Samstag, 20. Juni 2015

Eine Familien-Tragödie anno 1899


Eine Familien-Tragödie anno 1899

Author D.Selzer-McKenzie

Video: http://youtu.be/CC-zFrh5Ywg

Als ich vor einiger Zeit einen alten Sekretär aus dem Nachlass meiner Eltern ausräumte, lernte ich auf einen Schlag zwei Dutzend Menschen kennen. Menschen, die mir auf den ersten Blick sehr fremd vorkamen. Frauen mit ausladenden Röcken und üppigen DuttFrisuren, die scheu und ernst in die Kamera blickten. Männer mit Backenbart und Kneifer, die in Patriarchenpose inmitten korrekt gescheitelter Söhne posierten. Kleine Mädchen mit aufgerissenen Augen, deren erschreckend dünne Ärmchen darauf schließen ließen, dass die Ernährungslage in norddeutschen Bürgerfamilien um 1870 nicht allzu üppig war.

Die Fotos, die viele Jahre unbeachtet im Sekretär gelegen hatten, zeigen meine Vorfahren: Menschen, die vor hundert und mehr Jahren im Großherzogtum MecklenburgSchwerin gelebt haben. Da die Bilder zum Glück beschriftet waren, konnte ich fast alle identifizieren. Zu den Ältesten gehören meine Ururgroßeltern, geboren zwischen 182o und 183o, zu den Jüngsten meine Großmütter, geboren 1888 und 1891. Auf Fotos der Jahrhundertwende sah ich sie zum ersten Mal als junge Mädchen.

Je länger ich die Bilder betrachtete, desto neugieriger wurde ich. Wer waren diese Menschen, was verbindet mich mit ihnen jenseits von ein paar Linien auf der Ahnentafel? Von meinen Eltern wusste ich nur, dass die Männer fast alle Pfarrer und Lehrer gewesen waren, die wiederum Pfarrers und Lehrerstöchter geheiratet hatten. Wie hatte ihr Alltag ausgesehen, hatten sie ihr Leben genossen oder eher ertragen? Worauf richteten sich ihre Wünsche, Hoffnungen, Ängste? Wie waren sie mit Schicksalsschlägen umgegangen?

Es gibt ein Foto, bei dem mir die Antwort besonders am Herzen liegt. 1899 aufgenommen, zeigt es meine Urgroßeltern Anna und Karl Lembcke mit ihren Kindern: fünf Töchtern und einem Sohn. Das kleine Mädchen im weißen Musselinkleid vorn rechts ist meine Großmutter Hermine, die Mutter meines Vaters. Sie ist von allen Mitgliedern ihrer Familie die Einzige, die ich noch kennengelernt habe.

Auf späteren Bildern fällt auf, dass die Frauen darauf meist schwarz gekleidet sind. Es fällt auch auf, dass von Maria und Hedwig, den beiden älteren Schwestern meiner Großmutter, nur Jugendbilder existieren. Eines der letzten zeigt Maria, die Ältere, sie blickt mit wachsamem, leicht irritiertem Blick von einem aufzeschlagenen Buch hoch, einen gezückten Stift in der Hand.

In dem Sekretär meiner Eltern fand ich auch einige Doku.ente, darunter einen unscheinbaren, mit Maschine getippten Zettel; eine Abschrift aus dem  nicht erhaltenen  Stammbuch :er Familie Lembcke. Zum ersten Mal las ich darauf, schwarz auf eiß und in dürren Stichworten, von der Tragödie, die sich vor IL_'er hundert Jahren ereignet hat und die meine Großmutter und 7e Familie lebenslang gezeichnet haben muss.

Maria Lembcke, 1887 bis 1902. Todesursache: Selbstmord Nervenzusammenbruch.

Hedwig Lembcke, 1888 bis 191o. Todesursache: Selbstmord Nervenzusammenbruch.

 

VON EINER »NEIGUNG

ZU DEPRESSION« IST DIE

REDE. ALS WÜRDE DAS

ALLES ERKLÄREN

Wenn ich sage, dass ich von dieser Tragödie erst aus den Familiendokumenten erfuhr, dann stimmt das nicht ganz. Aber es ist auch nicht ganz falsch. Vor vielen Jahren saß ich als Kind in einer Runde mit Verwandten, wir betrachteten alte Fotoalben, und irgendwann fiel der Satz: Die sind in den See gegangen. Der Satz klingt in meiner Erinnerung halblaut, fast beiläufig; ich weiß nicht mehr, wer ihn aussprach, und ich fragte auch nicht genauer nach  die Gesichter und Namen der Menschen, von denen die Rede war, sagten mir damals nichts. Meine Großmutter Hermine starb, bevor ich alt genug war, mich für ihre Vergangenheit zu interessieren. Wenn ich später mit meinen Eltern über sie und ihre Familie sprach, fielen Ausdrücke wie „Neigung zu Depression", „familiär bedingt" und „endogen"; das klang klinischdistanziert, als habe es sich bei den Suiziden um organisch bedingte Störfälle gehandelt  ohne nennenswerte äußere Ursachen, ohne Bezug zu unserer eigenen Familiengeschichte.

