Freitag, 19. Juni 2015

Vorsicht Fleisch


Vorsicht Fleisch

Author D.SelzerMcKenzie

Video: http://youtu.be/xA2Yc3vDkzI


Weinend kommt das Kind angelaufen, die Knie aufgeschlagen. Trösten, Tränen trocknen, Pflaster drauf  nicht weiter schlimm. Eines dieser kleinen, alltäglichen Dramen. Bald trägt es die heilende Wunde mit Indianerstolz über den Schulhof. So unbeschwert ist unser Dasein. Noch.

In 15 Jahren löst die gleiche Situation womöglich blankes Entsetzen aus, lässt einen panischen Gedanken aufsteigen: bloß keine Entzündung! Denn monatelanges Siechtum nach Bagatellverletzung, hervorgerufen durch bakterielle Infektion, Blutvergiftung: Das wird das große alltägliche Drama sein.

Unfallchirurgie, Organtransplantationen, das Legen von Infusionen  bald medizinische Himmelfahrtskommandos. Und jede dritte Lungenentzündung: tödlich wie vor Zoo Jahren. Weil unsere Antibiotika dabei sind zu versagen. Eines nach dem anderen.

25 000 Menschen sterben Jahr für Jahr allein in der EU, weil schon jetzt viele Krankheitserreger resistent sind gegen die gängigen Antibiotika. Ein Hauptschuldiger dieser Tragödie: die industrielle Massentierhaltung. Denn die Mastställe mit ihren Abertausenden Insassen produzieren nicht nur billiges Fleisch für die Theken der Discounter. Oder, in immer stärkerem Ausmaß, auch für den Export, etwa nach Russland und China. Sie produzieren auch furchterregende Bakterien.

Dass billiges Fleisch eine Tierhaltung bedingt, die bestenfalls nicht artgerecht, meist abstoßend quälerisch ist: bekannt. Dass mit der Produktion von Fleisch, Milchprodukten und Eiern natürliche Ressourcen vergeudet und 18 Prozent des globalen Ausstoßes an klimaschädlichen Gasen verursacht werden. Doch jetzt wird immer deutlicher: Unsere eingefleischten Ernährungsgewohnheiten beschwören auch eine Gesundheitskatastrophe von weltumspannender Dimension herauf. Und das gibt Wurst und Steak und Hähnchenbrust einen neuen Beigeschmack.

Perlen vor die Säue

Antibiotika: Stoffwechselprodukte, etwa von Pilzen oder Flechten zur Selbstverteidigung hergestellt; ab Anfang des zo. Jahrhunderts im Labor isoliert (später zunehmend synthetisch hergestellt) und in potente Bakterienkiller verwandelt. Infizierte Wunden lassen sich dank ihrer binnen Tagen keimfrei machen. Antibiotika gehören zu den größten Wundern der Medizingeschichte.

Doch Alexander Fleming, Entdecker des UrAntibiotikums Penicillin, warnte schon 1945: Wenn ihr dieses Zaubermittel verantwortungslos einsetzt, werdet ihr es wieder verlieren.

Antibiotika schädigen Zellstrukturen der krank machenden Bakterien. Die Eindringlinge allerdings entwickeln fortwährend neue Strategien, um ihrerseits die Antibiotika auszutricksen. Dank ihrer rasend schnellen Generationszeiten gelingt ihnen das nur allzu gut. Zehntausende Varianten pro Jahr bringen diese Mikroorganismen hervor, verändern Andockstrukturen und Enzyme, erproben immer neue AntiAntibiotikawaffen. Und können ihre neuen Eigenschaften sogar an andere Bakterienarten als Erbgutschnipsel direkt weitergeben.

Die Ställe der Tiermäster bieten neuen Erfolgstypen unter den Erregern ideale Entfaltungsbedingungen. Denn alle schwächlichen Keime werden von den Antibiotika aus dem Weg geräumt. Freie Bahn für die Fittesten.

