Landwirtschaft im Hochhaus
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/81WJyuSwmCA
„DIE TRENNUNG ZWISCHEN Stadt und Land gibt es nicht
mehr", sagt der Stuttgarter ÖkologieProfessor Folkard Asch, der sich mit
Landwirtschaft in den Tropen beschäftigt. Was er damit meint, zeigt ein Blick
aus dem Fenster. Sein Büro auf dem Campus der Universität Hohenheim im
Stuttgarter Süden liegt zwar in der Stadt, aber dennoch im Grünen, unmittelbar
neben dem Park von Schloss Hohenheim.
Vor einem Jahrhundert war die Welt noch klar geordnet: In
den dörflichen Regionen hatte die Natur das Sagen, in der Stadt qualmten die
Schlote hier ein grünes Idyll, dort eine
triste Steinwüste. Doch die Gegensätze verwischen mehr und mehr. Landwirtschaftliche
Nutzflächen mit ihren Monokulturen und ihrer Nähe zur Chemie verkommen zu
Agrarwüsten, während die Städte ergrünen. Wenn der Trend anhält, kann bald
jeder Städter behaupten, er wohne im Grünen.
Schon heute macht sich in den Straßenschluchten ein vielfältiges
Tier und Pflanzenleben breit. Sogar Marder, Fuchs und Wildschwein haben sich an
Autos und Fußgänger, Stein und Beton gewöhnt. Auch die Menschen selbst sorgen
für ein Stück Natur direkt vor ihrer Haustür. Auf immer mehr Dächern gedeiht
ein üppiges Biotop. In Deutschland ist inzwischen jedes zehnte Flachdach
begrünt. In Nordamerika registriert die Branche der Dachgärtner einen
jährlichen Zuwachs von mehr als 20 Prozent. Auch an vielen Hauswänden sprießt
es.
Dazu kommen die städtischen Parks. Was wäre New York ohne
den Central Park, London ohne den Hyde Park und München ohne den Englischen
Garten? Und in New York haben Anwohner dafür gesorgt, dass auf einer Trasse der
früheren Hochbahn ein kilometerlanger Park• entstand, der inzwischen zur Touristenattraktion
geworden ist. Selbst auf dem Gelände des ehemaligen Berliner Rangierbahnhofs
Tempelhof darf sich die Natur breit machen. Vor 30 Jahren wäre das noch undenkbar
gewesen.
In Deutschland entfällt mittlerweile rund ein Drittel der
Fläche, die überbaut oder neu kultiviert wird, auf Erholungsflächen vor allem auf Grünanlagen und Sportplätze.
Früher war das anders: Im bestehenden Stadtraum machen die Erholungsflächen nur
8,5 Prozent aus. Moderne Städter lieben das Grün. Nicht nur, dass sie sich selbst
um die kleinsten Vorgärten kümmern, sie kämpfen auch um jeden Straßenbaum.
Der Streit um Bäume sorgt sogar für politische Unruhen. In
Stuttgart konzentrierte sich der Protest gegen den neuen Tiefbahnhof „Stuttgart
21" monatelang auf das Fällen von Hun Reis aus dem Hochhaus: Der
Stuttgarter Ökologe Folkard Asch (rechts) hat eine mehrgeschossige Agrarfabrik
entwickelt, in der das Getreide angebaut wird. Die Pflanzen, deren Wurzeln ins
Freie ragen (oben), werden automatisch gedüngt und beleuchtet.
derten alter Parkbäume für seinen Bau. Ähnlich in Istanbul:
Als der GeziPark gerodet werden sollte, machte die türkische Jugend im ganzen
Land gegen Präsident Erdogan mobil. Ein kleines Fleckchen Grün wurde zum
Zündfunken für eine breite Bewegung.
Doch das Bedürfnis nach Grün treibt auch kuriose Blüten: Der
niederländische Architekt Koen Olthuis hat für dicht bebaute Küstenstädte wie
Hongkong und Singapur den „Sea Tree" entworfen einen 30 Meter hohen schwimmenden Pflanztrog,
eine Art Arche Noah, in dem heimische Tiere und Pflanzen ein Zuhause finden.
