Freitag, 19. Juni 2015

Antibiotika in der Fleisch-Produktion


Antibiotika in der Fleisch-Produktion

Author D.Selzer-McKenzie

Video: http://youtu.be/aj411Z16GHU

Weihnachten 1948. Der Biochemiker Thomas H. Jukes i acht sich zu seinem Kontrollgang durch die LederleLaboratorien in Pearl River, New York, auf. Er überwacht vertretungsweise ein Experiment an Masthähnchen; der Angestellte, der die Tiere normalerweise wiegt und flittert, ist schon in den Ferien.

Was Jukes auf seiner Runde entdeckt, wird die weltweite Fleischproduktion revolutionieren  und ungeahnte Gefahren für die Gesundheit der Menschheit heraufbeschwören.

Zunächst schaut er nach einer Gruppe von zwölf Küken, deren Futter mit einem teuren Leberextrakt angereichert worden ist. Die Tiere haben überdurchschnittlich schnell an Gewicht zugenommen. Das hatte Jukes erwartet. Doch verblüfft stellt er wenig später fest, dass eine Vergleichsgruppe noch viel rasanter gewachsen ist. Und deren Futter enthält einen sehr viel billigeren Zusatzstoff: ein neu entdecktes Antibiotikum mit Namen Aureomycin.

Jukes und seine Kollegen leiten ein paar Folgeuntersuchungen ein, um den wachstumsfördernden Effekt des Antibiotikums zu bestätigen. Dann geht die Arzneimittelfirma Lederle (das Unternehmen gehört heute zum PfizerKonzern) mit ihrem revolutionären Produkt auch schon auf den Markt.

Wie und warum die mit dem Medikament gefütterten Tiere schneller Fleisch ansetzen, versteht zu dem Zeitpunkt niemand  und es ist bis heute nicht endgültig geklärt. So gerät Jukes' Entdeckung zum globalen Experiment mit unübersehbaren Folgen. Es ist ein unkontrollierter Eingriff in die Biologie der Tiere. Und vielleicht auch in die Biologie der Menschen, die diese Tiere essen.

Antibiotika, in kleinen, subtherapeutischen Dosen dem Futter beigemengt, gelten schon bald als Standard in der Aufzucht von Masttieren, weltweit. Noch heute gehen 8o Prozent der in den USA verkauften Antibiotika in die Tierzucht und nicht in die Gesundheitsversorgung.

Die Konsequenz: eine dramatisch anwachsende Antibiotikaresistenz, der jedes Jahr weltweit Hunderttausende Menschenleben zum Opfer fallen.

Dies ist die Geschichte einer Tragödie und eines stillen Skandals. Es ist eine Fallstudie zur Dominanz wirtschaftlicher Interessen über wissenschaftliche Erkenntnis. Und es ist die Lebensgeschichte eines hoch angesehenen Forschers:

Thomas H. Jukes, der Mann, der Antibiotika in einen Tierfutterzusatz verwandelte, wird 1903 geboren. Er ist e _Umweltschützer der alten Schule; spätzals Professor an der BerkeleyUniversität wird er zum Pionier der molekular,  Biologie. Jukes ist ein äußerst streitbal, Wissenschaftler, der sich in Hunder,  Artikeln zu Wort meldet, oft polemisch

Er verhindert die Einführung Kreationismus an kalifornischen Schule . jener Lehre also, die hinter der Schöp:fung nicht die Evolution sieht, sondern C1  Und er streitet erfolgreich gegen Scharlatane in der Krebsforschung, greift gar Nobelpreisträger Linus Pauling als dieser hoch dosierte Vitamingaben.

Allheilmittel propagiert. Jukes ist beseelt von dem Gedanken, allein mit der Macht der Wissenschaft Krankheiten und Hunger auf der Welt besiegen zu können.

In seinem Fortschrittsglauben macht er sich stark für den Einsatz von DDT gegen Malaria; alle Versuche, das gefährliche Insektizid zu verbieten, verunglimpft er als „völkermörderisch". Er hält sich für einen Vertreter der reinen Faktenlehre, wohingegen ihm die „Gefühlsduselei" der aufkommenden Umweltbewegung ein Graus ist. Sein Credo, frei nach Paracelsus: „Allein die Dosis macht das Gift."

