Das Dorf Roshorv in Tadschikistan
Author D.Selzer_McKenzie
Video: http://youtu.be/7l43_q0LNLM
Gleich am Tag unserer Ankunft findet in Roshorv eine
Hochzeit statt. Ein Samstag, das halbe Dorf hat sich im Haus der Braut
versammelt. Auch wir, die Besucher aus Europa, sind eingeladen und trinken
dampfende Fleischbrühe aus großen Tassen. Die Brauteltern haben einen Ochsen
geschlachtet, die Knochen treiben in einem Bottich, voluminös wie eine Badewanne.
Den ganzen Nachmittag dauert die Feier, und die halbe Nacht. Einige Minuten
prägen sich mir besonders ein:
Lola tanzt. Wie alle Frauen trägt sie eine kuta, eine Art
Tunika. Ich hocke am Rand der Tanzfläche und beobachte, wie sich ihr Körper zu
leiernden orientalischen Rhythmen dreht. Auch ich habe eine kuta angezogen,
dazu mit Blümchen bestickte Filzschuhe. Wohl fühle ich mich, ehrlich gesagt, in
den Sachen nicht; eher so, als sei ich in Pyjama und Puschen zu einer Hochzeit
gekommen.
Im Nachhinein wird mir diese Szene wie ein Sinnbild für
unsere unterschie±lichen Perspektiven vorkommen: Sie, che Ethnografin, ist
mittendrin. Ich, die Reporterin, bin bloß dabei.
Lola heißt eigentlich Stefanie Kicherer. Für ihre
Doktorarbeit erforscht sie die Kultur von Roshorv. Vor zwei Jahren fuhr sie zum
ersten Mal in das abgeschiedene Dorf im Pamirgebirge. Ein Drittel der acht Millionen
Einwohner Tadschikistans lebt unter der Armutsgrenze. Das Land ist das ärmste
in Zentralasien, und eines der korruptesten weltweit. Als wir von der Hauptstadt
aus Richtung Pamir fahren, endet die asphaltierte Straße bald: in Danghara, dem
Geburtsort des Präsidenten.
Der PamirHighway ist eine Geröllpiste, zwei Mal muss der
Fahrer unseres Jeeps die Reifen wechseln. Orte, die auf der Landkarte fett
eingezeichnet sind,
entpuppen sich als staubige Nester. Am zweiten Morgen
unserer Fahrt erschüttert ein Erdbeben die Bergwelt. Für die letzten 140
Kilometer bis Roshorv brauchen wir einen ganzen weiteren Tag. Der Weg folgt dem
Fluss Bartang. Nach jeder Biegung ragen
die Berge steiler auf, schrumpft die Straße und der Bartang wird reißender.
Fast zu jedem Streckenabschnitt kennt Steffi eine Horrorstory. Vier Tote hier,
zwei dort, alle im Fluss ertrunken, als der Weg unter ihrem Wagen wegbrach ...
Sie sitzt neben mir auf dem Rücksitz. Unsere Handys zeigen
schon seit Stunden keinen Empfang mehr an. Kurz vor Roshorv zieht sie ein
Kopftuch über die blonden Haare, das sie im Nacken knotet. Zuvor hat sie die
Leinenhose gegen ihre kuta getauscht. Jetzt ordnet sie ihre langen Beine hinter
dem Fahrersitz, streckt das Kreuz durch. Es ist der Moment, wo sie in eine
andere Identität gleitet.
Von nun an führt sie das Leben einer jungen Pamiri. Trinkt
keinen Alkohol, betet zu Allah, isst Lamm und Ziege, obwohl
sie doch zu Hause, in Tübingen, Fleisch meidet. Nur Matthieu
und ich werden sie in den nächsten Wochen noch Steffi nennen. Für alle anderen
ist sie Lola.