Mein Vater erwähnt das Schicksal seiner beiden Tanten immerhin in seinen Lebenserinnerungen, die er noch im hohen Alter verfasst hat, aber er schreibt nichts Näheres zu möglichen Motiven ihres Todes. Mit seiner Mutter, schreibt er, habe er nie über die Tragödie gesprochen. Es sei, auf beiden Seiten, immer eine Scheu gewesen, über Grundsätzliches zu reden, über die Vergangenheit, über Religions und Lebensfragen  über Gefühle überhaupt.

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arum nur wollten meine Großtanten nicht mehr leben? Was trieb sie zur Verzweiflung, und welche Erschütterungen, womöglich Generationen übergreifende Verletzungen hat ihr Tod ausgelöst? Ich habe bis heute keine direkte Antwort auf diese Fragen gefunden, und, um es gleich vorab zu sagen: Sie werden auch in dieser Geschichte offenbleiben. Denn alle Zeitzeugen sind tot, ebenso fast alle ihrer direkten Nachkommen.

Es ist, einerseits, schmerzlich, zu spät zu kommen. Aber es hat auch seine Vorteile. Meine Fragen können bei niemandem mehr alte Wunden aufreißen. Und ich selbst habe so viel Abstand zu meinen Vorfahren, zeitlich wie emotional, dass ich mich ihnen unbefangen nähern kann  mit der Haltung einer Forscherin, die ihren Gegenstand mit Neugierde und Empathie, aber auch wissenschaftlicher Distanz betrachtet.

Zwar fehlen aufschlussreiche Dokumente aus meiner Familie. Aber es gibt, zum Glück, noch andere Methoden der Annäherung an die Vergangenheit. Historiker befassen sich nicht nur mit einzelnen Biografien und konkreten Ereignissen. Sie fragen

SCHAM: EIN GEFÜHL,

DAS VERNICHTEND SEIN

KONNTE. FÜR EIN MÄDCHEN

AUS GUTEM HAUSE

danach, wie sich aus der Summe vieler einzelner Erfahrungen so etwas wie eine Mentalität, ein „Lebensgefühl" ergibt. Eine neue Teildisziplin der Geschichtswissenschaften tut dies besonders konsequent. Die Geschichte der Gefühle versucht herauszufinden, was Menschen zu allen Zeiten und überall auf der Welt umtreibt, wie viel von dem, was wir sind und empfinden, in unserer Natur liegt  und was auf verborgene, zum Teil auch noch unerforschte kulturelle Prägungen zurückgeht.

ass Historiker sich für Gefühle interessieren, überraschte mich zunächst. Gefühle gehörten in meiner Vorstellung bislang zu den Dingen, die

außerhalb der Geschichte stehen; die Teil der menschlichen „Grundausstattung" sind wie Sprache und aufrechter Gang. Dass Liebe eine „Himmelsmacht" ist und ein Zornesausbruch von „biblischer Kraft": Solche Redensarten habe ich immer auch als Ausdruck eines common sense empfunden; der Überzeugung, dass Gefiihle eine Art Weltsprache sind, die über alle Zeiten und Kulturen hinweg gleich geäußert und verstanden wird.

Diese Überzeugung, so erfuhr ich, ziehen Historiker zusehends in Zweifel. Sie stützen sich dabei auf Quellen, in denen Menschen verschiedener Epochen Gefühle beschreiben, eigene wie fremde, und diese deuten und bewerten. Solche Quellen gibt es reichlich. Menschen äußern Empfindungen nicht nur in privaten Tagebüchern und Briefen, sondern auch öffentlich. Gefühle sind Thema in Gesellschaftsromanen und Gedichten, sie dringen durch die förmlichen Zeilen diplomatischer Korrespondenz, und sie werden, demonstrativ geäußert, sogar zum Instrument der Politik: Die Tränen von König Heinrich IV. beim Gang nach Canossa erregten bei Zeitgenossen ebensolches Aufsehen wie der Wutausbruch Napoleons nach verlorenem Russlandfeldzug.

Wer die „Sprache der Gefühle" über Jahrhunderte verfolgt, stellt fest, dass sie sich verändert und entwickelt  wie gesprochene Sprache auch. Manche Gefühle erleben Konjunkturen, werden zu bestimmten Zeiten besonders intensiv geäußert und verlieren dann wieder an Bedeutung.

 

Als meine Großmütter und tanten jung waren, schämten die Menschen sich anders. Besonders die Frauen. Eine milde Ermahnung, der Gruß eines Fremden auf der Straße, die Erwähnung eines Tabuworts wie „Hose": Schon liefen sie bin= an oder sanken gar bewusstlos nieder. Durch die Literatur r 18. und 19. Jahrhunderts zieht sich eine Welle von Ohnmacr anfällen; selbst Kinderbücher sind voll von bildhaften Bescr.: bungen weiblichen Schämens. Kommentare von Zeitgenos,,  vor allem männlichen, lassen erkennen, dass solches Verha.: nicht nur als völlig normal, sondern als geboten galt: Scharr: _:tigkeit wurde mit weiblicher Ehre und Integrität gleichgestihr Fehlen als abstoßend, ja unnatürlich empfunden.

