Eine Familien-Tragödie anno 1899
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/CC-zFrh5Ywg
Als ich vor einiger Zeit einen alten Sekretär aus dem
Nachlass meiner Eltern ausräumte, lernte ich auf einen Schlag zwei Dutzend
Menschen kennen. Menschen, die mir auf den ersten Blick sehr fremd vorkamen.
Frauen mit ausladenden Röcken und üppigen DuttFrisuren, die scheu und ernst in
die Kamera blickten. Männer mit Backenbart und Kneifer, die in Patriarchenpose
inmitten korrekt gescheitelter Söhne posierten. Kleine Mädchen mit
aufgerissenen Augen, deren erschreckend dünne Ärmchen darauf schließen ließen,
dass die Ernährungslage in norddeutschen Bürgerfamilien um 1870 nicht allzu
üppig war.
Die Fotos, die viele Jahre unbeachtet im Sekretär gelegen
hatten, zeigen meine Vorfahren: Menschen, die vor hundert und mehr Jahren im
Großherzogtum MecklenburgSchwerin gelebt haben. Da die Bilder zum Glück
beschriftet waren, konnte ich fast alle identifizieren. Zu den Ältesten gehören
meine Ururgroßeltern, geboren zwischen 182o und 183o, zu den Jüngsten meine
Großmütter, geboren 1888 und 1891. Auf Fotos der Jahrhundertwende sah ich sie
zum ersten Mal als junge Mädchen.
Je länger ich die Bilder betrachtete, desto neugieriger
wurde ich. Wer waren diese Menschen, was verbindet mich mit ihnen jenseits von
ein paar Linien auf der Ahnentafel? Von meinen Eltern wusste ich nur, dass die
Männer fast alle Pfarrer und Lehrer gewesen waren, die wiederum Pfarrers und
Lehrerstöchter geheiratet hatten. Wie hatte ihr Alltag ausgesehen, hatten sie
ihr Leben genossen oder eher ertragen? Worauf richteten sich ihre Wünsche,
Hoffnungen, Ängste? Wie waren sie mit Schicksalsschlägen umgegangen?
Es gibt ein Foto, bei dem mir die Antwort besonders am
Herzen liegt. 1899 aufgenommen, zeigt es meine Urgroßeltern Anna und Karl
Lembcke mit ihren Kindern: fünf Töchtern und einem Sohn. Das kleine Mädchen im
weißen Musselinkleid vorn rechts ist meine Großmutter Hermine, die Mutter
meines Vaters. Sie ist von allen Mitgliedern ihrer Familie die Einzige, die ich
noch kennengelernt habe.
Auf späteren Bildern fällt auf, dass die Frauen darauf meist
schwarz gekleidet sind. Es fällt auch auf, dass von Maria und Hedwig, den
beiden älteren Schwestern meiner Großmutter, nur Jugendbilder existieren. Eines
der letzten zeigt Maria, die Ältere, sie blickt mit wachsamem, leicht
irritiertem Blick von einem aufzeschlagenen Buch hoch, einen gezückten Stift in
der Hand.
In dem Sekretär meiner Eltern fand ich auch einige
Doku.ente, darunter einen unscheinbaren, mit Maschine getippten Zettel; eine
Abschrift aus dem nicht erhaltenen Stammbuch :er Familie Lembcke. Zum ersten Mal
las ich darauf, schwarz auf eiß und in dürren Stichworten, von der Tragödie,
die sich vor IL_'er hundert Jahren ereignet hat und die meine Großmutter und 7e
Familie lebenslang gezeichnet haben muss.
Maria Lembcke, 1887 bis 1902. Todesursache: Selbstmord
Nervenzusammenbruch.
Hedwig Lembcke, 1888 bis 191o. Todesursache: Selbstmord
Nervenzusammenbruch.
VON EINER »NEIGUNG
ZU DEPRESSION« IST DIE
REDE. ALS WÜRDE DAS
ALLES ERKLÄREN
Wenn ich sage, dass ich von dieser Tragödie erst aus den
Familiendokumenten erfuhr, dann stimmt das nicht ganz. Aber es ist auch nicht
ganz falsch. Vor vielen Jahren saß ich als Kind in einer Runde mit Verwandten,
wir betrachteten alte Fotoalben, und irgendwann fiel der Satz: Die sind in den
See gegangen. Der Satz klingt in meiner Erinnerung halblaut, fast beiläufig;
ich weiß nicht mehr, wer ihn aussprach, und ich fragte auch nicht genauer
nach die Gesichter und Namen der
Menschen, von denen die Rede war, sagten mir damals nichts. Meine Großmutter Hermine
starb, bevor ich alt genug war, mich für ihre Vergangenheit zu interessieren.
Wenn ich später mit meinen Eltern über sie und ihre Familie sprach, fielen
Ausdrücke wie „Neigung zu Depression", „familiär bedingt" und
„endogen"; das klang klinischdistanziert, als habe es sich bei den Suiziden
um organisch bedingte Störfälle gehandelt
ohne nennenswerte äußere Ursachen, ohne Bezug zu unserer eigenen
Familiengeschichte.
