Wird Gott noch gebraucht?
Author D.Selzer-McKenzie
Video: http://youtu.be/gN1jW53hh_o
Heute abend ist der Papst Muslim. Sedat Cukadar, 44 Jahre alt,
bärtig, geschieden, zwei Kinder, tagsüber Kraftfahrer bei der Hamburger
Stadtreinigung, lässt sich den brokatverzierten Ornat anlegen und begrüßt das
Kirchenvolk. Neben ihm setzt Volker Schröder, 27, einen steifen Hut mit
angeklebten Schläfenlocken auf seinen modisch kahl rasierten Kopf und wird zum
orthodoxen Rabbiner. Und Dalila Ferrec, die Lippen im schwarzen Gesicht
knallrot geschminkt, gibt in dunkler Soutane plus magentafarbenem Scheitelkäppchen
eine katholische Bischöfin. Eine Frau? Der übergroße Jesus von Nazareth an der
Kirchenwand schaut mit undeutbarem Gesichtsausdruck zu, wie sich schließlich
auch sein irdischer Botschafter verwandelt: Pastor Ulfert Sterz erscheint mit
Turban und FransenbartPerücke als Ajatollah.
„Die Insel" heißt das Stück von Björn Bicker, das
Laienschauspieler zusammen mit Profis im Herbst 2014 in der Immanuelkirche in
HamburgVeddel aufführen. Es ist eine MultimediaCollage über Identität, Heimat,
Vorurteile, Stolz, Hoffnung. Die Eingangsszene ist nur ein Denkanstoß und ein passender Auftakt für die
sen Artikel, der um Gott und die Welt kreisen wird. Nicht
von Fundamentalismus und Hass soll die Rede sein, sondern von der Sehnsucht
nach Spiritualität jenseits erstarrter Rituale. Von Gläubigen und Ungläubigen,
deren Antworten auf die großen Fragen zwischen Himmel und Erde sich oft
erstaunlich ähneln. Von Einstein, Sigmund Freud, dem Dalai Lama und einem
englischen ComedianPaar, das dabei ist, so etwas wie eine Weltreligion ohne
Gott zu stiften.
Geprobt wird hier ein noch unausgegorener Choral voller
Dissonanzen, mal provokant, mal fröhlich, mal besinnlich. Den Refrain predigt
das MultikultiEnsemble von der Veddel: „Kommt, die neue Stadt wartet auf
euch!"
Ausgerechnet hier? Die Veddel, nur fünf SBahnMinuten vom
Hamburger Hauptbahnhof entfernt, ist ein Stiefkind der Stadt, laut,
zerschnitten von Autobahntrassen, Bahngleisen, Elbkanälen. Arm. Christen sind
in der Minderheit. Von den s000 Bewohnern haben mehr als 7o Prozent
„Migrationshintergrund"; bei den Jugendlichen sind es 91 Prozent. Die Kirche
blieb selbst sonntags leer, deshalb öffnete der Pastor sie für alle. Stühle
raus, Papphocker rein, Public Viewing bei FußballHighlights, Jamsessions,
Filme. Ein Zukunft. Den Kirchen gehen überall die Frommen aus sie brauchen Mut zur Erneuerung. Ein Geschenk
des Himmels, wenn dann Propheten wie die Projektleiter des „New Hamburg"Festivals
vom Deutschen Schauspielhaus anklopfen.
Die neue Stadt, die neue Zeit! Als Untermalung dazu ein paar
Zahlen aus dem „Globalen Index Religiosität und Atheismus 2012", die der
Meinungsforschungsverbund WINGallup International erhoben hat. Menschen aus 57
Ländern beantworteten die Frage: „Egal ob Sie einen Andachtsort besuchen oder
nicht würden Sie sich als religiöse
Person, als nicht religiöse Person oder als überzeugten Atheisten
beschreiben?" In Deutschland haben die Religiösen noch eine dünne Mehrheit
von 51 Prozent, in der Schweiz bezeichneten sich 5o, in Österreich 42 Prozent
als religiös. Der Trend weist, wie in fast allen Industrieländern, steil nach
unten: Sieben Jahre zuvor lag der Anteil der Gläubigen in Deutschland noch bei
6o, in Österreich bei 53 und in der Schweiz bei 71 Prozent.