Als meine Großmütter und tanten jung waren, traue:7f  die Menschen anders. Im Europa des 19. Jahrhunderts va::: der Schmerz über den Verlust eines na:stehenden Menschen besonders expres bekundet  nicht nur im Vergleich zu sondern auch zu früheren Zeiten. Nie zu legten Menschen so konsequent und a _ dauernd schwarze Kleidung an, selbst entfernte Verwandte, nie zuvor demonst:  ten sie ihre Verbundenheit mit Verstorber.: auf so direkte, geradezu körperliche We: etwa mit Armbändern und Halsketten

den geflochtenen Haaren nahesteher,       z 

Toter, mit PostmortemFotografien, auf denen Verstorbene kurz vor ihrer Beisetr.2 aufrecht und angekleidet „wie im Lebe:präsentiert wurden. Die Historikern Isabd Richter hat solche Traueraccessoires in 1rem Buch „Der phantasierte Tod" beschrieben  und zugleich ihre Vergänglichkeit dokumentiert: Schon um die Wende zmm 20. Jahrhundert, sagte sie mir, sei Trauer diskreter, distanzierter geworden.

Heute ist sie, wie die Scham, aus dem öffentlichen sozialen Umgang weitgehend verschwunden; expressives Trauern wirn. außerhalb festgelegter Rituale, häufig als verstörend wahrgenommen.

MEINE GROSSMUTTER HERMINE war das, was man eine „Bilderbuchoma" nennt. Sie war bald nach dem Krieg aus Meälenburg fortgezogen, um bei meinen Eltern zu leben, genau gesagt: für sie zu leben. Sie half meiner Mutter im Haushalt und kümmerte sich um mich. Backte mit mir Plätzchen, sang 1Eid" in den Schlaf, erlaubte mir, den ungeliebten Kindergarten na schwänzen, wenn meine Eltern verreist waren. Sie war fiirsorglich, liebevoll, unendlich geduldig. Aber sie war auch traurig, eine stille Art, die ich als Kind kaum registrierte. Sie weinte klagte nie. Sie sank nur von Zeit zu Zeit in sich zusammen, lisch wie körperlich. Mit den Jahren wurde sie immer k „Geh gerade, Mutti!", ermahnten sie meine Eltern. Dann tete sie sich gehorsam kurz auf, ließ aber bald wieder Kopf und Schultern hängen.

Großmutter starb bei einem Verkehrsunfall, als ich zehn Jahre alt war. Zur Beerdigung durfte ich nicht mit. „Das ist nichts für Kinder", sagten meine Eltern.

ie erklären Historiker die Stimmungsschwankungen im Laufe der Epochen? Wurden Trauer und Scham vor 5o, loo oder 200 Jahren nur anders geäußert als heute  oder fühlten sie sich anders an? Inwieweit lebte meine Großmutter, lebten meine ferneren Vorfahren in anderen Gefühlswelten als ich?

Solchen Fragen geht Ute Frevert nach, Direktorin am MaxPlanckInstitut für Bildungsforschung in Berlin. Schwerpunkt ihrer Forschung ist die Neuere Geschichte ab dem 18. Jahrhundert, und das ist kein Zufall: Die Epoche, in der meine Groß und Urgroßeltern aufwuchsen, ist ein Goldenes Zeitalter für Emotionshistoriker. Nie zuvor haben Menschen so ausgiebig über Gefühle nachgedacht, geschrieben und auch gestritten wie damals.

Die neue Leidenschaft fürs Fühlen, erklärte mir Ute Frevert, habe mit der Aufklärung begonnen. Es waren Philosophen wie Kant, Herder und Rousseau, später auch Naturwissenschaftler wie Charles Darwin, die Gefühle als Forschungsgegenstand entdeckten  und zugleich dafür sorgten, dass sie in neuer Weise wertgeschätzt wurden.

„Sich fühlen und rühren lassen gehörte ab dem 18. Jahrhundert zum guten bürgerlichen Ton", schreibt Ute Frevert in einem Sammelband zum Thema Gefühlswissen; Emotionen zu haben und auch zu zeigen, gehörte „zum Kennzeichen eines gebildeten, zivilisierten Menschen". Wobei es nicht irgendwelche Gefühle waren, die solche Menschen an den Tag legen durften: Es mussten schon die richtigen sein. Denn die Denker der Aufklärung waren Großmeister des Einteilens und Bewertens, sie liebten klare Grenzen und Hierarchien. Scharf unterschieden sie zwischen hohen und niederen, inneren und äußeren, echten und vorgetäuschten Empfindungen. Besonderes Augenmerk legten sie auf die Trennung männlicher und

DÜRFEN FRAUEN FÜHLEN,

UND WENN JA, WAS?

EIN GELEHRTENSTREIT,

DER BÄNDE FÜLLT

 

weiblicher Gefühlswelten: Niemals zuvor wurden beide so konsequent als verschieden, ja gegensätzlich definiert.

