Samstag, 20. Juni 2015

Das Dorf Roshorv in Tadschikistan


Das Dorf Roshorv in Tadschikistan

Author D.Selzer_McKenzie

Video: http://youtu.be/7l43_q0LNLM

Gleich am Tag unserer Ankunft findet in Roshorv eine Hochzeit statt. Ein Samstag, das halbe Dorf hat sich im Haus der Braut versammelt. Auch wir, die Besucher aus Europa, sind eingeladen und trinken dampfende Fleischbrühe aus großen Tassen. Die Brauteltern haben einen Ochsen geschlachtet, die Knochen treiben in einem Bottich, voluminös wie eine Badewanne. Den ganzen Nachmittag dauert die Feier, und die halbe Nacht. Einige Minuten prägen sich mir besonders ein:

Lola tanzt. Wie alle Frauen trägt sie eine kuta, eine Art Tunika. Ich hocke am Rand der Tanzfläche und beobachte, wie sich ihr Körper zu leiernden orientalischen Rhythmen dreht. Auch ich habe eine kuta angezogen, dazu mit Blümchen bestickte Filzschuhe. Wohl fühle ich mich, ehrlich gesagt, in den Sachen nicht; eher so, als sei ich in Pyjama und Puschen zu einer Hochzeit gekommen.

 

Im Nachhinein wird mir diese Szene wie ein Sinnbild für unsere unterschie±lichen Perspektiven vorkommen: Sie, che Ethnografin, ist mittendrin. Ich, die Reporterin, bin bloß dabei.

Lola heißt eigentlich Stefanie Kicherer. Für ihre Doktorarbeit erforscht sie die Kultur von Roshorv. Vor zwei Jahren fuhr sie zum ersten Mal in das abgeschiedene Dorf im Pamirgebirge. Ein Drittel der acht Millionen Einwohner Tadschikistans lebt unter der Armutsgrenze. Das Land ist das ärmste in Zentralasien, und eines der korruptesten weltweit. Als wir von der Hauptstadt aus Richtung Pamir fahren, endet die asphaltierte Straße bald: in Danghara, dem Geburtsort des Präsidenten.

Der PamirHighway ist eine Geröllpiste, zwei Mal muss der Fahrer unseres Jeeps die Reifen wechseln. Orte, die auf der Landkarte fett eingezeichnet sind,

 

entpuppen sich als staubige Nester. Am zweiten Morgen unserer Fahrt erschüttert ein Erdbeben die Bergwelt. Für die letzten 140 Kilometer bis Roshorv brauchen wir einen ganzen weiteren Tag. Der Weg folgt dem Fluss  Bartang. Nach jeder Biegung ragen die Berge steiler auf, schrumpft die Straße und der Bartang wird reißender. Fast zu jedem Streckenabschnitt kennt Steffi eine Horrorstory. Vier Tote hier, zwei dort, alle im Fluss ertrunken, als der Weg unter ihrem Wagen wegbrach ...

Sie sitzt neben mir auf dem Rücksitz. Unsere Handys zeigen schon seit Stunden keinen Empfang mehr an. Kurz vor Roshorv zieht sie ein Kopftuch über die blonden Haare, das sie im Nacken knotet. Zuvor hat sie die Leinenhose gegen ihre kuta getauscht. Jetzt ordnet sie ihre langen Beine hinter dem Fahrersitz, streckt das Kreuz durch. Es ist der Moment, wo sie in eine andere Identität gleitet.

Von nun an führt sie das Leben einer jungen Pamiri. Trinkt keinen Alkohol, betet zu Allah, isst Lamm und Ziege, obwohl

 

sie doch zu Hause, in Tübingen, Fleisch meidet. Nur Matthieu und ich werden sie in den nächsten Wochen noch Steffi nennen. Für alle anderen ist sie Lola.

