Glutenfreie Lebensmittel
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/uUGCYZrHcTM
In den Regalen der Supermärkte stehen immer mehr glutenfreie
Lebensmittel. Ein Hinweis auf ein neues Krankheitsbild — oder nur eine
Modeerscheinung?
DER VERDÄCHTIGE versteckt sich in Nudeln, Müsli, Bier und
Brot - um nur einige Beispiele zu nennen. Seine mut-maßlichen Missetaten:
Magen-Darm-Be¬schwerden, Müdigkeit und Kopfschmer- zen. Es wird sogar gemunkelt, er mache dick. Der Fall scheint
klar: Dem Eiweiß Gluten muss Einhalt geboten werden. Die Bevölkerung hat ihr
Kaufverhalten bereits angepasst. Fristete glutenfreie Kost früher ein Nischendasein im Re-formhaus, treten die Produkte
mit der durchgestrichenen Ähre heute einen Siegeszug durch die Supermarktregale
an. Der Umsatz wächst immer mehr:
Betrug der Wert der Waren 2012 in Deutschland noch 54203
Euro, prognos-tizert das Marktforschungsunternehmen Mintel International Group
Ltd. für 2014 ganze 210 Millionen Euro.
Wer gern Freunde zum Essen einlädt, weiß: Irgendein Gast
bedarf fast immer einer Sonderbehandlung - etwa der Vegetarier oder der
Laktose-Intolerante, der keine Milchprodukte verträgt. Doch die Warnung „Ich
vertrage kein Gluten" lässt rätseln. Handelt es sich hier um eine echte
Nahrungsmittelunverträg¬lichkeit oder folgt der Gast nur einem neuen
Ernährungstrend? Und: Ist gluten-freie Nahrung gesünder als herkömm¬liche Kost?
Das auch als Kleber-Eiweiß bezeich-nete Gluten steckt vor
allem in Getreide¬sorten wie Weizen, Roggen und Dinkel. Es verleiht Broten ihre
typische Laib-form, macht Pizzateig formbar und sorgt dafür, dass Gebäck im
Backofen aufgeht. So weit, so harmlos. Doch manche Menschen müssen nach dem
Verzehr von nur einer Scheibe Brot mit schwerwiegenden Folgen kämpfen.
DIAGNOSE ZÖLIAKIE
Bei Zöliakie-Patienten verursacht Gluten eine krankhafte
Reaktion im Immunsys¬tem des Darms. Die Folge: eine chroni¬sche Entzündung der
Dünndarmschleim-haut, was die sogenannten Zotten zer¬stört, die für die
Nährstoffaufnahme wichtigen Ausstülpungen. Die Patienten leiden an heftigen
Bauchschmerzen und Blähungen sowie an Übelkeit und man¬gelndem Appetit.
Langfristig entwickeln sich Nährstoffdefizite. Wodurch Zölia-kie entsteht, ist
unklar. Teilweise ist die Krankheit wohl erblich bedingt, aber auch Infektionen
oder Stress können die Ursache sein.
Zöliakie ist gleichzeitig eine
Nah-rungsmittelunverträglichkeit und eine Autoimmun-Erkrankung. Diagnostiziert
wird sie durch den Nachweis von Anti¬körpern gegen Gluten-Bestandteile. Die
Entnahme einer Gewebeprobe aus dem Dünndarm gibt Aufschluss darüber, ob die
Schleimhaut entzündet ist. Wer die Beschwerden in den Griff bekommen will, muss
völlig auf Gluten verzichten. Ein Heilmittel gibt es bislang nicht. Das ist
etwas ganz anderes, als wenn Sie zum Beispiel auf einmal keine Nüsse mehr essen
dürfen", sagt Reiner Ullrich, der an der Berliner Charite die
Gluten-Unverträglichkeit erforscht. „Es handelt sich um eine drastische
Lebensumstel¬lung. In Restaurants zu gehen oder eine Essenseinladung von
Freunden anzu¬nehmen, all das geht nicht mehr so ein¬fach. Wir empfehlen
Patienten sogar, einen glutenfreien Bereich in der Küche einzurichten." Der
Aufwand ist nötig, denn die Menge an Gluten, die ein Zöliakie-Patient
ver-trägt, ist winzig. Gemäß einer seit 2012 geltenden EU-Verordnung gilt ein
Pro-dukt als glutenfrei, wenn es weniger als 20 Milligramm des Kleber-Eiweißes
pro Kilogramm enthält. Zum Vergleich: Ein Weizenbrötchen enthält rund 5 Gramm.