Männer seien „Repräsentanten des Gesetzes, der Pflicht, der Ehre und des Gedankens", heißt es im Brockhaus ConversationsLexicon von 1852, Frauen dagegen solche „der Liebe, der Scham, des unmittelbaren Gefühls". Solche Unterscheidungen blieben bis ins 20. Jahrhundert Konsens: Noch 1908 schreibt Meyers KonversationsLexikon unter dem Stichwort „Emotivität des Weibes", dass diese auf die „durch Jahrhunderte gepflegte Abhängigkeit" und seine „Beschränkung auf die sexuelle Aufgabe" zurückzuführen sei.

Für Ute Frevert sind solche Lexikoneinträge höchst aufschlussreich. „Denn sie zeigen, dass Gefühle nicht nur in Gelehrtenzirkeln diskutiert wurden. Sondern dass die Ideen und Thesen dazu Eingang ins Allgemeinwissen fanden." Die emotionale Bildungsoffensive schlug sich nicht nur in Lexika nieder, sondern auch in Ratgebern, Benimmbüchern und Jugendromanen. Und wenn es eine Schicht gab, die all das besonders eifrig aufnahm, dann war es das protestantische Bildungsbürgertum, dem auch meine Vorfahren angehörten.

MEIN URGROSSVATER Karl Lembcke leitete die „Blindenanstalt" in der mecklenburgischen Kleinstadt Neukloster. Mein Vater, der als Kind in seinem Haus aufwuchs, berichtete, dass sein Großvater abends häufig lange wach lag, las und grübelte. Dabei kam es vor, dass ihm ein Name oder Begriff, über den er nachdachte, nicht einfiel. Das regte ihn so auf, dass er häufig eine seiner Töchter aus dem Bett holte und sie in die Anstaltsbibliothek hinüberschickte, um das Gesuchte nachzuschlagen. Seine Mutter habe diese nächtlichen Missionen nicht geliebt, erzählte mein Vater, aber sie hätten womöglich dazu beigetragen, die Begeisterung fürs Lesen in der Familie zu halten.

Zu den Büchern, die Karl Lembckes Töchter ganz sicher gelesen haben, gehört „Der deutschen Jungfrau Wesen und Wirken", erschienen 1872 in der ersten von insgesamt 14 Auflagen. Der Ratgeber der Autorin Caroline Milde war bis ins 20. Jahrhundert hinein ein Bestseller  vermutlich, weil er sich eng an der Lebenswirklichkeit junger Frauen und Mädchen orientierte.

Ich habe daraus bemerkenswerte Details über den Alltag meiner Groß und Urgroßmütter gelernt. Wie sie Fußböden reinigten (durch tägliches Auswaschen mit Buttermilch), Weißwäsche bleichten (vorzugsweise bei Vollmondlicht) und ranzige Butter wieder genießbar machten (durch Zusatz von kohlensaurer Soda). Ich erfuhr, wie sie ihre Körper kultivierten und präsentierten: Beim Gehen die Fußspitzen auswärts aufsetzen! Kein Knicks ohne Lächeln! Sommersprossen mit Hufelandschem Schönheitswasser vorbeugen!

Vor allem aber lernte ich, welche Gefühle von ihnen erwartet wurden. Denn diese zu formen und zu erziehen, war Caroline Mildes wichtigstes Anliegen. Geduld, Neugierde, Stolz, Liebe, Zufriedenheit  jeder Empfindung widmet die Autorin ein eigenes Kapitel. Wobei sie keinen Zweifel daran lässt, dass es ihr nicht um Selbsterkundung geht. Sondern darum, die inneren Regungen so zu gestalten, dass sie dem Idealbild „weiblicher Emotivität" entsprechen. Das erfordert, versteht sich, rigorose Selbstdisziplin. Neid, Eigensucht, ebenso übermäßige Wissbegierde sind in jeder Lebenslage tabu. Aber auch positive Empfindungen bedürfen der Formung und Kontrolle.

Offenheit: Wie leicht artet sie in Rauheit aus! Ordnungsliebe: Wie fließend ist die Grenze zur Eitelkeit! Mitgefühl: Wie nahe liegt die Gefahr krankhafter Sentimentalität! Selbst das höchste der Gefühle, die Liebe, ist nur mit Vorsicht zu genießen, findet Frau Milde. Denn die ihrem Geschlecht einzig angemessene Form dieses Gefiihls sei die Selbstaufgabe: „Das Weib soll sich nicht selber angehören, es lebt nur durch Andere, in Anderen, für Andere!"

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ie mögen Frau Mildes Ratschläge auf Großmutter und ihre Schwestern gewirkt haben? Sie konnten sie, fürchte ich, nicht bloß unverbindlich zur Kenntnis nehmen  dazu stimmten sie zu sehr überein mit den Erwartungen, Konventionen und Tabus, die ihnen von klein auf in Familie und Schule vermittelt wurden. Wie mag dieses „Gefühlsregime", wie Wissenschaftler es nennen, ihre Persönlichkeit, ihr angeborenes Temperament geprägt haben? Lassen sich Empfindungen wie Neugierde, Liebe oder Jähzorn überhaupt wirkungsvoll zurechtstutzen oder gar unterdrücken  oder ist diese Selbstdressur auf Dauer schädlich, kann sie zu seelischen Verletzungen führen, die, wie bei meinen Großtanten, schlimmstenfalls tödlich sind?