Roshorv liegt auf einem Hochplateau, in 3000 Meter Höhe. Auf den ersten Blick sind die geduckten Häuser kaum von den Felsbrocken zu unterscheiden, die sich auf der Ebene verteilen. Dazwischen knabbern Esel an Grasnarben. Die Schroffheit der Landschaft steht im Gegensatz zur Herzlich

 

keit der Menschen. Noch bevor er ins Haus führt, drückt Saradbek uns Aprikosen in die Hand. Er ist 64 Jahre alt, früher hat er im Dorf Englisch unterrichtet. Wie Steffi werden auch wir bei ihm wohnen.

So ist das hier: Man taucht vor irgendeinem Haus auf, und die Leute laden zum Tee, brechen Brot, stellen Marmelade dazu, schieben einem Kissen in den Rücken, unter den Hintern. Später beginnen sie zu kochen, Kartoffeln, Zwiebeln, Möhren. Vom Fleisch legen sie den Fremden die besten Stücke auf, Leber, Nieren, Fettränder. Dann ziehen die Gastgeber Matratzen von einem Stapel. Alle schlafen in einem Raum, in den Kleidern, die sie tagsüber tragen. Matthieu und ich hatten für die Reise nur das Nötigste gepackt. Doch unsere Rucksäcke enthalten mehr Zeug, als im Pamir eine Familie besitzt.

In den ersten Tagen in Roshorv kommt es mir vor, als seien wir in ein längst vergangenes Jahrhundert gereist. Es ist Herbst, Weizenernte. Die Frauen szhneiden Getreide mit Sicheln, binden Halme zu Garben. Gedroschen wird mit

 

Eseln. Dann wirft man das Getreide mit einer Heugabel gegen den Wind, um Körner und Spreu zu trennen. Das deutsche Verb dafür  worfeln  muss ich nachschlagen. Tagsüber steht die Sonne am unwirklich blauen Himmel, abends hängt der Geruch von Holzfeuern in der Luft. Als Journalist kann man hier Stoff sammeln für eine ArmaberglücklichGeschichte.

Aber wie erforscht man eine uns fremde Kultur wissenschaftlich? Die hiesige Sprache, Roshorvi, ist nicht verschriftlicht, es gibt kein Lexikon. Steffi

 

hat einen Schuhkarton mit Karteikarten, 4000 Stück. Sie erzählt, wie sie in den ersten Wochen Wort für Wort bei Saradbek erfragte, in Lautschrift auf Kärtchen übertrug und auswendig lernte. An guten Tagen schaffte sie 90 Vokabeln. Ich werde es bis zu unserer Abreise auf drei bringen: choy, kholokh, maile. Tee, danke, tschüs. gesehen sind und mit welchen sie sich, draußen, im kleinen Hof, waschen darf Von Saradbeks Töchtern und Söhnen spricht Steffi als ihren Schwestern und Brüdern, seine Enkel nennt sie Nichten und Neffen. Jedesmal bin ich irritiert, mit welcher Selbstverständlichkeit sie das tut.

„Teilnehmende Beobachtung" nennen Ethnologen diese Methode: Eingebettet in die Gesellschaft der Roshorver, beschreibt Steffi deren Leben nicht nur, sondern spürt als Lola auch, wie es sich anfühlt. Steffi Kicherer ist 31 Jahre alt, sie hat blaue Augen, kinnlange Haare. In Roshorv kommen wir keine wo Meter weit, ohne dass jemand „Lola!" ruft. Lola bedeutet auf Roshorvi Tulpe. „Stefanie", hat jemand gesagt, da war sie gerade im Dorf angekommen, „du siehst aus wie eine Tulpe!" Frauen hauchen ihr Küsschen auf die Wange, Männer drücken ihr mit beiden Händen die Hand. „Hat schon was von Popstar", sagt sie. Und dass ihr Leben in Deutschland ihr dagegen langweilig vorkomme. Es ist schwer, aus dem Rampenlicht wieder herauszutreten.

Auch Janob freut sich, Lola wiederzusehen. Er ist der khalifa von Roshorv. Und er unterrichtet an der Dorfschule Tadschikisch, ein Mann mit schwarzer Wollmütze und heiserer Stimme. Es mag an seinem Tarnanzug liegen oder dem Dreitagebart  für ein geistliches Oberhaupt macht der khalifa einen eher lässigen Eindruck.

