag beginnen.

Innehalten. Einen Augenblick aus dem Alltag heraustreten und sich bewusst sein, was in diesem Moment des Jetzt geschieht ... Lange waren Gebete und christliche Feiern die rituellen Wegweiser, die durch den Tag, durchs Jahr, durchs Leben leiteten. Noch hat die säkulare Gesellschaft kaum gleichrangigen Ersatz gefunden. Der Morgenkreis in Schloss Tempelhof und die PopsongLiturgie in der Sunday Assembly sind allenfalls zarte Anfänge. Denn Rituale entfalten ihre Kraft erst voll, wenn jeder sie kennt.

Für Yvonne Vogt ist „Ritualgestaltung" Beruf und Berufung. „Meine Kunden suchen nach eigenen, selbstbestimmten Wegen, Spiritualität zu leben", sagt die Schweizerin, „unabhängig von einer Religionszugehörigkeit." Für sie veranstaltet Yvonne Vogt Seminare, die mit Trommeln und Gesängen an UrRhythmen anknüpfen. Die Teilnehmer zelebrieren die Zyklen des Jahres, gehen in sich: „Was habe ich gesät, erreicht? Wo stehe ich im Leben?" Für die großen privaten Feiern (er) findet die 36Jährige mit ihren Auftraggebern individuelle weltliche Zeremonien, „meist nicht so wie in der Kirche, aber oft auch nicht so weit weg". Da wandern bei der Hochzeitszeremonie die Ringe durch die Gästeschar und jeder gibt ihnen einen Wunsch mit. Da taufen und segnen Eltern ihre Kinder selbst am Bach.

Wasser fließt. Saat geht auf, eine Pflanze wächst, blüht, welkt. Die Natur spiegelt das Leben  und den Tod. Dem Ende und der Trauer die Würde zurückzugeben, das war die Vision des inzwischen verstorbenen Fritz Roth (19492013). Denn Verstorbene werden dem Blick der Lebenden heute vielerorts zu hastig und unsensibel entzogen. Beerdigungen sind streng getaktet; für die letzte Ruhe wartet das Einheitsreihengrab.

Roth gründete ein Bestattungshaus in Bergisch Gladbach; inzwischen leiten es

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seine Frau, sein Sohn und seine Tochter. In den Abschiedsräumen lassen sich Angehörige und Freunde Zeit fiir ihre Trauer, manchmal Tage. In Werkstätten können Hinterbliebene eine Totenmaske gestalten oder den Sarg bemalen. Kunst auf dem Gelände erinnert an Endlichkeit. Und es ist viel Platz für nach eigenen Ideen gestaltete Gräber unter Bäumen oder am Bachlauf, mal mit Kreuz, mal ohne.

Die neue Zeit  sie ist an vielen Orten präsent, leider nicht überall. Bei seinem Deutschlandbesuch im Sommer 2014 seufzte der Dalai Lama über religiösen Fundamentalismus: „Manchmal denke ich, es wäre besser, es gäbe keine Religion." Eine dosierte Provokation  natürlich wolle er Buddhist bleiben, versicherte er sofort. Aber eigentlich, so glaubt der Tibeter, brauchen wir „keine Tempel oder Kirchen, keine Moscheen oder Synagogen, keine komplizierte Philosophie, keine Doktrin, kein Dogma. Unser Herz, unser Geist  das ist der Tempel. Mitgefühl ist die Doktrin". Worauf es ankomme, sei „Liebe zu anderen und der Respekt vor ihrer Würde und ihren Rechten, gleichgültig wer oder was sie sind".

Im Irak. In Nigeria. In Syrien. In Lampedusa. Auf der Veddel.

Dort drücken Sedat Cukadar und die anderen es so aus: „Es geht darum, sich die Hand zu reichen. Es geht darum, zu reden, zu singen, zu essen, zu lieben.













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