Samstag, 20. Juni 2015

Glutenfreie Lebensmittel


Glutenfreie Lebensmittel

Author D.Selzer-McKenzie

Video: http://youtu.be/uUGCYZrHcTM

In den Regalen der Supermärkte stehen immer mehr glutenfreie Lebensmittel. Ein Hinweis auf ein neues Krankheitsbild — oder nur eine Modeerscheinung?

DER VERDÄCHTIGE versteckt sich in Nudeln, Müsli, Bier und Brot - um nur einige Beispiele zu nennen. Seine mut-maßlichen Missetaten: Magen-Darm-Be¬schwerden, Müdigkeit und Kopfschmer-    zen. Es wird sogar gemunkelt, er mache dick. Der Fall scheint klar: Dem Eiweiß Gluten muss Einhalt geboten werden. Die Bevölkerung hat ihr Kaufverhalten bereits angepasst. Fristete glutenfreie Kost früher ein Nischendasein im Re-formhaus, treten die Produkte mit der durchgestrichenen Ähre heute einen Siegeszug durch die Supermarktregale an. Der Umsatz wächst immer mehr:

Betrug der Wert der Waren 2012 in Deutschland noch 54203 Euro, prognos-tizert das Marktforschungsunternehmen Mintel International Group Ltd. für 2014 ganze 210 Millionen Euro.

Wer gern Freunde zum Essen einlädt, weiß: Irgendein Gast bedarf fast immer einer Sonderbehandlung - etwa der Vegetarier oder der Laktose-Intolerante, der keine Milchprodukte verträgt. Doch die Warnung „Ich vertrage kein Gluten" lässt rätseln. Handelt es sich hier um eine echte Nahrungsmittelunverträg¬lichkeit oder folgt der Gast nur einem neuen Ernährungstrend? Und: Ist gluten-freie Nahrung gesünder als herkömm¬liche Kost?

Das auch als Kleber-Eiweiß bezeich-nete Gluten steckt vor allem in Getreide¬sorten wie Weizen, Roggen und Dinkel. Es verleiht Broten ihre typische Laib-form, macht Pizzateig formbar und sorgt dafür, dass Gebäck im Backofen aufgeht. So weit, so harmlos. Doch manche Menschen müssen nach dem Verzehr von nur einer Scheibe Brot mit schwerwiegenden Folgen kämpfen.

DIAGNOSE ZÖLIAKIE

Bei Zöliakie-Patienten verursacht Gluten eine krankhafte Reaktion im Immunsys¬tem des Darms. Die Folge: eine chroni¬sche Entzündung der Dünndarmschleim-haut, was die sogenannten Zotten zer¬stört, die für die Nährstoffaufnahme wichtigen Ausstülpungen. Die Patienten leiden an heftigen Bauchschmerzen und Blähungen sowie an Übelkeit und man¬gelndem Appetit. Langfristig entwickeln sich Nährstoffdefizite. Wodurch Zölia-kie entsteht, ist unklar. Teilweise ist die Krankheit wohl erblich bedingt, aber auch Infektionen oder Stress können die Ursache sein.

Zöliakie ist gleichzeitig eine Nah-rungsmittelunverträglichkeit und eine Autoimmun-Erkrankung. Diagnostiziert wird sie durch den Nachweis von Anti¬körpern gegen Gluten-Bestandteile. Die Entnahme einer Gewebeprobe aus dem Dünndarm gibt Aufschluss darüber, ob die Schleimhaut entzündet ist. Wer die Beschwerden in den Griff bekommen will, muss völlig auf Gluten verzichten. Ein Heilmittel gibt es bislang nicht. Das ist etwas ganz anderes, als wenn Sie zum Beispiel auf einmal keine Nüsse mehr essen dürfen", sagt Reiner Ullrich, der an der Berliner Charite die Gluten-Unverträglichkeit erforscht. „Es handelt sich um eine drastische Lebensumstel¬lung. In Restaurants zu gehen oder eine Essenseinladung von Freunden anzu¬nehmen, all das geht nicht mehr so ein¬fach. Wir empfehlen Patienten sogar, einen glutenfreien Bereich in der Küche einzurichten." Der Aufwand ist nötig, denn die Menge an Gluten, die ein Zöliakie-Patient ver-trägt, ist winzig. Gemäß einer seit 2012 geltenden EU-Verordnung gilt ein Pro-dukt als glutenfrei, wenn es weniger als 20 Milligramm des Kleber-Eiweißes pro Kilogramm enthält. Zum Vergleich: Ein Weizenbrötchen enthält rund 5 Gramm. Schätzungen zufolge sind in Deutsch¬land 0,5 bis 1 Prozent der Bevölkerung an Zöliakie erkrankt.

