Im Reich der Inka – Hörbuch
Author D. Selzer-McKenzie
YoutubeVideo: https://youtu.be/V90q2IyoygE
Als Francisco Pizarro und seine spanischen Begleiter im De-
zember 1533 Cuzco erreichten, wurden sie von den Inka dort
als Befreier begrüßt. Sie hatten Atahuallpa, einen der Söhne
Huayna Capacs (Tabelle 1), im nördlichen Hochland des
heutigen Peru, in Cajamarca, gefangengenommen, und es
schien, als wären sie aus dem Nirgendwo gekommen, um die
Sache seines Bruders Huascar zu unterstützen, jenes Sohnes,
der nach dem Tod Huayna Capacs die Nachfolge angetreten
hatte. Atahuallpa hatte seinem Vater als Anführer während
eines langen Krieges an der Nordgrenze des Inkareiches ge-
dient, und als Huayna Capac starb, war die Armee im Nor-
den unter seinem Befehl geblieben. Huascar, von seinem Vater
in Cuzco zurückgelassen, nahm zu Recht an, daß es zu einer
Auseinandersetzung mit seinem Bruder kommen werde. Ein
Krieg zwischen den beiden brach aus. Zum Zeitpunkt von
Pizarros Ankunft hatte Atahuallpa den Krieg gewonnen, und
Huascar war gefangengenommen worden. Pizarros Eingreifen
in Cajamarca stellte eine plötzliche und völlig unvorhersehba-
re Wende für Huascars Seite dar.
Huascar, bei Pizarros Ankunft ein Gefangener der Truppen
Atahuallpas, wurde auf Befehl seines Bruders - der sich zu
dieser Zeit bereits in der Hand der Spanier befand - getötet,
bevor er in das spanische Lager gebracht werden konnte. In
Cajamarca befahl Pizarro seinerseits die Hinrichtung Ata-
huallpas. Als er die Hauptstadt der Inka, Cuzco, im südlichen
Hochland des heutigen Peru erreichte, traf er auf einen weite-
ren Bruder, Manco Inca, der von den Inka in Cuzco zum
nächsten Herrscher gewählt worden war. Pizarro und Manco
verbündeten sich, um, so nahm zumindest Manco an, gegen
Atahuallpas Truppen zu kämpfen, die noch nicht besiegt
worden waren.1
Die glücklichen Umstände seiner Ankunft und seine skru-
pellose Tat gaben Pizarro ein mächtiges Reich der Neuen Welt
in die Hand. Die Inka herrschten über ein Gebiet, das vom
7
Karte 1:
(nach Hyslop 1990)
Hochland Ekuadors im Norden bis Mittelchile im Süden
reichte. Im Westen bildete der Pazifik die Grenze, die Ost-
grenze befand sich auf den niedrigeren Stufen der Andenkette
im Amazonas- und Chaco-Becken.2
Die Inka nannten dieses Gebiet „Tahuantinsuyo“ oder „die
vier Teile“ (Karte 1). Die wesentliche Unterteilung war jedoch
in Hälften, Hanansaya und Hurinsaya. Die Teilung in saya
war typisch für die meisten Gebiete, über die die Inka herrsch-
ten; die Stadt Cuzco selbst war in Hanan- und Hurinsaya
gegliedert. Hanansaya bestand noch aus zwei weiteren Teilen:
Chinchaysuyo und Andesuyo. Hurinsaya umfaßte die übrigen
beiden Teile: Collasuyo und Condesuyo. Die saya/suyo- Glie-8
derung konnte durch Bezug auf den menschlichen Körper beschrieben werden: Wenn jemand (in Cuzco) mit seinem
Rücken zur aufgehenden Sonne stand, lagen Chinchaysuyo
und Andesuyo auf der rechten Seite, Collasuyo und Con-
desuyo befanden sich links.3 Die Teile waren nicht gleichwer-
tig: Chinchaysuyo und Collasuyo waren größer und hatten
ein höheres Prestige als Andesuyo und Condesuyo.
Das Tahuantinsuyo umfaßte Teile des Territoriums von fünf
heutigen Anden-Republiken. Wenn wir den Aufwand der Inka
beim Bau von Straßen und Brücken, bei Projekten zur Was-
serkontrolle und bei der Umsiedelung von Bevölkerung zwi-
schen Regionen, der Koordinierung des Ackerbaukalenders
zwischen verschiedenen ökologischen Zonen und schließlich
bei der Nutzung von Ressourcen in weit entfernten Gebieten
betrachten, beeindrucken uns die Fähigkeiten der andinen Be-
völkerung genauso wie einst die Spanier, die als erste das Inka-
reich betraten. Wenn wir zu den Leistungen der Inka außerdem
die Entwicklung der Bronzeherstellung, des fein eingepaßten
Steinmauerwerks, hervorragende Tapisserie-Webereien und an-
dere Handwerksleistungen hinzufügen, die alle während des
relativ kurzen Zeitraums der Inkaherrschaft entstanden, dann
bekommen wir einen Eindruck von der Höhe des Erreichten bei
diesen Gesellschaften vor ihrem Kontakt mit Europa.
Die technischen und künstlerischen Leistungen der Inka
waren die Folge eines Entwicklungsprozesses von Jahrtausen-
den andiner Kultur, dabei waren die Inka die Erben früherer
andiner Staaten, wie die Ergebnisse archäologischer Forschun-
gen gezeigt haben. Es gab allerdings vor der Ankunft der Eu-
ropäer keine Schrift. Um die verschiedenen Arten von Infor-
mationen aufzuzeichnen, die für die Verwaltung eines großen
Reiches notwendig sind, benutzten die Inka Knotenschnüre,
quipo genannt. Von einer Hauptschnur hingen eine Anzahl Schnüre mit Knoten herab. Die Informationen wurden verschlüsselt, indem man verschiedenfarbige Schnüre und ver-
schiedene Knotentypen verwendete. Am einfachsten konnten
durch diese Knoten numerische Information festgehalten wer
den (Abb. 1). Die Position der Knoten auf einer Schnur zeigte
9
Abb. 1: Ein Beamter zeigt
Topa Inca einen quipo
(Guaman Poma de Ayala,
1936, S. 335 [337]).
an, welchen Platz im Dezimalsystem eine Zahl einnahm.4 Die
Inka benutzten die quipo für Zensus- und andere Zahlenangaben. Quipo wurden auch für nicht-numerische Listen verwendet (siehe Tabelle 5) sowie als Hilfen, um mündliche Be-
richte über die Inka-Herrscher aufzuzeichnen. In diesem Fall
waren die Menschen, die die Knoten anbrachten oder durch
sie ausgebildete Personen die einzigen, die diese quipo entzif-fern konnten. Als die Spanier über die Inka schrieben, hielten
sie viele Aspekte andiner Kultur fest, die schwer, wenn nicht
sogar überhaupt nicht archäologisch erforscht werden kön-
nen. Historiker und Ethnologen, die sich mit den Anden be-
schäftigen, haben daher ihre Aufmerksamkeit häufig den Inka
gewidmet, da ihre Kultur uns dank der Schriften der Spanier
besser zugänglich ist.
Über die Inka gibt es schriftliche Zeugnisse, aber diese sind
nicht unproblematisch. Die Spanier beherrschten am Anfang
10
nicht das gesamte Inkareich und wußten in den ersten Jahren nach ihrer Ankunft in Cuzco nur wenig darüber. Erst die fort-gesetzten Entdeckungszüge führten dazu, daß um 1540 der
größte Teil des Gebiets, das einst der Herrschaft Cuzcos un-
terstand, von Spaniern unter Führung Francisco Pizarros er-
obert worden war. Obwohl die Spanier eng mit Angehörigen
der inkaischen Elite und anderen Einheimischen zusammen-
lebten, befanden sie sich zunächst am Rand einer Welt, die ih-
rer gewohnten Kultur sehr fremd war, und beobachteten von
dort als Augenzeugen die Ordnung, die die Inka aufgebaut
hatten. Zunächst schrieben sie einfach ihre Beobachtungen
auf; sie waren beispielsweise besonders von den monumenta-
len Bauten der Inka beeindruckt. Was wir über die Inka erfah-
ren können, ist in solchen Berichten zu finden, aber viele
wichtige Aspekte andiner Kultur wurden kaum wahrgenom-
men oder übersehen.
Ein offizieller Bericht der Ereignisse bei der Eroberung
wurde von Francisco Pizarros Sekretär verfaßt und 1534 ver-
öffentlicht. Verschiedene andere Spanier verfaßten in den er-
sten Jahren nach der spanischen Eroberung sogenannte Chro-
niken. Was sie beobachteten und erlebten, schrieben sie auf,
aber ihr Zugang zu dieser an sich fremden Welt war noch sehr
begrenzt. Dennoch sind ihre Berichte oder Chroniken alles,
was wir über die Zeit der Herrschaft der Inka-Dynastie in den
Anden besitzen.
Von den Werken aus den ersten Jahrzehnten nach dem spa-
nischen Einfall wurde nur ein einziges von einem Angehörigen
der Inka-Elite verfaßt. Titu Cusi Yupanqui, Kopf der Dynastie
an ihrem Zufluchtsort in Vilcabamba, diktierte einen Bericht
an den spanischen König über die Behandlung seiner Vorfah-
ren durch die Spanier (1570). Er behandelte aber nur die Er-
eignisse nach der Ankunft der Spanier und nicht die vorspani-
sche Zeit.5
Das Interesse an der Geschichte der Inka setzte erst etwa
ein Jahrzehnt nach dem Einfall Pizarros ein. Zu diesem Zeit-
punkt hatten die Spanier entdeckt, daß die Inka durchaus
Mittel zur Weitergabe von Informationen über ihre Vergan-
11
genheit hatten, indem sie entweder die Informationen gezielt auswendig lernen ließen oder Erinnerungshilfen wie die quipo, die Knotenschnüre, benutzten. Zumindest eine Gattung der Ge-schichtserinnerung wurde öffentlich vorgetragen: Die cantares, wie sie auf spanisch hießen, wurden gesungen oder rezitiert.
Sie mußten auswendig gelernt werden, und man kann vermu-
ten, daß ihr Versmaß dabei half, den Inhalt genau weiterzuge-
ben. Eine zweite Gattung waren Malereien auf hölzernen Ta-
feln mit Angaben über einzelne Persönlichkeiten. Eine dritte
Gattung schließlich war eine Form nicht-öffentlicher Berichte,
die Informationen über Eroberungen und Tribute für denje-
nigen, der einmal Nachfolger des Herrschers werden sollte,
festhielten. Angaben aus solchen inkaischen Quellen wurden
in die spanischen Geschichtswerke aufgenommen, und Ange-
hörige der Elite Cuzcos haben noch im 17. Jahrhundert Be-
richte über ihre Vergangenheit tradiert, auch wenn die eben
beschriebenen verschiedenen Gattungen nicht alle erhalten
geblieben sind oder zumindest sehr verändert wurden.6
Spanische Autoren geben selten die genauen Quellen ihrer
Texte an, so daß wir nicht wissen, woher sie ihre Informationen
bekamen. Wir können nicht beurteilen, ob sie Gehörtes genau
niederschrieben (und übersetzten) oder ihr Quellenmaterial
frei nacherzählten, zusammenfaßten und interpretierten. Daß
sie inkaische Quellen benutzten, ist sicher. Sie schrieben weit
mehr über die Geschichte der Inka (und weit weniger über die
anderen Völker Südamerikas), weil sie auf einheimische hi-
storische Überlieferungen zurückgreifen konnten.
Obwohl ihre Darstellungen auf inkaischen Überlieferungen
beruhten, so ist doch keine direkte Niederschrift historischer
Traditionen der Inka erhalten, da alle Geschichtswerke auf
spanisch verfaßt wurden. Selbst wenn Überlieferungen der In-
ka relativ genau übersetzt wurden, birgt die Übertragung in
eine andere Sprache Probleme für unser Verständnis.
