Vorsicht Fleisch
Author D.SelzerMcKenzie
Video: http://youtu.be/xA2Yc3vDkzI
Weinend kommt das Kind angelaufen, die Knie aufgeschlagen.
Trösten, Tränen trocknen, Pflaster drauf nicht weiter schlimm. Eines dieser kleinen,
alltäglichen Dramen. Bald trägt es die heilende Wunde mit Indianerstolz über
den Schulhof. So unbeschwert ist unser Dasein. Noch.
In 15 Jahren löst die gleiche Situation womöglich blankes
Entsetzen aus, lässt einen panischen Gedanken aufsteigen: bloß keine
Entzündung! Denn monatelanges Siechtum nach Bagatellverletzung, hervorgerufen
durch bakterielle Infektion, Blutvergiftung: Das wird das große alltägliche
Drama sein.
Unfallchirurgie, Organtransplantationen, das Legen von
Infusionen bald medizinische
Himmelfahrtskommandos. Und jede dritte Lungenentzündung: tödlich wie vor Zoo
Jahren. Weil unsere Antibiotika dabei sind zu versagen. Eines nach dem anderen.
25 000 Menschen sterben Jahr für Jahr allein in der EU, weil
schon jetzt viele Krankheitserreger resistent sind gegen die gängigen
Antibiotika. Ein Hauptschuldiger dieser Tragödie: die industrielle
Massentierhaltung. Denn die Mastställe mit ihren Abertausenden Insassen produzieren
nicht nur billiges Fleisch für die Theken der Discounter. Oder, in immer
stärkerem Ausmaß, auch für den Export, etwa nach Russland und China. Sie produzieren
auch furchterregende Bakterien.
Dass billiges Fleisch eine Tierhaltung bedingt, die
bestenfalls nicht artgerecht, meist abstoßend quälerisch ist: bekannt. Dass mit
der Produktion von Fleisch, Milchprodukten und Eiern natürliche Ressourcen
vergeudet und 18 Prozent des globalen Ausstoßes an klimaschädlichen Gasen
verursacht werden. Doch jetzt wird immer deutlicher: Unsere eingefleischten
Ernährungsgewohnheiten beschwören auch eine Gesundheitskatastrophe von
weltumspannender Dimension herauf. Und das gibt Wurst und Steak und Hähnchenbrust
einen neuen Beigeschmack.
Perlen vor die Säue
Antibiotika: Stoffwechselprodukte, etwa von Pilzen oder
Flechten zur Selbstverteidigung hergestellt; ab Anfang des zo. Jahrhunderts im
Labor isoliert (später zunehmend synthetisch hergestellt) und in potente
Bakterienkiller verwandelt. Infizierte Wunden lassen sich dank ihrer binnen
Tagen keimfrei machen. Antibiotika gehören zu den größten Wundern der Medizingeschichte.
Doch Alexander Fleming, Entdecker des UrAntibiotikums
Penicillin, warnte schon 1945: Wenn ihr dieses Zaubermittel verantwortungslos
einsetzt, werdet ihr es wieder verlieren.
Antibiotika schädigen Zellstrukturen der krank machenden
Bakterien. Die Eindringlinge allerdings entwickeln fortwährend neue Strategien,
um ihrerseits die Antibiotika auszutricksen. Dank ihrer rasend schnellen
Generationszeiten gelingt ihnen das nur allzu gut. Zehntausende Varianten pro
Jahr bringen diese Mikroorganismen hervor, verändern Andockstrukturen und
Enzyme, erproben immer neue AntiAntibiotikawaffen. Und können ihre neuen
Eigenschaften sogar an andere Bakterienarten als Erbgutschnipsel direkt
weitergeben.
Die Ställe der Tiermäster bieten neuen Erfolgstypen unter
den Erregern ideale Entfaltungsbedingungen. Denn alle schwächlichen Keime
werden von den Antibiotika aus dem Weg geräumt. Freie Bahn für die Fittesten.
In ihren Aufzuchtanlagen pferchen die Mäster Zehntausende
Tiere auf engstem Raum zusammen. Aus Angst vor Erkrankungen, die sich in solch
drangvoller Enge rasant ausbreiten könnten, fluten sie das lebende Fleisch
vorsorglich mit Antibiotika.