Der Niedergang betrifft nicht nur Mitteleuropa. Zu den Top
Ten im Abwärts
trend gehören so unterschiedliche Länder wie Vietnam
(Rückgang von 53 auf 3o Prozent) und Südafrika (von 83 auf 64 Prozent), aber
auch die USA (von 73 auf 6o Prozent). Der Religionsindex belegt einen Zusammenhang
mit den Lebensverhältnissen: je ärmer, desto frommer; je besser Verdienst und
Bildung, desto ungläubiger. Dabei schwindet der Glaube schleichend. Wer ihn
verliert, wird in der Regel nicht zum strikten Atheisten. Weitaus häufiger sind
diejenigen, die aus Tradition und kultureller Wertschätzung lose mit der alten
Religion verbunden bleiben.
Diese Gruppe könnte für ein ne__eSelbstverständnis stehen.
Abkehr
strengen Glauben bedeutet
Verunsicherung, manchmal auch
gültigkeit kann aber
auch den Blick
ten. Im Stück auf der Veddel ist es der interreligiöse
Toleranz. „Wir wollen ni_ :missgünstig sein und nicht eifersüchtig heißt es in
der Aufführung, „wir wolle: Priester sein, Priester einer neuen Religion. Einer
Religion, die uns sagt, dass alle Religionen wertvoll sind."
Das ist für die Mitspieler mehr als dahergesagter Text. Eine
25jährige Erzieherin stellt sich im Kirchencafe später als „Alevitin, aber
nicht religiös" vor. Die beiden Trainer des FC Veddel United, gläubige
Muslime, predigen ihren bunt gemischten Jugendteams auf dem Fußballplatz, jede
Herkunft und jede Religion zu achten. Die arbeitslose deutsche Atheistin, die
keinen Fuß mehr in eine Kirche setzen wollte, ist plötzlich ziemlich häufig
dort.
Anderthalb Jahre hatten die Künstlerischen Leiter des „New
Hamburg"Projekts Zeit, Menschen und Institutionen auf der Veddel zum
Mitmachen zu überreden. Aus ungezählten Interviews hat Björn Bicker dann „Die
Insel" erarbeitet. Am Ende warben alle dafür: Vereine, der türkische
Supermarkt, das Diakonische Werk, die islamische Gemeinde, Kitas, die Schule,
die Flüchtlingsunterkunft.
Multireligiöses Durcheinander samt Ungläubigkeit zu
respektieren, erscheint als guter Startpunkt für die Zukunft der globalisierten
Welt. Die Entwicklung vollzieht sich leise. Sie birgt die Chance, Trennendes zu
überwinden und die Ehrfurcht vor dem Unbegreiflichen mit dem modernen Weltbild
zu versöhnen. Albert Einstein hat das Paradox elegant auf den Punkt gebracht.
Er bezeichnete sich selbst als „tiefreligiösen Atheisten".
Wer wie Einstein den Zauber des Kosmos, die Geheimnisse der
Natur und die Wunder des Lebens bestaunt, braucht keinen Gott und teilt doch
eine Grundhaltung mit denen, die Gott als Schöpfer des Universums, als
Erklärung und Chiffre für das Unbegreifliche verehren. Der Philosoph Ronald
Dworkin (19312013) zieht daraus den Schluss, dass naturwissenschaftliche und
religiöse Sichtweise viel näher beieinanderliegen als allgemein angenommen. In
seinem Buch „Religion ohne Gott" schreibt er: das, was beide Gruppen
„derzeit für eine unüberbrückbare Kluft halten", könnte nur eine „Meinungsverschiedenheit
ohne moralische oder politische Bedeutung" sein.