Die rund wo() Einwohner von Roshorv sind Moslems, genauer: Ismailiten.

Saradbek hat zehn Kinder, einige leben noch im Elternhaus. „Wie ein Kind", sagt Steffi, sei sie in die Familie hineingewachsen. Sie lernt, auf Eseln zu reiten, und welche Gefäße nur fürs Kochen vor Dser Führer ist der Aga Khan. ..Dnär, Playboy, geschieden von ei, zhen Prinzessin, die während der Je 3ezum" hieß. Zum Besitz des Aga  5ren die noblen Serena Hotels. im Serena in Duschanbe . wie der khalifa im Jahr als LehSeinen i8 Millionen Anhän eit gilt der Aga Khan als direkter des Propheten Mohammed. :.z.,127 hat einen Ordner hervor.iuberlich hat er darin die Be

 

fehle  farmans  abgeheftet, die der Aga Khan an die Gläubigen verschickt; „My dear spiritual children", schreibt er dann. Meine lieben Kinder im Geiste. Nicht alles, was er anordnet, lässt sich in Roshorv umsetzen, räumt der khalifa ein. Zuletzt etwa hat er bestimmt, dass die Gläubigen sich täglich versammeln sollten. „Unmöglich, die Leute müssen ja auf die Felder."

Die meisten farmans befassen sich mit Fragen der Lebensführung. Die Gläubigen sollen keinen Alkohol anrühren,

 

kein Heroin, keinen Tabak. Sie sollen kein Tier grundlos töten. Alle sollen Englisch lernen, und der Aga Khan trägt ihnen auf, in die Bildung aller Kinder zu investieren.

Als wir am späten Nachmittag zurücklaufen, hat der Labnazar, Roshorvs knapp 6000 Meter hoher Hausberg, seinen Schatten schon über das Dorf geworfen. Saradbek lehnt an der Hauswand, sie ist noch warm von der Sonne. Er krümelt selbst angebauten Tabak in Zeitungspapier. Während Steffi Kartoffeln schält, frage ich Saradbek zu seiner Religion aus. Er erzählt, dass der Aga Khan Anhänger in 26 Ländern hat, aber wohl nirgends so verehrt werde wie hier, in Roshorv. Tadschikistan gehörte zum Sowjetreich, bis dieses auseinanderfiel. „Die Russen haben uns Fische gebracht, aber nicht das Angeln gelehrt", sagt Saradbek. Als in Tadschikistan dann auch noch Bürgerkrieg ausbrach, drohten die Bewohner der Pamirdörfer zu verhungern. Die AgaKhanStiftung sprang damals ein und versorgte die Menschen. Steffi hatte noch keine Fragen, als sie begann, in Roshorv zu forschen, es gab keine These. Das Thema ihrer Doktorarbeit kristallisierte sich erst langsam in 30o Interviews heraus: Sie will über den Kulturwandel schreiben. Und darüber, dass und wie die Roshorver den Wandel diskutieren und gestalten.

Bei vielen Phänomenen steht Steffi auch nach monatelanger Recherche noch fern von einer echten Erkenntnis: Wie bei diesem merkwürdigen Geistesleiden, das manche Roshorver offenbar befällt, wam wird es genannt. Die Betroffenen schlagen um sich, entwickeln Kraft für drei, Schaum vorm Mund. Die Symptome ähneln der Epilepsie. Doch je mehr sie über die Krankheit hört, desto weniger lässt sie sich einordnen. Und während manche Interviewpartner behaupten, die Fälle häuften sich, meinen andere, sie nähmen ab.

