Donnerstag, 3. Juni 2010

Eine Reise nach Chicago – SelMckenzie Selzer-McKenzie

Eine Reise nach Chicago – SelMckenzie Selzer-McKenzie
Author D.Selzer-Mckenzie
Video:
http://www.youtube.com/watch?v=MPPxqr_X7rs

Konzept, das die Bedürfnisse der Bewohner in den Mittelpunkt stellte. Ein Vorbild bis heute.

 Dass in Chicago nicht immer „ois Chicago" ist, wie Max in den „Münchner Geschichten" immer wieder verspricht, ist klar. Trotzdem wollte ich da nie hin. Weil mein Vorurteil eindeutig war und auch in Literatur und Film gut gepflegt wurde. Ein Bild hält nicht immer, was es verspricht.
2122, North Clark Street im Stadtviertel Lincoln Park. Es ist ein grauer Morgen. Und kalt. Zwei pech¬schwarze Limousinen vom gleichen Typ, wie die Kripo sie fährt, halten vor der Autowerkstatt, die sich hinter dieser Adresse verbirgt. Fünf Männer steigen aus, drei davon in Polizeiuniformen gekleidet. Ein Wortwechsel, danach geht alles ganz schnell. Sieben Männer werden aus der Garage getrieben, an die Wand gestellt. Ratlose Ruhe — dann Gewehrsalven — und wieder Stille. Abgang. Die drei als Polizisten ver¬kleideten Killer täuschen die Verhaftung der beiden Komplizen vor, verschwinden in den Autos und da¬mit unerkannt im Nirgendwo. Papier und trockenes Laub werden vom Wind durch die Luft gewirbelt. Sieben Tote am Valentinstag 1929. Das Massaker zweier rivalisierender Gangs hat Bücher inspiriert. Und ist eine dieser Geschichten, die sich in Bildern in meinem Kopf festgesetzt haben. Gefährliche Ganoven hinter jeder Ecke. Genau so habe ich mir Chicago immer vorgestellt.

Bei meiner Ankunft Ende März ist es grau und die gefühlte Temperatur weit tiefer als das Thermometer anzeigt. Es ist der Wind. Er gehört zu dieser Stadt, bläst vom Lake Michigan durch die Straßen und wirbelt um die Ecken der Hochhäuser, kriecht die Fassaden in den Avenues entlang. Im Winter sticht er mit 1000 Nadeln ins Gesicht, bis man sich ver¬steckt. „Windy City". Ob dieser Name vom Wind her¬rührt, ist nicht sicher geklärt. Möglich ist auch, dass er die politischen Verhältnisse in der Stadt meint oder die turbulenten Beziehungen zu Cinncinati und New York. Erstere wurde von Chicago 1843 in der Schweineproduktion überholt und hat damit den Namen „Porkopolis" übernommen, letztere ist bei der Bewerbung um die Weltausstellung 1892 nicht zum Zug gekommen. Das Wörterbuch über¬setzt „windy" mit aufgeblasen. Passt perfekt.
Ende März ist zu früh, um Chicago entspannt zu entdecken. Zwar lassen sich da die Angestellten

schon mal von den ersten Sonnenstrahlen zur Mittagspause aus den Bürotürmen des Loop auf die Plätze locken. Mit Loop bezeichnet man nicht nur den Downtown Business Distrikt Chicagos, sondern auch die Bahn, die auf den schweren Stahlstelzen um ihn herumrattert. Auch sie gehört zum Stadt¬bild. Und als einmal eine Initiative sie abschaffen wollte, hagelte es Proteste.
Kunst entdecken
An den nicht so schönen Tagen tut man gut daran, in die Museen und Theater zu flüchten. Chicago hat einiges an Kultur zu bieten. Die Theater- und Musicalbühnen strahlen mit ihren anspruchsvollen Produktionen weit über die Stadt hinaus. Nicht sel¬ten probieren Betreiber von Theatern am New Yorker Broadway neue Stücke in Chicago aus. Blues geht zurück in die 40er-Jahre, als viele Musiker aus den Südstaaten ankamen. Das Art Institute of Chicago hat eine der größten Sammlungen expressionisti¬scher Gemälde weltweit. Im Mai vergangenen Jahres kam für die Moderne Abteilung des Museums ein Anbau dazu, entworfen vom international renom¬mierten Architekten Renzo Piano.
Von der Terrasse des neuen Museums blickt man auf