Der Geschmack fürs Unendliche
Anthropologen schätzen, dass es im Lauf der
Menschheitsentwicklung wo 000 Religionen gegeben haben mag, geboren zunächst
aus Totenkulten. Wie umgehen mit dem heraufdämmernden Bewusstsein der eigenen
Endlichkeit? Schon in einem rund 45000 Jahre alten Höhlengrab eines
Neandertalers in Shanidar im heutigen Irak ergaben Pollenfunde Hinweise auf
einen Grabschmuck mit mehreren Blumen und Pflanzenarten. Der amerikanische
Evolutionsbiologe Edward 0. Wilson hält „die Prädisposition zu religiösem
Glauben" für „die komplexeste und mächtigste Kraft des menschlichen Geistes".
Sie sei aller Wahrscheinlichkeit nach „ein unauslöschlicher Bestandteil der
menschlichen Natur".
Das bedeutet für Wilson keineswegs, dass Gott existiert. Er
sieht Religiosität als eine „List der Gene" an, die einen Evolutionsvorteil
bringt. Wer sich einer Religion und ihren sozialen Normen unterwirft, ordnet
das Eigeninteresse dem der Gruppe unter und bringt „kurzfristige physiologische
Opfer für langfristige genetische Vorteile". Denn das Individuum schränkt
zwar die eigenen Spielräume ein. Doch es kann „die Vorzüge der Gruppenmitgliedschaft
mit einem Minimum an Energieverausgabung und Risiko genießen".
Der Hang, höhere Mächte zu verehren, hat für Krieg und
Frieden auf Erden gesorgt, hat Ideale der Liebe in die Welt gebracht und
ungezählte Menschen mit der Drohung von Sünde und Hölle in Angst gehalten. Und
er hat Monumente überwältigender Schönheit hinterlassen: Stonehenge, die Tempel
der Maya, die Pyramiden. Wer Paris besucht, bewundert nicht nur die weltliche
Ingenieurskunst des Eiffelturms, sondern auch NotreDame und SacreCoeur. Wer
nach Istanbul reist, wird beeindruckt über die Bosporusbrücke und durch den
erstaunlichen neuen Tunnel fahren, der unter dem Meeresboden Europa und Asien
verbindet und dann zur Hagia Sophia aus
dem 6. Jahrhundert pilgern.
Michelangelos „Pietä" und Bachs Messen, Abermillionen
Kruzifixe, orthodoxe Ikonen, buddhistische Thangkas und islamische Kalligrafien
feiern Gott, das Überweltliche. Aber sie feiern auch die Menschen und zeugen
von dem, was der Theologe Friedrich Schleiermacher unseren „Sinn und Geschmack
fürs Unendliche" nannte.
Dieser Sinn überlebt hartnäckig, auch im Zeitalter von
Aufklärung und Wissenschaft. 1844 hatte Marx die Religion als „Opium des
Volkes" gegeißelt, 1882 hatte Nietzsche Gott für tot erklärt. Wie sich die
Entwicklung fortsetzen würde, war im frühen zo. Jahrhundert dann Thema eines
denkwürdigen Streits zwischen den beiden berühmten Seelenkundlern Sigmund Freud
und Carl Gustav Jung. Freud beschrieb die Religion als „menschliche
Zwangsneurose". Er war sich sicher, dass
die allgemeine Abkehr von ihr sich mit „schicksalhafter
Unerbittlichkeit eines Wachstumsvorgangs" vollziehen werde. Die
psychoanalytische Methode, das Unbewusste mit Mitteln der Vernunft ans Licht zu
bringen, sah er als Beitrag zur Entzauberung des Himmels: Eine reife
Persönlichkeit, die ihre tierischen und kindlichen Facetten erkennt und
rational mit ihnen umgeht, hat Gott nicht nötig.