Die Spanier haben dem ihnen Erzählten vermutlich eine
chronologische Ordnung gegeben, das heißt, sie haben die in-
kaische in eine den Spaniern geläufige Form übertragen.
Wenn beispielsweise die Spanier ihre Informationen von den
12
Bewahrern der Lebensgeschichten einzelner Herrscher gesammelt haben, dann ist die historische Abfolge der Inka-Herr-
scher, die sich in den meisten Geschichtswerken findet, mögli-
cherweise die Folge einer Interpretation der Quellenangaben,
da eine chronologische Abfolge wie in der spanischen Ge-
schichtsschreibung eingeführt wurde. Die Abfolge der Herr-
scher wäre dann eine Hispanisierung der ursprünglichen in-
kaischen Überlieferung.7
Eine der ersten Darstellungen über die Geschichte der Inka
ist im zweiten Band des umfangreichen Werkes von Pedro
Cieza de León enthalten, eines spanischen Soldaten, der mit
dem Gouverneur von Peru 1549-1550 das Land bereiste. Er
erzählt die Geschichte der Inka-Dynastie von der Zeit ihres
mythischen Ursprungs und ersten Ahnen, Manco Capac, bis
zur Ankunft der Spanier, ein Zeitraum von elf Generationen
(Tabelle 1). Cieza schrieb die historischen Traditionen der In-
ka nieder, wie sie in Cuzco von Spezialisten mündlich überlie-
fert wurden, und bemerkt, daß er sich in Cuzco und den Pro-
vinzen auf prominente Angehörige des Inka-Adels als Quellen
verlassen habe.8
Tabelle 1: Inka-Herrscher
seit Anfang des 15. Jahrhunderts bis 1532
Inka-Herrscher
Panaca
1 Manco
Capac
Chima
2 Sinchi
Roca
Raura
3 Lloque
Yupanqui
Awayni
4 Mayta Capac
Usca Mayta
5 Capac Yupanqui
Apu Mayta
6 Inca
Roca
Vica
Quirao
7 Yahuar
Huaca
Aucaylli
8 Viracocha
Inca
Sucso
9 Pachachuti
Inca
Yupanqui
Inaca
10
Topa Inca Yupanqui
Capac
11
Huayna Capac
Tumipampa
Huascar
Atahuallpa
13
Der Inhalt anderer Geschichtswerke, die von Spaniern kurz nach der Eroberung verfaßt wurden, entspricht in groben
Zügen Ciezas Bericht, d.h. sie beginnen mit dem mythischen
Ursprung Manco Capacs und berichten über die Ereignisse in
den folgenden zehn Generationen. Obwohl diese Berichte -
dies mag überraschen - in vielen Einzelheiten der dynastischen
Abfolge voneinander abweichen, berichten sie doch weitgehend
übereinstimmend über die Expansion durch Eroberung des
Inka-Reiches, die größtenteils unter den letzten drei Inka-Herr-
schern stattfand: Pachacuti, Topa Inca und Huayna Capac. Ver-
schiedene spanische Autoren geben an, daß Angehörige der
Inka-Elite ihre Informanten waren. Ein Historiker aus dem
17. Jahrhundert, der Jesuit Bernabe Cobo, benutzte, wie er
schreibt, das Manuskript eines älteren Autors, aber fast die-
selben Informationen konnten noch zu seiner Zeit in Cuzco
gesammelt werden. Er erwähnt, daß nur die Inka diese Ge-
schichten kannten und daß andere Indianer nichts davon
wußten.9
Die damaligen Darstellungen spanischer Autoren sind die
Grundlage für alle späteren Werke über die Inka. Alle Texte
sind darüber hinaus zeitgebunden. Vom 16. Jahrhundert bis
ins 19. Jahrhundert wurde der Staat der Inka studiert, um
sogenannte primitive Gesellschaften zu verstehen. Primitive
Gesellschaften waren ein Konstrukt der Evolutionisten, die
glaubten, alle Gesellschaften auf der Erde hätten ähnliche
Entwicklungsstufen durchlaufen.10 Erst in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts begann man, die alten erzählenden Wer-
ke zu benutzen, um eine Geschichte der Inka zu schreiben11 -
Geschichte im Sinne einer chronologischen Erzählung von
Ereignissen, von denen man glaubte, sie seien tatsächlich ge-
schehen. Da die Erzählungen über die Inka entsprechend der
dynastischen Abfolge chronologisch geordnet werden konn-
ten, lag es nahe, sie für die Historiographie zu verwenden.
In neuerer Zeit ist jedoch vorgebracht worden, daß die
Spanier keine Form (oder mehrere Formen) von Geschichte
festhielten, sondern Mythen, in denen die inkaische Sozial-
organisation beschrieben war.12 Eine implizite Annahme, die
14
ihren Ursprung in dem Begriff der primitiven Gesellschaft hat, besagt, daß primitives Denken sich von unserem unterscheidet
und Ereignisse nicht in einer chronologischen Reihenfolge
festhält. Das primitive Denken erzeugt Mythen, nicht Ge-
schichte.13 Doch obwohl die inkaischen Formen historischer
Überlieferung sich von den historischen Traditionen der Spa-
nier unterschieden, wurde bisher nicht versucht, ihre Eigenart
zu definieren. Wir können nicht annehmen, daß die Spanier
die mündlichen Traditionen fehlerlos in eine europäische
Form umwandelten, aber genauso falsch erscheint die An-
nahme, daß die Inka keine eigene historische Sicht entwickelt
hätten. Zweifellos ist ein Teil des Materials, das die Spanier
verwendeten, legendär. Beispielsweise hat ein Forscher festge-
stellt, daß die Geschichten über Mayta Capac, den 4. Herr-
scher, solchen über Herkules ähneln.14 Auch legendäre Ein-
zelheiten wurden zusammen mit normalen Ereignissen in
einer nahtlosen Erzählung verarbeitet, die als „wahr“ angese-
hen wurde.
Von einiger Bedeutung ist es, daß Nicht-Inka, die außerhalb
Cuzcos von Spaniern befragt wurden, ähnliche Informationen
über die Inka-Herrscher gaben, die für die Expansion verant-
wortlich waren. Viele Zeugen kannten Huayna Capac, den
11. Herrscher; andere kannten auch seinen Vater Topa Inca
oder hatten von ihren Vorfahren von ihm gehört. In Chincha,
einem Tal an der Südküste des heutigen Peru, wurde eine Ab-
folge von vier lokalen Herrschern festgehalten, die bis zur
Generation Pachacutis, des 9. Inka-Herrschers, zurückreichte,
was die vermutete zeitliche Abfolge bei den Inka-Herrschern
bestätigt.15
In der folgenden Darstellung soll aus den genannten Quel-
len eine Sicht der Inka-Geschichte entwickelt werden. Zwei
Geschichtswerke sind besonders wichtig: Das erste wurde 1551
von Juan de Betanzos geschrieben, der mit Angelina Yupanqui
verheiratet war, einer Frau aus dem inkaischen Hochadel und
Mitglied der Abstammungsgruppe Pachacutis. Betanzos’ enge
Verbindung zu wichtigen Mitgliedern der Inka-Dynastie und
seine Kenntnisse ihrer Sprache ermöglichten ihm den Zugang
15
zu den dynastischen Überlieferungen. Er gibt sehr viele Daten über Pachacuti, den 9. Herrscher, wieder, und die überlieferte
Lebensgeschichte dieses Herrschers könnte seine Quelle gewe-
sen sein.16
Die andere Geschichtsdarstellung war von Pedro Sarmiento
de Gamboa verfaßt worden. Sarmiento gehörte zum Gefolge
des Vizekönigs Francisco de Toledo. Im Auftrag des Vizekönigs
stellte er 1572 eine Geschichte nach Angaben von Mitgliedern
der Inka-Dynastie zusammen. Obwohl er schreibt, seine Infor-
mationen stammten direkt aus der mündlichen Überlieferung
der Inka, scheint sein Bericht auch Daten zu enthalten, die von
der spanischen Verwaltung und anderen über die Dynastie ge-
sammelt worden waren.17 Sarmientos Bericht über das Leben
Pachacutis behandelt dieselben Themen, die sich auch bei Be-
tanzos finden, wenn auch nicht immer in derselben Reihen-
folge. Er könnte Betanzos’ Manuskript benutzt haben. Aber
trotz der strukturellen Ähnlichkeit bei den behandelten The-
men, sind die Darstellungen der beiden Autoren so unter-
schiedlich, daß umfangreiche Textkopien ausgeschlossen wer-
den können. Da die mündlichen Überlieferungen der Inka mit
Hilfe von quipo festgehalten wurden und diese Form sich für Aufzählungen von Informationen anbietet, kann ein von
beiden genutzter mündlicher Bericht über die Lebenszeit die-
ses Herrschers die strukturellen Ähnlichkeiten erklären. Die
quipo, die Pachacutis Leben festhielten, wurden zusammen mit der Mumie des Herrschers gefunden, als Polo Ondegardo,
ein spanischer Beamter, 1559 nach den mumifizierten Überre-
sten der Inka-Herrscher suchte (die noch immer als Kult-
objekte dienten). Dies ist ein weiterer Beweis für diese Hypo-
these.18
Sarmiento und Betanzos sind eine wichtige Grundlage der
folgenden Darstellung. Neben einer Übersicht über die Erobe-
rungen der Inka geben beide Autoren auch zahlreiche Infor-
mationen über die soziale Organisation Cuzcos, sowohl vor
der Ausdehnung des Reiches als auch danach. Tatsächlich ist
die Reihenfolge der Ereignisse nicht so wichtig, und es wird
nicht behauptet, daß sie historisch korrekt sei.
16
Als die Spanier die Herrschaft über das Reich an sich rissen, übernahmen sie die Verwaltung eines Gebietes, das für die Versorgung der Armeen der Inka und Unterstützung der Unter-
nehmungen der herrschenden Elite bestimmt war. Die Spanier
begannen sofort, im Andengebiet Wirtschaftsformen einzu-
führen, die ihnen erlaubten, ein Leben wie in ihrer europäi-
schen Heimat zu führen. Bei diesem Unterfangen wurden sie
überall von den vorhandenen Organisationsformen behindert.
In zwei Kapiteln dieses Buches (Kapitel 6 und 7) werden spa-
nische Verwaltungsdokumente unsere wichtigsten Informati-
onsquellen für die Herrschaft der Inka in den Provinzen sein.
Es ist nicht leicht, die Natur der inkaischen Territorialorgani-
sation zu klären, da die Dokumente sich nicht ausdrücklich
darauf beziehen, wie die Zustände in der Vergangenheit wa-
ren, sondern zeitgenössischen spanischen Zwecken dienen.
Angaben aus diesen Quellen können aber zusammen mit In-
formationen aus den Geschichtswerken dazu dienen, ein Bild
von der vergangenen Welt der Inka zu entwerfen.
Cuzco steht im Mittelpunkt dieser Studie, und die religiöse
Erhöhung der Dynastie ist ihr Kern. Es gibt keine „inkaische
Version“ der Geschichte, aber indem wir ihren Standpunkt
einnehmen, können wir uns ihrer Sicht annähern. Dabei sollte
man versuchen, keine vorgegebenen Kategorien bei ihrer Be-
schreibung zu verwenden. Eine genaue Kenntnis des primären
Quellenmaterials führt zur Entwicklung neuer Kategorien.