Roshorv liegt auf einem Hochplateau, in 3000 Meter Höhe. Auf
den ersten Blick sind die geduckten Häuser kaum von den Felsbrocken zu
unterscheiden, die sich auf der Ebene verteilen. Dazwischen knabbern Esel an
Grasnarben. Die Schroffheit der Landschaft steht im Gegensatz zur Herzlich
keit der Menschen. Noch bevor er ins Haus führt, drückt
Saradbek uns Aprikosen in die Hand. Er ist 64 Jahre alt, früher hat er im Dorf
Englisch unterrichtet. Wie Steffi werden auch wir bei ihm wohnen.
So ist das hier: Man taucht vor irgendeinem Haus auf, und
die Leute laden zum Tee, brechen Brot, stellen Marmelade dazu, schieben einem
Kissen in den Rücken, unter den Hintern. Später beginnen sie zu kochen,
Kartoffeln, Zwiebeln, Möhren. Vom Fleisch legen sie den Fremden die besten
Stücke auf, Leber, Nieren, Fettränder. Dann ziehen die Gastgeber Matratzen von
einem Stapel. Alle schlafen in einem Raum, in den Kleidern, die sie tagsüber
tragen. Matthieu und ich hatten für die Reise nur das Nötigste gepackt. Doch
unsere Rucksäcke enthalten mehr Zeug, als im Pamir eine Familie besitzt.
In den ersten Tagen in Roshorv kommt es mir vor, als seien
wir in ein längst vergangenes Jahrhundert gereist. Es ist Herbst, Weizenernte.
Die Frauen szhneiden Getreide mit Sicheln, binden Halme zu Garben. Gedroschen
wird mit
Eseln. Dann wirft man das Getreide mit einer Heugabel gegen
den Wind, um Körner und Spreu zu trennen. Das deutsche Verb dafür worfeln muss ich nachschlagen. Tagsüber steht die
Sonne am unwirklich blauen Himmel, abends hängt der Geruch von Holzfeuern in
der Luft. Als Journalist kann man hier Stoff sammeln für eine ArmaberglücklichGeschichte.
Aber wie erforscht man eine uns fremde Kultur wissenschaftlich?
Die hiesige Sprache, Roshorvi, ist nicht verschriftlicht, es gibt kein Lexikon.
Steffi
hat einen Schuhkarton mit Karteikarten, 4000 Stück. Sie
erzählt, wie sie in den ersten Wochen Wort für Wort bei Saradbek erfragte, in
Lautschrift auf Kärtchen übertrug und auswendig lernte. An guten Tagen schaffte
sie 90 Vokabeln. Ich werde es bis zu unserer Abreise auf drei bringen: choy,
kholokh, maile. Tee, danke, tschüs. gesehen sind und mit welchen sie sich,
draußen, im kleinen Hof, waschen darf Von Saradbeks Töchtern und Söhnen spricht
Steffi als ihren Schwestern und Brüdern, seine Enkel nennt sie Nichten und
Neffen. Jedesmal bin ich irritiert, mit welcher Selbstverständlichkeit sie das
tut.
„Teilnehmende Beobachtung" nennen Ethnologen diese
Methode: Eingebettet in die Gesellschaft der Roshorver, beschreibt Steffi deren
Leben nicht nur, sondern spürt als Lola auch, wie es sich anfühlt. Steffi
Kicherer ist 31 Jahre alt, sie hat blaue Augen, kinnlange Haare. In Roshorv
kommen wir keine wo Meter weit, ohne dass jemand „Lola!" ruft. Lola
bedeutet auf Roshorvi Tulpe. „Stefanie", hat jemand gesagt, da war sie
gerade im Dorf angekommen, „du siehst aus wie eine Tulpe!" Frauen hauchen
ihr Küsschen auf die Wange, Männer drücken ihr mit beiden Händen die Hand. „Hat
schon was von Popstar", sagt sie. Und dass ihr Leben in Deutschland ihr
dagegen langweilig vorkomme. Es ist schwer, aus dem Rampenlicht wieder
herauszutreten.
Auch Janob freut sich, Lola wiederzusehen. Er ist der
khalifa von Roshorv. Und er unterrichtet an der Dorfschule Tadschikisch, ein
Mann mit schwarzer Wollmütze und heiserer Stimme. Es mag an seinem Tarnanzug
liegen oder dem Dreitagebart für ein
geistliches Oberhaupt macht der khalifa einen eher lässigen Eindruck.