In seiner Arbeit für die Pharmaindustrie allerdings besteht er weniger rigoros auf jener genauen Nachweisfiihrung, die er von seinen Gegnern vehement einfordert. Wie unbeschwert von Richtlinien die Arzneimittelhersteller agieren konnten, bevor der ConterganSkandal in den 196oer Jahren zu verschärften Bestimmungen führte  das macht uns heute sprachlos.

Antibiotika erschienen nicht nur Jukes als Verheißung. Penicillin, eingeführt während des Zweiten Weltkrieges, rettete Zehntausenden Soldaten das Leben. Nach Kriegsende wetteifern die Forscher um die Entwicklung weiterer bakterientötender Mittel.

Benjamin Duggar, Botaniker und Pilzspezialist, kommt als Berater zu Lederle. Duggars Wissen um die Geheimnisse der Pilze zahlt sich schnell aus.

Jukes erinnert sich: „Schon nach ein paar Monaten berichtete er von erstaunlichen Fortschritten auf der Suche nach neuen Antibiotika. Die Ergebnisse waren so vielversprechend, dass Labormitarbeiter gelegentlich kleine Portionen des Rohextrakts mitgehen ließen, um ihre Erkältungen zu kurieren." Damals glaubte man noch, Antibiotika wären ein Allheilmittel, das gar gegen Krebs wirkt.

Duggars Pilz entfaltet nicht nur starke antibiotische Kräfte, er produziert auch ein gelbes Pigment, das seinen Entdecker zur Namensgebung inspiriert: Streptomyces aureofaciens*, „der Goldtragende".

Ein Name von sinnhafter Doppeldeutigkeit. Ein LederleChef präsentiert eine Ampulle des Stoffs seinem wissenschaftlichen Personal mit den Worten: „Dies hier wird uns Millionen einbringen." Was eine krasse Untertreibung ist. Ab Ende 1948 wird Aureomycin vermarktet. Es ist das erste Tetracyclin, ein Breitbandantibiotikum, das gegen ein ganzes Spektrum von Mikroben wirkt. Die Ärzte setzen es erfolgreich gegen Keuchhusten ein, gegen RockyMountainFleckfieber, Augenentzündungen, Typhus, Ruhr und Infektionen durch Streptokokken oder Staphylokokken.

Ein Wundermittel scheint gefunden. Eines, das mehr kann als nur Menschenleben retten.

In jenen Dezembertagen des Jahres 1948 erhält Jukes eine Probe des Mittels, um es an Hühnern zu testen. Allerdings nicht, um Infektionen zu kurieren. Die Geflügelindustrie ist gerade dazu übergegangen, günstige Sojabohnen statt, wie bisher üblich, teuren Fischmehls zu verfüttern. Was den Tieren aber nicht gut bekommt. Dem Soja fehlte etwas; ein rätselhafter „Animal Protein Factor", heute bekannt als Vitamin B12..

Bisher musste B12 aufwendig aus roher Leber extrahiert werden. Doch Forschungen lassen vermuten, dass es auch eine mikrobielle Quelle dieses Stoffes geben muss. Und deshalb probiert Lederle sein Aureomycin an den Küken aus.

Ein Schwindel mit Folgen

Die Ergebnisse übertreffen alle Erwartungen. Der Pilz bringt nicht nur B12 hervor. sondern noch etwas anderes: „einen uridentifizierten Wachstumsfaktor", wie die Forscher melden.

Jukes und sein Team finden bald heraus, dass der „unidentifizierte Wachs tumsfaktor", der auf so wundersame Weise den Fleischzuwachs stimuliert„ das Antibiotikum selbst ist. Umgehend beginnt das Unternehmen mit der Vermarktung; der Abschluss von Versuch hen zur Verträglichkeit und Toxizität % gar nicht erst abgewartet. Die Nac ist immens, die Verteilung gerät zeitw zum nationalen Politikum.

Ein Apotheker in Minnesota soll flüssige Gold en gros gekauft, dann in ne Portionen umverpackt und mit e solchen Aufschlag weiterverkauft dass er sich von den Profiten umgeh Florida zur Ruhe setzen konnte.

Lederle vermarktet das Produkr irreführender Weise zunächst allein Quelle von Vitamin B12. Als die  mittelüberwachungs und Arzneimittelzulassungsbehörde FDA ein Jahr später herausfindet, dass große Mengen Antibiotika an Amerikas Vieh verfüttert werden, da fragt sie in aller Unschuld nach, „welche Menge von Aureomycin für den Gebrauch als Tierfutterergänzung zugelassen werden sollte".