Das künstliche Naturschutzgebiet soll vor der City im Wasser dümpeln. Und der
belgische Architekt Vincent Callebaut visioniert riesige Wohnpilze und andere
futurische grüne Elemente im Stadtbild.
GESUNDE KOST VOM DACH
Zudem es wird immer beliebter, Gemüse in der Stadt anzubauen
auf brachliegenden Flächen, Dächern oder
in Kübeln. Während in Havanna und Shanghai beim „Urban Farming" die preisgünstige
Selbstversorgung im Vordergrund steht, geht es in New York und Berlin vor allem
um gesunde Kost und soziales Miteinander. Manche Experten gehen sogar noch
einen Schritt weiter
E
als diese Kleingärtner und wollen professionelle
Landwirtschaft in die Städte holen. Das würde die Rolle von Stadt und Land
vollends vertauschen. Bananen und Weizen, Tomaten und Erdbeeren sollen dann im
Wolkenkratzer wachsen. Wenn schon Autos in Häusern stehen, warum sollen nicht
auch Lebensmittel dort ihren Platz finden?
Der Mikrobiologe Dickson Despommier von der New Yorker
Columbia University hat 1999 den Begriff „Vertical Farming" in Mode
gebracht. Zusammen mit seinen Studenten entwarf er eine 30 Stockwerke hohe Agrarfabrik,
die neben Tomaten und Kräutern auch Fische und Edelpilze hervorbringen soll.
Seither haben Architekten und Agrarwissenschaftler viele fantastische Ideen
beigesteuert, von denen allerdings bisher noch keine umgesetzt wurde.
NACHDENKEN IM BIERGARTEN
Auch der Stuttgarter Tropenökologe Asch ist mit dabei. Er
will in Hochhäusern das Grundnahrungsmittel Reis anbauen. Der Wissenschaftler
kann sich noch gut daran erinnern, wie er mit seinem Kollegen Jochen Sauerborn
im Biergarten saß und darüber nachdachte, was man wissen muss, um Reis in einer
künstlichen Umgebung zu kultivieren: Was brauchen die Pflanzen an Licht, Wasser
und Nährstoffen? Wie regieren sie auf unterschiedliches Kunstlicht? Wie
verändert sich der Ertrag, wenn man sie Tag und
Nacht, womöglich gar von unten, beleuchtet? Asch war
überzeugt, dass ihm eine Recherche schnell die Antworten liefern würde. Doch da
hatte er sich getäuscht: „Man weiß nichts darüber", wundert er sich. Daher
betreibt der Wissenschaftler seit ein paar Jahren Grundlagenforschung.
Sein Doktorand Marc Schmierer hat eine mannshohe lichtdichte
Klimakammer gebaut, in der reflektierende Folien für eine diffuse Beleuchtung
sorgen. Darin untersucht er, wie Reis auf Licht unterschiedlicher Wellenlänge
reagiert und welche Luftfeuchtigkeit für das Wachstum des Getreides optimal
ist. Eines hat Schmierer schon herausgefunden: Wenn er die Luftfeuchtigkeit
senkt, verdunsten die Pflanzen mehr Wasser und sorgen flugs wieder für den
alten Wert. Das Grün fungiert wie eine Klimaanlage und bestimmt selbst seine
Atmosphäre.
Folkard Asch würde seine Forschungen gerne intensivieren,
vielleicht sogar
eine Pilotanlage bauen, doch seine Förderanträge beim Bund
wurden bisher als „zu unrealistisch" zurückgewiesen. Dabei hat das Bundesforschungsministerium
im März selbst einen Workshop zum Thema „Vertical Farming" veranstaltet.
Asch kann viele Vorteile der innerstädtisChen Landwirtschaft
nennen. Vor allem verbraucht sie wenig Fläche. Derzeit ist zwar noch genügend
Ackerland vorhanden, um die Weltbevölkerung halbwegs satt zu kriegen. Doch das
könnte sich schon in wenigen Jahrzehnten ändern. Denn die Menschheit wächst,
und immer mehr Ackerland geht durch Erosion, Versalzung oder Bebauung verloren.
IM HOCHHAUS TOBEN KEINE STÜRME Ein weiteres Argument:
Herkömmliche Felder sind anfällig für Stürme, Überschwemmungen, Ungeziefer, Krankheiten,
Dürren und andere Plagen.
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