Schätzungen zufolge sind in Deutsch¬land 0,5 bis 1 Prozent der Bevölkerung an Zöliakie
erkrankt.
Seit einigen Jahren mehren sich zu-dem Hinweise, dass es
Menschen gibt, die zwar nicht an Zöliakie leiden, aber dennoch mit Beschwerden
auf gluten-haltige Lebensmittel reagieren: Sie ha-ben Bauchschmerzen und
Blähungen, leiden an Verstopfung oder Durchfall. Inzwischen beschäftigen sich
auch immer mehr Wissenschaftler mit die-sem Phänomen.
„Früher wurden Ärzte belächelt, die der Meinung waren, dass
es so etwas wie eine Glutensensitivität gibt", erklärt Wolfgang Holtmeier,
Magen-Darm-Spe¬zialist am Krankenhaus Porz am Rhein.
Kornpakt
• Zöliakie-Patienten
reagieren mit schweren Magen-Darm-Problemen auf das Kleber-Eiweiß Gluten.
• Auch
Glutensensitive scheinen nach dem Verzehr von glutenhaltigen Pro¬dukten
Beschwerden zu bekommen.
• Fest steht:
Eine glutenfreie Ernährung garantiert keinen Gewichtsverlust ¬wenn ein
Ernährungstrend aus den USA auch
Reiner Ullrich meint: „Falls es die Grup-pe der
Glutensensitiven wirklich geben sollte, handelt es sich um eine Unter-gruppe
der Reizdarmpatienten. Diese Patienten sind schwierig zu erfassen, weil es für
ihre Symptome keine erkenn¬baren körperlichen Ursachen gibt." Soll heißen:
Während Zöliakie anhand von Antikörpernachweis und Gewebeunter¬suchung
zweifelsfrei diagnostiziert wer¬den kann, sind bislang keine messbaren Hinweise
auf Gluten-sensitivität bekannt.
Dass es abseits der Zöliakie Menschen gibt, die sensibel auf
Gluten reagieren, legen die Er¬gebnisse von australischen For¬schern nahe, die
Patienten mit Reizdarmsyndrom untersucht ha¬ben. Die eine Hälfte der Proban¬den
aß täglich zwei Scheiben glutenhaltiges Brot sowie einen glutenhaltigen Muffin.
Ansons¬ten verzichteten sie auf das Kle¬ber-Eiweiß. Die andere Hälfte er¬nährte
sich komplett ohne Glu¬ten. Zwar erhielten auch sie Brot und Muffin - allerdings
gluten-freie Varianten. Nach einer Wo-che zeigten sich deutliche Unter¬schiede
zwischen den beiden Gruppen. Die Probanden, die Gluten zu sich genommen
hat¬ten, litten wesentlich häufiger unter allgemeinen Schmerzen, Blähungen und
Müdigkeit - den typischen Symptomen des Reiz-darmsyndroms. Weitere
Unter¬schiede zwischen den Versuchsgruppen fanden sich jedoch nicht.
ZU UNRECHT VERDÄCHTIGT?
Derzeit stellen Ärzte eine reine Aus-schlussdiagnose: „Wenn
bei einem Pa-tienten eine Zöliakie ausgeschlossen wurde und seine Beschwerden
nach einer glutenfreien Diät trotzdem weg sind, sprechen wir von einer
Gluten-sensitivität", sagt Ullrich, der nach einem Biomarker für die
Beschwerden sucht. Ohne solch einen handfesten In-dikator ist es schwierig, die
Zahl der Be-troffenen zu ermitteln. „Aus dem Bauch heraus würde ich sagen, dass
zwei bis fünf Prozent der Bevölkerung sensibel auf Gluten reagieren",
schätzt Holtmeier.