Mein Vater erwähnt das Schicksal seiner beiden Tanten
immerhin in seinen Lebenserinnerungen, die er noch im hohen Alter verfasst hat,
aber er schreibt nichts Näheres zu möglichen Motiven ihres Todes. Mit seiner
Mutter, schreibt er, habe er nie über die Tragödie gesprochen. Es sei, auf
beiden Seiten, immer eine Scheu gewesen, über Grundsätzliches zu reden, über
die Vergangenheit, über Religions und Lebensfragen über Gefühle überhaupt.
W
arum nur wollten meine Großtanten nicht mehr leben? Was
trieb sie zur Verzweiflung, und welche Erschütterungen, womöglich Generationen
übergreifende Verletzungen hat ihr Tod ausgelöst? Ich habe bis heute keine
direkte Antwort auf diese Fragen gefunden, und, um es gleich vorab zu sagen:
Sie werden auch in dieser Geschichte offenbleiben. Denn alle Zeitzeugen sind
tot, ebenso fast alle ihrer direkten Nachkommen.
Es ist, einerseits, schmerzlich, zu spät zu kommen. Aber es
hat auch seine Vorteile. Meine Fragen können bei niemandem mehr alte Wunden
aufreißen. Und ich selbst habe so viel Abstand zu meinen Vorfahren, zeitlich
wie emotional, dass ich mich ihnen unbefangen nähern kann mit der Haltung einer Forscherin, die ihren
Gegenstand mit Neugierde und Empathie, aber auch wissenschaftlicher Distanz
betrachtet.
Zwar fehlen aufschlussreiche Dokumente aus meiner Familie.
Aber es gibt, zum Glück, noch andere Methoden der Annäherung an die
Vergangenheit. Historiker befassen sich nicht nur mit einzelnen Biografien und
konkreten Ereignissen. Sie fragen
SCHAM: EIN GEFÜHL,
DAS VERNICHTEND SEIN
KONNTE. FÜR EIN MÄDCHEN
AUS GUTEM HAUSE
danach, wie sich aus der Summe vieler einzelner Erfahrungen
so etwas wie eine Mentalität, ein „Lebensgefühl" ergibt. Eine neue
Teildisziplin der Geschichtswissenschaften tut dies besonders konsequent. Die
Geschichte der Gefühle versucht herauszufinden, was Menschen zu allen Zeiten
und überall auf der Welt umtreibt, wie viel von dem, was wir sind und
empfinden, in unserer Natur liegt und
was auf verborgene, zum Teil auch noch unerforschte kulturelle Prägungen
zurückgeht.
ass Historiker sich für Gefühle interessieren, überraschte
mich zunächst. Gefühle gehörten in meiner Vorstellung bislang zu den Dingen,
die
außerhalb der Geschichte stehen; die Teil der menschlichen
„Grundausstattung" sind wie Sprache und aufrechter Gang. Dass Liebe eine
„Himmelsmacht" ist und ein Zornesausbruch von „biblischer Kraft":
Solche Redensarten habe ich immer auch als Ausdruck eines common sense
empfunden; der Überzeugung, dass Gefiihle eine Art Weltsprache sind, die über
alle Zeiten und Kulturen hinweg gleich geäußert und verstanden wird.
Diese Überzeugung, so erfuhr ich, ziehen Historiker
zusehends in Zweifel. Sie stützen sich dabei auf Quellen, in denen Menschen
verschiedener Epochen Gefühle beschreiben, eigene wie fremde, und diese deuten
und bewerten. Solche Quellen gibt es reichlich. Menschen äußern Empfindungen
nicht nur in privaten Tagebüchern und Briefen, sondern auch öffentlich. Gefühle
sind Thema in Gesellschaftsromanen und Gedichten, sie dringen durch die
förmlichen Zeilen diplomatischer Korrespondenz, und sie werden, demonstrativ
geäußert, sogar zum Instrument der Politik: Die Tränen von König Heinrich IV.
beim Gang nach Canossa erregten bei Zeitgenossen ebensolches Aufsehen wie der
Wutausbruch Napoleons nach verlorenem Russlandfeldzug.
Wer die „Sprache der Gefühle" über Jahrhunderte
verfolgt, stellt fest, dass sie sich verändert und entwickelt wie gesprochene Sprache auch. Manche Gefühle
erleben Konjunkturen, werden zu bestimmten Zeiten besonders intensiv geäußert
und verlieren dann wieder an Bedeutung.
Als meine Großmütter und tanten jung waren, schämten die
Menschen sich anders. Besonders die Frauen. Eine milde Ermahnung, der Gruß
eines Fremden auf der Straße, die Erwähnung eines Tabuworts wie „Hose":
Schon liefen sie bin= an oder sanken gar bewusstlos nieder. Durch die Literatur
r 18. und 19. Jahrhunderts zieht sich eine Welle von Ohnmacr anfällen; selbst
Kinderbücher sind voll von bildhaften Bescr.: bungen weiblichen Schämens.
Kommentare von Zeitgenos,, vor allem
männlichen, lassen erkennen, dass solches Verha.: nicht nur als völlig normal,
sondern als geboten galt: Scharr: _:tigkeit wurde mit weiblicher Ehre und Integrität
gleichgestihr Fehlen als abstoßend, ja unnatürlich empfunden.
Als meine Großmütter und tanten jung waren, traue:7f die Menschen anders. Im Europa des 19.