Sein Freund und späterer Widersacher Carl Gustav Jung
dagegen warnte vor Rationalität ohne Emotionen: „2000 Jahre Christentum wollen
adäquat ersetzt werden." Jung schwebte vor, die Psychoanalyse zu „verschwägern
mit allem, was je wirksam und lebendig war", und „beim Intellektuellen den
Sinn fürs Symbolische und Mythische" wiederzubeleben.
Ein Jahrhundert später könnten die beiden in Freuds letztem
Wohnort London eine Bewegung studieren, die diese Idee aufgreift: gottlos,
rational, ekstatisch.
Religion ohne Gott
Draußen ist London im Herbst, ein graunieseliger Sonntag,
und die Uhrzeit, elf Uhr morgens, eigentlich zu früh für die DiscoLautstärke in
der Halle. Aber der Perkussionist gibt sein Bestes, das Saxofon röhrt, der EBass
wummert. Emma, die Sängerin mit der Soulstimme, legt los, und 350 Leute
klatschen und singen: „We Built This City an Rock and Roll".
Schauplatz ist die „Sunday Assembly", eine
Sonntagsversammlung ohne Gott, vielleicht die neue Weltreligion für Ketzer. Ein
ComedianPaar hat sie im Jahr 2013 ins Leben gerufen. Sanderson Jones und Pippa
Evans konnten nichts (er) beziehungsweise nichts mehr (sie) mit Gottesdienst
und Gebet anfangen, fanden aber an religiöser Praxis „viel, was zu retten
ist": das Zusammensein am Feiertag, das gemeinsame Singen, das Gefühl,
Teil einer Gemeinde von Gleichgesinnten zu sein. „Wenn du Schuhe hast, die du
sehr magst, und in einem ist ein Stein, der dich stört, schmeißt du doch nicht
die Schuhe weg, sondern den Stein", ist ihre Devise.
Das Evangelium ä la Jones/Evans besteht aus drei Geboten:
„Live better. Help often. Wonder more." Besser leben, oft helfen, mehr
staunen ein bei aller Kürze umfassendes
Programm. „Love more" hatten sie ursprünglich erwogen, „aber das klang uns
dann zu hippiemäßig", sagt Pippa Evans.
Mit ersten Gleichgesinnten tüftelte das Paar an der
Umsetzung. Eine Liturgie nahm Gestalt an. Der Rahmen: Popsongs in XXLLautstärke,
deren Texte nach KaraokeManier per Beamer an die Wand geworfen werden.
Dazwischen anstelle der Predigt ein Viertelstundenvortrag über ein
interessantes weltliches Thema. Dazu ein Kurzauftritt von Künstlern, die LiveKultur
in den Saal bringen. Statt Glaubensbekenntnis illustriert ein Ge meindemitglied
am eigenen Leben das Thema „live better" an diesem Morgen wird Jack, der glatzköpfige,
sehr beleibte Saxofonist, im Alltag Wirtschaftswissenschaftler, erzählen, auf
wie viel unerwartete Unterstützung er stieß, als er nicht weiterkam mit dem
Buch, an dem er schrieb. Dann ein paar Schweigeminuten zum Innehalten. Die
Kollekte. Zum Schluss Tee und Gebäck für alle.
Die Idee aus London traf einen Nerv. Die Initiatoren
sammelten per Crowdfunding knapp 34000 Pfund ein. Das reichte, um Filialen der
NichtKirche in mehr als 6o Städten auf den Weg zu bringen: Paris, Amsterdam,
Toronto und San Diego sind dabei, in Deutschland Berlin und Hamburg. Die
Vervielfältigung funktioniert als GratisFranchise per Internet: Nachahmer, die
Namen und Netzwerk nutzen wollen, müssen sich verpflichten, die Gebote und die
Liturgie zu übernehmen, und eine Weile trainieren, bevor sie starten.