Bei anderen Veränderungen im Dorf sind die Muster leichter zu deuten: Früher etwa uferten Hochzeiten in Roshorv aus. ...eben, acht Tiere wurden geschlachtet. Ein ruinöser Wettbewerb herrschte, jede reue Hochzeit wurde aufwendiger gefeiert als die vorige. Die tadschikische Regierung hat dem ein Ende gesetzt. Heute darf etwa nur ein Tier geschlachtet werden. Ein Aufseher wacht darüber. Manche Roshorver finden die Regelung gut. Andere sind entsetzt. Eine Feier, auf der die Gäste nicht satt werden? Welche Blamage!

Auch Matthieu und ich beginnen, Zeichen des Wandels zu sehen. Doch die

 

Veränderungen sind andere als jene, von denen Steffi spricht. Durch ihre Brille betrachtet, scheint Roshorvs Kultur täglich komplexer; immer neue Details tauchen auf. „Unsere Aufgabe ist es, die Welt vielfältiger zu machen, statt sie zu vereinfachen", heißt es in einem Buch für Ethnologen, das Steffi ihre Bibel nennt. Es geht um die Vielfalt der Probleme, mit denen Menschen konfrontiert sind. Die Vielfalt der Lösungen, die sich im Laufe der kulturellen Evolution überall entwickelt haben.

 

Unser journalistischer Filter ist viel gröber, die Details rauschen durch. Wir nehmen eher Parallelen zum Rest der Welt wahr. Sehen etwa auch in Roshorv Menschen erwachsen werden, deren Lebenswege nicht mehr in von der Tradition vorgezeichneten Bahnen verlaufen. Von Saradbeks zehn Kindern haben sieben studiert oder tun es noch. Zwei sind nach Russland emigriert, haben dort Aushilfsjobs angenommen. Im Dorf beginnt sich das westliche Konzept von Liebe zu ver breiten, zumindest symbolisch. Zur letzten Hochzeit fuhr der Bräutigam im weißen Jeep vor, auf der Kühlerhaube formten Plastikrosen das Wort Love. Seine Braut hatte er da aber erst einmal gesehen. Obwohl es keinen Sendemast gibt, haben einige junge Leute bereits Handys.

Und wenn ich mit Hanifa rede, dann spüre ich bei ihr ein Gefühl, das ich selber gut kenne, eine moderne Empfindung: die Unsicherheit, die aus dem Vergleich mit anderen kommt. Hanifa ist 27, sie ist Englischlehrerin in Roshorv. Einmal sitzen wir in dem Haus, das sie nur noch mit ihrer Mutter teilt. Wie jeden Abend gibt es Strom, genug für eine Glühbirne und den Fernsehapparat.

Hanifa hat das Video einer Hochzeit eingelegt. Eine Feier in Duschanbe, die Braut stammt aus Roshorv. Für Hanifa Gelegenheit, alte Bekannte wiederzusehen, die in die Hauptstadt gezogen sind. Mollige Frauen in westlichen Kleidern tanzen über den Bildschirm. Die Braut trägt nicht Rot, wie im Pamir, sondern ein weißes Spitzenkleid und dicke Schminke.

Hanifa ist hin und hergerissen. Undenkbar sei es für sie, ein Kleid anstelle ihrer kuta zu tragen. „Nie würde ich meine Tradition aufgeben!", ruft Hanifa. Und sagt im nächsten Satz, dass sie sich nach „Zivilisation" sehne, „Internet!"

Zum Abschied sagt sie, dass ich bestimmt schon viel in der Welt herumgekommen sei. Und fragt zögerlich, was ich von den Menschen in Roshorv denke. „Also jetzt so, im Vergleich? Sag ehrlich."

 

Fast scheint es, als müsse die Ethnologie sich beeilen, wenn sie die Tradition der Roshorver noch erfassen möchten.

Feldforschung verläuft in Phasen, sagte mir Roland Hardenberg, Professor für Ethnologie in Tübingen und Steffi Kicherers Doktorvater. Die erste: Honeymoon. Die Zeit der Euphorie, in der alles Fremde als faszinierend empfunden wird. Es folgt die Krise. Typischerweise nervt einen dann die ungewohnte Nähe zu anderen, Privatsphäre ist in vielen armen Ländern unbekannt. Der Forscher sehnt sich nach einer warmen Dusche, vertrautem Essen. Schließlich: Anpassung und Integration. Anfänglich als fremd empfundenes Verhalten wird akzeptiert, oft gar übernommen. Mindestens ein Jahr, sagte Hardenberger, solle ein Forschungsaufenthalt dauern. Zeit genug, Sprachen zu lernen, alle Feste zu erleben, die Gesellschaft von innen kennenzulernen.