Jahrhunderts va::: der Schmerz über den Verlust eines na:stehenden Menschen
besonders expres bekundet nicht nur im
Vergleich zu sondern auch zu früheren Zeiten. Nie zu legten Menschen so
konsequent und a _ dauernd schwarze Kleidung an, selbst entfernte Verwandte,
nie zuvor demonst: ten sie ihre
Verbundenheit mit Verstorber.: auf so direkte, geradezu körperliche We: etwa
mit Armbändern und Halsketten
den geflochtenen Haaren nahesteher, z
Toter, mit PostmortemFotografien, auf denen Verstorbene kurz
vor ihrer Beisetr.2 aufrecht und angekleidet „wie im Lebe:präsentiert wurden.
Die Historikern Isabd Richter hat solche Traueraccessoires in 1rem Buch „Der
phantasierte Tod" beschrieben und
zugleich ihre Vergänglichkeit dokumentiert: Schon um die Wende zmm 20.
Jahrhundert, sagte sie mir, sei Trauer diskreter, distanzierter geworden.
Heute ist sie, wie die Scham, aus dem öffentlichen sozialen
Umgang weitgehend verschwunden; expressives Trauern wirn. außerhalb
festgelegter Rituale, häufig als verstörend wahrgenommen.
MEINE GROSSMUTTER HERMINE war das, was man eine
„Bilderbuchoma" nennt. Sie war bald nach dem Krieg aus Meälenburg
fortgezogen, um bei meinen Eltern zu leben, genau gesagt: für sie zu leben. Sie
half meiner Mutter im Haushalt und kümmerte sich um mich. Backte mit mir
Plätzchen, sang 1Eid" in den Schlaf, erlaubte mir, den ungeliebten Kindergarten
na schwänzen, wenn meine Eltern verreist waren. Sie war fiirsorglich,
liebevoll, unendlich geduldig. Aber sie war auch traurig, eine stille Art, die
ich als Kind kaum registrierte. Sie weinte klagte nie. Sie sank nur von Zeit zu
Zeit in sich zusammen, lisch wie körperlich. Mit den Jahren wurde sie immer k
„Geh gerade, Mutti!", ermahnten sie meine Eltern. Dann tete sie sich
gehorsam kurz auf, ließ aber bald wieder Kopf und Schultern hängen.
Großmutter starb bei einem Verkehrsunfall, als ich zehn
Jahre alt war. Zur Beerdigung durfte ich nicht mit. „Das ist nichts für
Kinder", sagten meine Eltern.
ie erklären Historiker die Stimmungsschwankungen im Laufe
der Epochen? Wurden Trauer und Scham vor 5o, loo oder 200 Jahren nur anders
geäußert als heute oder fühlten sie sich
anders an? Inwieweit lebte meine Großmutter, lebten meine ferneren Vorfahren in
anderen Gefühlswelten als ich?
Solchen Fragen geht Ute Frevert nach, Direktorin am
MaxPlanckInstitut für Bildungsforschung in Berlin. Schwerpunkt ihrer Forschung
ist die Neuere Geschichte ab dem 18. Jahrhundert, und das ist kein Zufall: Die
Epoche, in der meine Groß und Urgroßeltern aufwuchsen, ist ein Goldenes
Zeitalter für Emotionshistoriker. Nie zuvor haben Menschen so ausgiebig über
Gefühle nachgedacht, geschrieben und auch gestritten wie damals.
Die neue Leidenschaft fürs Fühlen, erklärte mir Ute Frevert,
habe mit der Aufklärung begonnen. Es waren Philosophen wie Kant, Herder und
Rousseau, später auch Naturwissenschaftler wie Charles Darwin, die Gefühle als
Forschungsgegenstand entdeckten und
zugleich dafür sorgten, dass sie in neuer Weise wertgeschätzt wurden.
„Sich fühlen und rühren lassen gehörte ab dem 18.
Jahrhundert zum guten bürgerlichen Ton", schreibt Ute Frevert in einem
Sammelband zum Thema Gefühlswissen; Emotionen zu haben und auch zu zeigen,
gehörte „zum Kennzeichen eines gebildeten, zivilisierten Menschen". Wobei
es nicht irgendwelche Gefühle waren, die solche Menschen an den Tag legen
durften: Es mussten schon die richtigen sein. Denn die Denker der Aufklärung
waren Großmeister des Einteilens und Bewertens, sie liebten klare Grenzen und
Hierarchien. Scharf unterschieden sie zwischen hohen und niederen, inneren und
äußeren, echten und vorgetäuschten Empfindungen. Besonderes Augenmerk legten
sie auf die Trennung männlicher und
DÜRFEN FRAUEN FÜHLEN,
UND WENN JA, WAS?
EIN GELEHRTENSTREIT,
DER BÄNDE FÜLLT
weiblicher Gefühlswelten: Niemals zuvor wurden beide so
konsequent als verschieden, ja gegensätzlich definiert.
Männer seien „Repräsentanten des Gesetzes, der Pflicht, der
Ehre und des Gedankens", heißt es im Brockhaus ConversationsLexicon von
1852, Frauen dagegen solche „der Liebe, der Scham, des unmittelbaren
Gefühls". Solche Unterscheidungen blieben bis ins 20. Jahrhundert Konsens:
Noch 1908 schreibt Meyers KonversationsLexikon unter dem Stichwort „Emotivität
des Weibes", dass diese auf die „durch Jahrhunderte gepflegte
Abhängigkeit" und seine „Beschränkung auf die sexuelle Aufgabe"
zurückzuführen sei.