Der tiermedizinische Fachbegriff dafür lautet
„Metaphylaxe" die dann erlaubt
wäre, wenn bereits eine Infektion im Bestand aufgetreten ist. Viele Experten
fürchten allerdings, dass Metaphylaxe allzu oft nur den Missbrauch von Antibiotika
verschleiert. Dass sie vielleicht sogar als Vorwand dient, Antibiotika allein
zur Wachstumsförderung einzusetzen was
in Europa verboten ist (siehe Seite 62). Für die Krankheitskeime ist diese
Praxis jedenfalls ein ideales Trainings und Ertüchtigungsprogramm.
Eine Untersuchung in nordrheinwestfälischen Mastställen für
Hähnchen ergab: 92,5 Prozent aller Tiere dort erhielten in ihrem nur wenige
Wochen währenden Leben Antibiotika und
zwar teilweise bis zu acht unterschiedliche Wirkstoffe. Je größer der Betrieb,
desto exzessiver der Antibiotikaeinsatz.
Um Kosten zu sparen, werden die Mittel häufig viel zu
schnell wieder abgesetzt was die Bildung
von Resistenzen erst recht befördert. Eine Folgestudie bestätigte ein massives
Antibiotikaproblem in der Massentierhaltung. „Der Einsatz von Antibiotika hat
ein Ausmaß erreicht, das völlig indiskutabel ist", folgerte Johannes
Remmel, Minister für Landwirtschaft und Verbraucherschutz in NordrheinWestfalen.
Vom Tier zum Menschen
Deutsche Fleischproduzenten setzen doppelt so viel
Antibiotika ein wie deutsche Humanmediziner: etwa anderthalbtausend Tonnen pro
Jahr (das meiste in der Hähnchenaufzucht). Eine europaweite Studie aus dem Jahr
2013 zeigt: Deutsche Mäster verabreichten im Schnitt 211 Milligramm Wirkstoff
pro Kilogramm „behandelter Biomasse"; mehr setzten nur ihre spanischen,
italienischen und zyprischen Kollegen ein.
Fatal dabei ist: Es gelangen sogar wertvolle ReserveAntibiotika
in die Futtertröge; Medikamente, die eigentlich für komplizierte Fälle in der
Intensivmedizin zurückgehalten werden müssten. Gegen solche für Menschen
überlebenswichtigen Mittel können die Erreger im Maststall neue
Abwehrstrategien testen.
Der Postleitzahlbereich 49 Emsland, Cloppenburg, Osnabrück, Vechta ist ein Zentrum industrieller
Massentierhaltung. Und so haben vor allem Krankenhäuser in
Nordwestniedersachsen mit multiresistenten Keimen zu kämpfen; mit Bakterien
also, die auch einer Kombination aus mehreren Wirkstoffen trotzen.
Eine Studie des RobertKochInstituts ergab: 86 Prozent der
Landwirte und Veterinäre, die direkten Kontakt zu keimbelasteten Tieren haben,
sind selbst schon von Erregern besiedelt. Zwar gilt der Typ LAMRSA, um den es
in der Untersuchung ging, als noch wenig virulent für Menschen. Niederländische
Forscher gehen aber davon aus, dass sich das in absehbarer Zeit ändern wird,
dass sich das menschliche Immunsystem der Angriffe auf Dauer nicht wird
erwehren können.
Eine Studie, durchgeführt im USBundesstaat Iowa, dem Zentrum
der amerikanischen Schweinemast, bestätigt: Wer dort im Umkreis einer Meile
rund um einen Mastbetrieb lebt, hat ein fast dreifach erhöhtes Risiko, von MRSAKeimen
befallen zu werden.
Fest steht: Antibiotikaresistente Bakterien wechseln vom
Tier auf den Menschen über. Die Erreger überwinden die Grenzen zwischen den
Arten offenbar leichter als gedacht.