Diese Studie bringt verschiedene Aspekte dessen zusammen,
was die Ethnologen als Weltsicht bezeichnen und was man bei
der Beschreibung europäischer Kulturen in Kategorien wie
Religion, Wissenschaft und politische Ideologie aufteilt. Wenn
in den folgenden Kapiteln von dem übernatürlichen Status der
Inka-Herrscher, von der zeremoniellen Organisation Cuzcos
und von der Beziehung zwischen der Dynastie und natürli-
chen Felsformationen die Rede ist, dann handelt es sich dabei
um verschiedene Aspekte inkaischer Glaubensüberzeugungen.
Diese kann man nicht von dem inkaischen Verständnis der na-
türlichen Umwelt trennen, also von dem, was wir als Wissen-
schaft bezeichnen würden.
17
Auch wenn wir uns ernsthaft bemühen, die Weltsicht eines zeitlich und räumlich weit entfernten Volkes zu verstehen,
und obwohl diese Studie versucht, die Perspektive der Inka zu
vertreten, bleibt das Endprodukt doch immer unsere eigene
Sicht. So wie die Technik, dreidimensionale Gegenstände zwei-
dimensional wiederzugeben, eine wichtige Entwicklung in der
westlichen Kunst war, so hat sich unsere Fähigkeit, Bilder der
Vergangenheit zu entwickeln, seit Beginn der ersten Untersu-
chungen über die Inka entwickelt. Wie eine perspektivische
Zeichnung, sind unsere Bilder nicht identisch mit dem Origi-
nal, sondern nur eine Annäherung.
2. Die Entstehung des Inkareiches
Ein Bericht über den Ursprung und die Herkunft der Inka fin-
det sich in dem Geschichtswerk von Sarmiento de Gamboa.
Vier Brüder und vier Schwestern, von denen zwei die Ahnen
der Inka-Dynastie werden sollten, kamen aus dem mittleren
von drei Fenstern an einem Ort namens Tambotoco hervor.
Aus den seitlichen Fenstern kletterten zwei andere Vorfahren
mit den Namen Maras und Sutic. Menschen, die von diesen
beiden anderen Vorfahren abstammten, lebten in Cuzco, als
Sarmiento sein Buch schrieb. Die Geschichte erklärt auch,
welche anderen Abstammungsgruppen aus der Gegend von
Tambotoco mit den Inka nach Cuzco gekommen waren und
welche dort bereits siedelten, als die Inka in die Gegend ka-
men. Sarmientos Geschichte behandelt nicht nur den Ur-
sprung der Inka: Sie erklärt, wie die verschiedenen Gruppen
von Einwohnern in die Gegend von Cuzco kamen. Indirekt ist
es eine Beschreibung der Sozialorganisation der Stadt.19
Tambotoco befand sich auf einem Hügel nahe Pacaritambo,
etwa 30km südlich von Cuzco (Karte 2). Obwohl keine Anla-
ge mit drei Fenstern in dieser Gegend entdeckt wurde, gibt es
dort eine Höhle, die als der inkaische Ursprungsort aus den
Mythen identifiziert wurde. Der Ort war ein wichtiges Heilig-
tum der Inka und könnte von ihnen baulich verändert worden
sein; möglicherweise wies er einst drei Fenster auf. Zwei
relativ späte Quellen bilden die drei Fenster als quadratische
Nischen ab, und eine Quelle stellt sie in einer horizontalen
Reihe dar.20 Ob diese Darstellung rein symbolisch war oder
auf dem Aussehen des Heiligtums beruhte, werden wir viel-
leicht nie wissen, da das Heiligtum offenbar die Aufmerksam-
keit der spanischen Missionare erregt hat, die schon bald nach
der spanischen Einnahme Cuzcos solche Orte suchten, um sie
zu zerstören.
Angehörige der inkaischen Abstammungsgruppen führten
ihren Ursprung auf Manco Capac und eine seiner Schwestern
zurück. Bei Sarmiento heißt diese Schwester Mama Ocllo, in
19
Karte 2: Chilques- und Mascas-Gebiet (nach Julien 1991)
anderen Berichten Mama Guaco. Wenn die Spanier die Be-
zeichnung „Inka“ benutzten, so bezogen sie sich sowohl auf
die Nachfahren dieses Paares als auch auf andere Gruppen,
die den Status „Inka“ erhalten hatten. Diese größere Gruppe
umfaßte eine Anzahl von Ethnien aus der Gegend von Cuzco,
die auch unter einem anderen Namen bekannt sind. So lebten
in der Gegend von Pacaritampo zwei Gruppen, die Chilques
und Mascas. Angehörige dieser Gruppen waren auch Inka,
obwohl sie nicht von dem Paar abstammten, das die Dynastie
hervorbrachte. Was die Gruppe aller Inka zu verbinden schien,
war eine Initiation nach einem ähnlichen Ritus. Bei einigen
Gruppen war ein Bestandteil der Initiation von Jungen das
20
Durchbohren der Ohren, damit ein goldener Zylinder als Ohr-schmuck getragen werden konnte. Die Spanier nannten die so
initiierten Menschen daher orejones oder „Großohren“. Wir wissen nicht, welche weiteren Zeichen für den Status als Inka
es für andere Männer oder auch für Frauen gab.21
Die Nachkommen von Manco Capac und seiner Schwester
sicherten sich eine zunehmend mächtigere Stellung. Es ist
schwierig für uns, die frühe Geschichte der Inka vor der im-
perialen Expansion zu ermitteln. Die spanischen Beschreibun-
gen der Inka-Geschichte behandeln diese Frage nicht in der
Weise, wie ein moderner Historiker es tun würde. Trotzdem
enthält die historische Überlieferung, die an Betanzos und
Sarmiento weitergegeben wurde, indirekt auch Informationen
über das frühe Cuzco. Die zugrundeliegende Geschichte, so-
weit man sie ermitteln kann und wenn man mythische Einzel-
heiten beiseite läßt, ist nicht unglaubhaft und kann immerhin
als eine Version der Vergangenheit angesehen werden, soweit
man dabei in Erinnerung behält, daß Fehler und Mißver-
ständnisse bei der Weitergabe sie verändert haben können.
Diese Geschichte berichtet über die Ankunft der Gruppe aus
Brüdern und Schwestern in Cuzco. Auf dem Weg dorthin
machten sie mehrmals Halt, und nicht alle von ihnen erreich-
ten die Stadt lebend. Die Zugehörigkeit zu Abstammungs-
gruppen wurde über die männliche Linie bestimmt (s.u. S. 46),
und drei Gruppen führten ihre Abstammung auf einen dieser
Brüder zurück, einschließlich der Abstammungsgruppe der
Herrscher, die von Manco Capac abstammte. Nur im Fall der
Gruppe der Nachfahren Manco Capacs wird die weibliche
Vorfahrin genannt.22
Ein Problem, das vielleicht auf die Überlieferung durch die
Spanier zurückgeht, ist der Mangel an Informationen über die
Rolle der Frauen. Wenn die Inka Heiraten nutzten, um Bünd-
nisse mit anderen Gruppen zu schließen, wie es während einer
Periode ihrer Geschichte der Fall gewesen zu sein scheint, so
beruhten die politischen Beziehungen zwischen den Inka und
anderen Gruppen nicht nur auf Eroberung. Nun gibt es noch
heute im Raum von Cuzco eine Hierarchie zwischen Grup-
21
pen, die Heiratspartner tauschen, bei der die „Frauengeber“
eine höhere Stellung einnehmen als die „Frauennehmer“.23
Die spanischen Autoren erwähnen solche Statusunterschiede
nicht, aber ein einheimischer Autor bestätigt, daß es solche
Unterschiede auch in der Vergangenheit gab.24 Diese Status-
unterschiede sollte man in Erinnerung behalten, denn wenn
die Inka uns über die Heiratsbündnisse früherer Generationen
berichten, so berichten sie uns auch über eine implizite Unter-
ordnung oder Gleichheit in den politischen Beziehungen zu
anderen Gruppen im Raum von Cuzco. Die Geschichte über
den Aufstieg zur politischen Macht im Raum von Cuzco ist
die Geschichte von Eroberungen wie auch von Bündnissen.
Die inkaischen Geschwister fanden bei ihrer Ankunft meh-
rere Gruppen in dem Ort vor, der einmal Cuzco werden soll-
te. Zwei lebten dort seit Urzeiten, während drei Gruppen, die
nach ihren Führern hießen und aus derselben Gegend wie die
Inka kamen, vor ihnen in das Gebiet von Cuzco eingewandert
waren. Die alteingesessenen Gruppen waren die Sauaseras
und Guallas. Die Guallas wohnten nahe dem späteren Arcu
Puncu, einem Tor, das in Cuzco während der frühen spani-
schen Besetzung gebaut wurde und durch das die Straße zum
Titicacasee hinausging (Karte 3). Die Sauaseras lebten bei
dem heutigen Kloster Santo Domingo. Offensichtlich waren
es kleine Gruppen von Ackerbauern, deren Felder nahe bei ih-
ren Wohnorten lagen.
Die Inka griffen zuerst die Guallas an und töteten sie alle.
Dann bedrohten sie die Sauaseras, die einen Führer der drei
oben genannten Gruppen - mit Namen Copalimayta - zu
Hilfe holten. Die Inka besiegten Copalimayta und nahmen
ihm sein Land ab. Auf diesem Land, wo später auch der
Tempel Coricancha gebaut wurde, ließen sie sich nieder. Von
dieser Zeit an hielten die Inka das Gebiet zwischen den
Flüssen Huatanay und Tullumayo besetzt, wo sich Cuzco
entwickeln sollte.25
Zwei Gruppen blieben übrig, die Alcabizas und Culunchi-
mas, so genannt nach den Führern, die zuerst in das Cuzco-
Tal eingewandert waren. Sie besetzten Land auf der anderen
22
Karte 3: Die Region urn Cuzco vor der Ausdehnung des Inkareiches Seite des Huatanay, die Alcabizas nahe dem ersten Santa Cla-ra auf der Plaza de Nazarenas und die Culunchimas in der
Gegend nordöstlich von Belen an seinem ersten Standort in
Coripata (Karte 3). Die Inka nahmen den Alcabizas ihr Land,
indem sie die Quellen ihres Bewässerungssystems besetzten.
Die Culunchimas wurden gezwungen, Tribut zu zahlen.26
Hintergrund für diese Darstellung Sarmientos scheint zu
sein, daß die Inka, die Alcabizas und Culunchimas einen ge-
meinsamen Ursprung hatten. Es wird uns nicht erzählt, aber
es scheint der Geschichte zugrunde zu liegen, daß all diese
Gruppen Teile einer größeren Einheit waren, die in das Gebiet
des Cuzco-Tals eindrangen, entweder durch unbekannte Um-
23
stände gezwungen oder aus eigenem Antrieb. Während die Inka das Land der Guallas und der Sauaseras mit Gewalt an
sich rissen und dabei alle oder fast alle Einwohner töteten,
wurde die Vorherrschaft gegenüber jenen Gruppen, die mit
den Inka verwandt waren, auf friedlicherem Wege durchge-
setzt. Ist die inkaische Geschichte vielleicht ein entstellter Bericht über die Expansion der Gruppe, zu der sie ursprünglich
gehörten? Wenn dem so ist, so verbirgt sich dahinter die all-
mähliche Machtverschiebung von anderen Zentren nach
Cuzco. In den erhaltenen Berichten der Inka verschwindet die
größere Einheit im Hintergrund.
Es gibt keine endgültige Antwort auf die Frage, welche grö-
ßere Gruppe dies gewesen sein könnte. Wenn die Ursprungs-
mythe der Inka eine historische Situation als Kulisse benutzt,
könnte die größere Gruppe das Gebiet von Pacaritampo be-
wohnt haben, wo die Gruppen mit den Namen Chilques und
Mascas noch zur Zeit der spanischen Eroberung lebten. Die
Inka könnten zu einer dieser Gruppen gehört haben, oder die
Chilques und Mascas waren Teile einer noch größeren Einheit.