Für Ute Frevert sind solche Lexikoneinträge höchst aufschlussreich.
„Denn sie zeigen, dass Gefühle nicht nur in Gelehrtenzirkeln diskutiert wurden.
Sondern dass die Ideen und Thesen dazu Eingang ins Allgemeinwissen
fanden." Die emotionale Bildungsoffensive schlug sich nicht nur in Lexika
nieder, sondern auch in Ratgebern, Benimmbüchern und Jugendromanen. Und wenn es
eine Schicht gab, die all das besonders eifrig aufnahm, dann war es das
protestantische Bildungsbürgertum, dem auch meine Vorfahren angehörten.
MEIN URGROSSVATER Karl Lembcke leitete die „Blindenanstalt"
in der mecklenburgischen Kleinstadt Neukloster. Mein Vater, der als Kind in
seinem Haus aufwuchs, berichtete, dass sein Großvater abends häufig lange wach
lag, las und grübelte. Dabei kam es vor, dass ihm ein Name oder Begriff, über
den er nachdachte, nicht einfiel. Das regte ihn so auf, dass er häufig eine
seiner Töchter aus dem Bett holte und sie in die Anstaltsbibliothek
hinüberschickte, um das Gesuchte nachzuschlagen. Seine Mutter habe diese
nächtlichen Missionen nicht geliebt, erzählte mein Vater, aber sie hätten
womöglich dazu beigetragen, die Begeisterung fürs Lesen in der Familie zu
halten.
Zu den Büchern, die Karl Lembckes Töchter ganz sicher
gelesen haben, gehört „Der deutschen Jungfrau Wesen und Wirken",
erschienen 1872 in der ersten von insgesamt 14 Auflagen. Der Ratgeber der
Autorin Caroline Milde war bis ins 20. Jahrhundert hinein ein Bestseller vermutlich, weil er sich eng an der
Lebenswirklichkeit junger Frauen und Mädchen orientierte.
Ich habe daraus bemerkenswerte Details über den Alltag
meiner Groß und Urgroßmütter gelernt. Wie sie Fußböden reinigten (durch
tägliches Auswaschen mit Buttermilch), Weißwäsche bleichten (vorzugsweise bei
Vollmondlicht) und ranzige Butter wieder genießbar machten (durch Zusatz von
kohlensaurer Soda). Ich erfuhr, wie sie ihre Körper kultivierten und
präsentierten: Beim Gehen die Fußspitzen auswärts aufsetzen! Kein Knicks ohne
Lächeln! Sommersprossen mit Hufelandschem Schönheitswasser vorbeugen!
Vor allem aber lernte ich, welche Gefühle von ihnen erwartet
wurden. Denn diese zu formen und zu erziehen, war Caroline Mildes wichtigstes
Anliegen. Geduld, Neugierde, Stolz, Liebe, Zufriedenheit jeder Empfindung widmet die Autorin ein
eigenes Kapitel. Wobei sie keinen Zweifel daran lässt, dass es ihr nicht um Selbsterkundung
geht. Sondern darum, die inneren Regungen so zu gestalten, dass sie dem
Idealbild „weiblicher Emotivität" entsprechen. Das erfordert, versteht
sich, rigorose Selbstdisziplin. Neid, Eigensucht, ebenso übermäßige
Wissbegierde sind in jeder Lebenslage tabu. Aber auch positive Empfindungen
bedürfen der Formung und Kontrolle.
Offenheit: Wie leicht artet sie in Rauheit aus!
Ordnungsliebe: Wie fließend ist die Grenze zur Eitelkeit! Mitgefühl: Wie nahe
liegt die Gefahr krankhafter Sentimentalität! Selbst das höchste der Gefühle,
die Liebe, ist nur mit Vorsicht zu genießen, findet Frau Milde. Denn die ihrem
Geschlecht einzig angemessene Form dieses Gefiihls sei die Selbstaufgabe: „Das
Weib soll sich nicht selber angehören, es lebt nur durch Andere, in Anderen,
für Andere!"
W
ie mögen Frau Mildes Ratschläge auf Großmutter und ihre
Schwestern gewirkt haben? Sie konnten sie, fürchte ich, nicht bloß
unverbindlich zur Kenntnis nehmen dazu
stimmten sie zu sehr überein mit den Erwartungen, Konventionen und Tabus, die
ihnen von klein auf in Familie und Schule vermittelt wurden. Wie mag dieses
„Gefühlsregime", wie Wissenschaftler es nennen, ihre Persönlichkeit, ihr
angeborenes Temperament geprägt haben? Lassen sich Empfindungen wie Neugierde,
Liebe oder Jähzorn überhaupt wirkungsvoll zurechtstutzen oder gar
unterdrücken oder ist diese
Selbstdressur auf Dauer schädlich, kann sie zu seelischen Verletzungen führen,
die, wie bei meinen Großtanten, schlimmstenfalls tödlich sind?