Die rund wo() Einwohner von Roshorv sind Moslems, genauer:
Ismailiten.
Saradbek hat zehn Kinder, einige leben noch im Elternhaus.
„Wie ein Kind", sagt Steffi, sei sie in die Familie hineingewachsen. Sie
lernt, auf Eseln zu reiten, und welche Gefäße nur fürs Kochen vor Dser Führer
ist der Aga Khan. ..Dnär, Playboy, geschieden von ei, zhen Prinzessin, die
während der Je 3ezum" hieß. Zum Besitz des Aga 5ren die noblen Serena Hotels. im Serena in
Duschanbe . wie der khalifa im Jahr als LehSeinen i8 Millionen Anhän eit gilt
der Aga Khan als direkter des Propheten Mohammed. :.z.,127 hat einen Ordner
hervor.iuberlich hat er darin die Be
fehle farmans abgeheftet, die der Aga Khan an die Gläubigen
verschickt; „My dear spiritual children", schreibt er dann. Meine lieben
Kinder im Geiste. Nicht alles, was er anordnet, lässt sich in Roshorv umsetzen,
räumt der khalifa ein. Zuletzt etwa hat er bestimmt, dass die Gläubigen sich
täglich versammeln sollten. „Unmöglich, die Leute müssen ja auf die
Felder."
Die meisten farmans befassen sich mit Fragen der
Lebensführung. Die Gläubigen sollen keinen Alkohol anrühren,
kein Heroin, keinen Tabak. Sie sollen kein Tier grundlos töten.
Alle sollen Englisch lernen, und der Aga Khan trägt ihnen auf, in die Bildung
aller Kinder zu investieren.
Als wir am späten Nachmittag zurücklaufen, hat der Labnazar,
Roshorvs knapp 6000 Meter hoher Hausberg, seinen Schatten schon über das Dorf
geworfen. Saradbek lehnt an der Hauswand, sie ist noch warm von der Sonne. Er
krümelt selbst angebauten Tabak in Zeitungspapier. Während Steffi Kartoffeln
schält, frage ich Saradbek zu seiner Religion aus. Er erzählt, dass der Aga
Khan Anhänger in 26 Ländern hat, aber wohl nirgends so verehrt werde wie hier,
in Roshorv. Tadschikistan gehörte zum Sowjetreich, bis dieses auseinanderfiel.
„Die Russen haben uns Fische gebracht, aber nicht das Angeln gelehrt",
sagt Saradbek. Als in Tadschikistan dann auch noch Bürgerkrieg ausbrach,
drohten die Bewohner der Pamirdörfer zu verhungern. Die AgaKhanStiftung sprang
damals ein und versorgte die Menschen. Steffi hatte noch keine Fragen, als sie
begann, in Roshorv zu forschen, es gab keine These. Das Thema ihrer Doktorarbeit
kristallisierte sich erst langsam in 30o Interviews heraus: Sie will über den
Kulturwandel schreiben. Und darüber, dass und wie die Roshorver den Wandel
diskutieren und gestalten.
Bei vielen Phänomenen steht Steffi auch nach monatelanger
Recherche noch fern von einer echten Erkenntnis: Wie bei diesem merkwürdigen
Geistesleiden, das manche Roshorver offenbar befällt, wam wird es genannt. Die
Betroffenen schlagen um sich, entwickeln Kraft für drei, Schaum vorm Mund. Die
Symptome ähneln der Epilepsie. Doch je mehr sie über die Krankheit hört, desto
weniger lässt sie sich einordnen. Und während manche Interviewpartner
behaupten, die Fälle häuften sich, meinen andere, sie nähmen ab.
Bei anderen Veränderungen im Dorf sind die Muster leichter
zu deuten: Früher etwa uferten Hochzeiten in Roshorv aus. ...eben, acht Tiere
wurden geschlachtet. Ein ruinöser Wettbewerb herrschte, jede reue Hochzeit
wurde aufwendiger gefeiert als die vorige. Die tadschikische Regierung hat dem
ein Ende gesetzt. Heute darf etwa nur ein Tier geschlachtet werden. Ein
Aufseher wacht darüber. Manche Roshorver finden die Regelung gut. Andere sind
entsetzt. Eine Feier, auf der die Gäste nicht satt werden? Welche Blamage!
