Antibiotika in der Fleisch-Produktion
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/aj411Z16GHU
Weihnachten 1948. Der Biochemiker Thomas H. Jukes i acht
sich zu seinem Kontrollgang durch die LederleLaboratorien in Pearl River, New
York, auf. Er überwacht vertretungsweise ein Experiment an Masthähnchen; der
Angestellte, der die Tiere normalerweise wiegt und flittert, ist schon in den
Ferien.
Was Jukes auf seiner Runde entdeckt, wird die weltweite
Fleischproduktion revolutionieren und
ungeahnte Gefahren für die Gesundheit der Menschheit heraufbeschwören.
Zunächst schaut er nach einer Gruppe von zwölf Küken, deren
Futter mit einem teuren Leberextrakt angereichert worden ist. Die Tiere haben
überdurchschnittlich schnell an Gewicht zugenommen. Das hatte Jukes erwartet.
Doch verblüfft stellt er wenig später fest, dass eine Vergleichsgruppe noch
viel rasanter gewachsen ist. Und deren Futter enthält einen sehr viel
billigeren Zusatzstoff: ein neu entdecktes Antibiotikum mit Namen Aureomycin.
Jukes und seine Kollegen leiten ein paar Folgeuntersuchungen
ein, um den wachstumsfördernden Effekt des Antibiotikums zu bestätigen. Dann
geht die Arzneimittelfirma Lederle (das Unternehmen gehört heute zum PfizerKonzern)
mit ihrem revolutionären Produkt auch schon auf den Markt.
Wie und warum die mit dem Medikament gefütterten Tiere
schneller Fleisch ansetzen, versteht zu dem Zeitpunkt niemand und es ist bis heute nicht endgültig geklärt. So
gerät Jukes' Entdeckung zum globalen Experiment mit unübersehbaren Folgen. Es
ist ein unkontrollierter Eingriff in die Biologie der Tiere. Und vielleicht
auch in die Biologie der Menschen, die diese Tiere essen.
Antibiotika, in kleinen, subtherapeutischen Dosen dem Futter
beigemengt, gelten schon bald als Standard in der Aufzucht von Masttieren,
weltweit. Noch heute gehen 8o Prozent der in den USA verkauften Antibiotika in
die Tierzucht und nicht in die Gesundheitsversorgung.
Die Konsequenz: eine dramatisch anwachsende
Antibiotikaresistenz, der jedes Jahr weltweit Hunderttausende Menschenleben zum
Opfer fallen.
Dies ist die Geschichte einer Tragödie und eines stillen
Skandals. Es ist eine Fallstudie zur Dominanz wirtschaftlicher Interessen über
wissenschaftliche Erkenntnis. Und es ist die Lebensgeschichte eines hoch
angesehenen Forschers:
Thomas H. Jukes, der Mann, der Antibiotika in einen
Tierfutterzusatz verwandelte, wird 1903 geboren. Er ist e _Umweltschützer der
alten Schule; spätzals Professor an der BerkeleyUniversität wird er zum Pionier
der molekular, Biologie. Jukes ist ein
äußerst streitbal, Wissenschaftler, der sich in Hunder, Artikeln zu Wort meldet, oft polemisch
Er verhindert die Einführung Kreationismus an kalifornischen
Schule . jener Lehre also, die hinter der Schöp:fung nicht die Evolution sieht,
sondern C1 Und er streitet erfolgreich
gegen Scharlatane in der Krebsforschung, greift gar Nobelpreisträger Linus
Pauling als dieser hoch dosierte Vitamingaben.
Allheilmittel propagiert. Jukes ist beseelt von dem
Gedanken, allein mit der Macht der Wissenschaft Krankheiten und Hunger auf der
Welt besiegen zu können.
In seinem Fortschrittsglauben macht er sich stark für den
Einsatz von DDT gegen Malaria; alle Versuche, das gefährliche Insektizid zu
verbieten, verunglimpft er als „völkermörderisch". Er hält sich für einen
Vertreter der reinen Faktenlehre, wohingegen ihm die „Gefühlsduselei" der
aufkommenden Umweltbewegung ein Graus ist. Sein Credo, frei nach Paracelsus:
„Allein die Dosis macht das Gift."