Seit einigen Jahren mehren sich zu-dem Hinweise, dass es Menschen gibt, die zwar nicht an Zöliakie leiden, aber dennoch mit Beschwerden auf gluten-haltige Lebensmittel reagieren: Sie ha-ben Bauchschmerzen und Blähungen, leiden an Verstopfung oder Durchfall. Inzwischen beschäftigen sich auch immer mehr Wissenschaftler mit die-sem Phänomen.

„Früher wurden Ärzte belächelt, die der Meinung waren, dass es so etwas wie eine Glutensensitivität gibt", erklärt Wolfgang Holtmeier, Magen-Darm-Spe¬zialist am Krankenhaus Porz am Rhein.

Kornpakt

         Zöliakie-Patienten reagieren mit schweren Magen-Darm-Problemen auf das Kleber-Eiweiß Gluten.

         Auch Glutensensitive scheinen nach dem Verzehr von glutenhaltigen Pro¬dukten Beschwerden zu bekommen.

         Fest steht: Eine glutenfreie Ernährung garantiert keinen Gewichtsverlust ¬wenn ein Ernährungstrend aus den USA auch

Reiner Ullrich meint: „Falls es die Grup-pe der Glutensensitiven wirklich geben sollte, handelt es sich um eine Unter-gruppe der Reizdarmpatienten. Diese Patienten sind schwierig zu erfassen, weil es für ihre Symptome keine erkenn¬baren körperlichen Ursachen gibt." Soll heißen: Während Zöliakie anhand von Antikörpernachweis und Gewebeunter¬suchung zweifelsfrei diagnostiziert wer¬den kann, sind bislang keine messbaren Hinweise auf Gluten-sensitivität bekannt.

Dass es abseits der Zöliakie Menschen gibt, die sensibel auf Gluten reagieren, legen die Er¬gebnisse von australischen For¬schern nahe, die Patienten mit Reizdarmsyndrom untersucht ha¬ben. Die eine Hälfte der Proban¬den aß täglich zwei Scheiben glutenhaltiges Brot sowie einen glutenhaltigen Muffin. Ansons¬ten verzichteten sie auf das Kle¬ber-Eiweiß. Die andere Hälfte er¬nährte sich komplett ohne Glu¬ten. Zwar erhielten auch sie Brot und Muffin - allerdings gluten-freie Varianten. Nach einer Wo-che zeigten sich deutliche Unter¬schiede zwischen den beiden Gruppen. Die Probanden, die Gluten zu sich genommen hat¬ten, litten wesentlich häufiger unter allgemeinen Schmerzen, Blähungen und Müdigkeit - den typischen Symptomen des Reiz-darmsyndroms. Weitere Unter¬schiede zwischen den Versuchsgruppen fanden sich jedoch nicht.

ZU UNRECHT VERDÄCHTIGT?

Derzeit stellen Ärzte eine reine Aus-schlussdiagnose: „Wenn bei einem Pa-tienten eine Zöliakie ausgeschlossen wurde und seine Beschwerden nach einer glutenfreien Diät trotzdem weg sind, sprechen wir von einer Gluten-sensitivität", sagt Ullrich, der nach einem Biomarker für die Beschwerden sucht. Ohne solch einen handfesten In-dikator ist es schwierig, die Zahl der Be-troffenen zu ermitteln. „Aus dem Bauch heraus würde ich sagen, dass zwei bis fünf Prozent der Bevölkerung sensibel auf Gluten reagieren", schätzt Holtmeier.