Ein anderes Problem ist die Zugehörigkeit der Guallas und
Sauaseras. Nach der inkaischen Version der Ereignisse waren
es unabhängige Dörfer. Wenn diese ebenfalls zu einer größe-
ren Gruppe gehörten, dann hatte der inkaische Einfall in ihr
Gebiet eine politische Bedeutung.27 Nach dem Bericht dar-
über, wie die Inka das kleine Landstück, auf dem das spätere
Cuzco errichtet wurde, einnahmen, springt die Inka-Überlie-
ferung schnell auf eine Ebene, auf der eine Anzahl regionaler
Mächte miteinander konkurrieren. Das Wechselspiel zwischen
Mächten auf dieser höheren Ebene könnte auch die früheren
Ereignisse beeinflußt haben, die dann aus der Sicht der Inka
beschrieben wurden.
Die Inka beherrschten später nicht nur die lokalen Gruppen
in der Nachbarschaft, sondern Regionen weit darüber hinaus,
und sie waren deshalb wohl nicht bereit, eine Version ihrer
frühen Geschichte zu bewahren, nach der sie einst anderen
Gruppen untergeordnet und - vom Gipfel ihrer späteren im-
perialen Macht aus betrachtet - eine unbedeutende lokale
24
Macht waren. Die Beherrschung einer jeden Gruppe, auf die sie an ihrem Weg von der Zeit ihres wunderbaren Erscheinens
bis zum Ende stießen, ist eine absichtliche Überhöhung wenig
vielversprechender Anfänge und einer späteren erfolgreichen
Wende.
Alles in allem nennt die dynastische Überlieferung elf Gene-
rationen von der Zeit Manco Capacs bis zu Huayna Capac,
der kurz vor Pizarros Ankunft starb (Tabelle 1). In die Berich-
te über die Lebensläufe dieser „Könige“ sind bestimmte Zei-
chen eingearbeitet, die die Expansion der Inka ankündigen.
Eines ist ein heiliges Objekt in Form eines Vogels, genannt
Inti. Manco Capac brachte dieses Bildnis aus Tambotoco mit.
Jeder Inka besaß ein ähnliches heiliges Objekt, genannt huaoque oder „Bruder“, das an seine Nachkommen weitergegeben wurde. Inti war der huaoque von Manco Capac. Manco Capac und einige Generationen nach ihm wohnten im Inticancha,
und der Name, der „die Einfriedung des Inti“ bedeutet, könn-
te sich auf den Ort beziehen, an dem Inti wohnte.
Das Objekt selbst wurde in einem aus Stroh geflochtenen
Kasten aufbewahrt, der von Manco Capacs Nachfahren für
die nächsten fünf Generationen nicht geöffnet wurde, bis
Mayta Capac den Mut dazu aufbrachte. Manche heiligen
Objekte konnten sprechen, und Inti gab Mayta Capac nun
Ratschläge. Zu dieser Zeit genossen die Alcabizas und Culun-
chimas noch eine gewisse Autonomie, sie waren den Inka
noch nicht vollständig untergeordnet. Mayta Capac unterwarf
sie mit Waffengewalt. Das heilige Objekt Inti hatte also mit
Kriegsführung zu tun. Mayta Capacs Sohn, Capac Yupanqui,
war der erste Inka-Herrscher, der außerhalb der direkten Nach-
barschaft Cuzcos Eroberungen durchführte. Capac Yupanqui
und seine direkten Nachfolger unternahmen Feldzüge gegen
Völker im Umkreis von etwa 20 km von Cuzco.28 Die Her-
ausnahme des Inti aus seinem Behälter markiert also den
Punkt, an dem die Inka begannen, jenes aggressive Verhalten
zu zeigen, das zum Entstehen des Reiches führte.
Die Inka gewannen von dieser Zeit an regionale Bedeutung,
wenn auch ihre Überlieferung nicht berichtet, ob sie unab-
25
Karte 4: Cuzco-Region am Beginn der Ausdehnung des Inkareiches
hängig handelten oder als Untergebene von anderen stärkeren
Gruppen. Sie könnten damals noch den Ayarmacas unterge-
ordnet gewesen sein, einer Gruppe im Nordwesten von Cuzco.
Capac Yupanqui heiratete Curihilpay, von der es hieß, sie sei
die Tochter eines wichtigen Machthabers bei den Ayarmacas
gewesen. Nach allen Berichten waren die Ayarmacas die wich-
tigste Gruppe in dieser Region (Karte 4). Der politische Führer
der Ayarmacas war unter dem Namen Tocay Capac bekannt.
Die Bezeichnung capac, wenn sie einem Eigennamen folgt, bedeutet „erblicher Herrscher“ oder „König“. Da das Wort fak-tisch einem Titel entspricht, konnte man damit einen Men-
schen bezeichnen, der den Titel zu einem bestimmten Zeitpunkt
innehatte. Die inkaische Version der Ereignisse vor der Ausdeh-
nung des Reiches kann interpretiert werden als ein Bericht der
zunehmenden Bedeutung der Inka gegenüber anderen lokalen
Mächten, und als wichtigste unter ihnen den Ayarmacas.29
26
Probleme entstanden, als Capac Yupanquis Sohn, Inca Ro-ca, Mama Micay heiratete, eine Frau aus der Gruppe der
Guayllacanes, einer lokalen Macht, die Gebiete am Urubam-
ba-Fluß nahe des heutigen Pisac einnahm. Die Guayllacanes
hatten Mama Micay ursprünglich Tocay Capac versprochen.
Eine Auseinandersetzung zwischen den Guayllacanes und
Ayarmacas entstand. Während der Feindseligkeiten, die für
die Guayllacanes mit einer Niederlage endeten, bekam Mama
Micay einen Sohn. Eine der Bedingungen für den Frieden war,
daß die Guayllacanes diesen Sohn entführen und Tocay Capac
übergeben sollten. Durch Verrat, der vielleicht begünstigt
wurde durch die Ayarmaca-Herkunft von Curihilpay, seiner
Großmutter, wurde Inca Rocas und Mama Micays Sohn ge-
fangengenommen und zu Tocay Capac gebracht. Der Junge -
er hieß Yahuar Huaca - beeindruckte und erschreckte Tocay
Capac, und er ließ ihn deshalb am Leben. Mit Hilfe einer an-
deren regionalen Macht, die ihr Zentrum im Gebiet von Anta
nordwestlich von Cuzco hatte, befreiten die Inka den Jungen.
Später schlössen die Inka und Ayarmacas ein Heiratsbündnis.
Eine Tochter von Inca Roca mit Namen Curi Ocllo wurde To-
cay Capac als Ehefrau gegeben, während Yahuar Huaca eine
Tochter von Tocay Capac, die Mama Chicya hieß, heiratete.30
Die Heiratsverbindungen zeigen, daß die Inka zur Macht
von gleichem Rang wie die Ayarmacas aufgestiegen waren.
Aus einer untergeordneten Stellung hatten sie Gleichheit oder
mindestens annähernde Gleichheit erreicht. Die Heiraten
spiegeln die zunehmende Bedeutung der Inka in der Region
um Cuzco. Sie scheint auch die Grundlage für militärische
Bündnisse gewesen zu sein. In den Feldzügen, die Capac Yu-
panqui führte, waren die Inka noch den Ayarmacas unterge-
ordnet und handelten vermutlich bis zu einem gewissen Grad
nach deren Plänen.
Die Machtverhältnisse wandelten sich jedoch während der
nächsten zwei Generationen, und zwar zugunsten der Inka.
Viracocha, der Sohn Yahuar Huacas, führte Krieg gegen Tocay
Capac und blieb siegreich. In der Version der Inka, wie von
Sarmiento berichtet, ist dieser Sieg nur einer unter mehreren.
27
Karte 5: Gruppen im
Inkareich, die im Text
erwähnt werden (nach
Rowe, in Lyon 1974,
Urrutia 1985, Karte 1;
Rowe 1948, Karte)
In einer anderen Darstellung des Lebens von Viracocha, bei
Cieza de León, gibt es genauere Angaben über die Eroberungen
Viracochas. Nach Ciezas Bericht wagte sich Viracocha weit über
Cuzco hinaus und unterwarf Gruppen, die in bis zu 100 km
Entfernung in Richtung Titicacasee siedelten. Sarmiento scheint
dagegen die Bedeutung Viracochas herunterzuspielen. Die Nie-
derwerfung Tocay Capacs könnte ein entscheidender Moment
in der Geschichte der inkaischen Eroberungen gewesen sein,
aber er bekommt ebenfalls keinen herausragenden Platz in
Sarmientos Darstellung.31
Für Sarmientos Geschichte ist der Angriff auf Cuzco durch
die Chancas, eine politische Einheit mit Zentrum im/ Gebiet
von Andahuaylas nördlich von Cuzco (Karte 5), und der Auf-
stieg Pachacutis, eines der Söhne Viracochas, zentral. Pachacuti ist die Hauptperson in der Inka-Geschichte, wie sie Sarmiento
und Betanzos überliefern. Während seiner langen Regierungs-
zeit unterwarfen er, seine Brüder und seine Söhne zahlreiche
unabhängige Völker der Herrschaft Cuzcos. Die Stadt selbst
wurde neu organisiert, geeignete Verwaltungsformen entstan-
28
den, und neue Kunststile spiegelten das Prestige und die Macht der Inka-Elite. Die Umwandlung von Cuzco und der herrschenden Elite wird in den folgenden Kapiteln erläutert.
Die Geschichte der Inka-Expansion bei Sarmiento hat eine
besondere Ausrichtung. Sie konzentriert sich auf diejenigen
politischen Gruppen, die der Inka-Herrschaft zunächst wider-
standen und durch Waffengewalt unterworfen wurden. Die
Inka erreichten den Anschluß von Gruppen oft durch die blo-
ße Androhung von Gewalt, aber solche Verhandlungen waren
als Thema für den Geschichtsschreiber nicht so interessant
wie Schlachten. Wegen dieser Voreingenommenheit wird uns
hauptsächlich berichtet, welche Völker stark genug waren,
den Inka zu widerstehen.
In den Berichten über den Widerstand dieser Gruppen sind
sehr interessante Informationen über die Herrschaftsstruktur
enthalten. Folgt man Sarmiento, bezeichnete man die ver-
schiedenen militärischen Führer, die die Inka besiegten, mit
dem Titel capac. Wie oben erklärt, bedeutet capac nach einem Eigennamen „erblicher Herrscher“. Sarmiento scheint sich jedoch nicht bewußt gewesen zu sein, daß dieser Begriff ein
Titel und kein Eigenname war. Jene Anführer, die sich capac
nannten, waren den Inka besonders wichtig. Betanzos schreibt,
daß Pachacuti beabsichtigte, alle Völker Cuzco zu unterwer-
fen, und zwar besonders jene Herrscher zu entfernen, die capac waren, „weil es nur einen capac geben sollte, ihn selbst“.32
Da dies ein wichtiger und einzigartiger Aspekt in der histo-
rischen Überlieferung der Inka ist, werden wir ein besonderes
Augenmerk auf das werfen, was die Inka über die politische
Organisation anderer Gruppen mitteilen: über solche Grup-
pen, die Widerstand leisteten, und über Herrscher, die capac hießen.
Der erste capac, den die Berichte nennen, ist der schon er-wähnte Tocay Capac, der Führer der Ayarmacas (Karte 4).