Auch Matthieu und ich beginnen, Zeichen des Wandels zu
sehen. Doch die
Veränderungen sind andere als jene, von denen Steffi
spricht. Durch ihre Brille betrachtet, scheint Roshorvs Kultur täglich
komplexer; immer neue Details tauchen auf. „Unsere Aufgabe ist es, die Welt
vielfältiger zu machen, statt sie zu vereinfachen", heißt es in einem Buch
für Ethnologen, das Steffi ihre Bibel nennt. Es geht um die Vielfalt der
Probleme, mit denen Menschen konfrontiert sind. Die Vielfalt der Lösungen, die
sich im Laufe der kulturellen Evolution überall entwickelt haben.
Unser journalistischer Filter ist viel gröber, die Details
rauschen durch. Wir nehmen eher Parallelen zum Rest der Welt wahr. Sehen etwa
auch in Roshorv Menschen erwachsen werden, deren Lebenswege nicht mehr in von
der Tradition vorgezeichneten Bahnen verlaufen. Von Saradbeks zehn Kindern
haben sieben studiert oder tun es noch. Zwei sind nach Russland emigriert,
haben dort Aushilfsjobs angenommen. Im Dorf beginnt sich das westliche Konzept
von Liebe zu ver breiten, zumindest symbolisch. Zur letzten Hochzeit fuhr der
Bräutigam im weißen Jeep vor, auf der Kühlerhaube formten Plastikrosen das Wort
Love. Seine Braut hatte er da aber erst einmal gesehen. Obwohl es keinen
Sendemast gibt, haben einige junge Leute bereits Handys.
Und wenn ich mit Hanifa rede, dann spüre ich bei ihr ein
Gefühl, das ich selber gut kenne, eine moderne Empfindung: die Unsicherheit,
die aus dem Vergleich mit anderen kommt. Hanifa ist 27, sie ist
Englischlehrerin in Roshorv. Einmal sitzen wir in dem Haus, das sie nur noch
mit ihrer Mutter teilt. Wie jeden Abend gibt es Strom, genug für eine Glühbirne
und den Fernsehapparat.
Hanifa hat das Video einer Hochzeit eingelegt. Eine Feier in
Duschanbe, die Braut stammt aus Roshorv. Für Hanifa Gelegenheit, alte Bekannte
wiederzusehen, die in die Hauptstadt gezogen sind. Mollige Frauen in westlichen
Kleidern tanzen über den Bildschirm. Die Braut trägt nicht Rot, wie im Pamir,
sondern ein weißes Spitzenkleid und dicke Schminke.
Hanifa ist hin und hergerissen. Undenkbar sei es für sie,
ein Kleid anstelle ihrer kuta zu tragen. „Nie würde ich meine Tradition
aufgeben!", ruft Hanifa. Und sagt im nächsten Satz, dass sie sich nach
„Zivilisation" sehne, „Internet!"
Zum Abschied sagt sie, dass ich bestimmt schon viel in der
Welt herumgekommen sei. Und fragt zögerlich, was ich von den Menschen in
Roshorv denke. „Also jetzt so, im Vergleich? Sag ehrlich."
Fast scheint es, als müsse die Ethnologie sich beeilen, wenn
sie die Tradition der Roshorver noch erfassen möchten.
Feldforschung verläuft in Phasen, sagte mir Roland
Hardenberg, Professor für Ethnologie in Tübingen und Steffi Kicherers
Doktorvater. Die erste: Honeymoon. Die Zeit der Euphorie, in der alles Fremde
als faszinierend empfunden wird. Es folgt die Krise. Typischerweise nervt einen
dann die ungewohnte Nähe zu anderen, Privatsphäre ist in vielen armen Ländern
unbekannt. Der Forscher sehnt sich nach einer warmen Dusche, vertrautem Essen.
