Sonntag, 21. Juni 2015

Landwirtschaft im Hochhaus


Landwirtschaft im Hochhaus

Author D.Selzer-McKenzie

Video: http://youtu.be/81WJyuSwmCA

„DIE TRENNUNG ZWISCHEN Stadt und Land gibt es nicht mehr", sagt der Stuttgarter ÖkologieProfessor Folkard Asch, der sich mit Landwirtschaft in den Tropen beschäftigt. Was er damit meint, zeigt ein Blick aus dem Fenster. Sein Büro auf dem Campus der Universität Hohenheim im Stuttgarter Süden liegt zwar in der Stadt, aber dennoch im Grünen, unmittelbar neben dem Park von Schloss Hohenheim.

Vor einem Jahrhundert war die Welt noch klar geordnet: In den dörflichen Regionen hatte die Natur das Sagen, in der Stadt qualmten die Schlote  hier ein grünes Idyll, dort eine triste Steinwüste. Doch die Gegensätze verwischen mehr und mehr. Landwirtschaftliche Nutzflächen mit ihren Monokulturen und ihrer Nähe zur Chemie verkommen zu Agrarwüsten, während die Städte ergrünen. Wenn der Trend anhält, kann bald jeder Städter behaupten, er wohne im Grünen.

Schon heute macht sich in den Straßenschluchten ein vielfältiges Tier und Pflanzenleben breit. Sogar Marder, Fuchs und Wildschwein haben sich an Autos und Fußgänger, Stein und Beton gewöhnt. Auch die Menschen selbst sorgen für ein Stück Natur direkt vor ihrer Haustür. Auf immer mehr Dächern gedeiht ein üppiges Biotop. In Deutschland ist inzwischen jedes zehnte Flachdach begrünt. In Nordamerika registriert die Branche der Dachgärtner einen jährlichen Zuwachs von mehr als 20 Prozent. Auch an vielen Hauswänden sprießt es.

Dazu kommen die städtischen Parks. Was wäre New York ohne den Central Park, London ohne den Hyde Park und München ohne den Englischen Garten? Und in New York haben Anwohner dafür gesorgt, dass auf einer Trasse der früheren Hochbahn ein kilometerlanger Park• entstand, der inzwischen zur Touristenattraktion geworden ist. Selbst auf dem Gelände des ehemaligen Berliner Rangierbahnhofs Tempelhof darf sich die Natur breit machen. Vor 30 Jahren wäre das noch undenkbar gewesen.

In Deutschland entfällt mittlerweile rund ein Drittel der Fläche, die überbaut oder neu kultiviert wird, auf Erholungsflächen  vor allem auf Grünanlagen und Sportplätze. Früher war das anders: Im bestehenden Stadtraum machen die Erholungsflächen nur 8,5 Prozent aus. Moderne Städter lieben das Grün. Nicht nur, dass sie sich selbst um die kleinsten Vorgärten kümmern, sie kämpfen auch um jeden Straßenbaum.

Der Streit um Bäume sorgt sogar für politische Unruhen. In Stuttgart konzentrierte sich der Protest gegen den neuen Tiefbahnhof „Stuttgart 21" monatelang auf das Fällen von Hun Reis aus dem Hochhaus: Der Stuttgarter Ökologe Folkard Asch (rechts) hat eine mehrgeschossige Agrarfabrik entwickelt, in der das Getreide angebaut wird. Die Pflanzen, deren Wurzeln ins Freie ragen (oben), werden automatisch gedüngt und beleuchtet.

 

derten alter Parkbäume für seinen Bau. Ähnlich in Istanbul: Als der GeziPark gerodet werden sollte, machte die türkische Jugend im ganzen Land gegen Präsident Erdogan mobil. Ein kleines Fleckchen Grün wurde zum Zündfunken für eine breite Bewegung.

Doch das Bedürfnis nach Grün treibt auch kuriose Blüten: Der niederländische Architekt Koen Olthuis hat für dicht bebaute Küstenstädte wie Hongkong und Singapur den „Sea Tree" entworfen  einen 30 Meter hohen schwimmenden Pflanztrog, eine Art Arche Noah, in dem heimische Tiere und Pflanzen ein Zuhause finden. Das künstliche Naturschutzgebiet soll vor der City im Wasser dümpeln. Und der belgische Architekt Vincent Callebaut visioniert riesige Wohnpilze und andere futurische grüne Elemente im Stadtbild.