Zwei andere, die in der Gegend bei Cuzco lebten, Chiguay
Capac und Pinau Capac (von den Pinaguas), wurden während
der Feldzüge unter Viracocha besiegt und nehmen keinen be-
sonderen Platz in Sarmientos Darstellung ein. Ein vierter,
29
Cuyo Capac, hatte als Herrscher seinen Sitz bei Pisac und wurde in einer frühen Phase der Regierung Pachacutis besiegt,
direkt nach dem endgültigen Feldzug gegen Tocay Capac; die-
se Kampagne gegen Tocay Capac hatte zu dessen Gefangen-
nahme und zu lebenslanger Einkerkerung Cuyo Capacs ge-
führt. Auf Cuyo Capacs ehemaligem Land, in Pisac, legte
Pachacuti später einen privaten Landsitz an.33
Zahlreiche Feldzüge fanden zu dieser Zeit in der Gegend
von Cuzco statt. Bei diesen Kämpfen in ihrer näheren Umge-
bung handelten die Inka allein, während sie bei ihren Vorstö-
ßen in entfernte Gebiete offenbar mit ihren alten Feinden, den
Chancas, verbündet waren.34
Ihr erster erfolgreicher Vorstoß führte sie gegen die Soras
(Karte 5). Dieser Feldzug wird mit vielen Einzelheiten bei Be-
tanzos beschrieben, unter fast völligem Ausschluß von Anga-
ben über andere Kriege;35 Sarmiento hingegen betont einen
nachfolgenden Feldzug gegen Chuchi (oder Colla) Capac, den
Herrscher der Collas (Karte 5). Die Soras könnten für die In-
ka eine besondere Bedeutung gehabt haben, die uns nicht klar
ist, während die Bedeutung des Sieges über Colla Capac ein-
deutig ist: Die Inka übernahmen dadurch ein sehr großes Ge-
biet. Nach der Niederlage Colla Capacs konnten die Inka ihre
Herrschaft über die gesamte Titicacasee-Region und das Ge-
biet südwestlich zum Pazifik ausdehnen.36 Von diesem Zeit-
punkt an war der Landbesitz der Inka größer als der jeder an-
deren politischen Einheit in den Anden zu ihrer Zeit. Was als
eine Auseinandersetzung zwischen Gruppen im Gebiet von
Cuzco und ihren Nachbarn begonnen hatte, war zu einem
Reich geworden.
Obwohl Pachacutis Leistungen vielleicht übertrieben wur-
den, ist die Absicht, das gesamte Andengebiet der Herrschaft
Cuzcos zu unterwerfen, zu seiner Zeit bereits deutlich. In
Sarmientos Bericht erfolgte die Neuorganisation Cuzcos kurz
nach Verteidigung der Stadt gegen die Chancas und bevor die
Inka Colla Capac besiegten, was ein Hinweis darauf wäre,
daß Pachacutis imperialer Ehrgeiz der Erwerbung eines gro-
ßen Territoriums vorausging. Allerdings dürfte die umgekehr-
30
te Reihenfolge eher der Realität entsprechen. Die Inka fanden sich vermutlich im Besitz eines Reiches, bevor ihnen bewußt
wurde, daß sie ihre Hauptstadt entsprechend umwandeln
mußten, damit sie ihr neues Ansehen und ihre Macht wider-
spiegelte.
Wie auch immer, die Inka scheinen noch immer mit den
Chancas verbündet gewesen zu sein. Dieses Bündnis zerfiel
während eines Feldzuges in Parcos, nahe dem heutigen
Ayacucho, wo die Verbündeten auf erheblichen Widerstand
stießen. Der Anführer der Chancas desertierte zusammen mit
seiner Armee; und der Bruder Pachacutis führte die Inka-
Armee unter seinem Kommando weiter nach Norden, als ihm
befohlen worden war, und provozierte so eine Konfrontation
mit Cuzmango Capac und dessen Verbündetem, Chimo Capac
aus dem Reich Chimor (Karte 5). Cuzmango Capac, der das
Gebiet um das heutige Cajamarca beherrschte, und Chimo
Capac, der ein eigenes Eroberungsprogramm an der Küste im
Westen begonnen hatte, besaßen zusammen genug Macht, um
den Inka eine ernsthafte Niederlage beizubringen. Vermutlich
dank glücklicher Umstände konnte Pachacutis Bruder diese
beiden Herrscher in einer Schlacht besiegen und gefangen-
nehmen und somit einen möglicherweise höchst gefährlichen
Konflikt beenden, bevor er richtig begonnen hatte.37
Die Festigung der Inka-Herrschaft über ein so großes Ge-
biet beanspruchte zwar geraume Zeit, die einmal einverleibten
Völker blieben aber dauerhaft Teil des Reichs. Versuche aus-
zubrechen, so wie die Rebellion der Collas kurz nach dem
Sieg über Chimo Capac und Cuzmango Capac, waren erfolg-
los.38
Auf diesem und folgenden Feldzügen überließ Pachacuti
den Befehl seinen Brüdern und seinen Söhnen, als er alt genug
war, befehligte sein Sohn Topa Inca die Inka-Armeen. Ein
weiterer wichtiger Feldzug gegen drei Herrscher, die als capac bezeichnet wurden, fand im Hochland des heutigen Ekuador
statt. Diese Herrscher - Pisar Capac, Canar Capac und Chica
Capac - leisteten Widerstand gegen die Inka. Obwohl es hieß,
alle drei seien gefangengenommen worden, kämpfte einer von
31
ihnen oder ein Nachfolger gleichen Titels, Pisar Capac, später gegen die Inka in Tomebamba, dem Sitz ihrer Verwaltung im
südlichen Hochland Ekuadors. Pisar Capac verbündete sich mit
Pillaguaso, einem Führer von Gruppen aus dem Gebiet von
Quito (Karte 5). Noch vor Pachacutis Tod hatten die Inka das
gesamte Hochland Ekuadors ihrem Reich angeschlossen.39
Pachacuti lebte lange genug, um die Geburt eines Enkels zu
erleben, den er zum Nachfolger seines Sohnes Topa Inca er-
nannte. Obwohl seine Bemühungen, die Nachfolge bei den
Inka über zwei Generationen zu regeln, letztlich erfolgreich
waren, versuchten die Collas bei seinem Tod, wieder ihre
Freiheit zurückzugewinnen, als ob Pachacuti allein die Macht
der Inka aufrechterhalten hätte. Diesmal ging der Aufstand
von den Collas aus dem Umasuyo, einem Teil des Colla-
Gebiets nördlich des Titicacasees, aus (Karte 7). Als die Collas zuerst unterworfen worden waren, hatten sich die militärischen Aktionen auf das Urcosuyo, den anderen Teil des Colla-
Gebiets, in dem der Colla Capac lebte, konzentriert. Damals
hatten sich die Bewohner des Umasuyo friedlich untergeord-
net. Vermutlich wegen ihres späteren Aufstands nahm Topa
Inca eine Neuorganisation der Region vor und richtete dort
private Landsitze ein. Dieses Thema wird später noch genauer
besprochen, wenn die Besitzungen der verschiedenen dynasti-
schen Verbände behandelt werden.40
Topa Inca schlug den Aufstand der Colla nieder und zog
dann weiter nach Süden zu einer Militärkampagne, auf der er
weitere unabhängige Gruppen unterwarf, unter anderem jene
aus dem Gebiet des heutigen Zentralchile. Nach dem Tod
seines Vaters fand nur ein einziger anderer Feldzug statt, der
Topa Inca ins Andesuyo führte, in die dicht bewaldete Region
östlich Cuzcos.41
Die Eroberungen waren weitgehend abgeschlossen, als
Huayna Capac die Macht von seinem Vater erbte. Er kämpfte
an der heutigen Nordgrenze Ekuadors, und er annektierte die
Provinz Atacama nördlich des Gebiets in Chile, das sein Vater
bereits erobert hatte. Eine Verteidigung wurde an der Grenze
östlich des heutigen Sucre, in Bolivien, organisiert, um Einfäl-
32
1e von unabhängigen Völkern jenseits der Grenze zu unter-binden, die als Chiriguanáes bezeichnet wurden.42
Huayna Capac starb plötzlich, unmittelbar vor dem spani-
schen Einfall unter Francisco Pizarro und Diego de Almagro.
Weitere Vorhaben, neue Gebiete zu unterwerfen, kamen zu
einem Halt oder wurden von dem Bürgerkrieg zwischen Par-
teien aus der Elite Cuzcos überschattet. Der Bürgerkrieg war
eine Katastrophe großen Ausmaßes. An der Spitze der Sieger
stand ein Sohn Huayna Capacs namens Atahuallpa, der mit
seinem Vater in Ekuador gekämpft hatte und dort mit den In-
ka-Armeen geblieben war, als der Körper seines Vaters nach
Cuzco zurückgebracht wurde. Atahuallpas Anführer hatten
gerade begonnen, sich die Kontrolle über Cuzco zu verschaf-
fen, als der Einfall der Spanier sie unterbrach. Sie hatten die
Tötung aller Mitglieder der gegnerischen Familien befohlen,
die in Cuzco gefunden werden konnten.43
Cuzco war der Mittelpunkt des Machtbereichs der Inka. Es
hatte den Bürgerkrieg ohne Zerstörungen überstanden. Als
die Spanier die Stadt Ende 1533 betraten, begriffen sie erst-
mals wirklich, welch ein Reich sie erobert hatten.
3. Die Hauptstadt Cuzco
Als die Spanier nach Cuzco kamen, sahen sie eine Stadt, die
durch die Eroberungen der Inka verändert worden war. Die
physische Anlage der Stadt, der Baustil, die zahlreichen Hei-
ligtümer in der Stadt und im umliegenden Tal - das alles war
neu geschaffen worden, um Cuzcos Rolle als Zentrum des
Reiches zu spiegeln. Die Veränderungen reichten jedoch noch
tiefer, als der äußere Anblick zeigte, denn sie umfaßten die
Verwandlung der Bewohner Cuzcos in eine Führungselite, die
fähig war, militärische Unternehmen weit entfernt von ihrer
Heimat zu befehligen und ehrgeizige Vorhaben außerhalb ih-
rer Heimat durchzuführen. Dazu gehörte auch die Erziehung
und Motivation der Eliteangehörigen, damit diese die Ziele
ihrer Vorfahren verwirklichten.
Um die Umwandlung der physischen und sozialen Ordnung
Cuzcos zu verstehen, ziehen wir wiederum Sarmiento und
Betanzos als Quellen heran. Allerdings neigen beide Autoren
dazu, alle Neuerungen einem einzigen Inka-Herrscher zuzu-
schreiben, nämlich Pachacuti. In mündlicher Überlieferung
können Ereignisse, die während eines langen Zeitraums statt-
fanden, in einer einzigen Kulmination von Aktivitäten zusam-
menfallen, oder ihre Reihenfolge kann neu geordnet werden,44
so daß die Zuschreibung aller Neuerungen an Pachacuti nicht
zutreffen muß. Trotzdem gibt uns die Beschreibung über die
Entwicklung Cuzcos einen Überblick über den Gesamtprozeß.
Obwohl wir uns nun im folgenden nicht auf Personen,
sondern auf Cuzco konzentrieren, bleibt die zentrale Rolle
Pachacutis, weil die vorhandenen Quellen ihn in den Mittel-
punkt stellen und wir leider kein anderes Material haben.