Die Frage berührt nicht nur meine Familiengeschichte, sie führt auch zum Ausgangspunkt aller Gefühlsforschung. Wie weit sich Gefühle formen oder auch deformieren lassen; ob sie einen Kern besitzen, der über alle Zeit und Kulturgrenzen hinweg konstant bleibt: Das versuchen Wissenschaftler vieler Fachrichtungen herauszufinden.

Den aktuellen Stand der Diskussion  und ihre lange, konfliktreiche Geschichte  hat der Historiker Jan Plamper zusammengefasst, der zurzeit am Londoner Goldsmiths College lehrt. „Geschichte und Gefühl" heißt sein 2012 erschienenes Buch, und ich gestehe, dass ich über der Lektüre meine Großmütter, tanten und anderen Vorfahren zeitweise fast aus den Augen ver

 

loren habe. Denn das Buch liest sich über weite Strecken wie ev Expeditionsbericht. Plamper hat zwei Forschungsgebiete erkun det, die aus Sicht seines eigenen relativ entlegen sind: Ethnologit und Neurowissenschaften.

Zurzeit sind es vor allem die Nachrichten aus den Labore der Hirnforscher und experimentellen Psychologen, die bestirr men, wie Emotionen gedeutet und diskutiert werden  unter Ex perten, aber auch in der Öffentlichkeit. Neurowissenschaftle forschen vor allem nach der Natur der Gefühle, und eine Zeit lang schien es, als seien sie ihr dicht auf der Spur. Seit Mitte de 198oer Jahre erlauben bildgebende Verfahren, wie etwa die Ma gnetresonanztomografie, Einblicke ins aktive, fühlende Gehirr So können Forscher zumindest in Ansätzen verfolgen, was in de Köpfen von Versuchspersonen vor sich geht, die etwa vor eine Schlange erschrecken, diffizile ethische Ent scheidungen treffen oder nahestehend Menschen leiden sehen. Solche Experiment legten  und legen  den Schluss nahe, das es „basale" Affekte gibt, die von der Evoli: tion geprägt sind und zur emotionale Grundausstattung jedes Menschen gehöre: unabhängig von seiner Kultur.

Doch die exakte Definition dieser ba salen Emotionen steht noch aus; bis heut lässt sich nicht eindeutig feststellen, wo di Grenze zwischen „natürlichen" und „geien ten" Empfindungen verläuft. Und imme mehr Wissenschaftler, auch Neurobiologer zweifeln mittlerweile daran, ob sie sich j wird finden lassen  und ob die Suche da nach überhaupt sinnvoll ist.

Denn je präziser die technischen Vei fahren zur Erkundung des Gehirns werdes desto deutlicher zeigt sich auch: Uns Denkorgan ist ungleich komplexer uni vernetzter als lange angenommen. Es g: keine klar abgrenzbaren Hirnareale, die a _ schließlich für bestimmte Gefühle „zust:_dig" sind  wie etwa Angst, Freude, Trauer oder Liebe. Se.7 Begriffe wie „Fühlen" und „Denken" sind irreführend  es £: keine mentale Tätigkeit, die separat von allen anderen st2 findet. Dass man Emotionen „außen vor lassen", ein Probt, „rein rational" angehen kann, ist eine Fiktion, ein überhc_.1: Denkmuster aus der Zeit der Aufklärung.

TRAUER, FREUDE,

LIEBE: WAS WIR WIE

EMPFINDEN, BESTIMMT

AUCH UNSERE KULTUR

Emotionen lassen sich zudem nicht im Ruhezustand, wie unter der Lupe betrachten. „Sobald man Gefühle artikuliert oder auch nur bewusst registriert, verändern sie sich  und zwar auf unvorhersehbare Weise", sagt Plamper. Das Aussprechen des Satzes „Ich bin traurig" kann das Gefühl, das ihm zugrunde liegt, fassbar, überschaubar machen  und dadurch lindern und abschwächen. Es kann aber auch das Gegenteil bewirken: einer bis Jahin nur latent vorhandenen Stimmung Raum verschaffen und sie dadurch verstärken.

Wie man ein Gefühl durch beständiges „Praktizieren" bis zur Obsession steigern kann, haben, auf drastische Weise, die Frauen des 19. Jahrhunderts gezeigt: Ständiges Erröten und Da:insinken war so sehr Teil ihres Verhaltensrepertoires geworden, _ass zeitgenössische Gelehrte wie etwa Charles Darwin darin eine natürliche, von der Evolution geprägte Reiktion sahen.

Was passiert nun, wenn man ein Gefühl, wie etwa Trauer oder Wut, verschweigt und ta:uisiert? Das emotionale Alltagswissen besagt, :ass dies ungesund sein muss: Weil verdrängte efühle inneren Druck erzeugen, der sich irzendwann Luft machen muss. Dieses Wissen :_:findet freilich nicht auf moderner Forschung.

adern auf einem Modell der menschlichen 3eele, das aus dem 19. Jahrhundert stammt. 'ach der Lehre Sigmund Freuds sind Gefühle :.namische Kräfte, die wie unterirdische Quel

beständig an die Oberfläche drängen; wer:en sie zurückgehalten, führt dies zwangsläufig

Triebstaus und in der Folge zu Neurosen.