Hardenberg hatte damit die Kulturschocktheorie zusammengefasst. Wir Reporter durchleben die drei Phasen im Schnelldurchlauf, die Krise kommt nach einer Woche. Wie nach dem Rausch einer jungen Liebe macht uns nun irre, was uns zu Beginn bezauberte. Unmöglich, sich in Roshorv zu bewegen, ohne ständig auf Einladungen zu reagieren. „Choy?", locken die Leute. Wer außer Rufweite ist, führt die Hand an den Mund, als nippe er an einer Tasse. „Positives Spießrutenlaufen" hat Steffis Freund, der sie hier einmal besucht hat, die Dorfrundgänge genannt.

 

Ich bin ein schlechter Gast. Trinke zu wenig, stochere im Essen, dränge zum Aufbruch. Bestimmt schämt sich Steffi für mich. Ich habe viel Zeit, sie während ihrer Interviews von der Seite anzusehen. Sie lächelt, nickt, noch die langatmigsten Äußerungen begleitet sie mit großen Augen. Ich bewundere sie für ihre Geduld ethnografische Feldforschung erscheint mir in dieser Phase als langweiligste Sache der Welt. Und ich beneide Matthieu, der sich oft schnell mit dem Hinweis auf das fantastische Licht verabschiedet.

Neben Teetrinken gehört Warten zu unseren Hauptbeschäftigungen. Einmal sitzen wir beim khalifa, draußen ist es noch hell. Für den Abend ist eine xixi angekündigt, ein Heiratsantrag. Der Antragende, erklärt man mir, reise mit Vater und Freunden an. Stimmten die Eltern der Auserwählten zu, verhandle man den Brautpreis, dann müsse der khalifa seinen Segen geben, dann werde geschlachtet. Die Frau des khalifa gießt fünfmal Tee auf. Die Gespräche ersterben, alle dämmern weg. Gegen elf erfahren wir, die xixi sei auf den Morgen verschoben. Wieder werden wir warten, wieder vergebens.

Dann ist da die Sache mit den Klos. Wenn ich auf unser Plumpsklo gehe, halte ich den Atem an, so unerträglich finde ich den Gestank. Einmal laufe ich zur Schultoilette: ein fensterloses Gemäuer, darin sieben Löcher, durch keine Wand getrennt. Im Dämmerlicht sehe ich, dass es offenbar möglich ist, von sieben Löchern null zu treffen.

Über kaum etwas reden Steffi und ich so oft wie über tadschikische Klos. Das Thema dient uns als Aufhänger. Wir könnten auch über Zeit und Pünktlichkeit reden, über Bäume, die in Roshorv kaum jemand pflanzt, obwohl Feuerholz fehlt. Es geht um Werte. Welche gelten, wenn wir über das Leben in Roshorv reden?

Für Steffi ist die Sache klar: Mit ihrer westlichen Kleidung hat sie auch die ihr anerzogenen Wertbegriffe abgelegt. Ihre, wie sie sagt, „ethnozentrische Befangenheit". Das leuchtet ein. Ethnografie wäre keine wissenschaftliche Methode, wenn sich Forscher ihrem Gegenstand nicht so aufgeschlossen wie möglich nähern könnten. Jede Studie würde mehr über ihren Verfasser aussagen als über die beschriebene Kultur. Ich frage Steffi, ob und wo sie eine Grenze zieht. An welchem Punkt Moral, eine Art universelles Verständnis von Richtig und Falsch, ins Spiel kommt. Bei Kinderarbeit? Beschneidung von Frauen? Pädophilie? „Mein Relativismus geht sehr weit", sagt Steffi. „Ja, ich würde auch bei Pädophilie verstehen wollen, welchen Sinn sie innerhalb einer Kultur hat."