Schließlich: Anpassung und Integration. Anfänglich als fremd empfundenes
Verhalten wird akzeptiert, oft gar übernommen. Mindestens ein Jahr, sagte
Hardenberger, solle ein Forschungsaufenthalt dauern. Zeit genug, Sprachen zu
lernen, alle Feste zu erleben, die Gesellschaft von innen kennenzulernen.
Hardenberg hatte damit die Kulturschocktheorie
zusammengefasst. Wir Reporter durchleben die drei Phasen im Schnelldurchlauf,
die Krise kommt nach einer Woche. Wie nach dem Rausch einer jungen Liebe macht
uns nun irre, was uns zu Beginn bezauberte. Unmöglich, sich in Roshorv zu
bewegen, ohne ständig auf Einladungen zu reagieren. „Choy?", locken die
Leute. Wer außer Rufweite ist, führt die Hand an den Mund, als nippe er an
einer Tasse. „Positives Spießrutenlaufen" hat Steffis Freund, der sie hier
einmal besucht hat, die Dorfrundgänge genannt.
Ich bin ein schlechter Gast. Trinke zu wenig, stochere im
Essen, dränge zum Aufbruch. Bestimmt schämt sich Steffi für mich. Ich habe viel
Zeit, sie während ihrer Interviews von der Seite anzusehen. Sie lächelt, nickt,
noch die langatmigsten Äußerungen begleitet sie mit großen Augen. Ich bewundere
sie für ihre Geduld ethnografische Feldforschung erscheint mir in dieser Phase
als langweiligste Sache der Welt. Und ich beneide Matthieu, der sich oft
schnell mit dem Hinweis auf das fantastische Licht verabschiedet.
Neben Teetrinken gehört Warten zu unseren
Hauptbeschäftigungen. Einmal sitzen wir beim khalifa, draußen ist es noch hell.
Für den Abend ist eine xixi angekündigt, ein Heiratsantrag. Der Antragende,
erklärt man mir, reise mit Vater und Freunden an. Stimmten die Eltern der
Auserwählten zu, verhandle man den Brautpreis, dann müsse der khalifa seinen
Segen geben, dann werde geschlachtet. Die Frau des khalifa gießt fünfmal Tee
auf. Die Gespräche ersterben, alle dämmern weg. Gegen elf erfahren wir, die xixi
sei auf den Morgen verschoben. Wieder werden wir warten, wieder vergebens.
Dann ist da die Sache mit den Klos. Wenn ich auf unser
Plumpsklo gehe, halte ich den Atem an, so unerträglich finde ich den Gestank.
Einmal laufe ich zur Schultoilette: ein fensterloses Gemäuer, darin sieben
Löcher, durch keine Wand getrennt. Im Dämmerlicht sehe ich, dass es offenbar
möglich ist, von sieben Löchern null zu treffen.
Über kaum etwas reden Steffi und ich so oft wie über
tadschikische Klos. Das Thema dient uns als Aufhänger. Wir könnten auch über
Zeit und Pünktlichkeit reden, über Bäume, die in Roshorv kaum jemand pflanzt,
obwohl Feuerholz fehlt. Es geht um Werte. Welche gelten, wenn wir über das
Leben in Roshorv reden?
Für Steffi ist die Sache klar: Mit ihrer westlichen Kleidung
hat sie auch die ihr anerzogenen Wertbegriffe abgelegt. Ihre, wie sie sagt,
„ethnozentrische Befangenheit". Das leuchtet ein. Ethnografie wäre keine
wissenschaftliche Methode, wenn sich Forscher ihrem Gegenstand nicht so
aufgeschlossen wie möglich nähern könnten. Jede Studie würde mehr über ihren
Verfasser aussagen als über die beschriebene Kultur. Ich frage Steffi, ob und
wo sie eine Grenze zieht. An welchem Punkt Moral, eine Art universelles
Verständnis von Richtig und Falsch, ins Spiel kommt. Bei Kinderarbeit?