Und das ist nicht der einzige Weg, auf dem die Keime aus den
Mastanlagen hinaus in unsere Welt gelangen. Sie werden auch mit dem Fleisch
frei Haus geliefert, auf den Abendbrottisch, in die KindergartenMensa. Bei
Untersuchungen in Hamburg ließen sich auf jeder zweiten Hähnchenfleischprobe
Erreger nachweisen, die ein Enzym ESBL produzieren, das gängige Antibiotika
ausschalten kann. Eine Analyse in 13 deutschen Städten ergab: resistente Keime
in zehn von 63 Wurstund Schinkenproben, auf einem Viertel aller Mettprodukte,
in sechs von neun Putenfleischprodukten.
Die USLebensmittelbehörde FDA fand in einem ihrer Tests auf
65 Prozent der Hähnchenbrustproben und 44 Prozent der Rinderhackproben
Bakterien, die resistent sind gegen die bis vor Kurzem noch hochwirksamen
Tetracycline. Auf elf Prozent der Schweinekoteletts entdeckten die Prüfer
Bakterien, die gegen fünf Wirkstoffe unempfindlich sind.
Eine andere Verbreitungsroute resistenter Erreger: über die
Ausscheidungen der Tiere, die als Gülle oder Dünger auf die Felder, auf die
Pflanzen gelangen (und so auch auf den Tisch von Vegetariern). Keime sammeln
sich im Boden, Oberflächen und Grundwasser oder werden über die Abluftanlagen
der Ställe verblasen.
Und das Problem entsteht nicht nur in Mastställen, sondern
auch in Arztpraxen. Viele niedergelassene Mediziner verschreiben Antibiotika
leichtfertig, bringen zu viele davon in Umlauf, verordnen sie sogar bei
Erkältungen Krankheiten, die meistens
von Viren ausgelöst werden. Antibiotika aber helfen nur gegen Bakterien.
Die Arsenale leeren sich
Die Statistik ist eindeutig: In Ländern mit freiem
Antibiotikaverkauf breiten sich resistente Erreger mit furchterregender
Geschwindigkeit aus innerhalb der EU
etwa in Griechenland. Wo die Abgabe streng geregelt wird, wie in Deutschland
(das bei der Abgabe von Antibiotika in der Humanmedizin sehr viel besser
dasteht als in der Tiermedizin), ist die Lage noch nicht so weit außer
Kontrolle. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe forderte deshalb Mitte
dieses Jahres vor der Weltgesundheitsversammlung eine weltweite
Verschreibungspflicht für Antibiotika. Die EU und USA, China, Brasilien und
Nigeria unterstützten den Vorstoß.
Aber kommt er rechtzeitig? Die ersten panresistenten Erreger
Superkeime, die immun sind gegen so gut
wie alle zur Verfügung stehenden Antibiotika tauchten vor wenigen Jahren in Indien auf, wo
Verkauf und Verbreitung von Antibiotika keinerlei Kontrolle unterliegen. Gegen
diese Killerbakterien haben wir keine Waffen mehr.
Die Weltgesundheitsbehörde berichtet: In Afrika ist die Zahl
der gemeldeten Fälle, in denen Patienten von multiresistenten TuberkuloseErregern
befallen wurden, zwischen 2005 und 2012 um mehr als das Siebenfache gestiegen.
Und dieser dramatische Prozess trifft die Menschheit
ausgerechnet in einer Phase, da unsere Arsenale sich leeren, weil die
Pharmakonzerne sich aus der
Antibiotikaforschung zurückziehen. 1990 entwickelten noch 18
große Unternehmen neue Antibiotika, heute sind es lediglich fünf weltweit. Die USArzneimittelbehörde hat
zwischen 198o und 1984 noch 20 neue Antibiotika zugelassen, zwischen Zoos und
2009 waren es drei.
Hunderte Millionen Euro kostet es, ein neues Antibiotikum zu
entwickeln eine solche Investition lohnt sich nicht, sagt die Industrie. Denn
in den meisten Ländern und für die meisten Anwendungsfelder gilt
glücklicherweise nach wie vor: Eine Packung Antibiotika ist günstig und reicht
aus, die Krankheit binnen zehn Tagen zu besiegen.