In seiner Arbeit für die Pharmaindustrie allerdings besteht
er weniger rigoros auf jener genauen Nachweisfiihrung, die er von seinen
Gegnern vehement einfordert. Wie unbeschwert von Richtlinien die Arzneimittelhersteller
agieren konnten, bevor der ConterganSkandal in den 196oer Jahren zu
verschärften Bestimmungen führte das
macht uns heute sprachlos.
Antibiotika erschienen nicht nur Jukes als Verheißung.
Penicillin, eingeführt während des Zweiten Weltkrieges, rettete Zehntausenden
Soldaten das Leben. Nach Kriegsende wetteifern die Forscher um die Entwicklung
weiterer bakterientötender Mittel.
Benjamin Duggar, Botaniker und Pilzspezialist, kommt als
Berater zu Lederle. Duggars Wissen um die Geheimnisse der Pilze zahlt sich
schnell aus.
Jukes erinnert sich: „Schon nach ein paar Monaten berichtete
er von erstaunlichen Fortschritten auf der Suche nach neuen Antibiotika. Die
Ergebnisse waren so vielversprechend, dass Labormitarbeiter gelegentlich kleine
Portionen des Rohextrakts mitgehen ließen, um ihre Erkältungen zu
kurieren." Damals glaubte man noch, Antibiotika wären ein Allheilmittel,
das gar gegen Krebs wirkt.
Duggars Pilz entfaltet nicht nur starke antibiotische
Kräfte, er produziert auch ein gelbes Pigment, das seinen Entdecker zur
Namensgebung inspiriert: Streptomyces aureofaciens*, „der Goldtragende".
Ein Name von sinnhafter Doppeldeutigkeit. Ein LederleChef
präsentiert eine Ampulle des Stoffs seinem wissenschaftlichen Personal mit den
Worten: „Dies hier wird uns Millionen einbringen." Was eine krasse
Untertreibung ist. Ab Ende 1948 wird Aureomycin vermarktet. Es ist das erste
Tetracyclin, ein Breitbandantibiotikum, das gegen ein ganzes Spektrum von
Mikroben wirkt. Die Ärzte setzen es erfolgreich gegen Keuchhusten ein, gegen
RockyMountainFleckfieber, Augenentzündungen, Typhus, Ruhr und Infektionen durch
Streptokokken oder Staphylokokken.
Ein Wundermittel scheint gefunden. Eines, das mehr kann als
nur Menschenleben retten.
In jenen Dezembertagen des Jahres 1948 erhält Jukes eine
Probe des Mittels, um es an Hühnern zu testen. Allerdings nicht, um Infektionen
zu kurieren. Die Geflügelindustrie ist gerade dazu übergegangen, günstige
Sojabohnen statt, wie bisher üblich, teuren Fischmehls zu verfüttern. Was den
Tieren aber nicht gut bekommt. Dem Soja fehlte etwas; ein rätselhafter „Animal
Protein Factor", heute bekannt als Vitamin B12..
Bisher musste B12 aufwendig aus roher Leber extrahiert
werden. Doch Forschungen lassen vermuten, dass es auch eine mikrobielle Quelle
dieses Stoffes geben muss. Und deshalb probiert Lederle sein Aureomycin an den
Küken aus.
Ein Schwindel mit Folgen
Die Ergebnisse übertreffen alle Erwartungen. Der Pilz bringt
nicht nur B12 hervor. sondern noch etwas anderes: „einen uridentifizierten
Wachstumsfaktor", wie die Forscher melden.
Jukes und sein Team finden bald heraus, dass der
„unidentifizierte Wachs tumsfaktor", der auf so wundersame Weise den
Fleischzuwachs stimuliert„ das Antibiotikum selbst ist. Umgehend beginnt das
Unternehmen mit der Vermarktung; der Abschluss von Versuch hen zur
Verträglichkeit und Toxizität % gar nicht erst abgewartet. Die Nac ist immens,
die Verteilung gerät zeitw zum nationalen Politikum.
Ein Apotheker in Minnesota soll flüssige Gold en gros gekauft,
dann in ne Portionen umverpackt und mit e solchen Aufschlag weiterverkauft dass
er sich von den Profiten umgeh Florida zur Ruhe setzen konnte.
Lederle vermarktet das Produkr irreführender Weise zunächst
allein Quelle von Vitamin B12. Als die mittelüberwachungs
und Arzneimittelzulassungsbehörde FDA ein Jahr später herausfindet, dass große
Mengen Antibiotika an Amerikas Vieh verfüttert werden, da fragt sie in aller
Unschuld nach, „welche Menge von Aureomycin für den Gebrauch als
Tierfutterergänzung zugelassen werden sollte".