Auskunft gibt: das produzierende Unternehmen selbst.

„Wunderdroge Aureomycin steigert Wachstum um so Prozent"  mit dieser Schlagzeile erscheint die „New York Times" am io. April 195o. Der Autor zitiert einen LederleBericht mit den Worten, diese „spektakuläre" Entdeckung sei von „enormer langfristiger Bedeutung für das Überleben der Menschheit in einer Welt schwindender Ressourcen und wachsender Bevölkerung". Der Beitrag schließt mit den Worten: „Keine unerwünschten Nebeneffekte wurden festgestellt."

Andere Studien jener Zeit gehen von bis zu zwölf Prozent zusätzlichen Wachstums durch Antibiotikazusätze im Tierfutter aus, nicht von so; und in jüngerer Zeit wird der Effekt noch deutlich niedriger angesetzt. Aber das bedeutete immer noch: Die Produzenten können mehr Fleisch zu günstigeren Preisen (und mit höheren Profiten) auf den Markt bringen.

Und weil als Nebeneffekt der täglichen Antibiotikagabe eine Reihe Krankheiten ausgeschaltet wird, lassen sich viel mehr Tiere auf engerem Raum halten. Antibiotika werden zum Schlüssel der modernen Massentierhaltung. Die Innovation verbreitet sich weltweit, eine neue Ära des Antibiotikaeinsatzes beginnt: nicht mehr für die menschliche Gesundheit, sondern zur Steigerung der Fleischproduktion.

14 Jahre nach Jukes' folgenreicher Entdeckung, 1962, erscheint „Der stumme Frühling" von Rachel Carson. Das Buch der Biologin steht am Beginn der modernen Umweltbewegung. Carson wendet sich gegen den unkontrollierten Einsatz von DDT und anderen Pestiziden und stellt das blinde Technikvertrauen ihrer Zeit insgesamt infrage.

Jukes kontert mit einem Artikel, in dem er polemisch „jene idyllischen Tage" preist, als Frauen noch keine Zeit gehabt hätten, sich dem Schreiben von „Science FictionHorrorgeschichten" hinzugeben; damals seien sie nämlich zu sehr damit beschäftigt gewesen, Kakerlaken zu zerquetschen, Kleidermotten auszuklopfen, Schimmel von der Schweineschulter zu kratzen und darüber nachzugrübeln, ob sie sich am Sonntag den Luxus eines Hühnchens leisten könnten.

»Das Experiment läuft«

Der Verweis auf das billige Geflügel beweist, dass Jukes durchaus auf Kritik am Antibiotikaeinsatz gefasst ist. Der Angriff erfolgt drei Jahre später, als in Großbritannien sechs Menschen an resistenten Salmonellen sterben. Ein Regierungsbericht kommt zu dem Ergebnis, dass die Erreger ihre Resistenz durch Antibiotika im Tierfutter erworben hätten.

Als Jukes 1999 stirbt, preisen Freunde und Kollegen den brillanten Wissenschaftler und Polemiker („zänkisch und rechthaberisch, meist aber zutreffend in der Sache und stets ehrlich"). In einem Nachruf wird er gewürdigt als „ein Gigant der Biowissenschaften im zo. Jahrhundert". Er ist wohl auch einer ihrer größten Störfälle.

Beim Einsatz von Antibiotika irr Tierfutter sieht er nur Vorzüge, mögliche Risiken spielt er herunter. Als 1983 erneu Menschen an antibiotikaresistenten Salmonellen sterben, da schreibt er im W2senschaftsmagazin „Science": „Indem er Antibiotika an Tiere verfüttern, haben wr die Fleischproduktion seit drei Deka Jahr für Jahr um Millionen Kilogramm ae. steigert." Das ist es, was für ihn zählt.

Jukes und seinen Forscherkol, bei Lederle ist durchaus bewusst. sich aufgrund der Antibiotikaftitu resistente Bakterienstämme entw':: Die Resistenz würde sich allerding die betroffenen Tiere beschränken,, war er sich sicher.

Und falls nicht?

Auf diese Frage hat er eine "27: ckende Antwort: „Das Experimezz läuft  in weltweitem Maßstab."

 

 



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