den Millenium Park. Im März lag er verweist, wie ausgestorben da. Zwei Touristen tranken ein Bier unter einer braunen Papiertüte versteckt und wur¬den von einem Polizisten kontrolliert und ermahnt. Als ich im August wieder nach Chicago kam, war der Park mit Leben erfüllt. Am Jay Pritzker Pavillon, ei¬ner Freilichtbühne von Frank 0. Gehry gestaltet und einer wild züngelnden Flamme ähnelnd, sind täg¬lich Konzerte. Viele davon kostenlos. Grund für viele Chicagoer auszugehen, ein Picknick mit Wein, Freund und Gesang zu machen.
Nebenan ist das „Cloud Gate", auch „The Bean" (Bohne) genannt. Sie stammt aus dem Atelier von Anish Kapoor. Es ist ein großer polierter Stahlkörper, durch den man gehen kann und sich dabei unzäh¬lige Male spiegelt. Ein Stück weiter ist für Kinder ein Brunnen die Krönung: Der Crown Fountain besteht aus zwei sich gegenüberliegenden Säulen, auf de¬nen Porträts von 1000 Einwohnern Chicagos wie-dergegeben werden. Und dann und wann öffnet sich ein Mund und speit Wasser. Ein Moment, in dem auch viele Erwachsene zum Kind werden. Anfangen zu lächeln, vielleicht auch sich neu für moderne Kunst zu interessieren und damit für die Welt. 2004 erst wurde der Park eröffnet. Unter ihm liegt die aus¬gediente Randolph Street Station. Sie wurde zum Parkplatz umgebaut, überdacht und als frei zu-gänglicher, kostenloser Skulpturenpark der Öffent¬lichkeit zur Verfügung gestellt — und angenommen. Millionen Besucher kommen jährlich.
Menschen brauchen öffentlichen Platz, brauchen Grünflächen und sollten diese zu Fuß erreichen können. Wo immer sie wohnen. Das war ein Ziel, das Daniel Burnham verfolgte. Er war Architekt und Stadtplaner. Chicagos Bürgermeister bat ihn 1903, einen Plan für die weitere Entwicklung der Stadt zu entwerfen. Dies war das erste Mal, dass in den USA Stadtentwicklung geplant wurde. 1909 stellte Burnham sein Konzept vor, das die Stadt zu einem „Paris der Prärie" ma

chen sollte. Bis heute orientieren sich Stadtplaner an diesen Zielen, und zu seinem 100. Jahrestag wurden neue Perspektiven für das nächste Jahrhundert hin¬zugefügt.
Einwanderer-Persönlichkeiten
Seine Arbeit und sein Leben richtete Burnham an einem übergeordneten Ziel aus: keine kleinen Pläne zu machen, weil sie Mitmenschen nicht begeistern können und daher keine Mitstreiter finden. Chicago hatte Planung bitter nötig. 1871 wütete ein Flam-menmeer knapp zwei Tage lang, brachte mehreren hundert Menschen den Tod und machte ein Drittel der etwa 300.000 Einwohner obdachlos. Bis 1900 sollte sich die Bevölkerung verfünffachen. Immer neue Immigrationswellen schwappten in die Stadt, getrieben von der einsetzenden Industrialisierung, die Arbeiter brauchte, die der Bevölkerung Brot gab, aber auch die Luft zum Atmen nahm.
Emmerenz Meier, eine unbequeme Dichterin aus Passau, wanderte in dieser Zeit nach Chicago aus. In ihren Liedern und Texten schreibt sie von der da¬mals herrschenden Not. Kirche und Kapitalismus machte sie dafür verantwortlich. Obwohl sie selbst kaum genug zum Leben hatte, unterstützte sie ihre Familie und Freunde in der niederbayerischen Heimat. 1928 starb sie an den Folgen einer Nieren-entzündung.

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