Dieses „hydraulische Modell", wie Emo.. nshistoriker es etwas despektierlich nennen, nicht grundsätzlich falsch. Aber es ist eben ein Modell, kein exaktes Abbild natürlicher gänge. Es „funktioniert" vor allem, wenn in daran glaubt. In anderen Kulturen herrsch::  und herrschen bis heute  allerdings völlig andere Vorstel__gen über die „Natur" der Gefühle. Und auch sie beeinflussen, s und wie Menschen tatsächlich empfinden, auf eine Weise, ze für Zugereiste verblüffend, aber auch verstörend sein kann.

anchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn mich eine Zeitmaschine ins Neukloster des ausgehenden 19. Jahrhunderts versetzte. In den Garten der Blindenanstalt, wo sich die Familie, wie mein Vater berichtete, an Sonn ::.achmittagen oft zu ausgedehnten Kaffeerunden traf. Wie ich mich in eine solche Runde einfügen? Würde ich mich hörig fühlen? Oder ginge es mir wie der amerikanischen   Dlogin Jean Briggs? e war eine der Ersten, die das Gefühlsleben von Men7.. einer anderen Kultur systematisch erkundete. Ab 1963 ver.,:e sie 17 Monate bei den Utku, Fischern und Karibujägern,

HALTUNG BEWAHREN.

BIS VERZWEIFLUNG UND

ZORN IRGENDWANN

STILL GEWORDEN SIND

die damals noch in der Eiswüste Nordkanadas lebten. Bald bemerkte die Forscherin, die als „Adoptivtochter" bei einer Gastfamilie lebte, dass die Utku nie in Wut gerieten. Zwar war ihnen das Gefühl nicht unbekannt, sie gestanden es aber nur kleinen Kindern zu. Deren Zornesausbrüche nahmen sie mit großer Gelassenheit und ohne jede pädagogische Intervention hin  weil, so ihre Überzeugung, jedem Menschen früher oder später die Fähigkeit zuwachse, Emotionen zu kontrollieren.

Umso befremdeter registrierten sie, dass ihrem Gast diese Gabe offenbar abging. Kälte und Sprachprobleme trieben der Forscherin oft die Tränen in die Augen, das autoritäre Gehabe ihres Gastvaters ärgerte sie, und manchmal entfuhr ihr ein Fluch, wenn eine Ladung Schneematsch aus der IgluKuppel auf ihrer Schreibmaschine landete. Die Utku reagierten scheinbar gelassen auf Briggs' Ausbrüche. Aber sie wandten sich zusehends von ihr ab. Nach wenigen Monaten fand sich die Forscherin in der Rolle einer Außenseiterin wieder. All ihre Empathie und ihre Bereitschaft zur Anpassung hatten nicht gereicht, Teil der emotionalen Gemeinschaft zu werden.

Die Geschichte der Ethnologie ist reich an solchen Berichten. Forscher erzählen von MaoriKriegern, die ihre Angst vor der Schlacht vertreiben, indem sie unter den gespreizten Beinen einer Frau durchkriechen. Sie berichten von indonesischen Kopfjägern, die ihre Melancholie nur durch gelegentliches Abtrennen eines Feindeshaupts lindern konnten. Von tahitischen Begräbnissen, bei denen Weinen plötzlich in ausgelassenes Feiern umschlägt. Manche dieser Berichte werfen die Frage auf, ob Empathie womöglich eine Fähigkeit mit begrenzter Reichweite ist. Ob wir wirklich nachempfinden können, was Menschen anderer Zeiten und Kulturen umtreibt.

Meine Großmutter Hermine, so viel ist sicher, hätte sich bei den Utku mustergültig eingefügt  von den äußeren Lebensbedingungen einmal abgesehen. Ich habe sie niemals wütend oder auch nur schroff erlebt. Sie war, in jeder Hinsicht, das vollendete Produkt wilhelminischer Mädchenbildung: sanft, zartfühlend, rücksichtsvoll, fleißig, selbstvergessen. Caroline Milde hätte ihre Freude an ihr gehabt.

Aber vielleicht ist sie gerade deswegen in der Zeit nach 1945 nie so richtig heimisch geworden. Ihr fehlten die Wesenszüge, die im Alltag des ausgehenden 20. Jahrhunderts gefragt waren und es bis heute sind: Selbstbewusstsein, Durchsetzungskraft, Flexibilität, Neugierde. Sie hasste Veränderungen und Überraschungen, suchte keine Bekanntschaften außerhalb des Familienkreises und kochte am liebsten nach Rezepten aus der Vorkriegszeit. Den Umgang mit technischem Gerät, einschließlich des Telefons, empfand sie zeitlebens als Zumutung. Wenn es um sie herum zu laut und hektisch wurde, legte sie die Hände neben die Augen, als wollte sie die Welt um sich herum ausblenden.