Ich bewundere sie für ihre Offenheit.

Zugleich kann ich mir nicht vorstellen, meine eigene Kultur nicht mehr als Referenz zu begreifen, wenn ich Fremdes wahrnehme. Und wie soll ich glaubhaft über das Gute schreiben, wenn ich nicht auch das Schlechte benennen darf? Und wenn ich Menschen wie Saradbek oder Hanifa als klug und reflektiert bezeichne, meine ich das nicht relativ zur Entlegen

 

heit ihres Dorfes. Ich würde mich auch in Hamburg gern mit ihnen unterhalten.

Ethnografin und Journalistin: Wir könnten unsere Standpunkte gut nebeneinander stehen lassen, wenn, ja, wenn es diese Reportage für GEO nicht gäbe. Denkt Steffi über deren Leser nach, dann denkt sie an die Menschen in Roshorv. Sie würde den Text gern übersetzen und herumzeigen. Doch was werden die Roshorver denken, wenn sie über die Klos lesen?

Ich ahne, was in Steffi  vorgeht. Ihre Methode der teilnehmenden Beobachtung ist auch Reportern bekannt. Wir kennen auch den Preis, den man oft zahlt, wenn man Nähe zu Menschen herstellt, um dann aus der Distanz über sie zu berichten. Es kann sich anfühlen wie Verrat.

J

e mehr Zeit wir mit Steffi verbringen, desto mehr scheint sie sich in ihrer LolaIdentität aufzulösen. In den Nächten erwachen wir vom Licht ihrer Stirnlampe. Sie huscht durch den Raum, ein rastloser Engel. Sie schaut nach den kränklichen Jungen der Hauskatze, läuft noch vor dem Morgengrauen durchs Dorf zu ihrer „Schwägerin", die seit einer Fehlgeburt starke Unterleibsschmerzen hat.

Lola verteilt Aspirin, Lola stillt das Nasenbluten eines Nachbarsjungen, manchmal spüre ich im Halbschlaf, dass sie mir sanft das Gesicht streichelt. Ihr Satellitentelefon hat nach drei Tagen kein Guthaben mehr. Sie kann nicht Nein sagen, wenn es jemand leihen will, um Verwandte anzurufen. Der Koffer, den sie

 

mitgebracht hat, wiegt 64 Kilogramm. Geschenke: Messer, Taschenlampen, Sparschäler, Brillen, Daunenjacken, Schuhe, ein Kinderfahrrad, Uhren, Bücher.

Wie für Journalisten gilt auch für Ethnografen die Regel, das Verhalten der Menschen, über die man berichten will, so wenig wie möglich zu beeinflussen. Im Fall der Geschenke eine Gratwanderung.

In dieser zweiten Woche, in der uns Steffis Verwandlung zuweilen unheimlich wird, lernen wir auch noch eine andere, die magische Seite von Roshorv kennen. Und vielleicht hängt beides zusammen.

Steffi und ich gehen zum Arzt. Denn in seinem Haus steht ein Funkgerät. Steffi will damit einen ihrer „Brüder" im Nachbardorf kontaktieren. Auf dem Weg begegnet uns ein alter Mann, dem sie zuvor ein Messer hat zukommen lassen. Er zieht ihren Kopf dicht an seinen, flüstert ihr etwas zu. Später verkündet sie freudestrahlend: „Er hat mir barakat gegeben!" Ich glaube, ich habe Steffi nie so glücklich gesehen wie in diesem Augenblick.

Barakat ist eine Art Segen. In Roshorv dient es als Währung. Es gibt viel Arten, barakat zu erlangen. Alten Menschen etwas Gutes zu tun, ist die sicherste. Sie haben im Leben solche Mengen an barakat gesammelt, dass sie viel geben können. Wer Brotkrümel aufsammelt, erntet barakat, ebenso, wer Besucher bewirtet.