In ihren Aufzuchtanlagen pferchen die Mäster Zehntausende Tiere auf engstem Raum zusammen. Aus Angst vor Erkrankungen, die sich in solch drangvoller Enge rasant ausbreiten könnten, fluten sie das lebende Fleisch vorsorglich mit Antibiotika.

Der tiermedizinische Fachbegriff dafür lautet „Metaphylaxe"  die dann erlaubt wäre, wenn bereits eine Infektion im Bestand aufgetreten ist. Viele Experten fürchten allerdings, dass Metaphylaxe allzu oft nur den Missbrauch von Antibiotika verschleiert. Dass sie vielleicht sogar als Vorwand dient, Antibiotika allein zur Wachstumsförderung einzusetzen  was in Europa verboten ist (siehe Seite 62). Für die Krankheitskeime ist diese Praxis jedenfalls ein ideales Trainings und Ertüchtigungsprogramm.

Eine Untersuchung in nordrheinwestfälischen Mastställen für Hähnchen ergab: 92,5 Prozent aller Tiere dort erhielten in ihrem nur wenige Wochen währenden Leben Antibiotika  und zwar teilweise bis zu acht unterschiedliche Wirkstoffe. Je größer der Betrieb, desto exzessiver der Antibiotikaeinsatz.


Um Kosten zu sparen, werden die Mittel häufig viel zu schnell wieder abgesetzt  was die Bildung von Resistenzen erst recht befördert. Eine Folgestudie bestätigte ein massives Antibiotikaproblem in der Massentierhaltung. „Der Einsatz von Antibiotika hat ein Ausmaß erreicht, das völlig indiskutabel ist", folgerte Johannes Remmel, Minister für Landwirtschaft und Verbraucherschutz in NordrheinWestfalen.

Vom Tier zum Menschen

Deutsche Fleischproduzenten setzen doppelt so viel Antibiotika ein wie deutsche Humanmediziner: etwa anderthalbtausend Tonnen pro Jahr (das meiste in der Hähnchenaufzucht). Eine europaweite Studie aus dem Jahr 2013 zeigt: Deutsche Mäster verabreichten im Schnitt 211 Milligramm Wirkstoff pro Kilogramm „behandelter Biomasse"; mehr setzten nur ihre spanischen, italienischen und zyprischen Kollegen ein.

Fatal dabei ist: Es gelangen sogar wertvolle ReserveAntibiotika in die Futtertröge; Medikamente, die eigentlich für komplizierte Fälle in der Intensivmedizin zurückgehalten werden müssten. Gegen solche für Menschen überlebenswichtigen Mittel können die Erreger im Maststall neue Abwehrstrategien testen.

Der Postleitzahlbereich 49  Emsland, Cloppenburg, Osnabrück, Vechta  ist ein Zentrum industrieller Massentierhaltung. Und so haben vor allem Krankenhäuser in Nordwestniedersachsen mit multiresistenten Keimen zu kämpfen; mit Bakterien also, die auch einer Kombination aus mehreren Wirkstoffen trotzen.

Eine Studie des RobertKochInstituts ergab: 86 Prozent der Landwirte und Veterinäre, die direkten Kontakt zu keimbelasteten Tieren haben, sind selbst schon von Erregern besiedelt. Zwar gilt der Typ LAMRSA, um den es in der Untersuchung ging, als noch wenig virulent für Menschen. Niederländische Forscher gehen aber davon aus, dass sich das in absehbarer Zeit ändern wird, dass sich das menschliche Immunsystem der Angriffe auf Dauer nicht wird erwehren können.

Eine Studie, durchgeführt im USBundesstaat Iowa, dem Zentrum der amerikanischen Schweinemast, bestätigt: Wer dort im Umkreis einer Meile rund um einen Mastbetrieb lebt, hat ein fast dreifach erhöhtes Risiko, von MRSAKeimen befallen zu werden.

Fest steht: Antibiotikaresistente Bakterien wechseln vom Tier auf den Menschen über. Die Erreger überwinden die Grenzen zwischen den Arten offenbar leichter als gedacht.