Und es lohnt sich eben auch deshalb nicht, weil Resistenzen
immer schneller auftreten und Ärzte angewiesen sind, neue Antibiotika möglichst
sparsam einzusetzen. Die Pharmakonzerne konzentrieren ihre Forschung lieber auf
Mittel gegen Bluthochdruck und Diabetes, die dauerhaft verschrieben werden
müssen, oder auf solche gegen Krebs und Aids, die sehr teuer sind.
Politik und Wirtschaft beraten über das Dilemma. Nachgedacht
wird über beschleunigte und vereinfachte Zulassungsverfahren für neue
Antibiotika, über staatliche Beteiligung an den Entwicklungskosten. Doch selbst
wenn die Antibiotikaforschung sofort wieder hochgefahren würde: Neue Mittel
wären erst in Jahren oder Jahrzehnten verfügbar.
Der Feind ist längst in uns. 700000 Menschen sollen sich in
deutschen Krankenhäusern mit antibiotikaresistenten Bakterien infiziert haben.
Vier bis acht Prozent der Bevölkerung, schätzt das RobertKochInstitut, tragen
die bereits erwähnten ESBLKeime in sich.
Wir merken nichts von dieser schleichenden Invasion, unser
Immunsystem hält die resistenten Erreger in Schach. Bis es eines Tages aus dem
Tritt gerät, infolge einer schweren Erkrankung oder nach einer Operation. Dann
breiten sie sich explosionsartig aus und sind nicht mehr zu stoppen.
Dass sich der exzessive Antibiotikaeinsatz in der Tiermast
eindämmen lässt, hat Dänemark vorgemacht. Dort wurde der Verbrauch binnen
weniger Jahre um mehr als so Prozent gedrosselt. Vor allem durch zwei
Maßnahmen.
Erstens: strikte Verbrauchskontrollen. Wie viel Antibiotika
ein Halter seinen Tieren verabreicht, wird zentral erfasst und lässt sich im
Internet einsehen. Übersteigt der Verbrauch einen Schwellenwert, folgen
Sanktionen (etwa der Zwang, weniger Tiere zu halten).
Zweitens: restriktive Medikamentenabgabe. Benötigt ein
dänischer Mäster Antibiotika für seine Tiere, so stellt der Veterinär ein
Rezeptaus, das in der Apotheke eingelöst werden muss. In Deutschland ist der
Tierarzt gleichzeitig Apotheker und verdient kräftig an den von ihm selbst
verordneten Mitteln. Auch immer mehr Tierärzte fordern mittlerweile eine Reform
dieses aberwitzigen Systems.
Das Beispiel Dänemark zeigt vor allem eines: In den meisten
Ländern werden viel mehr Medikamente verbraucht, als eigentlich notwendig
wären. Zwar ist auch in Deutschland neuerdings ein leichter Rückgang zu
beobachten allerdings auf immer noch
viel zu hohem Niveau.
Der niedersächsische GrünenPolitiker Christian Meyer
verglich Fleischtheken mit Sondermülldeponien; da war er noch in der
Opposition. Jetzt, als Landwirtschaftsminister in Hannover, will er den
Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung hierzulande halbieren. Gemeinsam mit seinem
NRWKollegen Remmel zählt er zu den Initiatoren des neuen Tierarzneimittelgesetzes
das sich, was die Meldepflicht der
Halter anbelangt, am dänischen Vorbild orientiert. Obendrein fordert er ein
Verbot sogenannter ReserveAntibiotika in der Massentierhaltung; diese sollen
für die Humanmedizin reserviert bleiben.
Solche Maßnahmen haben auch die Niederlande durchgesetzt.
Auf eine europaweite Regelung konnte sich die Politik bisher gleichwohl nicht
einigen; zu stark die LobbyMacht, die dagegensteht. Immerhin dürfen Antibiotika
in der EU seit zo o 6 nicht mehr als Mastbeschleuniger eingesetzt werden wie
noch immer in den USA (mehr dazu im folgenden Beitrag). Eine weitere drastische
Reduzierung des Antibiotikaverbrauchs aber scheint unumgänglich. Die
Gesundheitskatastrophe wäre ein zu hoher Preis für billiges Fleisch.
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