Der Arzt von Roshorv ist das beste Beispiel dafür, was barakat vermag. In seinem Haus ist mehr los als in seiner Praxis. Ständig will jemand das Funkgerät nutzen. Einige Roshorver sitzen den ganzen Tag bei ihm herum. Man könnte diese Belagerung unangenehm finden. Aber der Arzt, ein Mann von 54 Jahren, schwärmt von dem barakat, das ihm die Besucher bringen. Wie sonst sei zu erklären, dass er, ein Witwer, wieder eine Frau gefunden habe? 26 ist sie, bildhübsch. Barakat als Glückskatalysator: Auch Steffi glaubt daran. Oder Lola. Der Gegenspieler von barakat ist der böse Blick. Wen er trifft, wird krank, erzählt sie. Sekunde. Glaubt sie das wirklich? „Das ist doch Aberglaube!"

Sie schaut mich entsetzt an. „Dass es keinen Aberglauben gibt, lernt man bei uns schon im ersten Semester!"

„Was ist es denn dann?"

„Lokale religiöse Praxis."

Am Oberarm trägt sie ein Amulett, das ihr ein khalifa gegeben hat. Es soll sie vor Krankheit und Unbill schützen.

Vor Steffi liegt nun, was mir ihr Doktorvater als letzte Phase eines Forschungsaufenthalts beschrieben hatte: der Schritt zurück. Wieder zu Hause, gelte es, aus der Distanz die erforschte Gesellschaft zu beschreiben  und die eigene Rolle darin.

 

„Wir müssen uns selber in den Ethnografien widerspiegeln", sagte Hardenberg. Steffi wird sich dann auch ganz nüchtern mit Lola beschäftigen müssen.

A

m Tag vor unserer Abreise fällt Schnee. Eigentlich sollte es der Höhepunkt unseres Aufenthalts sein: Es jährt sich der Tag, an dem der Aga Khan in Roshorv war. Natürlich kam er damals, 1998, nicht über die Horrorpiste, sondern mit dem Hubschrauber. „Er muss schon über 6o gewesen sein, aber als er auf die Bühne trat, wirkte er stark und energisch wie ein junger Mann", erinnert sich Saradbek.

Die Bühne: ein Podest, drei Kilometer entfernt vom letzten Haus in Roshorv. Durch Kälte und Wind haben wir uns hierhergekämpft. Steffi hatte gesagt, die Roshorver würden heute hier Opfer bringen. Eine weitere „lokale religiöse Praxis". Und eigentlich nicht im Sinne des Aga Khan, der stets mahnt, dass alles Handeln geprägt sein solle von Rationalität. Der große Zauber bleibt aber aus an diesem Tag. Vor dem Bild des Aga Khan sammeln

 

sich nur Streichhölzer und Plastikperlen, Steffi legt einen Granatapfel dazu.

Die Welt wird mit jedem Tag ein bisschen weniger geheimnisvoll. Auch Roshorv ist längst auf dem Weg in die Moderne. Aber wie genau sich der Wandel vollzieht, kann niemand sagen. Steffi wird ihn in ihrer Doktorarbeit beschreiben. Nach allem, was Matthieu und ich erlebt haben, wird der Weg des Dorfes so unverwechselbar sein wie die Menschen, die wir hier kennengelernt haben.

Am Abend ist Roshorv noch einmal ganz bei sich. Die geplante Party wird ohne Angabe von Gründen abgesagt. Dabei hatte ich meine kuta hervorgekramt, die Filzpuschen. Und von Hanifa hatte ich mir beibringen lassen, wie man sich zu leiernden Rhythmen bewegt. Einmal wollte ich wissen, wie es sich anfühlt, mittendrin zu sein.

Matthieu und ich gehen früh zu Bett. Am nächsten Morgen fahren wir nach Duschanbe, wo wir im Serena Hotel übernachten. Wir duschen warm und trinken Bier und essen alles, worauf wir seit Wochen Heißhunger haben. Danach übergebe ich mich in ein schönes, weißes Klo

 













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