Und das ist nicht der einzige Weg, auf dem die Keime aus den Mastanlagen hinaus in unsere Welt gelangen. Sie werden auch mit dem Fleisch frei Haus geliefert, auf den Abendbrottisch, in die KindergartenMensa. Bei Untersuchungen in Hamburg ließen sich auf jeder zweiten Hähnchenfleischprobe Erreger nachweisen, die ein Enzym  ESBL  produzieren, das gängige Antibiotika ausschalten kann. Eine Analyse in 13 deutschen Städten ergab: resistente Keime in zehn von 63 Wurstund Schinkenproben, auf einem Viertel aller Mettprodukte, in sechs von neun Putenfleischprodukten.

Die USLebensmittelbehörde FDA fand in einem ihrer Tests auf 65 Prozent der Hähnchenbrustproben und 44 Prozent der Rinderhackproben Bakterien, die resistent sind gegen die bis vor Kurzem noch hochwirksamen Tetracycline. Auf elf Prozent der Schweinekoteletts entdeckten die Prüfer Bakterien, die gegen fünf Wirkstoffe unempfindlich sind.

Eine andere Verbreitungsroute resistenter Erreger: über die Ausscheidungen der Tiere, die als Gülle oder Dünger auf die Felder, auf die Pflanzen gelangen (und so auch auf den Tisch von Vegetariern). Keime sammeln sich im Boden, Oberflächen und Grundwasser oder werden über die Abluftanlagen der Ställe verblasen.

Und das Problem entsteht nicht nur in Mastställen, sondern auch in Arztpraxen. Viele niedergelassene Mediziner verschreiben Antibiotika leichtfertig, bringen zu viele davon in Umlauf, verordnen sie sogar bei Erkältungen  Krankheiten, die meistens von Viren ausgelöst werden. Antibiotika aber helfen nur gegen Bakterien.

Die Arsenale leeren sich

Die Statistik ist eindeutig: In Ländern mit freiem Antibiotikaverkauf breiten sich resistente Erreger mit furchterregender Geschwindigkeit aus  innerhalb der EU etwa in Griechenland. Wo die Abgabe streng geregelt wird, wie in Deutschland (das bei der Abgabe von Antibiotika in der Humanmedizin sehr viel besser dasteht als in der Tiermedizin), ist die Lage noch nicht so weit außer Kontrolle. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe forderte deshalb Mitte dieses Jahres vor der Weltgesundheitsversammlung eine weltweite Verschreibungspflicht für Antibiotika. Die EU und USA, China, Brasilien und Nigeria unterstützten den Vorstoß.

Aber kommt er rechtzeitig? Die ersten panresistenten Erreger  Superkeime, die immun sind gegen so gut wie alle zur Verfügung stehenden Antibiotika  tauchten vor wenigen Jahren in Indien auf, wo Verkauf und Verbreitung von Antibiotika keinerlei Kontrolle unterliegen. Gegen diese Killerbakterien haben wir keine Waffen mehr.

Die Weltgesundheitsbehörde berichtet: In Afrika ist die Zahl der gemeldeten Fälle, in denen Patienten von multiresistenten TuberkuloseErregern befallen wurden, zwischen 2005 und 2012 um mehr als das Siebenfache gestiegen.

Und dieser dramatische Prozess trifft die Menschheit ausgerechnet in einer Phase, da unsere Arsenale sich leeren, weil die Pharmakonzerne sich aus der

Antibiotikaforschung zurückziehen. 1990 entwickelten noch 18 große Unternehmen neue Antibiotika, heute sind es lediglich fünf  weltweit. Die USArzneimittelbehörde hat zwischen 198o und 1984 noch 20 neue Antibiotika zugelassen, zwischen Zoos und 2009 waren es drei.

Hunderte Millionen Euro kostet es, ein neues Antibiotikum zu entwickeln eine solche Investition lohnt sich nicht, sagt die Industrie. Denn in den meisten Ländern und für die meisten Anwendungsfelder gilt glücklicherweise nach wie vor: Eine Packung Antibiotika ist günstig und reicht aus, die Krankheit binnen zehn Tagen zu besiegen.

