Mittwoch, 29. Juli 2009

Privat-Insolvenz

Privat-Insolvenz
Author D.Selzer-McKenzie
Jawohl, hinter der wachsenden Zahl von Privatinsolvenzen verbergen sich persönliche Tragödien, ökonomischer Leichtsinn und volkswirtschaftlicher Sprengstoff.
Im Wohnzimmer von Horst Linder (Name geändert) in Krefeld am Niederrhein sieht es nicht nach Pleite aus. Die dunkle Ledercouch bietet Platz für eine Großfamilie, die Teppiche tragen die Muster berühmter persischer Manufakturen, die Kommoden stammen vom Schreiner, nicht vom Möbeldiscounter – es ist der Chic einer noch nicht lange vergangenen Zeit, es sind die Überreste eines Lebens im bürgerlichen Wohlstand. Der heute 62-jährige Architekt arbeitete lange als Projektentwickler, organisierte den Bau von Fußballstadien und Wohnsiedlungen, verkaufte die dann an Investoren. Er legte sich eine große Wohnung zu, ein schickes Auto, alles auf Raten. Und alles kein Problem – bis irgendwann die Aufträge wegblieben. Seine Sicherheiten waren längst aufgebaucht, sein angespartes Vermögen schließlich fürs tägliche Leben eingesetzt. Was ihm blieb, waren 200.000 Euro Schulden.
Derzeit gelten in Deutschland 3,3 Millionen Menschen als überschuldet. Ihre Verbindlichkeiten türmen sich auf rund 70 Milliarden Euro, die betroffene Gläubiger eigentlich ersatzlos aus ihren Bilanzen streichen müssten. Das ist ein gewaltiger volkswirtschaftlicher Sprengsatz. Als Geprellte grüßen Banken, Versandhäuser, Elektromärkte, Wohnungsbaugesellschaften, Telefonkonzerne, aber auch Privatleute.
Schuld daran ist auch eine veränderte Einstellung zur Kreditaufnahme. „Selbst Alltagsausgaben werden inzwischen regelmäßig über Kredite finanziert“, sagt Werner Sanio vom Schuldnerfachzentrum der Universität Mainz. Statt zu sparen, bis das Geld für den Fernseher oder die Couchecke beisammen ist, schauen viele nur darauf, ob sie sich die nächste Ratenzahlung leisten können. Lag der Anteil von Ratenkrediten an den gesamten Konsumkrediten vor zehn Jahren noch bei unter 50 Prozent, so hat sich das Verhältnis inzwischen gedreht: Fast 60 Prozent aller aufgenommenen Kredite von Privathaushalten sind heute Ratenkredite. Die Haushaltsbudgets werden so knapp kalkuliert, dass der Verlust des Arbeitsplatzes fast unweigerlich in die Überschuldung führt.
Um die Forderungskataloge der Gläubiger zu bereinigen und den Schuldnern die Rückkehr in geordnete Verhältnisse zu ermöglichen, hat der Bundestag vor zehn Jahren die Verbraucherinsolvenz parallel zur Insolvenz von Unternehmen eingeführt: Menschen, die so tief in der Kreide stehen, dass ihre Gläubiger chancenlos sind, können wie Firmen Insolvenz anmelden. Der Schuldner kann so nach einiger Zeit ins Wirtschaftsleben zurückkehren, die Geldgeber bereinigen ihre Bücher. „Die Rückkehr der Schuldner ins Wirtschaftsleben schafft Kaufkraft“, behauptet die Autorin Anne Koark, die mit ihrem Roman „Insolvent und trotzdem erfolgreich“ über die eigene Insolvenzerfahrung vor fünf Jahren einen Bestseller landete. Sie kritisiert, die Entschuldung würde sich in Deutschland viel zu lange hinziehen. So wird ein Schuldner in Großbritannien nach einem Jahr von all seinen Verpflichtungen befreit, in Frankreich nach 18 Monaten. In Deutschland dauert es sechs Jahre.
Dass die Schuldner von heute der Konsummotor von morgen sein sollen, hält Jochen Schatz dagegen für eine gefährliche Hoffnung. „Die Privatinsolvenz animiert dazu, über seine Verhältnisse zu leben“, sagt der Vorsitzende des Bundesverbandes Deutscher Inkassounternehmen. Zahlungsunfähige Privatleute von heute seien die Wiederholungstäter von morgen.