GESUNDE KOST VOM DACH

Zudem es wird immer beliebter, Gemüse in der Stadt anzubauen  auf brachliegenden Flächen, Dächern oder in Kübeln. Während in Havanna und Shanghai beim „Urban Farming" die preisgünstige Selbstversorgung im Vordergrund steht, geht es in New York und Berlin vor allem um gesunde Kost und soziales Miteinander. Manche Experten gehen sogar noch einen Schritt weiter

 

E

als diese Kleingärtner und wollen professionelle Landwirtschaft in die Städte holen. Das würde die Rolle von Stadt und Land vollends vertauschen. Bananen und Weizen, Tomaten und Erdbeeren sollen dann im Wolkenkratzer wachsen. Wenn schon Autos in Häusern stehen, warum sollen nicht auch Lebensmittel dort ihren Platz finden?

Der Mikrobiologe Dickson Despommier von der New Yorker Columbia University hat 1999 den Begriff „Vertical Farming" in Mode gebracht. Zusammen mit seinen Studenten entwarf er eine 30 Stockwerke hohe Agrarfabrik, die neben Tomaten und Kräutern auch Fische und Edelpilze hervorbringen soll. Seither haben Architekten und Agrarwissenschaftler viele fantastische Ideen beigesteuert, von denen allerdings bisher noch keine umgesetzt wurde.

NACHDENKEN IM BIERGARTEN

Auch der Stuttgarter Tropenökologe Asch ist mit dabei. Er will in Hochhäusern das Grundnahrungsmittel Reis anbauen. Der Wissenschaftler kann sich noch gut daran erinnern, wie er mit seinem Kollegen Jochen Sauerborn im Biergarten saß und darüber nachdachte, was man wissen muss, um Reis in einer künstlichen Umgebung zu kultivieren: Was brauchen die Pflanzen an Licht, Wasser und Nährstoffen? Wie regieren sie auf unterschiedliches Kunstlicht? Wie verändert sich der Ertrag, wenn man sie Tag und

 

Nacht, womöglich gar von unten, beleuchtet? Asch war überzeugt, dass ihm eine Recherche schnell die Antworten liefern würde. Doch da hatte er sich getäuscht: „Man weiß nichts darüber", wundert er sich. Daher betreibt der Wissenschaftler seit ein paar Jahren Grundlagenforschung.

Sein Doktorand Marc Schmierer hat eine mannshohe lichtdichte Klimakammer gebaut, in der reflektierende Folien für eine diffuse Beleuchtung sorgen. Darin untersucht er, wie Reis auf Licht unterschiedlicher Wellenlänge reagiert und welche Luftfeuchtigkeit für das Wachstum des Getreides optimal ist. Eines hat Schmierer schon herausgefunden: Wenn er die Luftfeuchtigkeit senkt, verdunsten die Pflanzen mehr Wasser und sorgen flugs wieder für den alten Wert. Das Grün fungiert wie eine Klimaanlage und bestimmt selbst seine Atmosphäre.

Folkard Asch würde seine Forschungen gerne intensivieren, vielleicht sogar

 

eine Pilotanlage bauen, doch seine Förderanträge beim Bund wurden bisher als „zu unrealistisch" zurückgewiesen. Dabei hat das Bundesforschungsministerium im März selbst einen Workshop zum Thema „Vertical Farming" veranstaltet.

Asch kann viele Vorteile der innerstädtisChen Landwirtschaft nennen. Vor allem verbraucht sie wenig Fläche. Derzeit ist zwar noch genügend Ackerland vorhanden, um die Weltbevölkerung halbwegs satt zu kriegen. Doch das könnte sich schon in wenigen Jahrzehnten ändern. Denn die Menschheit wächst, und immer mehr Ackerland geht durch Erosion, Versalzung oder Bebauung verloren.

IM HOCHHAUS TOBEN KEINE STÜRME Ein weiteres Argument: Herkömmliche Felder sind anfällig für Stürme, Überschwemmungen, Ungeziefer, Krankheiten, Dürren und andere Plagen.


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