Beschneidung von Frauen? Pädophilie? „Mein Relativismus geht sehr weit",
sagt Steffi. „Ja, ich würde auch bei Pädophilie verstehen wollen, welchen Sinn
sie innerhalb einer Kultur hat."
Ich bewundere sie für ihre Offenheit.
Zugleich kann ich mir nicht vorstellen, meine eigene Kultur
nicht mehr als Referenz zu begreifen, wenn ich Fremdes wahrnehme. Und wie soll
ich glaubhaft über das Gute schreiben, wenn ich nicht auch das Schlechte
benennen darf? Und wenn ich Menschen wie Saradbek oder Hanifa als klug und
reflektiert bezeichne, meine ich das nicht relativ zur Entlegen
heit ihres Dorfes. Ich würde mich auch in Hamburg gern mit
ihnen unterhalten.
Ethnografin und Journalistin: Wir könnten unsere Standpunkte
gut nebeneinander stehen lassen, wenn, ja, wenn es diese Reportage für GEO
nicht gäbe. Denkt Steffi über deren Leser nach, dann denkt sie an die Menschen
in Roshorv. Sie würde den Text gern übersetzen und herumzeigen. Doch was werden
die Roshorver denken, wenn sie über die Klos lesen?
Ich ahne, was in Steffi
vorgeht. Ihre Methode der teilnehmenden Beobachtung ist auch Reportern
bekannt. Wir kennen auch den Preis, den man oft zahlt, wenn man Nähe zu
Menschen herstellt, um dann aus der Distanz über sie zu berichten. Es kann sich
anfühlen wie Verrat.
J
e mehr Zeit wir mit Steffi verbringen, desto mehr scheint
sie sich in ihrer LolaIdentität aufzulösen. In den Nächten erwachen wir vom
Licht ihrer Stirnlampe. Sie huscht durch den Raum, ein rastloser Engel. Sie
schaut nach den kränklichen Jungen der Hauskatze, läuft noch vor dem
Morgengrauen durchs Dorf zu ihrer „Schwägerin", die seit einer Fehlgeburt
starke Unterleibsschmerzen hat.
Lola verteilt Aspirin, Lola stillt das Nasenbluten eines
Nachbarsjungen, manchmal spüre ich im Halbschlaf, dass sie mir sanft das
Gesicht streichelt. Ihr Satellitentelefon hat nach drei Tagen kein Guthaben
mehr. Sie kann nicht Nein sagen, wenn es jemand leihen will, um Verwandte
anzurufen. Der Koffer, den sie
mitgebracht hat, wiegt 64 Kilogramm. Geschenke: Messer,
Taschenlampen, Sparschäler, Brillen, Daunenjacken, Schuhe, ein Kinderfahrrad,
Uhren, Bücher.
Wie für Journalisten gilt auch für Ethnografen die Regel,
das Verhalten der Menschen, über die man berichten will, so wenig wie möglich
zu beeinflussen. Im Fall der Geschenke eine Gratwanderung.
In dieser zweiten Woche, in der uns Steffis Verwandlung
zuweilen unheimlich wird, lernen wir auch noch eine andere, die magische Seite
von Roshorv kennen. Und vielleicht hängt beides zusammen.
Steffi und ich gehen zum Arzt. Denn in seinem Haus steht ein
Funkgerät. Steffi will damit einen ihrer „Brüder" im Nachbardorf
kontaktieren. Auf dem Weg begegnet uns ein alter Mann, dem sie zuvor ein Messer
hat zukommen lassen. Er zieht ihren Kopf dicht an seinen, flüstert ihr etwas
zu. Später verkündet sie freudestrahlend: „Er hat mir barakat gegeben!"
Ich glaube, ich habe Steffi nie so glücklich gesehen wie in diesem Augenblick.
Barakat ist eine Art Segen. In Roshorv dient es als Währung.
Es gibt viel Arten, barakat zu erlangen. Alten Menschen etwas Gutes zu tun, ist
die sicherste. Sie haben im Leben solche Mengen an barakat gesammelt, dass sie
viel geben können. Wer Brotkrümel aufsammelt, erntet barakat, ebenso, wer
Besucher bewirtet.
