Biotechnische künstliche Hand zur Musikproduktion
Author D. Selzer-McKenzie
YoutubeVideo: https://youtu.be/90GlNvjqcKg
Zukunft der Musik liegt in einem Keller in der britischen
Provinz. Genauer gesagt in der Ort¬schaft Havering-atte-Bower, deren Name
klingt wie ein Schauplatz aus einem Roman von Jane Austen. Eine knappe
Autostunde von Londons Innenstadt entfernt, lebt hier Imogen Heap (Foto links),
Grammy-Gewinnerin und Kompo¬ nistin des „Harry Potter and the Cursed
Child"-Theaterstücks, mit Mann und zwei Kindern in einem Haus aus dem 18.
Jahr¬hundert. Um die Ecke ist der Havering Country Park, ein paar Straßen
weiter der Hainault Golf Club. Stolz und Vorurteil, Tradition und
viktorianisches Ambiente — ist das wirklich der futuristische Ort, an dem
Technik, Töne und Klänge revolutio¬niert werden sollen
Wer in den Keller der 39-Jährigen hinabsteigt, kommt der
Idee schon etwas näher. In ihrem Homestudio stehen meh¬rere Apple-Rechner, ein
Dutzend Synthesizer, zwei Klavie¬re und Mischpulte, aus denen unzählige bunte
Kabel wie Luftschlangen heraushängen. In den Regalen stapeln sich alte
Kassettenrekorder, Radios, Xylophone und Glocken¬spiele. Das bunte
Durcheinander erinnert eher an Lewis Carrolls „Alice im Wunderland" als an
Jane Austen.
„Ich produziere Musik, wie die meisten Leute, an meinem
Computer. Und irgendwann dachte ich, ob man nicht alle digitalen Tools, Befehle
und Ein¬stellungen auch anders und intuitiver steuern könnte", sagt Heap.
Sechs Jahre
lang arbeitete sie gemeinsam mit einem Team aus Ingenieuren,
Programmie¬rern und Tech-Bastlern zusammen, um die Vorzüge der digitalen Musik
mit der haptischen Erfahrung der Gestensteuerung zu kombinieren. Die Idee ist
Folgende: Musiker haben via Programme wie Pro Tools oder Logic sowie zahl¬reiche
Open-Source-Anbieter im Internet problemlos Zugang zu Millionen von Sounds, aus
denen sie Songs zusammenstellen können. Diese müssen al¬lerdings stets fein
säuberlich seziert und angeordnet werden, damit daraus ein Song wird. Wer schon
mal auf seinem MacBook mit dem vorinstallierten Pro¬gramm GarageBand
herumgespielt hat, weiß, wie einfach sich kleinere Stücke produzieren lassen.
Der Teufel steckt im Detail, denn bei dem Überangebot kann der kreative Geist
schnell mal überfordert sein und erlahmen.
erfassen acht Mini-Sensoren sowie ein briefmarkengroßer
IMU-Sensor Gesten, die über ein Mini-x-OSC-Board und WLAN an den Computer
geschickt wer-den. Hinzu kommt ein Vibrationsmotor, der haptische Signale
bestätigt und per 3 ,7-Volt-Lithium-Batterie betrieben wird. Damit die
Handschuhe auch optisch or-dentlich Eindruck machen, lassen sich un¬terhalb des
Daumens sogar LED-Signale steuern. Kostenpunkt: knapp 5.000 Briti¬sche Pfund
(etwa 5.600 Euro). Ein Ver¬kaufsschlager sind die akustischen Finger¬wärmer noch
nicht — gerade einmal knapp 40 Personen weltweit besitzen ein Paar. Die gute
Nachricht: Das MiMu-Team operiert mit Open Source, das heißt, alle Besitzer
arbeiten selbst aktiv daran, dass sie neue Applikationen für die Handschu¬he
entwickeln können.
Bereits 2010 präsentierte Imogen Heap auf der
TEDGlobal-Konferenz ei-nen frühen Prototypen der Handschuhe und konnte auf
Anhieb erste Investoren gewinnen. Damals trug sie noch einen rucksackgroßen Hub
zwecks Datentrans¬fer und Stromquelle auf dem Rücken, der ihr eine recht
spezielle Aura verlieh, irgendwo zwischen „Ghostbusters", „Mi-nority
Report" und „Matrix". Ein aktuel¬les Update kann man am besten in
ihrem YouTube-Clip zum Song „Me The Ma-chine" sehen, in dem sie aussieht
wie eine entrückte Musikbotschafterin aus einem Science-Fiction-Film von Ridley
Scott.
Sind die MiMu-Gloves nur eine Spielerei für Tech-Nerds oder
steckt womöglich doch mehr dahinter? „Die Handschu¬he sind ein gewaltiger
Schritt nach vorn für die Musiktechnologie. Viele Künstler werden Kreativität
anders und neu er-leben. Wie ist ein Song aufgebaut? Wie kann ich ihn steuern?
Das erste Mal, als ich sie trug, habe ich nur ein paar holp-rige
Schlagzeugrhythmen gespielt — und allein davon bekam ich schon eine ziem-liche
Gänsehaut", sagt die Engländerin heute ein paar Jahre später.
Kolleginnen wie Ariana Grande und Chagall (siehe links)
haben die Mi-Mu-Gloves bereits für sich entdeckt, auch Superstar Taylor Swift
war vor ein paar Jahren in Havering-atte-Bower, um im Wochenendhaus-Ambiente
eine frühe Demoversion ihres Hits „Clean" aufzunehmen. Und nicht nur in
Musi-kerkreisen erfreuen sich die Handschuhe großer Beliebtheit. In
Großbritannien gibt es bereits mehrere medizinisch-the¬rapeutische Projekte,
bei denen die Handschuhe von Patienten mit moto¬rischen Störungen, zerebralen
Erkran¬kungen und chronischen Lähmungser¬scheinungen ausprobiert werden, um die
Bewegungsfreiheit zu vergrößern und musikalisch aktiv zu werden. Anfassen,
fühlen, machen — trotz digitaler Vielfalt liegt die Zukunft der Klänge
vielleicht doch da, wo sie ursprünglich herkommt: in der handgemachten Musik.
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