Die Frage berührt nicht nur meine Familiengeschichte, sie
führt auch zum Ausgangspunkt aller Gefühlsforschung. Wie weit sich Gefühle
formen oder auch deformieren lassen; ob sie einen Kern besitzen, der über alle
Zeit und Kulturgrenzen hinweg konstant bleibt: Das versuchen Wissenschaftler
vieler Fachrichtungen herauszufinden.
Den aktuellen Stand der Diskussion und ihre lange, konfliktreiche
Geschichte hat der Historiker Jan
Plamper zusammengefasst, der zurzeit am Londoner Goldsmiths College lehrt. „Geschichte
und Gefühl" heißt sein 2012 erschienenes Buch, und ich gestehe, dass ich
über der Lektüre meine Großmütter, tanten und anderen Vorfahren zeitweise fast
aus den Augen ver
loren habe. Denn das Buch liest sich über weite Strecken wie
ev Expeditionsbericht. Plamper hat zwei Forschungsgebiete erkun det, die aus
Sicht seines eigenen relativ entlegen sind: Ethnologit und Neurowissenschaften.
Zurzeit sind es vor allem die Nachrichten aus den Labore der
Hirnforscher und experimentellen Psychologen, die bestirr men, wie Emotionen
gedeutet und diskutiert werden unter Ex
perten, aber auch in der Öffentlichkeit. Neurowissenschaftle forschen vor allem
nach der Natur der Gefühle, und eine Zeit lang schien es, als seien sie ihr
dicht auf der Spur. Seit Mitte de 198oer Jahre erlauben bildgebende Verfahren,
wie etwa die Ma gnetresonanztomografie, Einblicke ins aktive, fühlende Gehirr
So können Forscher zumindest in Ansätzen verfolgen, was in de Köpfen von
Versuchspersonen vor sich geht, die etwa vor eine Schlange erschrecken,
diffizile ethische Ent scheidungen treffen oder nahestehend Menschen leiden
sehen. Solche Experiment legten und
legen den Schluss nahe, das es
„basale" Affekte gibt, die von der Evoli: tion geprägt sind und zur
emotionale Grundausstattung jedes Menschen gehöre: unabhängig von seiner
Kultur.
Doch die exakte Definition dieser ba salen Emotionen steht
noch aus; bis heut lässt sich nicht eindeutig feststellen, wo di Grenze
zwischen „natürlichen" und „geien ten" Empfindungen verläuft. Und
imme mehr Wissenschaftler, auch Neurobiologer zweifeln mittlerweile daran, ob
sie sich j wird finden lassen und ob die
Suche da nach überhaupt sinnvoll ist.
Denn je präziser die technischen Vei fahren zur Erkundung
des Gehirns werdes desto deutlicher zeigt sich auch: Uns Denkorgan ist ungleich
komplexer uni vernetzter als lange angenommen. Es g: keine klar abgrenzbaren
Hirnareale, die a _ schließlich für bestimmte Gefühle „zust:_dig"
sind wie etwa Angst, Freude, Trauer oder
Liebe. Se.7 Begriffe wie „Fühlen" und „Denken" sind irreführend es £: keine mentale Tätigkeit, die separat von
allen anderen st2 findet. Dass man Emotionen „außen vor lassen", ein
Probt, „rein rational" angehen kann, ist eine Fiktion, ein überhc_.1:
Denkmuster aus der Zeit der Aufklärung.
TRAUER, FREUDE,
LIEBE: WAS WIR WIE
EMPFINDEN, BESTIMMT
AUCH UNSERE KULTUR
Emotionen lassen sich zudem nicht im Ruhezustand, wie unter
der Lupe betrachten. „Sobald man Gefühle artikuliert oder auch nur bewusst
registriert, verändern sie sich und zwar
auf unvorhersehbare Weise", sagt Plamper. Das Aussprechen des Satzes „Ich
bin traurig" kann das Gefühl, das ihm zugrunde liegt, fassbar,
überschaubar machen und dadurch lindern
und abschwächen. Es kann aber auch das Gegenteil bewirken: einer bis Jahin nur
latent vorhandenen Stimmung Raum verschaffen und sie dadurch verstärken.
Wie man ein Gefühl durch beständiges „Praktizieren" bis
zur Obsession steigern kann, haben, auf drastische Weise, die Frauen des 19.
Jahrhunderts gezeigt: Ständiges Erröten und Da:insinken war so sehr Teil ihres
Verhaltensrepertoires geworden, _ass zeitgenössische Gelehrte wie etwa Charles
Darwin darin eine natürliche, von der Evolution geprägte Reiktion sahen.
Was passiert nun, wenn man ein Gefühl, wie etwa Trauer oder
Wut, verschweigt und ta:uisiert? Das emotionale Alltagswissen besagt, :ass dies
ungesund sein muss: Weil verdrängte efühle inneren Druck erzeugen, der sich
irzendwann Luft machen muss. Dieses Wissen :_:findet freilich nicht auf
moderner Forschung.
adern auf einem Modell der menschlichen 3eele, das aus dem
19. Jahrhundert stammt. 'ach der Lehre Sigmund Freuds sind Gefühle :.namische
Kräfte, die wie unterirdische Quel
beständig an die Oberfläche drängen; wer:en sie
zurückgehalten, führt dies zwangsläufig
Triebstaus und in der Folge zu Neurosen.