Vielleicht war diese Fremdheit ein Grund, weshalb sie gelegentlich in sich versank. Aber vermutlich hatte ihre Traurigkeit tiefere Wurzeln, die bis in ihre Kindheit zurückreichten.

ine Cousine schickte mir vor einiger Zeit ein Büchlein, das sie in einem Lübecker Antiquariat entdeckt hatte. „Herzklostersee" heißt es, eine Novelle, erschienen 1923 in einer Auflage von 1050 Exemplaren. Sie schildert eine tragische Liebesgeschichte, die entfernt an „Frühlings Erwachen" erinnert, Frank Wedekinds berühmtes, 1906 uraufgeführtes Jugenddrama. Der Autor Otto Anthes, Pastorensohn und studierter Theologe, unterrichtete ab 1903 an einem Lübecker Mädchengymnasium. Und er muss, wie sein Buch zeigt, sowohl Neukloster als auch meine Urgroßeltern recht gut gekannt haben.

„Herzklostersee" ist ein fiktives Werk, aber es ist mehr als nur inspiriert von der Wirklichkeit. Der See, der „herzförmig die Halbinsel umschloss", das Städtchen, das ein ehemaliges Nonnenkloster sowie ein Lehrerseminar beherbergt  es gibt nur einen Ort in Norddeutschland, auf den diese Beschreibung zutrifft. Der Seminardirektor, „ein Mann von strenger Kirchenfrömmigkeit", unnahbar, wortkarg  das muss mein Urgroßvater Karl Lembcke sein. Zwar hat er in der Novelle nur drei Töchter; meine Großmutter und ihre beiden jüngeren Geschwister hat Otto Anthes weggelassen. Doch was mit zweien der älteren passiert ist, musste er sich, leider, nicht ausdenken.

„Ein Hütejunge sah es mit an, wie Hilda Raspe in den See ging"  so beginnt die Geschichte. Kurze Zeit später nimmt sich auch die zweite Tochter der Familie das Leben, ebenfalls aus Scham über die heimliche Liebe zu ihrem verheirateten Musiklehrer. Dieses Motiv wird nur angedeutet, wie überhaupt in dieser Geschichte vieles nur halb ausgesprochen oder in vielsagende Beschreibungen verpackt wird: Da rauschen Obstbäume „wie von Fruchtbarkeit", eine „zarte stolze Rundung" bilden die Hügel an der Halbinsel, eine „weiche, schwellende Brust" ruht Momente lang in unbefugter Hand, und am Ende ver

 

GEFÜHLE ÄUSSERN?

NUR IN WOHLGESETZTEN

WORTEN. IM ZWEIFEL

LIEBER GAR NICHT

schwimmt die Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit Abendnebel über dem See.

Mir ist die Lektüre der Novelle trotzdem nahegegangen. schreibt, immerhin, ein Zeitgenosse; einer, der ehrlich versus: nachzuempfinden, was er gelesen oder von nahestehender Se gehört hat. Zum ersten Mal hatte ich Eindruck, ein Echo der Gefühle wahr__ nehmen, die meine Verwandten damals bewegten. Die Verwirrung und unaussprechliche Scham, die meine jungen Großtanten zur Verzweiflung trieben. Den wütenden Schmerz und das hilflose, lähmende Entsetzen, in das ihr Tod meine Urgroßeltern stürzte.

Warum haben alle, die das miterlebten.. so lange geschwiegen? Und warum habe ich nicht viel früher angefangen, nachzufragen?

IN DEN 1970ER JAHREN, als Neukloster noch in der DDR lag, fuhren meine Eltern und ich regelmäßig zu Verwandtenbesuchen „nach drüben". Wir wohnten bei einem Vetter meines Vaters, der mit seiner Familie ir. einem Nebengebäude der ehemaligen Blindenanstalt lebte, und gingen täglich am See spazieren, der nur wenige Schritte von der_ mächtigen wilhelminischen Backsteinbauten entfernt lag. Aber über das, was sich dort eine Generation zuvor ereignet hatte, sprachen wir nie. Der Suizid meiner beiden Großtanten war noch weniger als ein Familiengeheimnis  er war schlichtweg kein Thema.

Die USamerikanische Historikerin Barbara Rosenwein prägte um 2000 den Begriff der „emotionalen Gemeinschaft'. Er bezeichnet eine Gruppe von Menschen, die einander durch bestimmte Annahmen und Urteile über Gefühle verbunden sind  darüber, wie diese zu empfinden, zu bewerten, und vor allem, wie sie auszudrücken sind. Solche Gemeinschaften gründen sich auf familiäre und soziale Bande, aber auch auf politische oder religiöse Überzeugungen.

Als eine solche „emotional community" bezeichnen Historiker die lutherischen Protestanten, zu denen auch meine Vorfahren gehörten, einschließlich meiner Eltern.

Die Mitglieder dieser Gemeinschaft eint nicht nur das Bekenntnis zur Glaubenslehre Martin Luthers. Sie müssen, um

diesen Glauben ernsthaft praktizieren zu können, auch „protestantisch fühlen lernen"  so der Titel eines Aufsatzes von Monique Scheer. Denn vom richtigen Gefühl, schreibt die Historikerin, hängt nach protestantischer Lehre nicht weniger als das Seelenheil ab: Nur durch vorbehaltlose, innige Liebe zu Gott kann der Gläubige dessen Gnade erlangen  nicht, wie in der katholischen Kirche, durch bloße Teilnahme an äußeren Ritualen.