Betanzos beschreibt ein größeres Bauprojekt, das von Pacha-
cuti im Tal von Cuzco unternommen wurde. Pachacuti baute
die Stadt um, ebenso Inticancha, den religiösen Mittelpunkt,
der danach Coricancha oder „goldene Einfriedung“ hieß. Der
Inka-Herrscher ordnete auch mehrere Kanalbauvorhaben im
Tal an als Teil einer Reform, durch die das Land im Umkreis
34
von 10 km der Stadt angegliedert und zum Wohle der Stadt-bewohner erschlossen wurde.45
Pachacuti befahl den lokalen Führern aus der Gegend um
Cuzco, die ihm Gehorsam geschworen hatten, in die Stadt zu
kommen. Er entwarf dann einen Plan, um Cuzco zu versorgen
und den Bewohnern zu erlauben, auf lange Feldzüge zu gehen,
ohne ihren Lebensunterhalt zu verlieren. Der Plan umfaßte die
Verteilung von Land, die Festlegung von Grenzen und den
Bau von Speichern. Dazu gehörte auch die Versorgung von
Cuzco mit Lebensmitteln. Zunächst waren diese Lebensmittel
für die Menschen bestimmt, die bei den Bauprojekten im Tal
beschäftigt waren. Wenig später organisierte Pachacuti auch
die Herstellung von Stoffen als Tribut, einschließlich von Tü-
chern zum Tragen von Steinen und Erde, damit die Arbeiter
bei den Bauprojekten nicht ihre eigenen Tragtücher benutzen
mußten.46
Ein Teil von Pachacutis Plan war, die Führer aus den Gebie-
ten um Cuzco mit Frauen aus seiner eigenen Abstammungs-
gruppe zu verheiraten. Ihre Nachkommen, die die Macht
dieser lokalen Führer erbten, wären somit durch Verwandt-
schaftsbeziehungen an die Inka-Dynastie gebunden. Er schick-
te auch Abgesandte in die Gebiete dieser lokalen Herrscher
und ließ Ehen zwischen den jungen Männern einer Gruppe
mit den Frauen einer anderen schließen, um so die Bindungen
zwischen den Gruppen zu stärken. Die jungen Leute, die ver-
heiratet wurden, erhielten als Geschenke Kleidung und die
nötigen Haushaltsgegenstände.47
Das Ergebnis dieser Politik war ein Hinterland aus einzel-
nen Gruppen, die an Cuzco sowie untereinander gebunden
waren und die die Grundversorgung der Stadtbevölkerung ga-
rantierten. Alle vier Monate erhielten die Menschen, die von
Cuzco abhängig waren, alles Nötige aus den Tributen, die
dieses Hinterland lieferte.48
Betanzos erzählt uns leider nicht, wer diese lokalen Führer
waren, und gibt nur an, daß sie Pachacuti Gehorsam ge-
schworen hatten. Wir wissen, daß der Status der Inka auf eine
Anzahl von Gruppen ausgedehnt wurde, die bei Cuzco lebten.
35
Sie wurden als orejones bezeichnet, da sie, um den Status als Inka zu erhalten, initiiert worden waren und bei diesem
Ritual erhaltene Ohrpflöcke trugen, aber sie waren keine
Mitglieder der Abstammungsverbände der Inka-Dynastie -
das heißt, sie waren nicht notwendigerweise über die männli-
che Linie mit Manco Capac verwandt.49 Sie wohnten in der
Umgebung Cuzcos, und wir können annehmen, daß dies die
Gruppen waren, deren Herrscher Pachacuti durch Heirat an
Cuzco band. In manchen Werken werden sie als „Inka durch
Privileg“ (oder „ernannte Inka“) bezeichnet.
Die Verwandlung Cuzcos betraf sowohl die Stadt als auch
das Land rundherum, sowohl die Mitglieder der dynastischen
Gruppen als auch die Bevölkerung in der Region um Cuzco.
Aber wie sah Cuzco aus, bevor dieses ehrgeizige Programm
ausgeführt wurde?
In den historischen Berichten erscheint Cuzco zunächst als
eine kleine landwirtschaftliche Siedlung, die bei dem Intican-
cha lag. Diese Siedlung befand sich zwischen den Flüssen
Huatanay und Tullumayo und erstreckte sich von dem späte-
ren spanischen Kloster Santo Domingo bis zum Zusammen-
fluß der beiden Flüsse (Karte 3); sie bestand aus vier cancha oder Umfriedungen: Quinticancha, Chumbicancha, Sayrican-cha und Yarumbuycancha.50 Ein kleiner Hof mit Namen
Caritampucancha, von dem es hieß, Manco Capac selbst habe
dort Cuzco gegründet, wurde in der Liste der Heiligtümer
(huaca) von Cuzco genannt. Der Hof lag innerhalb der
Mauern des Klosters Santo Domingo (Karte 6). Inticancha er-
scheint auch auf der Liste der Heiligtümer, beschrieben als ein
kleines Haus, in dem die Schwestern des ersten Inka lebten.
Bei Ausgrabungen in Santo Domingo und nordwestlich davon
in Bauten an der heutigen Calle San Agustin wurden Tongefä-
ße und Gebäudereste gefunden, die stilistisch in die Zeit vor
der imperialen Ausbreitung fallen. Die archäologischen Funde
belegen die Lokalisierung der frühen Siedlung, wie sie Sarmi-
entos Quellen nennen.51
Hier lebten die Nachkommen von Manco Capac bis zur
Zeit Inca Rocas, der sein eigenes Haus auf Land baute, das
36
Karte 6: Cuzco (nach Hemming, 1970, Abb. 2)
oberhalb der ursprünglichen Siedlung lag. Dieser Inka-Herr-
scher legte neue Bewässerungskanäle an oder ließ vorhandene
umbauen, damit diese Wasser auf die von den Bewohnern
Cuzcos bearbeiteten Felder leiteten.52 Durch die Neuvertei-
lung des Wassers machte er das Land oberhalb des Inticancha
offenbar für eine Besiedlung attraktiver.
Von der Zeit Inca Rocas an errichtete jeder Inka-Herrscher
sein eigenes Haus oder einen Palast und zog es vor, nicht in
den Gebäuden seines Vaters zu leben. Die Lage verschiedener
Paläste kann noch festgestellt werden. Wenn wir Cuzco als
37
Wohnort der Angehörigen der Dynastie ansehen, dann können wir annehmen, daß die Stadt sich allmählich auf Land
oberhalb Santo Domingos ausdehnte. Die Beziehung zwischen
der Erweiterung der Stadt und der Weiterentwicklung der
Bewässerungsanlagen deutet daraufhin, daß sich der ländliche
und landwirtschaftliche Charakter der Siedlung noch nicht
geändert hatte.53
Im Gegensatz dazu war die Neuorganisation Cuzcos, die
Pachacuti zugeschrieben wird, eine plötzliche Abkehr von dem
langsamen Wachstum der Vergangenheit. Es heißt, Pachacuti
habe der Stadt einen neuen Plan gegeben, bei dem er die
Hauptstraßen festlegte und die Bauten für die dazwischenlie-
genden Straßenblocks entwarf. Zur Neuorganisation gehörte
auch die Umsiedlung von Bewohnern aus ihren Häusern in
Siedlungen nahe der Stadt, der Abriß dieser Häuser und der
Neubau Cuzcos von den Grundmauern auf.54
Der Plan Cuzcos hatte die Umrisse eines Pumas (Karte 6).
Die Festung Sacsahuaman oberhalb der Stadt bildete den
Kopf. Der Hauptplatz Aucaypata lag zwischen den Vorder-
und Hinterbeinen. Coricancha befand sich unterhalb des
Pumaschwanzes, und wir können sie mit den Sexualorganen
des Tieres gleichsetzen. Der Umriß des Pumas war noch im
19. Jahrhundert gut zu erkennen, und mindestens zwei Stra-
ßen, die dem Pumaumriß folgen, tragen Namen der zugehö-
rigen anatomischen Teile des Pumas (pumachupa „Puma-
Schwanz“; pumacurco „Puma-Rücken“). Der Puma nimmt
den gesamten Raum zwischen den Flüssen Huatanay und
Tullumayo ein.55
Zum Neuaufbau Cuzcos gehörten auch zusätzliche Arbei-
ten an dem Kanalsystem, das Wasser für den Ackerbau liefer-
te. Die Verteilung des Wassers auf die Felder könnte zu dieser
Zeit grundlegend verändert worden sein und Cuzco selbst
einen mehr städtischen Charakter angenommen haben. Be-
sondere Aufmerksamkeit galt der Arbeit an dem Flußkanal
zwischen Cuzco und Mohina am Ende des Cuzco-Tals. Der
Neubau könnte zur Neuverteilung des Wassers und zur Re-
form der Landnutzung geführt haben. Solch eine Neuorgani-
38
Abb. 2: Sacsahuaman
sation hing vermutlich mit der Expansion zusammen. Es
heißt, Pachacuti habe das Land neu organisiert, damit die Inka
die landwirtschaftliche Produktion auf einem hohen Niveau
halten konnten, selbst wenn Teile der Bevölkerung auf militä-
rischen Feldzügen oder bei anderen weit entfernten Vorhaben
beschäftigt waren.56
Der Neubau Cuzcos wurde nach Betanzos mit den feinsten
Materialien und den besten damals bekannten Baumethoden
ausgeführt. Die Bauarbeiten dauerten etwa 20 Jahre. Sarmiento
beschreibt das fein bearbeitete und gut eingepaßte Steinmau-
erwerk.57 Die Bauten waren noch recht gut erhalten, als Be-
tanzos und Sarmiento darüber schrieben. Ihre Überreste sind
heute nur noch in den Grundmauern der Gebäude sichtbar,
die später durch die Spanier errichtet wurden, denn diese zo-
gen es vor, daß ihre Bauten die Architekturstile Spaniens spie-
gelten. Zwei große Erdbeben, 1650 und 1950, haben Cuzco
weitgehend zerstört, aber Aussagen aus der Zeit nach dem er-
sten Erdbeben deuten darauf hin, daß die Bauten aus in-
kaischem Steinmauerwerk kaum betroffen waren.58
Zwei Bauwerke waren besonders wichtig. Das erste ist die
Festung über Cuzco, die Sacsahuaman hieß (Karte 6, Abb. 2).
Sarmiento schreibt die Erbauung des Sacsahuaman Topa Inca
39
zu. Die monumentalen Mauern der Festung mit ihrer charak-teristischen Zickzackform ähneln einer anderen Inka-Festung
in Bolivien, die wahrscheinlich während Topa Incas Herr-
schaft gebaut wurde. Die Mauern des Sacsahuaman zeigen
Spuren von mindestens zwei größeren Bauphasen, die darauf
hinweisen, daß nach der Errichtung ein größerer Umbau vor-
genommen wurde.
Hinter den monumentalen Mauern auf einem Hügel über
Cuzco gab es verschiedene Bauwerke. Die Bauten wurden von
den Spaniern abgetragen, um aus dem Material das spanische
Cuzco zu bauen, wobei allein für den Bau der Kathedrale eine
große Menge Steine aus der Festung gebrochen wurde. Aus-
grabungen in einem Teil der Festung brachten die Grundmau-
ern verschiedener Gebäude zutage, einschließlich eines Rund-
baus, der einer der Türme gewesen sein könnte, die in den
frühen Beschreibungen der Spanier erwähnt werden.
Wir haben gewisse Kenntnisse über die Art, wie die Festung
genutzt wurde, weil die Inka sie einnahmen und gegen die
Spanier verteidigten, als sie 1536 versuchten, Cuzco zurück-
zuerobern. Um die Festung anzugreifen, mußten sich die
Spanier die Schlucht von Carmenga hinaufkämpfen und dann
jede der monumentalen Mauern einnehmen, bis sie es wagen
konnten, einen letzten Angriff gegen die Verteidiger der Türme
zu führen.