Dieses „hydraulische Modell", wie Emo.. nshistoriker es
etwas despektierlich nennen, nicht grundsätzlich falsch. Aber es ist eben ein
Modell, kein exaktes Abbild natürlicher gänge. Es „funktioniert" vor
allem, wenn in daran glaubt. In anderen Kulturen herrsch:: und herrschen bis heute allerdings völlig andere Vorstel__gen über
die „Natur" der Gefühle. Und auch sie beeinflussen, s und wie Menschen
tatsächlich empfinden, auf eine Weise, ze für Zugereiste verblüffend, aber auch
verstörend sein kann.
anchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn mich eine Zeitmaschine
ins Neukloster des ausgehenden 19. Jahrhunderts versetzte. In den Garten der
Blindenanstalt, wo sich die Familie, wie mein Vater berichtete, an Sonn
::.achmittagen oft zu ausgedehnten Kaffeerunden traf. Wie ich mich in eine
solche Runde einfügen? Würde ich mich hörig fühlen? Oder ginge es mir wie der
amerikanischen Dlogin Jean Briggs? e
war eine der Ersten, die das Gefühlsleben von Men7.. einer anderen Kultur
systematisch erkundete. Ab 1963 ver.,:e sie 17 Monate bei den Utku, Fischern
und Karibujägern,
HALTUNG BEWAHREN.
BIS VERZWEIFLUNG UND
ZORN IRGENDWANN
STILL GEWORDEN SIND
die damals noch in der Eiswüste Nordkanadas lebten. Bald
bemerkte die Forscherin, die als „Adoptivtochter" bei einer Gastfamilie
lebte, dass die Utku nie in Wut gerieten. Zwar war ihnen das Gefühl nicht
unbekannt, sie gestanden es aber nur kleinen Kindern zu. Deren Zornesausbrüche
nahmen sie mit großer Gelassenheit und ohne jede pädagogische Intervention
hin weil, so ihre Überzeugung, jedem
Menschen früher oder später die Fähigkeit zuwachse, Emotionen zu kontrollieren.
Umso befremdeter registrierten sie, dass ihrem Gast diese
Gabe offenbar abging. Kälte und Sprachprobleme trieben der Forscherin oft die
Tränen in die Augen, das autoritäre Gehabe ihres Gastvaters ärgerte sie, und
manchmal entfuhr ihr ein Fluch, wenn eine Ladung Schneematsch aus der
IgluKuppel auf ihrer Schreibmaschine landete. Die Utku reagierten scheinbar
gelassen auf Briggs' Ausbrüche. Aber sie wandten sich zusehends von ihr ab.
Nach wenigen Monaten fand sich die Forscherin in der Rolle einer Außenseiterin
wieder. All ihre Empathie und ihre Bereitschaft zur Anpassung hatten nicht
gereicht, Teil der emotionalen Gemeinschaft zu werden.
Die Geschichte der Ethnologie ist reich an solchen
Berichten. Forscher erzählen von MaoriKriegern, die ihre Angst vor der Schlacht
vertreiben, indem sie unter den gespreizten Beinen einer Frau durchkriechen.
Sie berichten von indonesischen Kopfjägern, die ihre Melancholie nur durch
gelegentliches Abtrennen eines Feindeshaupts lindern konnten. Von tahitischen
Begräbnissen, bei denen Weinen plötzlich in ausgelassenes Feiern umschlägt.
Manche dieser Berichte werfen die Frage auf, ob Empathie womöglich eine
Fähigkeit mit begrenzter Reichweite ist. Ob wir wirklich nachempfinden können, was
Menschen anderer Zeiten und Kulturen umtreibt.
Meine Großmutter Hermine, so viel ist sicher, hätte sich bei
den Utku mustergültig eingefügt von den
äußeren Lebensbedingungen einmal abgesehen. Ich habe sie niemals wütend oder
auch nur schroff erlebt. Sie war, in jeder Hinsicht, das vollendete Produkt
wilhelminischer Mädchenbildung: sanft, zartfühlend, rücksichtsvoll, fleißig,
selbstvergessen. Caroline Milde hätte ihre Freude an ihr gehabt.
Aber vielleicht ist sie gerade deswegen in der Zeit nach
1945 nie so richtig heimisch geworden. Ihr fehlten die Wesenszüge, die im
Alltag des ausgehenden 20. Jahrhunderts gefragt waren und es bis heute sind:
Selbstbewusstsein, Durchsetzungskraft, Flexibilität, Neugierde. Sie hasste
Veränderungen und Überraschungen, suchte keine Bekanntschaften außerhalb des
Familienkreises und kochte am liebsten nach Rezepten aus der Vorkriegszeit. Den
Umgang mit technischem Gerät, einschließlich des Telefons, empfand sie
zeitlebens als Zumutung. Wenn es um sie herum zu laut und hektisch wurde, legte
sie die Hände neben die Augen, als wollte sie die Welt um sich herum
ausblenden.