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Doch möglicherweise wird das Kleber-Eiweiß zu Unrecht verdächtigt. Ein Team um den Gastroenterologen und Bioche¬miker Detlef Schuppan von der US-ame¬rikanischen Harvard Medical School legte kürzlich Forschungsergebnisse vor, die die Fachwelt aufhorchen ließen. Demnach könnte ein bisher unbeach¬teter Weizenbestandteil eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Nahrungs-

mittel-Unverträglichkeiten spielen: der Amylase-Trypsin-Inhibitor, kurz ATI. Das Protein ist für Insekten giftig und wird vom Weizen gebildet, um Schädlinge abzuhalten. Die Forscher um Schuppan entdeckten, dass ATI das menschliche Immunsystem aktivieren kann. Sie ver¬muten, dass es jedes Mal zu solch einer Alarmreaktion kommt, wenn Weizen verzehrt wird. Dies könne schließlich zu einer Erkrankung führen.

HOCHLEISTUNGSWEIZEN AM PRANGER Auch Wolfgang Holtmeier schließt die¬ses Szenario nicht aus: „Moderner Hoch-leistungsweizen enthält besonders viel ATI, da er dadurch schädlingsresistenter wird. Wir sind diesem Protein verstärkt

 

Zöliakie unter dem Mikroskop: Die finger-förmigen Zotten der Dünndarmschleimhaut sind zerstört - sie wirkt flach und verkümmert. Die Patienten müssen bei der Ernährung komplett auf das Kleber-Eiweiß verzichten.

ausgesetzt." Obwohl wir also nicht mehr Weizen als früher essen, nehmen wir heute mehr ATI zu uns. Das Gleiche gilt für Gluten: Viele Backwaren werden künstlich mit dem Protein angereichert, weil es ihre Konsistenz verbessert. Lei-den deshalb immer mehr Menschen an Zöliakie? Untersuchungen von jahrzehn¬telang aufbewahrten Blutproben in den ,4 Vereinigten Staaten zeigten, dass sich die Zahl der Zöliakie-Patienten seit den 1950er-Jahren vervierfacht hat. Ob der Prozentsatz der Glutensensitiven eben-falls zugenommen hat, ist nicht bekannt, dazu ist die Datenlage zu schlecht.

Fest steht: Die Verbraucher greifen vermehrt zu Nahrungsmitteln ohne Glu¬ten. „Das Segment der glutenfreien Pro-Ursprung dieser Entwicklung sieht er in den USA: „Dort herrscht schon lange eine Anti-Weizen-Stimmung."

HOLLYWOOD-WERBUNG

Geschürt wird das Misstrauen gegen-über Weizen im Allgemeinen und Gluten im Speziellen von Hollywood-Berühmt¬heiten, die für eine glutenfreie Ernäh¬rung werben. So schreibt Schauspielerin

 

oder unterstützten sie beim Abnehmen. Die Tatsache, dass „diet" im Englischen sowohl „Diät" als auch schlicht „Ernäh-rungsweise" bedeutet, könnte auch so manchen Deutschen auf die falsche Fährte führen. „Gluten-free diet" mag vielversprechend klingen, sorgt aber nicht für Gewichtsverlust.

Auf die Frage, ob eine glutenfreie Ernährung für gesunde Menschen ir-gendwelche Vorteile mit sich bringe, antwortet Wolfgang Holt-meier lapidar: „Nein." Und er führt aus: „Bei einer glutenfreien Ernährung fällt auch viel kalo¬rienreiches Fast Food und Fer-tigessen weg. Wenn es anfangs zu einem Gewichtsverlust kommt, liegt das nicht am Verzicht auf Gluten."

Auch der Lebensmittelkon¬zern REWE gibt an, mit seinen „frei von"-Produkten nur die überschaubare Zielgruppe von Menschen mit Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten ansprechen zu wollen. „Das sind keine Life-style-Produkte, die man zum Abnehmen kauft", betont Ka¬thrin Kemper, Produktmanage¬rin der Linie. Nach einem even¬tuellen gesundheitlichen Nutzen der glutenfreien Produkte für Menschen ohne Unverträglich¬keit gefragt, sagt sie klar: „Es

gibt keinen."         









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