Es gibt keine Beschreibungen davon, wie die Festung vor
Ankunft der Spanier verteidigt wurde, aber Beschreibungen
von Kämpfen während der inkaischen Eroberungen zeigen,
daß generell Belagerungen von Feinden in einer Verteidigungs-
stellung häufig waren. Wenn dies zutrifft, müssen die Inka be-
absichtigt haben, sich bei Gefahr von der Stadt in die Festung
zurückzuziehen. Als die Chancas sie angriffen, sind sie jedoch
nicht so vorgegangen, denn damals kämpften die Inka im of-
fenen Gelände in und bei Cuzco.59
Die Festung und ihre Bauten hatten auch einen heiligen
Charakter. Ein besonders heiliger Platz war ein Sitz mit Na-
men Sabacurinca, in Stein geschnitten und nahe am oder im
Sacsahuaman gelegen. Er wurde verehrt, und dort wurde ge-
40
Abb. 3: Inkaische Stützmauer unterhalb Santo Domingo
opfert. In der Liste, in der die Heiligtümer beschrieben werden, ist er aufgeführt, weil seinetwegen die ganze Festung verehrt
wurde.60 Unglücklicherweise trägt diese kurze Beschreibung
wenig zum Verständnis dessen bei, was die Festung den Inka
genau bedeutete.
Die Coricancha andererseits war mit dem Sonnenkult der
Inka verbunden. Obgleich die spanischen Geschichtswerke sie
einen „Tempel“ oder den „Sonnentempel“ nennen, war sie auch
ein Wohngebäude. Sie erscheint nicht als Heiligtum auf der
vollständigsten Liste, die erhalten ist, aber auf einer anderen, kürzeren Liste, wo sie als „Haus aus Gold“ und als „Haus der
Sonne“ beschrieben wird.61 Die Sonne hatte Besitz und viel-
leicht auch Frauen, wie im folgenden Kapitel erläutert werden
wird, und ein Wohnsitz könnte deshalb notwendig gewesen
sein. Vielleicht gab es keinen Bedarf an einer besonderen Ka-
tegorie rein religiöser Architektur.
Heute befinden sich die Kirche und das Kloster von Santo
Domingo auf den Resten der Coricancha (Abb. 3). Vier Räu-
me der Anlage wurden beim Bau des Klosters weiter benutzt.
41
Umbauten aus der spanischen Kolonialzeit sind bei zwei von ihnen in neuerer Zeit entfernt worden, und die hohe Qualität
des Steinmauerwerks ist wieder sichtbar.62
Obwohl die Inka auch wichtige Gebäude aus Lehmmauer-
werk errichteten, sind die in verschiedenem Stil gehaltenen
Bauten aus Steinmauerwerk die eindrucksvollen stummen
Zeugen der Inka-Geschichte, wie sie in den historischen Be-
richten enthalten ist. Verschiedene Orte, die dem Verband der
Nachkommen Pachacutis zugeordnet werden können (dessen
Mitglieder bis in die Kolonialzeit überlebten), zeigen jenen
speziellen Stil der Steinbearbeitung, der auch bei Bauwerken
wie der Coricancha genutzt wurde, also bei Bauten aus der
Zeit des Neubaus von Cuzco. Dieser Baustil unterscheidet sich
von dem der Gebäude aus der Regierungszeit von Pachacutis
Enkel Huayna Capac oder aus der frühen Kolonialzeit, wäh-
rend der ein Architekt, der einige von Huayna Capacs Bauten
entworfen hatte, weiter tätig war.63
Obwohl es nicht möglich ist, den Bericht über die Neuanla-
ge Cuzcos zu bestätigen, so beweisen die monumentalen Bau-
werke doch, daß jemand große materielle und menschliche
Ressourcen aufgewandt hat. Das Bearbeiten und Einpassen von
Basaltsteinen war von einem Handwerker oder einer Gruppe
von Handwerkern hoch entwickelt worden. Die Grundpläne
und Einzelheiten der Bauten deuten daraufhin, daß in frühen
Zeiten wie auch während Huayna Capacs Regierung archi-
tektonischen Entwürfen große Aufmerksamkeit geschenkt
wurde, auch wenn die Verwandtschaft mit alltäglichen Wohn-
gebäuden deutlich erkennbar ist. Die Überreste beweisen,
daß ein Bauprogramm von monumentalen Gebäuden über
mehrere Jahrzehnte vor der spanischen Eroberung ausgeführt
wurde.
Es wäre aber ein großer Fehler, Cuzco nur als eine An-
sammlung monumentaler Bauwerke anzusehen. Die Monu-
mentalbauten sind nur ein äußeres, sichtbares Zeichen einer
Veränderung anderer Art. Die Inka beanspruchten, Nach-
kommen der Sonne, eines wichtigen übernatürlichen Wesens,
zu sein. Cuzco wurde umgebaut, um den heiligen Charakter
42
des Ortes wie auch die besondere Natur seiner Bewohner zu demonstrieren.
Der Bericht von Betanzos ist besonders wertvoll, da in ihm
eine Ideologie zum Ausdruck kommt, die die Bewohner
Cuzcos zu einem einzigen imperialen Unternehmen vereint.
Betanzos beschreibt Ereignisse, die tatsächlich einer Weihung
Cuzcos entsprachen, sowohl des Ortes wie auch der Men-
schen. Vor der Neuanlage der Stadt beabsichtigte Pachacuti,
ein Haus für die Sonne zu bauen. Dieses übernatürliche We-
sen - das in der Überlieferung manchmal mit einem anderen
namens Viracocha verwechselt wurde - erschien Pachacuti in
einem Traum am Vorabend des Einfalls der Chancas. Die
Sonne eröffnete Pachacuti, daß die Inka seine Nachkommen
(für die Inka war die Sonne männlich) waren und als die
Nachkommen der Sonne berühmt werden würden. Ein Bild
der Sonne sollte angefertigt werden, um in dem von Pachacuti
geplanten Haus zu wohnen.64
Eine wesentliche Rolle beim Bau und der Weihung des
Hauses der Sonne spielten die Nachbarvölker, die Pachacuti
bei seinem Sieg gegen die Chancas geholfen hatten. Nachdem
die Steine in dem Steinbruch von Sallu ausgemessen worden
waren, wurde die Aufgabe, sie nach Cuzco zu bringen und
das Haus zu errichten, unter diesen Nachbarvölkern verteilt.65
Nach dem Wiederaufbau der Inticancha und der Stiftung
von Besitz für den Unterhalt des Sonnenkults, wie im folgen-
den Kapitel beschrieben, erfolgte eine Weihe. Die hohen Adli-
gen Cuzcos steuerten große Mengen Mais, feiner Kleidung
und Kameliden (die in den Anden heimischen Alpaka und
Lama) sowie auch eine gewisse Zahl von Jungen und Mäd-
chen für ein Opfer bei. Ein großes Feuer wurde angezündet,
und der Mais, die Kleidung und Kameliden wurden ver-
brannt. Die Kinder wurden bei dem capacocha genannten
Opfer lebendig in dem Heiligtum begraben. Mit dem Blut der
geopferten Tiere wurden von Pachacuti und einigen seiner
Militärführer auf dem neuen Gebäude Striche gezogen. Sie
zeichneten auch Linien über die Gesichter desjenigen, der dem
Haushalt der Sonne vorstehen sollte, und über die Gesichter
43
der 500 Frauen, die für den Kultdienst bestimmt worden waren. Dann kamen die Bewohner Cuzcos, Männer und Frauen,
um Brandopfer von Mais und Koka darzubringen. Als sie fer-
tig waren, erhielten auch sie eine Gesichtsbemalung, diesmal
von dem Verwalter des Haushalts der Sonne.
Von diesem Zeitpunkt an bis zur Fertigstellung des Bild-
nisses der Sonne wurde eine Fastenzeit angeordnet und das
Opferfeuer ständig unterhalten. Als das Bild aus Gold - die
dreidimensionale Darstellung eines Kindes - fertiggestellt war,
wurde es von dem Verwalter des Haushalts sorgfältig einge-
kleidet und mit verschiedenen Attributen versehen. Es bekam
zu essen, indem man vor ihm Feueropfer darbrachte, wodurch
ein Brauch entstand, der danach von dem Verwalter des
Haushalts aufrechtzuerhalten war. Von diesem Zeitpunkt an
waren nur wichtige Angehörige der Inka-Elite in der Gegen-
wart des Bildnisses zugelassen. Ein Steinabbild, nach spani-
schen Angaben in Form eines Zuckerhutes, wurde auf dem
Hauptplatz von Cuzco errichtet. Als das goldene Hauptbild-
nis fertiggestellt worden war, hatte man es durch Cuzco ge-
tragen, um den Ort zu segnen. Zum Zeitpunkt der Weihe
wurden Miniaturnachbildungen aus Gold, die die von Manco
Capac abstammenden Abstammungsgruppe darstellten, auf
dem Hauptplatz am Fuß des Steinbildnisses vergraben. Von
diesem Tag an wurden regelmäßig Kameliden bei dem Stein-
bildnis geopfert.66
Betanzos verbindet diese Weihung mit der Verehrung, die
Adlige aus Cuzco in den Provinzen genossen. Inka aus Cuzco
wurden als Angehörige der Sonne verehrt. Vor ihnen wurde
geopfert (arpa). Die Stadt Cuzco selbst war auch heilig. Reisende, gleich wie bedeutend sie waren, mußten sich ihr mit
einer Last auf den Schultern nähern. Die Punkte entlang der
Straßen, von wo die Reisenden zuerst die Stadt sahen, waren
heilige Orte.67
Hat Pachacuti Cuzco tatsächlich geweiht? Eine Form von
Weihung könnte bei der Errichtung von Bauten, die mit dem
Sonnenkult zusammenhingen, oder beim monumentalen Neu-
aufbau der Stadt insgesamt durchgeführt worden sein. Ob die
44
rituelle Darstellung der Beziehung zwischen der Inka-Dynastie und einem wichtigen übernatürlichen Wesen wirklich stattfand oder nicht, ist unwichtig. Entscheidend ist, daß diese
Geschichte die Grundlage für den Glauben lieferte, die Inka
seien eine Art übernatürlicher Wesen, sie müßten deshalb ge-
achtet werden und man müsse ihren Befehlen gehorchen.
4. Die Inka – Selbstverständnis und Riten
Der Neuaufbau Cuzcos wurde von einer großen sozialen Um-
gestaltung begleitet. Durch beides sollte eine soziale und
räumliche Umwelt geschaffen werden, die die übernatürliche
Stellung der Nachkommen Manco Capacs widerspiegelte. Die
Reform veränderte die Regeln für die Bildung von Abstam-
mungsgruppen und schuf hochentwickelte Rituale, durch die
Statusunterschiede dargestellt wurden. Eine kurze Übersicht
der Abstammungsregeln und der Ritualorganisation in Cuzco
soll dies verdeutlichen.
Der Kernpunkt der Reform war eine Neudefinition dynasti-
scher Abstammung. Um die Tragweite der Reform verständ-
lich zu machen, müssen zunächst die Prinzipien inkaischer
Abstammung beschrieben werden.
Zugehörigkeit zu einer Abstammungsgruppe scheint über
die männliche Linie definiert worden zu sein. Obwohl in
symbolischen Darstellungen beide Geschlechter bei den Inka
eine Rolle spielen, berechneten die Nachkommen Manco
Capacs - Frauen wie Männer - die Abstammung von ihren
Vorfahren über die männliche Linie. Diese Sicht des Ver-
wandtschaftssystems der Inka vertreten viele Wissenschaftler;
allerdings findet in den letzten Jahren auch eine bilaterale Ab-
stammungsrechnung (über die weibliche wie männliche Linie)
größeren Zuspruch.68 In Wahrheit jedoch wurde die bilaterale
Abstammung der einheimischen Bevölkerung in den Anden
durch spanisches Recht und spanische Missionspolitik aufge-
zwungen, und ihre Einführung verwischt die Natur der frühe-
ren Systeme.69 Die Argumentation für die Zugehörigkeit über
die männliche Linie beruht hauptsächlich auf den Verwandt-
schaftsbegriffen, wie sie in Lexika der Inka-Sprache erhalten
sind, wie auch auf einigen anderen Quellenangaben.