Auskunft gibt: das produzierende Unternehmen selbst.
„Wunderdroge Aureomycin steigert Wachstum um so
Prozent" mit dieser Schlagzeile
erscheint die „New York Times" am io. April 195o. Der Autor zitiert einen
LederleBericht mit den Worten, diese „spektakuläre" Entdeckung sei von
„enormer langfristiger Bedeutung für das Überleben der Menschheit in einer Welt
schwindender Ressourcen und wachsender Bevölkerung". Der Beitrag schließt
mit den Worten: „Keine unerwünschten Nebeneffekte wurden festgestellt."
Andere Studien jener Zeit gehen von bis zu zwölf Prozent
zusätzlichen Wachstums durch Antibiotikazusätze im Tierfutter aus, nicht von
so; und in jüngerer Zeit wird der Effekt noch deutlich niedriger angesetzt.
Aber das bedeutete immer noch: Die Produzenten können mehr Fleisch zu
günstigeren Preisen (und mit höheren Profiten) auf den Markt bringen.
Und weil als Nebeneffekt der täglichen Antibiotikagabe eine
Reihe Krankheiten ausgeschaltet wird, lassen sich viel mehr Tiere auf engerem
Raum halten. Antibiotika werden zum Schlüssel der modernen Massentierhaltung.
Die Innovation verbreitet sich weltweit, eine neue Ära des Antibiotikaeinsatzes
beginnt: nicht mehr für die menschliche Gesundheit, sondern zur Steigerung der
Fleischproduktion.
14 Jahre nach Jukes' folgenreicher Entdeckung, 1962,
erscheint „Der stumme Frühling" von Rachel Carson. Das Buch der Biologin
steht am Beginn der modernen Umweltbewegung. Carson wendet sich gegen den
unkontrollierten Einsatz von DDT und anderen Pestiziden und stellt das blinde
Technikvertrauen ihrer Zeit insgesamt infrage.
Jukes kontert mit einem Artikel, in dem er polemisch „jene
idyllischen Tage" preist, als Frauen noch keine Zeit gehabt hätten, sich
dem Schreiben von „Science FictionHorrorgeschichten" hinzugeben; damals
seien sie nämlich zu sehr damit beschäftigt gewesen, Kakerlaken zu zerquetschen,
Kleidermotten auszuklopfen, Schimmel von der Schweineschulter zu kratzen und
darüber nachzugrübeln, ob sie sich am Sonntag den Luxus eines Hühnchens leisten
könnten.
»Das Experiment läuft«
Der Verweis auf das billige Geflügel beweist, dass Jukes
durchaus auf Kritik am Antibiotikaeinsatz gefasst ist. Der Angriff erfolgt drei
Jahre später, als in Großbritannien sechs Menschen an resistenten Salmonellen
sterben. Ein Regierungsbericht kommt zu dem Ergebnis, dass die Erreger ihre
Resistenz durch Antibiotika im Tierfutter erworben hätten.
Als Jukes 1999 stirbt, preisen Freunde und Kollegen den
brillanten Wissenschaftler und Polemiker („zänkisch und rechthaberisch, meist
aber zutreffend in der Sache und stets ehrlich"). In einem Nachruf wird er
gewürdigt als „ein Gigant der Biowissenschaften im zo. Jahrhundert". Er
ist wohl auch einer ihrer größten Störfälle.
Beim Einsatz von Antibiotika irr Tierfutter sieht er nur
Vorzüge, mögliche Risiken spielt er herunter. Als 1983 erneu Menschen an
antibiotikaresistenten Salmonellen sterben, da schreibt er im W2senschaftsmagazin
„Science": „Indem er Antibiotika an Tiere verfüttern, haben wr die
Fleischproduktion seit drei Deka Jahr für Jahr um Millionen Kilogramm ae.
steigert." Das ist es, was für ihn zählt.
Jukes und seinen Forscherkol, bei Lederle ist durchaus
bewusst. sich aufgrund der Antibiotikaftitu resistente Bakterienstämme entw'::
Die Resistenz würde sich allerding die betroffenen Tiere beschränken,, war er
sich sicher.
Und falls nicht?
Auf diese Frage hat er eine "27: ckende Antwort: „Das
Experimezz läuft in weltweitem
Maßstab."
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