Der Londoner Assembly gelingt es, ein gemischtes Publikum
anzuziehen. Junge und Alte, Vollbart neben Dreadlocks neben Gelhaar neben
Glatze neben Pudelmütze neben Cowboyhut. Sneakers neben Pumps neben Metallic
Boots. Man
trifft sich in der Conway Hall, einem altehrwürdigen Gebäude
in der City, in dem sich Freidenker (siehe Seite 123) seit 1929 versammeln.
„Sogar die Londoner Hipster kommen, die man sonst sonntags morgens nicht aus
dem Bett kriegt", sagt die „Tea Queen" mit Pappgoldkrone auf dem
Haar, deren Team „die Leute füttert, wenn die geistige Speisung vorbei
ist".
„Let's Work Together" der letzte Song klingt aus. Und dann ist es zu
Ende. „Erhebend", „fröhlich", „inspirierend",
„enthusiastisch" sind die Begriffe, die der Gemeinde beim Kekseknabbern
einfallen. Ein gutes Dutzend Freiwillige stapelt Stühle, wäscht ab, nimmt
Spenden für die „Food Bank" entgegen, die Lebensmittel nach Art der Tafeln
an Bedürftige verteilt. Einige Kleingruppen haben sich gebildet, die sich zum
Tennis oder zur Achtsamkeitsmeditation treffen. Letztlich soll es um mehr gehen
als eine nette Stunde am Sonntag. Um eine weltliche Gemeinde, die der Isolation
etwas entgegensetzt und sich gegenseitig stützt.
Die Blaupause für die Initiative hat der schweizerischbritische
Philosoph Alain de Botton in seinem Buch „Religion für Atheisten"
skizziert. Sein Credo: „Die Weisheit der Religionen gehört der gesamten
Menschheit, auch den Rationalsten unter uns, und sie hat es verdient,
Kirche der Stille, Hamburg
Ein Gotteshaus ohne Kanzel und Altar und offen für vielfältige spirituelle Übungen,
etwa eine SufiHerzmeditation
auch von den größten Gegnern alles Übernatürlichen selektiv
neu aufgegriffen zu werden."
Die frohe Botschaft der Sunday Assemblies unterscheidet sich
von Religionsparodien wie dem „Jediismus", der sein Evangelium aus „Star
Wars"Bruchstücken speist, oder der Mission der „Pastafaris", die das
„fliegende Spaghettimonster" zum Weltschöpfer erklärt haben. Die drei
Gebote von Jones/Evans lassen viel Raum für Eigeninitiative. Pop statt Papst
und Kirche ohne Gott der Ansatz passt in
eine Welt, die tendenziell individualistischer und ungläubiger wird.
Spiritualität, neu formuliert
Was vom „Geschmack fürs Unendliche" übrig bleibt, wenn
viel Gegenwind weht, dafür ist Deutschland ein gutes Forschungsfeld. Die
Teilung hat das Land zu einem Labor in Glaubensfragen gemacht. Während fast
alle Minister in der alten Bundesrepublik ihrem Amtseid ein „sowahr mir Gott
helfe" anfügten, war Hilfe von oben in der DDR unerwünscht. Der Staat trat
in Konkurrenz zur Kirche, neue Religion war die „wissenschaftliche Weltanschauung".
Wer sich zum Glauben bekannte, hatte mit schulischen und beruflichen Schikanen
zu rechnen. Die Folge: Von 90 Prozent Christen zu Beginn der DDR waren 1989 nur
noch 3o Prozent Kirchenmitglieder übrig, weniger als halb so viele wie in den
alten Bundesländern.
Welche Spuren diese „forcierte Säkularität"
hinterlassen hat, erkundet von einem liebevollchaotisch aussehenden Büro an der
Universität Leipzig aus Monika WohlrabSahr. Die Theologin und Soziologin hat
lange im Westen geforscht und ist nun Professorin für Kultursoziologie in einem
Umfeld, wo Gott ein halbes Jahrhundert lang Staatsfeind war.