Betroffene sehen das natürlich anders. Andrea Straub (Name geändert) will nur, dass die Gläubiger endlich Ruhe geben. Sie hat alles noch mal durchgezählt, letzte Nacht, wie fast jede Nacht in den vergangenen Jahren. Unbezahlte Arztrechnungen, Mietschulden, Bankschulden – über 90 Gläubiger hat sie, 160.000 Euro wollen die von ihr. Dafür reicht ihr kleines Gehalt niemals. Selbst wenn sie arbeitet, bis sie tot umfällt, wird alles nur schlimmer werden. Da kann sie auch gleich tot sein, hat sie sich im schlimmsten Moment gedacht, das wäre sogar besser. Das war im Juni 2006 und die heute 41-jährige Düsseldorferin war kurz davor, sich in den Rhein zu stürzen. Dann begann ihr Insolvenzverfahren.
Bis 1999 war die Verjährung der einzige Ausweg aus den privaten Schulden. Die tritt jedoch erst nach 30 Jahren ein, solange erinnern Zahlungsaufforderungen, Inkassobüros und Gerichtsvollzieher den Schuldner tagtäglich an seine Verpflichtungen. Da ist die Privatinsolvenz ein attraktiver Ausweg: Sechs Jahre muss der Schuldner zwar darben, doch danach sind alle Verbindlichkeiten vergessen. Dafür muss der Schuldner zunächst allen seinen Gläubigern einen Vergleich anbieten. Da dieses Angebot fast immer einem Totalausfall des Kredits gleichkommt, wird es regelmäßig abgelehnt. Bestätigt der Richter dann, dass alle Vermögenswerte gepfändet sind, beginnt das Insolvenzverfahren. Der Schuldner gibt nun sechs Jahre lang sein Einkommen oberhalb der sogenannten Pfändungsfreigrenze an einen Treuhänder ab, der verteilt das Geld an die Gläubiger. Dem Schuldner bleibt ein Minimaleinkommen auf Hartz-IV-Niveau. Doch nach den sechs Jahren Armut kann der Schuldner wieder bei null anfangen. Sogar bei der Schuldenauskunft Schufa wird sein Eintrag gelöscht.
Als Andrea Straub das erste Mal vom Insolvenzverfahren hörte, war die Wohnung schon verkauft und das Auto weg. Obwohl sie als Angestellte bei einer Ersatzkrankenkasse ein geringes, aber zumindest sicheres Einkommen hatte, konnte sie selbst die kleinsten Kreditraten kaum bezahlen. Neue Rechnungen schmiss sie weg, und wenn es klingelte, ging sie nicht an die Tür. Erst riefen Anwälte an, um Forderungen einzutreiben, dann sperrte die Bank ihr Girokonto, später wurde sie von der Polizei vorgeladen. Fast sechs Jahre hat sie gelebt, ohne dafür bezahlen zu können. Sie sagt heute, die Privatinsolvenz habe ihr nicht nur geholfen, schuldenfrei zu leben, sie habe auch ein Stück Aufarbeitung mit sich gebracht. Und vor allem die Rückkehr in die Gesellschaft.
Es bleibt aber der Missstand, dass es in den meisten Fällen gar nicht erst zur Eröffnung eines Verfahrens kommt. Von den 3,3 Millionen überschuldeten Deutschen haben im vergangenen Jahr nur 98 000 Privatinsolvenz beantragt, auch im Krisenjahr 2009 werden es Prognosen zufolge nur ein paar Tausend mehr sein. Dabei lag das Ziel des Gesetzgebers anfangs bei 180 000 pro Jahr. Und um die Forderungskataloge der Gläubiger von wertlosen Zahlenbergen zu entrümpeln, müssten es wohl mindestens doppelt so viele sein. Das Problem: Privatinsolvenz kann kein Schuldner einfach anmelden, er braucht dafür gemäß der Insolvenzordnung die Unterschrift eines Rechtsanwalts oder einer Schuldnerberatungsstelle.