Der Arzt von Roshorv ist das beste Beispiel dafür, was
barakat vermag. In seinem Haus ist mehr los als in seiner Praxis. Ständig will
jemand das Funkgerät nutzen. Einige Roshorver sitzen den ganzen Tag bei ihm
herum. Man könnte diese Belagerung unangenehm finden. Aber der Arzt, ein Mann
von 54 Jahren, schwärmt von dem barakat, das ihm die Besucher bringen. Wie
sonst sei zu erklären, dass er, ein Witwer, wieder eine Frau gefunden habe? 26
ist sie, bildhübsch. Barakat als Glückskatalysator: Auch Steffi glaubt daran.
Oder Lola. Der Gegenspieler von barakat ist der böse Blick. Wen er trifft, wird
krank, erzählt sie. Sekunde. Glaubt sie das wirklich? „Das ist doch
Aberglaube!"
Sie schaut mich entsetzt an. „Dass es keinen Aberglauben
gibt, lernt man bei uns schon im ersten Semester!"
„Was ist es denn dann?"
„Lokale religiöse Praxis."
Am Oberarm trägt sie ein Amulett, das ihr ein khalifa
gegeben hat. Es soll sie vor Krankheit und Unbill schützen.
Vor Steffi liegt nun, was mir ihr Doktorvater als letzte
Phase eines Forschungsaufenthalts beschrieben hatte: der Schritt zurück. Wieder
zu Hause, gelte es, aus der Distanz die erforschte Gesellschaft zu beschreiben und die eigene Rolle darin.
„Wir müssen uns selber in den Ethnografien widerspiegeln",
sagte Hardenberg. Steffi wird sich dann auch ganz nüchtern mit Lola
beschäftigen müssen.
A
m Tag vor unserer Abreise fällt Schnee. Eigentlich sollte es
der Höhepunkt unseres Aufenthalts sein: Es jährt sich der Tag, an dem der Aga
Khan in Roshorv war. Natürlich kam er damals, 1998, nicht über die Horrorpiste,
sondern mit dem Hubschrauber. „Er muss schon über 6o gewesen sein, aber als er
auf die Bühne trat, wirkte er stark und energisch wie ein junger Mann",
erinnert sich Saradbek.
Die Bühne: ein Podest, drei Kilometer entfernt vom letzten
Haus in Roshorv. Durch Kälte und Wind haben wir uns hierhergekämpft. Steffi
hatte gesagt, die Roshorver würden heute hier Opfer bringen. Eine weitere
„lokale religiöse Praxis". Und eigentlich nicht im Sinne des Aga Khan, der
stets mahnt, dass alles Handeln geprägt sein solle von Rationalität. Der große
Zauber bleibt aber aus an diesem Tag. Vor dem Bild des Aga Khan sammeln
sich nur Streichhölzer und Plastikperlen, Steffi legt einen
Granatapfel dazu.
Die Welt wird mit jedem Tag ein bisschen weniger
geheimnisvoll. Auch Roshorv ist längst auf dem Weg in die Moderne. Aber wie
genau sich der Wandel vollzieht, kann niemand sagen. Steffi wird ihn in ihrer
Doktorarbeit beschreiben. Nach allem, was Matthieu und ich erlebt haben, wird
der Weg des Dorfes so unverwechselbar sein wie die Menschen, die wir hier
kennengelernt haben.
Am Abend ist Roshorv noch einmal ganz bei sich. Die geplante
Party wird ohne Angabe von Gründen abgesagt. Dabei hatte ich meine kuta
hervorgekramt, die Filzpuschen. Und von Hanifa hatte ich mir beibringen lassen,
wie man sich zu leiernden Rhythmen bewegt. Einmal wollte ich wissen, wie es
sich anfühlt, mittendrin zu sein.
Matthieu und ich gehen früh zu Bett. Am nächsten Morgen
fahren wir nach Duschanbe, wo wir im Serena Hotel übernachten. Wir duschen warm
und trinken Bier und essen alles, worauf wir seit Wochen Heißhunger haben.
Danach übergebe ich mich in ein schönes, weißes Klo
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