Was bedeutet das für die Fragen der Menschen nach Woher und
Wohin? Um sich ein Bild zu machen, führten WohlrabSahr und ihr Team lange Familiengespräche
mit Konfessionslosen und konfessionell Gebundenen. Jeweils zwei oder drei
Generationen nahmen teil, redeten, stritten. Interessantestes Thema war die
Frage, wie es nach dem Tod weitergeht. Was dabei zur Sprache kam, „gehört für
mich zum Faszinierendsten,
das ich in meiner Forschung bisher erlebt habe", sagt
WohlrabSahr.
Da ist die nach dem Krieg aus dem Sudetenland nach SachsenAnhalt
geflüchtete Großmutter einer katholischen Familie, die noch überzeugt ist, dass
„uns der Herrgott holt" und „der Geist in den Himmel" zieht. Ihr Sohn
und die erwachsene Enkelin formulieren ihre ebenfalls katholische Sicht anders:
Sie sprechen von der Unendlichkeit des Kosmos und der weiterbestehenden Hoffnung, dass nach
dem Tod „alles irgendwie klar wird".
Eine Großmutter aus einer Freidenkerfamilie ist sicher, dass
nach dem Tod „nichts" passiert: „Da bin ich weg." Die Enkelin,
studierte Verwaltungsfachfrau, widerspricht: Etwas werde ja weitergegeben an
die Kinder und deren Kinder. Ihr Fazit für das Jenseits: „'n bisschen lebt ma'
immer noch, aber nich' bewusst."
Ein ehemals ehrenamtlicher SEDParteisekretär liebäugelt mit
Reinkarnation „als Blümchen oder als andrer Mensch". Eine Bauingenieurin,
Jahrgang 1976, eigentlich strenge Rationalistin, sieht den Tod als Zerfall,
einen Kreislauf des Verrottens. Dennoch glaubt sie, dieser Kreislauf könne dazu
führen, dass es irgendwann „einen Menschen gibt, der ich bin". Eine
Kunstgeschichtsstudentin, die in einer katholischen Arztfamilie aufgewachsen
ist und im Kirchenchor singt, plädiert wiederum für das „Nichts", aber es
sei „ein „Nichts, das keine Angst macht". Ihre Mutter hält dagegen, dass
„irgendetwas" schon erhalten bleibe, etwas wie „Kraft, Materie oder Seele
..." , vielleicht „Energiehäufchen".
Die Neugier auf die existenziellen Fragen des Lebens ist in
allen Gesprächen zu spüren. Monika WohlrabSahr hebt zwei Eindrücke hervor: Egal
ob kirchlich gebunden und konfessionslos die tastenden Formulierungsversuche unterscheiden
sich kaum. Wenn es um Transzendenz geht, tun sich Gläubige ähnlich schwer wie
Atheisten, auf überlieferte Vorstellungen wie Auferstehung zurückzugreifen.
Klar wird aber auch, wie unüblich es in der verweltlichten
Gesellschaft ist, über existenzielle Vorstellungen zu reden, selbst in der
Familie. Jeder bastelt sich eine PrivatWeltanschauung, die nicht auf die Probe
gestellt wird. Oft zeigten sich die Teilnehmer von den Ansichten ihrer
Angehörigen überrascht: „So etwas denkst du?"
Die Unentschlossenheit in Bezug auf die eigenen
Glaubensvorstellungen kommt auch in der großen gesamtdeutschen
sozialwissenschaftlichen ALLBUSUmfrage 2012 zum Ausdruck. Die Hälfte der
Erwachsenen in Deutschland (50,3 Prozent) ist der Meinung: „Religion und
Wissenschaft stehen nicht in Widerspruch miteinander." 44,5 Prozent sehen
das anders. Doch mit einem großzügig ausgelegten Gottesbegriff lösen auch Skeptiker
den Widerspruch auf. Mehr als 7o Prozent aller Befragten unterschreiben den
Satz: „Gott befindet sich nicht irgendwo da oben, er ist lediglich im Herzen
der Menschen." Und egal wo sein Platz ist bei der größten aller Sinnfragen
vertraut die Mehrheit ganz auf sich selbst. Die Aussage „Das Leben hat nur dann
einen Sinn, wenn man ihm selber einen Sinn gibt", bejahen fast 90 Prozent.