Vielleicht war diese Fremdheit ein Grund, weshalb sie
gelegentlich in sich versank. Aber vermutlich hatte ihre Traurigkeit tiefere
Wurzeln, die bis in ihre Kindheit zurückreichten.
ine Cousine schickte mir vor einiger Zeit ein Büchlein, das
sie in einem Lübecker Antiquariat entdeckt hatte. „Herzklostersee" heißt
es, eine Novelle, erschienen 1923 in einer Auflage von 1050 Exemplaren. Sie
schildert eine tragische Liebesgeschichte, die entfernt an „Frühlings
Erwachen" erinnert, Frank Wedekinds berühmtes, 1906 uraufgeführtes
Jugenddrama. Der Autor Otto Anthes, Pastorensohn und studierter Theologe,
unterrichtete ab 1903 an einem Lübecker Mädchengymnasium. Und er muss, wie sein
Buch zeigt, sowohl Neukloster als auch meine Urgroßeltern recht gut gekannt
haben.
„Herzklostersee" ist ein fiktives Werk, aber es ist
mehr als nur inspiriert von der Wirklichkeit. Der See, der „herzförmig die
Halbinsel umschloss", das Städtchen, das ein ehemaliges Nonnenkloster
sowie ein Lehrerseminar beherbergt es
gibt nur einen Ort in Norddeutschland, auf den diese Beschreibung zutrifft. Der
Seminardirektor, „ein Mann von strenger Kirchenfrömmigkeit", unnahbar,
wortkarg das muss mein Urgroßvater Karl
Lembcke sein. Zwar hat er in der Novelle nur drei Töchter; meine Großmutter und
ihre beiden jüngeren Geschwister hat Otto Anthes weggelassen. Doch was mit
zweien der älteren passiert ist, musste er sich, leider, nicht ausdenken.
„Ein Hütejunge sah es mit an, wie Hilda Raspe in den See
ging" so beginnt die Geschichte.
Kurze Zeit später nimmt sich auch die zweite Tochter der Familie das Leben,
ebenfalls aus Scham über die heimliche Liebe zu ihrem verheirateten
Musiklehrer. Dieses Motiv wird nur angedeutet, wie überhaupt in dieser
Geschichte vieles nur halb ausgesprochen oder in vielsagende Beschreibungen
verpackt wird: Da rauschen Obstbäume „wie von Fruchtbarkeit", eine „zarte
stolze Rundung" bilden die Hügel an der Halbinsel, eine „weiche, schwellende
Brust" ruht Momente lang in unbefugter Hand, und am Ende ver
GEFÜHLE ÄUSSERN?
NUR IN WOHLGESETZTEN
WORTEN. IM ZWEIFEL
LIEBER GAR NICHT
schwimmt die Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit
Abendnebel über dem See.
Mir ist die Lektüre der Novelle trotzdem nahegegangen.
schreibt, immerhin, ein Zeitgenosse; einer, der ehrlich versus:
nachzuempfinden, was er gelesen oder von nahestehender Se gehört hat. Zum
ersten Mal hatte ich Eindruck, ein Echo der Gefühle wahr__ nehmen, die meine
Verwandten damals bewegten. Die Verwirrung und unaussprechliche Scham, die
meine jungen Großtanten zur Verzweiflung trieben. Den wütenden Schmerz und das
hilflose, lähmende Entsetzen, in das ihr Tod meine Urgroßeltern stürzte.
Warum haben alle, die das miterlebten.. so lange geschwiegen?
Und warum habe ich nicht viel früher angefangen, nachzufragen?
IN DEN 1970ER JAHREN, als Neukloster noch in der DDR lag,
fuhren meine Eltern und ich regelmäßig zu Verwandtenbesuchen „nach
drüben". Wir wohnten bei einem Vetter meines Vaters, der mit seiner
Familie ir. einem Nebengebäude der ehemaligen Blindenanstalt lebte, und gingen
täglich am See spazieren, der nur wenige Schritte von der_ mächtigen
wilhelminischen Backsteinbauten entfernt lag. Aber über das, was sich dort eine
Generation zuvor ereignet hatte, sprachen wir nie. Der Suizid meiner beiden
Großtanten war noch weniger als ein Familiengeheimnis er war schlichtweg kein Thema.
Die USamerikanische Historikerin Barbara Rosenwein prägte um
2000 den Begriff der „emotionalen Gemeinschaft'. Er bezeichnet eine Gruppe von
Menschen, die einander durch bestimmte Annahmen und Urteile über Gefühle
verbunden sind darüber, wie diese zu
empfinden, zu bewerten, und vor allem, wie sie auszudrücken sind. Solche Gemeinschaften
gründen sich auf familiäre und soziale Bande, aber auch auf politische oder
religiöse Überzeugungen.
Als eine solche „emotional community" bezeichnen
Historiker die lutherischen Protestanten, zu denen auch meine Vorfahren
gehörten, einschließlich meiner Eltern.
Die Mitglieder dieser Gemeinschaft eint nicht nur das
Bekenntnis zur Glaubenslehre Martin Luthers. Sie müssen, um
diesen Glauben ernsthaft praktizieren zu können, auch
„protestantisch fühlen lernen" so
der Titel eines Aufsatzes von Monique Scheer. Denn vom richtigen Gefühl, schreibt
die Historikerin, hängt nach protestantischer Lehre nicht weniger als das
Seelenheil ab: Nur durch vorbehaltlose, innige Liebe zu Gott kann der Gläubige
dessen Gnade erlangen nicht, wie in der
katholischen Kirche, durch bloße Teilnahme an äußeren Ritualen.