Ein Protestant muss daher beständig sein Inneres erforschen. Ist meine Liebe zu Gott stark und aufrichtig genug? Sind meine Gebete ernsthaft, vom richtigen Geist erfüllt? Liebe ich auch meine nächsten Mitmenschen mit der nötigen Hingabe? Die Erziehung zur Gefühlskontrolle, so Scheer, präge die Selbstund Weltwahrnehmung; sie führe auch zu einem tiefen Misstrauen gegen alles Körperliche, Äußerliche.

Dieses Misstrauen bestimmt nicht nur die Glaubenspraxis vieler Protestanten. Es schlägt sich im Alltag nieder, in den zwischenmenschlichen Umgangsformen, in der Kindererziehung. Und zwar auch bei Menschen, die dem Glauben eher distanziert gegenüberstehen.

Halte dich zurück. Bekunde Gefühle jeder Art nur in sorgfältig gefilterter Form, am besten in wohlgesetzten Worten. Im Zweifel behalte und verarbeite  sie lieber für dich. Vor allem dann, wenn sie heftig, verwirrend oder verstörend sind.

So lautet eine der wichtigsten Regeln protestantischen Fühlens. Sie steht nirgends so geschrieben. Aber sie ist mir von klein auf vertraut, und ich habe sie wieder vor Augen, wenn ich „Herzklostersee" lese. Otto Anthes mag ein Schwarmgeist und Fabulierer gewesen sein, aber er war auch Pfarrerssohn und Theologe. Es ist kein Zufall, dass in seinem Buch so viel geschwiegen wird; vielsagend und demonstrativ, aber auch ohnmächtig und hilflos.

A uf einem der Fotos aus dem alten Sekretär fand ich das einzige persönliche Zeugnis der Familientragödie, das mir geblieben ist.

Das Foto zeigt meine Urgroßmutter Anna im Oktober 1902, drei Monate nach dem Suizid ihrer ersten Tochter. In tiefes Schwarz gekleidet, schaut sie mit erloschenem Blick, aber gefasster Miene an der Kamera vorbei. Die

SIE IST DER RUHEPOL

DER FAMILIE. WAS SIE IM

INNERSTEN BEWEGT,

BEHÄLT SIE FÜR SICH

 

Rückseite trägt eine Adresszeile, wie bei einer Postkarte; darauf steht: „Meinem lieben Gatten". Daneben hat Anna Lembcke zwei  leicht abgewandelte  Zitate geschrieben, eines aus dem Römerbrief, eines aus einem Gedicht von Friedrich Rückert. „Wir wissen aber, dass alles Leid der Welt nicht wert ist der Herrlichkeit, die an uns soll offenbart werden", lautet das Bibelzitat, und die Gedichtzeile ergänzt: „Wenn Gott du wolltest Dank für jede Lust wohl sagen, du fändest gar nicht Zeit, noch über Leid zu klagen."

Ich habe die Karte auf meinen Schreibtisch gestellt. Manchmal betrachte ich sie und überlege, was meine Urgroßmutter mit ihren Zeilen sagen wollte. Vielleicht waren sie der schüchterne Versuch, einen Ehemann zu trösten, der in wortloser Trauer erstarrt war. Vielleicht drücken sie ein schlichtes, starkes Gottvertrauen aus, das selbst ein solcher Schicksalsschlag nicht dauerhaft erschüttern konnte. In jedem Fall aber sind sie ein Dokument protestantischer Gefühlsdisziplin  der Fähigkeit, übermächtige Emotionen in karge, unverfängliche Sätze zu kleiden.

Für meine beiden Großtanten war diese Kultur der Zurückhaltung verhängnisvoll, womöglich sogar mit schuld an ihrem Tod. Was immer ihnen damals auf der Seele lag sie fanden keinen Weg, es zum Ausdruck zu bringen.

Für meine Urgroßeltern dagegen war strikte Emotionskontrolle womöglich eine Überlebenshilfe, der einzige Weg. mit dem Verlust ihrer beiden Töchter umzugehen. Z::mindest gelang es ihnen, nach anßPri

Fassung zu bewahren. Von meinem Vater weiß ich, dass s:e Neukloster wohnen blieben, am Ort des Geschehens, und dz:7: auch ihre überlebenden Kinder großzogen.

In seinen Lebenserinnerungen beschreibt mein Vater seine Großmutter als still und nachdenklich; sie sei „der ruhende Pol des Hauses" gewesen. Auch sie habe die Angewohnheit gehabt, von Zeit zu Zeit still in sich zu versinken, so wie später ihre Tochter. Sie saß oft lange Nachmittage schweigend auf dem Sofa. Wenn man sie fragte, wie es ihr gehe, sagte sie nur: „Ich besinne mich." Und versank dann wieder in ihren Gedanken.

Ich wüsste zu gern, was ihr dabei durch den Kopf ging. Und ob sie vielleicht, beim Anblick ihres Enkelkindes, meines Vaters, ein paar Momente lang glücklich war.

Aber das hat sie, als gute Protestantin, für sich behalten



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