Die Schuldnerberater sind jedoch hoffnungslos überlastet, und Anwälte haben keinen Anreiz, kostenlos zu beraten. Den Beratungsstellen fehlt es vor allem an der Unterstützung durch ihre staatlichen Geldgeber, die Bundesländer. Die verstecken sich hinter einem statistischen Trick: Laut offiziellen Angaben liegen die Wartezeiten für einen Termin zur Schuldnerberatung in den meisten Bundesländern bei vier bis sechs Wochen, von Überlastung könnte damit keine Rede sein. Der leidgeprüfte Schuldnerberater Krohn weiß jedoch, wie diese Zahl zustande kommt: „Wir vergeben telefonisch einmal in der Woche Termine für die Sprechstunde einen Monat später. Ist die voll, müssen die Leute wieder anrufen.“ Das heißt: Wartelisten werden nicht geführt. Wer ein halbes Jahr vergeblich anruft, bis er endlich einen Termin bekommt, hat laut Statistik nur vier Wochen gewartet.
Dass auch die Anwälte kaum in der Schuldnerberatung aktiv werden, liegt an der restriktiven Praxis der Gerichte. Denn um den Anwalt finanzieren zu können, sind die klammen Schuldner auf sogenannte Beratungsscheine angewiesen. Mit deren Ausstellung erkennt ein Gericht an, dass der Schuldner bedürftig ist, die Anwaltskosten werden dann vom Staat getragen. In vielen Fällen lehnten die Gerichte diese Unterstützung in den vergangenen Jahren jedoch ab, sie verwiesen auf den kostenlosen Service in den Beratungsstellen. Dahinter steckt nicht nur die Absicht der öffentlichen Hand, Kosten zu senken, sondern auch ein Geschachere zwischen Ministerien: Die Beratungsscheine werden von den Justizministerien bezahlt, die Kosten für Beratungsstellen muss hingegen das jeweilige Sozialministerium tragen. Jeder versucht, die Kosten auf den anderen abzuwälzen. Am Ende bleibt ein Berg von Schuldnern, deren Kreditausfälle die Gläubigerunternehmen in die Bredouille bringen.
Wer auch immer die Verbraucherinsolvenz am Ende bezahlt, die Verlierer stehen von vornherein fest: die Gläubiger. Sie sind von allen Parteien in der schlechtesten Position. Denn das Geld, das vom Schuldner während des sechsjährigen Verfahrens eingetrieben wird, fließt zunächst in die Finanzierung der Prozesskosten. Erst danach sind die Gläubiger dran. Schuldenforscher Sanio fordert angesichts dieser Missstände, deutlich stärker auf Prävention zu setzen. Schon bei der Kreditvergabe müssten die Folgen eines Jobverlusts einkalkuliert werden. „Wer heute bei der Schuldnerberatung sitzt, bei dem ist ohnehin nichts mehr zu holen.“
Horst Lindners Insolvenzverfahren läuft seit einem Jahr. Pro Monat werden jetzt 15 Euro seines Einkommens gepfändet, das Verfahren endet im September 2014. Dann beginnt für ihn ein ganz normales Rentnerdasein: Da er über 30 Jahre für die private Altersvorsorge gezahlt hat, wird er für den Rest seines Lebens ein kleines, aber sicheres Auskommen beziehen. 200.000 Euro Schulden werden dann aus seinem Leben verschwunden sein — und genauso viel bei seinen Gläubigern.
WiOb aus Scham oder Stolz: Wer pleite ist, der will meist nicht darüber reden. Das ist nachvollziehbar, führt jedoch dazu, dass überschuldete Privatpersonen oft immer tiefer in ihre Schulden versinken anstatt frühzeitig Hilfe zu suchen. Betroffene berichten dann später, wie sie sich zunehmend von der Gesellschaft abkapselten und sich kaum mehr aus dem Haus wagten. Die wachsenden Schulden verdrängten sie und verloren bald vollends den Überblick. Das Ergebnis: Mehr als 80 Prozent aller Pleitekandidaten suchen erst so spät die Schuldnerberatung auf, dass ihnen dann nur noch der Weg in die Insolvenz bleibt.