Seht selbst, probiert!
„Kommt, die neue Stadt wartet auf euch!" Der Ruf aus
der Immanuelkirche auf der Veddel spiegelt dieses Wagnis wider: Sinngebung
nicht mehr an Gott zu delegieren selbst
dann, wenn man ihn verehrt. Und Sinn nicht nur in der Erfüllung materieller
Wünsche zu finden, sondern in einem größeren Ganzen. Die Belohnung? Ein
friedliches Zusammenraufen: „Wir sind Albaner, Mazedonier, Ghanaer, Türken,
Kurden, Muslime, Aleviten, Iraker, Sunniten, Christen, Männer, Frauen,
Mittelalterfreaks, Borderliner, Architekten, Fotografen, Hundebesitzer
...", skandieren die Mitspieler beim „New Hamburg"Festival, „woanders
auf der Welt schneiden sie sich deshalb die Kehle durch/Schlagen sich die Köpfe
ein/ Sprengen ihre Gotteshäuser in die Luft".
Bei der Aufgabe, zumindest im eigenen Umkreis den Frieden
auf Erden mitzugestalten, sind alle gefordert: Theisten, Deisten, Atheisten,
Agnostiker. Die neue Zeit lebt in den christlichen Kirchen, die ihre Stimme für
die Armen und Schwachen erheben, und in den neuen Sunday Assemblies. Ein Gott?
Kein Gott? Göttinnen? „Sieh selbst!", heißt die Antwort, wenn jeder sein
eigener Wegweiser ist. Die
neue Zeit, das sind interreligiöse Arbeitskreise, die
Interessenten in Moscheen, jüdische Gemeinden, YogaZentren, christliche Kirchen
und buddhistische Gruppen einladen. Suchende finden Antworten in Seminarhäusern
wie dem Benediktushof in Holzkirchen, wo klassische Übungswege im Angebot sind:
ZenMeditation, Vipassana, Yoga, Sufismus aus den östlichen Weisheitstraditionen
und Kontemplation aus dem Westen. So können Sinnsucher ihren „Geschmack fürs
Unendliche" ergründen und praktisch erfahren.
Ganz Mutige begreifen spirituelle Praxis als
Gesamtlebenskunstwerk. Zum Beispiel in Schloss Tempelhof im Landkreis
Schwäbisch Hall, einer Dorfgenossenschaft, in der wo Erwachsene und 4o Kinder
leben und „praktisch alle Weltreligionen vertreten" sind. Es gibt keine
Führungsfigur der Grundsatz lautet „AllLeader".
Die Bewohner wirtschaften vielfältig: Es gibt bisher bereits rund 35 Menschen,
die in verschiedenen Projekten (Landwirtschaft, Gemeinschaftsküche, freie
Schule, Bäckerei, Käserei, Seminarhaus, Baubetrieb, Verwaltung) arbeiten und
zum Teil nach Bedarfseinkommen bezahlt werden. Das heißt, jeder gibt, was er
kann, und bekommt, was er braucht sodass eine Schreibkraft mit vielen Kindern
auch mehr bekommen kann als zum Beispiel ein Vorstand. Andere arbeiten
ehrenamtlich oder auch als Freiberuflermit eigenen Betrieben. Alle verbringen
20 „Sozialstunden" pro Monat in einem der Gemeinschaftsprojekte. Für
wichtige Entscheidungen gilt das Konsensprinzip.
Der Gong schlägt vor dem gemeinsamen Frühstück in der
Kantine. Danach der Morgenkreis, bei dem sich alle an der Hand fassen und eine
lange Weile schweigen, um sich gemeinsam in den Tag einzustimmen. Dann kann der
Tag beginnen.