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Doch möglicherweise wird das Kleber-Eiweiß zu Unrecht
verdächtigt. Ein Team um den Gastroenterologen und Bioche¬miker Detlef Schuppan
von der US-ame¬rikanischen Harvard Medical School legte kürzlich
Forschungsergebnisse vor, die die Fachwelt aufhorchen ließen. Demnach könnte
ein bisher unbeach¬teter Weizenbestandteil eine wichtige Rolle bei der
Entstehung von Nahrungs-
mittel-Unverträglichkeiten spielen: der
Amylase-Trypsin-Inhibitor, kurz ATI. Das Protein ist für Insekten giftig und
wird vom Weizen gebildet, um Schädlinge abzuhalten. Die Forscher um Schuppan
entdeckten, dass ATI das menschliche Immunsystem aktivieren kann. Sie
ver¬muten, dass es jedes Mal zu solch einer Alarmreaktion kommt, wenn Weizen
verzehrt wird. Dies könne schließlich zu einer Erkrankung führen.
HOCHLEISTUNGSWEIZEN AM PRANGER Auch Wolfgang Holtmeier
schließt die¬ses Szenario nicht aus: „Moderner Hoch-leistungsweizen enthält
besonders viel ATI, da er dadurch schädlingsresistenter wird. Wir sind diesem
Protein verstärkt
Zöliakie unter dem Mikroskop: Die finger-förmigen Zotten der
Dünndarmschleimhaut sind zerstört - sie wirkt flach und verkümmert. Die
Patienten müssen bei der Ernährung komplett auf das Kleber-Eiweiß verzichten.
ausgesetzt." Obwohl wir also nicht mehr Weizen als
früher essen, nehmen wir heute mehr ATI zu uns. Das Gleiche gilt für Gluten:
Viele Backwaren werden künstlich mit dem Protein angereichert, weil es ihre
Konsistenz verbessert. Lei-den deshalb immer mehr Menschen an Zöliakie?
Untersuchungen von jahrzehn¬telang aufbewahrten Blutproben in den ,4
Vereinigten Staaten zeigten, dass sich die Zahl der Zöliakie-Patienten seit den
1950er-Jahren vervierfacht hat. Ob der Prozentsatz der Glutensensitiven
eben-falls zugenommen hat, ist nicht bekannt, dazu ist die Datenlage zu schlecht.
Fest steht: Die Verbraucher greifen vermehrt zu
Nahrungsmitteln ohne Glu¬ten. „Das Segment der glutenfreien Pro-Ursprung dieser
Entwicklung sieht er in den USA: „Dort herrscht schon lange eine
Anti-Weizen-Stimmung."
HOLLYWOOD-WERBUNG
Geschürt wird das Misstrauen gegen-über Weizen im
Allgemeinen und Gluten im Speziellen von Hollywood-Berühmt¬heiten, die für eine
glutenfreie Ernäh¬rung werben. So schreibt Schauspielerin
oder unterstützten sie beim Abnehmen. Die Tatsache, dass
„diet" im Englischen sowohl „Diät" als auch schlicht
„Ernäh-rungsweise" bedeutet, könnte auch so manchen Deutschen auf die
falsche Fährte führen. „Gluten-free diet" mag vielversprechend klingen,
sorgt aber nicht für Gewichtsverlust.
Auf die Frage, ob eine glutenfreie Ernährung für gesunde
Menschen ir-gendwelche Vorteile mit sich bringe, antwortet Wolfgang Holt-meier
lapidar: „Nein." Und er führt aus: „Bei einer glutenfreien Ernährung fällt
auch viel kalo¬rienreiches Fast Food und Fer-tigessen weg. Wenn es anfangs zu
einem Gewichtsverlust kommt, liegt das nicht am Verzicht auf Gluten."
Auch der Lebensmittelkon¬zern REWE gibt an, mit seinen „frei
von"-Produkten nur die überschaubare Zielgruppe von Menschen mit
Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten ansprechen zu wollen. „Das sind keine
Life-style-Produkte, die man zum Abnehmen kauft", betont Ka¬thrin Kemper,
Produktmanage¬rin der Linie. Nach einem even¬tuellen gesundheitlichen Nutzen
der glutenfreien Produkte für Menschen ohne Unverträglich¬keit gefragt, sagt
sie klar: „Es
gibt keinen."
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