Ein Protestant muss daher beständig sein Inneres erforschen.
Ist meine Liebe zu Gott stark und aufrichtig genug? Sind meine Gebete
ernsthaft, vom richtigen Geist erfüllt? Liebe ich auch meine nächsten
Mitmenschen mit der nötigen Hingabe? Die Erziehung zur Gefühlskontrolle, so
Scheer, präge die Selbstund Weltwahrnehmung; sie führe auch zu einem tiefen
Misstrauen gegen alles Körperliche, Äußerliche.
Dieses Misstrauen bestimmt nicht nur die Glaubenspraxis
vieler Protestanten. Es schlägt sich im Alltag nieder, in den
zwischenmenschlichen Umgangsformen, in der Kindererziehung. Und zwar auch bei
Menschen, die dem Glauben eher distanziert gegenüberstehen.
Halte dich zurück. Bekunde Gefühle jeder Art nur in
sorgfältig gefilterter Form, am besten in wohlgesetzten Worten. Im Zweifel
behalte und verarbeite sie lieber für
dich. Vor allem dann, wenn sie heftig, verwirrend oder verstörend sind.
So lautet eine der wichtigsten Regeln protestantischen
Fühlens. Sie steht nirgends so geschrieben. Aber sie ist mir von klein auf
vertraut, und ich habe sie wieder vor Augen, wenn ich „Herzklostersee"
lese. Otto Anthes mag ein Schwarmgeist und Fabulierer gewesen sein, aber er war
auch Pfarrerssohn und Theologe. Es ist kein Zufall, dass in seinem Buch so viel
geschwiegen wird; vielsagend und demonstrativ, aber auch ohnmächtig und
hilflos.
A uf einem der Fotos aus dem alten Sekretär fand ich das
einzige persönliche Zeugnis der Familientragödie, das mir geblieben ist.
Das Foto zeigt meine Urgroßmutter Anna im Oktober 1902, drei
Monate nach dem Suizid ihrer ersten Tochter. In tiefes Schwarz gekleidet,
schaut sie mit erloschenem Blick, aber gefasster Miene an der Kamera vorbei.
Die
SIE IST DER RUHEPOL
DER FAMILIE. WAS SIE IM
INNERSTEN BEWEGT,
BEHÄLT SIE FÜR SICH
Rückseite trägt eine Adresszeile, wie bei einer Postkarte;
darauf steht: „Meinem lieben Gatten". Daneben hat Anna Lembcke zwei leicht abgewandelte Zitate geschrieben, eines aus dem Römerbrief,
eines aus einem Gedicht von Friedrich Rückert. „Wir wissen aber, dass alles
Leid der Welt nicht wert ist der Herrlichkeit, die an uns soll offenbart
werden", lautet das Bibelzitat, und die Gedichtzeile ergänzt: „Wenn Gott
du wolltest Dank für jede Lust wohl sagen, du fändest gar nicht Zeit, noch über
Leid zu klagen."
Ich habe die Karte auf meinen Schreibtisch gestellt.
Manchmal betrachte ich sie und überlege, was meine Urgroßmutter mit ihren
Zeilen sagen wollte. Vielleicht waren sie der schüchterne Versuch, einen
Ehemann zu trösten, der in wortloser Trauer erstarrt war. Vielleicht drücken
sie ein schlichtes, starkes Gottvertrauen aus, das selbst ein solcher
Schicksalsschlag nicht dauerhaft erschüttern konnte. In jedem Fall aber sind
sie ein Dokument protestantischer Gefühlsdisziplin der Fähigkeit, übermächtige Emotionen in karge,
unverfängliche Sätze zu kleiden.
Für meine beiden Großtanten war diese Kultur der
Zurückhaltung verhängnisvoll, womöglich sogar mit schuld an ihrem Tod. Was
immer ihnen damals auf der Seele lag sie fanden keinen Weg, es zum Ausdruck zu
bringen.
Für meine Urgroßeltern dagegen war strikte Emotionskontrolle
womöglich eine Überlebenshilfe, der einzige Weg. mit dem Verlust ihrer beiden
Töchter umzugehen. Z::mindest gelang es ihnen, nach anßPri
Fassung zu bewahren. Von meinem Vater weiß ich, dass s:e
Neukloster wohnen blieben, am Ort des Geschehens, und dz:7: auch ihre
überlebenden Kinder großzogen.
In seinen Lebenserinnerungen beschreibt mein Vater seine
Großmutter als still und nachdenklich; sie sei „der ruhende Pol des
Hauses" gewesen. Auch sie habe die Angewohnheit gehabt, von Zeit zu Zeit
still in sich zu versinken, so wie später ihre Tochter. Sie saß oft lange
Nachmittage schweigend auf dem Sofa. Wenn man sie fragte, wie es ihr gehe,
sagte sie nur: „Ich besinne mich." Und versank dann wieder in ihren Gedanken.
Ich wüsste zu gern, was ihr dabei durch den Kopf ging. Und
ob sie vielleicht, beim Anblick ihres Enkelkindes, meines Vaters, ein paar
Momente lang glücklich war.
Aber das hat sie, als gute Protestantin, für sich behalten
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