Und es lohnt sich eben auch deshalb nicht, weil Resistenzen immer schneller auftreten und Ärzte angewiesen sind, neue Antibiotika möglichst sparsam einzusetzen. Die Pharmakonzerne konzentrieren ihre Forschung lieber auf Mittel gegen Bluthochdruck und Diabetes, die dauerhaft verschrieben werden müssen, oder auf solche gegen Krebs und Aids, die sehr teuer sind.

Politik und Wirtschaft beraten über das Dilemma. Nachgedacht wird über beschleunigte und vereinfachte Zulassungsverfahren für neue Antibiotika, über staatliche Beteiligung an den Entwicklungskosten. Doch selbst wenn die Antibiotikaforschung sofort wieder hochgefahren würde: Neue Mittel wären erst in Jahren oder Jahrzehnten verfügbar.

Der Feind ist längst in uns. 700000 Menschen sollen sich in deutschen Krankenhäusern mit antibiotikaresistenten Bakterien infiziert haben. Vier bis acht Prozent der Bevölkerung, schätzt das RobertKochInstitut, tragen die bereits erwähnten ESBLKeime in sich.

Wir merken nichts von dieser schleichenden Invasion, unser Immunsystem hält die resistenten Erreger in Schach. Bis es eines Tages aus dem Tritt gerät, infolge einer schweren Erkrankung oder nach einer Operation. Dann breiten sie sich explosionsartig aus und sind nicht mehr zu stoppen.

Dass sich der exzessive Antibiotikaeinsatz in der Tiermast eindämmen lässt, hat Dänemark vorgemacht. Dort wurde der Verbrauch binnen weniger Jahre um mehr als so Prozent gedrosselt. Vor allem durch zwei Maßnahmen.


Erstens: strikte Verbrauchskontrollen. Wie viel Antibiotika ein Halter seinen Tieren verabreicht, wird zentral erfasst und lässt sich im Internet einsehen. Übersteigt der Verbrauch einen Schwellenwert, folgen Sanktionen (etwa der Zwang, weniger Tiere zu halten).

Zweitens: restriktive Medikamentenabgabe. Benötigt ein dänischer Mäster Antibiotika für seine Tiere, so stellt der Veterinär ein Rezeptaus, das in der Apotheke eingelöst werden muss. In Deutschland ist der Tierarzt gleichzeitig Apotheker und verdient kräftig an den von ihm selbst verordneten Mitteln. Auch immer mehr Tierärzte fordern mittlerweile eine Reform dieses aberwitzigen Systems.

Das Beispiel Dänemark zeigt vor allem eines: In den meisten Ländern werden viel mehr Medikamente verbraucht, als eigentlich notwendig wären. Zwar ist auch in Deutschland neuerdings ein leichter Rückgang zu beobachten  allerdings auf immer noch viel zu hohem Niveau.

Der niedersächsische GrünenPolitiker Christian Meyer verglich Fleischtheken mit Sondermülldeponien; da war er noch in der Opposition. Jetzt, als Landwirtschaftsminister in Hannover, will er den Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung hierzulande halbieren. Gemeinsam mit seinem NRWKollegen Remmel zählt er zu den Initiatoren des neuen Tierarzneimittelgesetzes  das sich, was die Meldepflicht der Halter anbelangt, am dänischen Vorbild orientiert. Obendrein fordert er ein Verbot sogenannter ReserveAntibiotika in der Massentierhaltung; diese sollen für die Humanmedizin reserviert bleiben.

Solche Maßnahmen haben auch die Niederlande durchgesetzt. Auf eine europaweite Regelung konnte sich die Politik bisher gleichwohl nicht einigen; zu stark die LobbyMacht, die dagegensteht. Immerhin dürfen Antibiotika in der EU seit zo o 6 nicht mehr als Mastbeschleuniger eingesetzt werden wie noch immer in den USA (mehr dazu im folgenden Beitrag). Eine weitere drastische Reduzierung des Antibiotikaverbrauchs aber scheint unumgänglich. Die Gesundheitskatastrophe wäre ein zu hoher Preis für billiges Fleisch.




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