Innehalten. Einen Augenblick aus dem Alltag heraustreten und
sich bewusst sein, was in diesem Moment des Jetzt geschieht ... Lange waren
Gebete und christliche Feiern die rituellen Wegweiser, die durch den Tag,
durchs Jahr, durchs Leben leiteten. Noch hat die säkulare Gesellschaft kaum
gleichrangigen Ersatz gefunden. Der Morgenkreis in Schloss Tempelhof und die
PopsongLiturgie in der Sunday Assembly sind allenfalls zarte Anfänge. Denn
Rituale entfalten ihre Kraft erst voll, wenn jeder sie kennt.
Für Yvonne Vogt ist „Ritualgestaltung" Beruf und
Berufung. „Meine Kunden suchen nach eigenen, selbstbestimmten Wegen,
Spiritualität zu leben", sagt die Schweizerin, „unabhängig von einer Religionszugehörigkeit."
Für sie veranstaltet Yvonne Vogt Seminare, die mit Trommeln und Gesängen an UrRhythmen
anknüpfen. Die Teilnehmer zelebrieren die Zyklen des Jahres, gehen in sich:
„Was habe ich gesät, erreicht? Wo stehe ich im Leben?" Für die großen
privaten Feiern (er) findet die 36Jährige mit ihren Auftraggebern individuelle
weltliche Zeremonien, „meist nicht so wie in der Kirche, aber oft auch nicht so
weit weg". Da wandern bei der Hochzeitszeremonie die Ringe durch die
Gästeschar und jeder gibt ihnen einen Wunsch mit. Da taufen und segnen Eltern
ihre Kinder selbst am Bach.
Wasser fließt. Saat geht auf, eine Pflanze wächst, blüht,
welkt. Die Natur spiegelt das Leben und
den Tod. Dem Ende und der Trauer die Würde zurückzugeben, das war die Vision
des inzwischen verstorbenen Fritz Roth (19492013). Denn Verstorbene werden dem
Blick der Lebenden heute vielerorts zu hastig und unsensibel entzogen.
Beerdigungen sind streng getaktet; für die letzte Ruhe wartet das
Einheitsreihengrab.
Roth gründete ein Bestattungshaus in Bergisch Gladbach;
inzwischen leiten es
130 GEO 0112015
seine Frau, sein Sohn und seine Tochter. In den
Abschiedsräumen lassen sich Angehörige und Freunde Zeit fiir ihre Trauer,
manchmal Tage. In Werkstätten können Hinterbliebene eine Totenmaske gestalten
oder den Sarg bemalen. Kunst auf dem Gelände erinnert an Endlichkeit. Und es
ist viel Platz für nach eigenen Ideen gestaltete Gräber unter Bäumen oder am
Bachlauf, mal mit Kreuz, mal ohne.
Die neue Zeit sie ist
an vielen Orten präsent, leider nicht überall. Bei seinem Deutschlandbesuch im
Sommer 2014 seufzte der Dalai Lama über religiösen Fundamentalismus: „Manchmal
denke ich, es wäre besser, es gäbe keine Religion." Eine dosierte
Provokation natürlich wolle er Buddhist
bleiben, versicherte er sofort. Aber eigentlich, so glaubt der Tibeter,
brauchen wir „keine Tempel oder Kirchen, keine Moscheen oder Synagogen, keine
komplizierte Philosophie, keine Doktrin, kein Dogma. Unser Herz, unser Geist das ist der Tempel. Mitgefühl ist die
Doktrin". Worauf es ankomme, sei „Liebe zu anderen und der Respekt vor ihrer
Würde und ihren Rechten, gleichgültig wer oder was sie sind".
Im Irak. In Nigeria. In Syrien. In Lampedusa. Auf der
Veddel.
Dort drücken Sedat Cukadar und die anderen es so aus: „Es
geht darum, sich die Hand zu reichen. Es geht darum, zu reden, zu singen, zu
essen, zu lieben.
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