Damit es nicht so weit kommt, raten Experten einvernehmlich dazu, sich auch bei kleineren Problemen an die Schuldnerberatung zu wenden. Angeboten wird diese in den meisten Bundesländern von Verbraucherzentralen und kirchlichen Organisationen wie der Diakonie, in einigen Kommunen unterhält auch die Stadtverwaltung selbst eine Schuldnerberatung. „Viele Menschen glauben jedoch nicht daran, dass Ihnen in Beratungsstellen weitergeholfen werden könnte“, sagt Oliver Rieck von der Verbraucherzentrale Berlin. Ganz nach dem Motto: Meine eigenen Finanzen verstehe ich doch selbst am allerbesten. Dabei können die Berater zum Beispiel einen Überblick über die rechtliche Situation liefern oder dabei helfen, die Haushaltsausgaben so umzustellen, dass zumindest weitere Schulden vermieden werden.
e Überschuldete den Bankrott verhindern - oder im schlimmsten Fall mit der Privatinsolvenz abwickeln können.
Um selbstständig die Pleite abzuwenden, ist es zunächst wichtig, sich einen Überblick über Gläubiger und Schuldensummen zu verschaffen. „Das ist ein Stück Aufarbeitung und hilft, die eigene Notlage zu erkennen“, sagt Rieck.
Stellt sich dabei jedoch heraus, dass die Schulden zu groß sind, um abbezahlt zu werden, steht als letzter Ausweg der Gang in die Verbraucherinsolvenz offen. Dazu muss der Schuldner zunächst alle Gläubiger um eine Aufstellung der Schuldensumme bitten. Sind die Verbindlichkeiten zusammengezählt, bietet der säumige Zahler den Gläubigern einen Vergleich an. Dazu schlägt der Schuldner abhängig von seinem Vermögen eine meist sehr geringe Summe vor. Schon bei diesem Schritt ist die Unterstützung durch einen Anwalt oder die Beratungsstelle unumgänglich: Das Angebot muss eine feste Form und den Stempel einer anerkannten Stelle tragen, damit es im weiteren Verlauf des Verfahrens Geltung hat.
Die Gläubiger lehnen den Vergleich dann in den häufigsten Fällen ab. Wird das Angebot nur von einigen Kreditgebern angenommen, von anderen jedoch abgelehnt, muss ein Richter entscheiden, ob das Insolvenzverfahren stattfinden kann. Die Faustregel lautet dabei: Nur wenn eine Mehrheit der Gläubiger, die zudem eine Mehrheit der Schuldensumme auf sich vereint, den Vergleich ablehnen, kann es zu einem Insolvenzverfahren kommen. Bevor das Verfahren beginnt, muss der Schuldner zuletzt nachweisen, dass er all sein pfändbares Vermögen eingebracht hat, um die Gläubiger auszuzahlen.
Eine wichtige Rolle spielen die Kosten des Insolvenzverfahren, die meist zwischen 1500 und 2000 Euro liegen. Viele Schuldner können dieses Geld nicht aufbringen, das Gericht kann daher einer Stundung zustimmen. Die Kosten fließen dann mit in die abzutragende Schuldensumme ein.
Das eigentliche Insolvenzverfahren beginnt daraufhin mit der sogenannten Wohlverhaltensphase: Sechs Jahre lang muss der Schuldner sein Einkommen oberhalb der Pfändungsfreigrenze an einen Treuhänder abgeben. Der verteilt es an die Gläubiger. Zunächst werden dabei die gestundeten Prozesskosten abgestottert, was übrig bleibt wird an die privaten Kreditgeber verteilt. Die Freigrenze liegt bei gut 900 Euro, abhängig von der Zahl der Kinder und dem Einkommen des Partners auch leicht höher.
Wenn der Schuldner in dieser Phase arbeitslos ist, muss er jede zumutbare Arbeit annehmen, sonst kann das Verfahren abgebrochen werden. Dasselbe gilt, wenn er Vermögen nicht meldet.
Danach folgt die Restschuldbefreiung: Alle Verbindlichkeiten verfallen und auch der Schufa-Eintrag wird gestrichen. Eine Ausnahme bilden lediglich die Prozesskosten. Ist es in den sechs Jahren nicht gelungen, diese abzubezahlen, so wird das Konto des Schuldners weitere drei Jahre mit Ratenzahlungen belastet. Wenn auch dann eine Rückzahlung nicht gelingt, muss ein Richter entscheiden, wie es weitergeht.

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