Eine detaillierte Rekonstruktion des Verwandtschaftssy-
stems der Inka ist hier nicht möglich, aber einige Prinzipien
müssen umrissen werden. Bezeichnungen für Verwandte de-
finieren das Geschlecht (sowohl des Sprechers wie auch des
46
Angesprochenen), die Generation und das Altersverhältnis zwischen Individuen derselben Generation. Sie können auch
klassifikatorisch sein, das heißt, sie erfaßten auch Menschen,
die weiter entfernte Verwandte waren. Das Wort pana zum Beispiel bedeutet Schwester, wenn der Sprecher ein Mann ist,
aber auch Cousine. Auf diese Weise war das Wort für Schwe-
ster auf die weiblichen Verwandten derselben Generation aus-
gedehnt worden.70
Von Bedeutung war die Generationszugehörigkeit. Das Wort
für Generation ist viñay, von dem Verb viñachini „ernähren oder großziehen“.71 Der Begriff viñakmaci bezeichnet Altersgenossen oder diejenigen, die zusammen aufgewachsen sind.
Innerhalb jeder Generation oder Gruppe von Geschwistern
wurden die Geschwister gleichen Geschlechts zusammenge-
faßt. Begriffe, die für Affinalverwandte benutzt wurden (für
solche Menschen, die durch Heirat zur eigenen Gruppe gehö-
ren), verbanden häufig eine Person mit einer Gruppe von Ge-
schwistern gleichen Geschlechts oder zwei solche Gruppen
untereinander.
Das System definierte also einen Mann im Verhältnis zu
seinen klassifikatorischen Brüdern und Schwestern (seinen bio-
logischen Brüdern und Schwestern, Cousins und Cousinen),
seinen Kindern und den Kindern seiner klassifikatorischen
Brüder. Die Frauen waren in fast gleicher Weise definiert, und
zwar im Verhältnis zu ihren klassifikatorischen Brüdern und
Schwestern (biologische Geschwister, Cousins und Cousinen)
und den Kindern ihrer klassifikatorischen Brüder.
Die Söhne und Töchter einer Frau waren jedoch Mitglieder
der Abstammungsgruppe des Vaters, und deshalb ist die Paral-
lele nicht vollständig. Ein Sohn wurde von seinem Vater churi genannt, eine Tochter buarmi churi (wörtlich „ein weiblicher churi11) oder ususi. Im Gegensatz dazu waren die Kinder einer Frau huahua. Huahua ist der allgemeine Begriff für Nachkommen und wurde sowohl für Menschen wie auch Tiere be-
nutzt.72
Mehrere Begriffe bezeichneten sowohl nahe Verwandte wie
auch allgemein Mitglieder der eigenen Abstammungsgruppe.
47
Einer davon ist huaoque. Zum einen bedeutet er Bruder oder Cousin eines Mannes, aber auch ein Mitglied der Abstammungsgruppe des Mannes, das gleichen Alters oder älter ist.
Der Begriff pana, von einem Mann für seine Schwester gebraucht, bezeichnet auch ein Mitglied seiner Abstammungs-
gruppe. Churi ist das Wort, das Männer nicht nur für ihre Söhne, sondern auch für alle jüngeren Angehörigen ihrer Abstammungsgruppe gebrauchen. Wie bereits erwähnt, nannte
ein Mann seine Tochter huarmi churi, was „weibliche churi“
bedeutet.73
Wenn die Inka sich selbst als intipchurin bezeichneten, dann nannten sie sich nicht „ Söhne der Sonne“.74 Sie sagten damit vielmehr, sie seien Mitglieder der Gruppe aus den
Männern und Frauen, die ihre Abstammung auf die Sonne zu-
rückführten. Da ihre ersten menschlichen Ahnen Manco Ca-
pac und eine seiner Schwestern waren, entstand die Beziehung
der Inka zu ihrem Sonnen-Vorfahren offenbar über dieses
Paar, obwohl die genaue Verbindung nicht erläutert wird.
Frauen waren Mitglieder einer Abstammungsgruppe über
die männliche Linie. Bei Heirat außerhalb dieser Gruppe gab
es eine Reihe von Begriffen, die die neue Beziehung zwischen
der Abstammungsgruppe der Frau und der ihres Mannes be-
schrieben. Das Wort caca oder cacay bezeichnete Männer, die mit einer Abstammungsgruppe durch Heirat verwandt waren.
So nannte ein Mann beispielsweise seinen Schwiegervater ca-
ca. Ein Mann und sein Schwager nannten einander ebenfalls caca.
In unserem System der Verwandtschaftsrechnung sind dies
Affinalverwandte, das heißt, sie sind durch Heirat verwandt,
aber die Inka benutzten diese Begriffe auch für Verwandte, die
nach unserem Verständnis blutsverwandt sind. So wurde caca
für den Bruder der Mutter verwendet, der wie die ebenso be-
zeichneten Schwiegerverwandten nicht zu der Abstammungs-
gruppe gehörte.75 Während unser System (und damit auch das
der Spanier, das in den Anden eingeführt wurde) die Kern-
familie als Mittelpunkt des Verwandtschaftssystems ansieht,
mit einer Berechnung von Blutsverwandtschaft auf beiden Sei-
48
ten über eine bestimmte Zahl von Generationen hinauf, waren bei den Inka die Grenzen zwischen der Kernfamilie und
anderen Verwandten weniger deutlich, und die Grenzen zwi-
schen Abstammungsgruppen, die über die männliche Linie
definiert wurden, wichtiger.
So wurden beispielsweise die Männer, die mit Mama Ana-
huarque, der Frau Pachacutis, verwandt waren, als cacacuzcos bezeichnet.76 Sie waren Angehörige einer Abstammungsgruppe, die durch Heirat mit den Nachkommen Manco Capacs
und seiner Schwester verwandt war. Da Sarmiento uns etwas
über die Herkunft der Frauen erzählt, die in jeder Generation
den Führer der dynastischen Abstammungsgruppe heirateten,
können wir andere Gruppen von cacacuzcos identifizieren.
Indem man einen obersten Ahnen bestimmte, konnte genau
festgelegt werden, wer ein Mitglied der Gruppe war und wer
nicht. Es gab keine Überschneidungen zwischen Abstammungs-
gruppen. Nun lebten in Cuzco verschiedene Gruppen von
Menschen, die ihre Abstammung nicht von Manco Capac
herleiteten, wie jene Gruppen, die aus Nachkommen von den
zwei Brüdern Manco Capacs bestanden. Obwohl die Mitglie-
der dieser Gruppen noch als Inka angesehen wurden und ob-
wohl ihre Verbindungen zu den Nachfahren Manco Capacs
genealogisch sein mochten, gehörten ihre Angehörigen nicht
zu der dynastischen Abstammungsgruppe der Inka an sich.
Innerhalb der Gruppe der als Inka bezeichneten Menschen
gab es erhebliche Statusunterschiede. In der Ursprungsge-
schichte der Inka, wie sie im zweiten Kapitel nach Quellen
aus Cuzco wiedergegeben ist, wurde festgestellt, daß einige
Gruppen, die zur Zeit der spanischen Eroberung den Rang
von Inka hatten, eine Blutsverwandtschaft mit der Abstam-
mungsgruppe Manco Capacs aufwiesen, die auf die Zeit des
„Ursprungs“ zurückging. Diese Menschen waren aber ein-
deutig keine Nachkommen Manco Capacs. Manco Capac
brachte zehn Gruppen aus der Gegend von Tambotoco mit,
einschließlich jener beiden, die von seinen Brüdern abstamm-
ten. Abkömmlinge all dieser Gruppen - bis auf jene, die
Cuzco wieder verließen - befanden sich noch in Cuzco, als die
49
schriftlichen Berichte mit historischen Traditionen der Inka aufgezeichnet wurden.77
Der Ursprung der Inka in Sarmientos Bericht ist demnach
eine Geschichte darüber, wie die verschiedenen Gruppen, die
zur Zeit der spanischen Eroberung in Cuzco lebten, dorthin
gekommen waren. Sie ist eine verschlüsselte Darstellung der
Statusunterschiede zwischen Gruppen, die zu der größeren
Einheit der Inka gehörten. Die Vergangenheit diente in diesem
Fall dazu, bestimmte Aspekte der Sozialorganisation Cuzcos
zu erklären und zu rechtfertigen. Da nach Betanzos’ Bericht
Pachacuti die soziale und religiöse Ordnung in Cuzco mit der
gleichen Großzügigkeit änderte, mit der er auch die Neuanla-
ge der Stadt anging, entspricht die überlieferte Zusammenset-
zung der Bevölkerung der Situation nach seinem Eingriff.
Als die Spanier in Cuzco ankamen, war der Verband der
dynastischen Nachkommen (also der Nachfahren Manco Ca-
pacs) in elf Gruppen unterteilt, die panaca hießen. Jede führte ihre Herkunft auf einen der elf Herrscher zurück, die die zentralen Personen in den historischen Berichten aus Cuzco sind.
Die Inka-Herrscher praktizierten die Mehrehe und hatten ent-
sprechend viele Kinder. Nach der Definition der spanischen
Berichte gehörten zu der panaca alle Nachkommen eines
Herrschers außer dem Sohn, der die Herrschaft übernahm;
dieser und vielleicht auch seine Brüder aus der Ehe zwischen
ihrem Vater und der Hauptfrau (coya) bildeten ihre eigene neue panaca. Bei Sarmiento folgt auf die Lebensgeschichte jedes Herrschers ein Verweis auf den Namen seiner panaca und auf ihre Repräsentanten, die zur Zeit der Abfassung seines
Buches noch in Cuzco lebten. Der Aufteilungsprozeß, durch
den die panaca entstanden, ist ein wichtiger Bestandteil der historischen Berichte.
Allerdings enthalten diese Berichte auch Hinweise auf eine
Reform der Abstammungsregeln etwa zur Zeit der Neuorga-
nisation Cuzcos. Teil dieser Reform war die Einführung der
Schwesternheirat. Über mehrere Generationen bis zu Pacha-
cuti waren in der Dynastie Heiratsbündnisse mit nicht-inkai-
schen Gruppen üblich. Dieses Muster wurde von Pachacuti
50
plötzlich durchbrochen, denn er verheiratete seinen Sohn Topa Inca mit dessen Vollschwester Mama Ocllo und erlaubte
dem Paar, noch zu seinen Lebzeiten seine Nachfolge anzutre-
ten. Von diesem Zeitpunkt an sollte das Paar, das als politi-
sches Oberhaupt die Nachfolge übernahm, aus Vollgeschwi-
stern bestehen.
Die Einführung der Schwesternheirat war ein radikaler
Bruch mit der Vergangenheit. Ehebündnisse durch die Heirat
einer Hauptfrau konnte es mit Nicht-Inka oder mit verwand-
ten Gruppen nicht mehr geben. Aber was war der Grund für
diese Neuerung in den dynastischen Praktiken der Inka? Die
Umstände beim Herrschaftsantritt Topa Incas geben einen
Hinweis. Sarmiento berichtet, daß Topa Inca nicht der erste
Sohn war, der als Nachfolger ausgewählt worden war. Zuerst
hatte Pachacuti Amaru Topa ernannt, einen älteren Sohn, der
sich als hervorragender militärischer Führer bewährt hatte.
Dann änderte Pachacuti seine Ansichten und ernannte Topa
Inca, der für 15 oder 16 Jahre im Haus der Sonne verborgen
gehalten worden war und den niemand „außer als Zeichen
besonderer Gunst“ gesehen hatte.78 Als der Zeitpunkt für To-
pa Incas Initiation gekommen war, schuf sein Vater einen
gänzlich neuen Ritus und baute weitere vier Häuser für die
Sonne. Schließlich wurde Amaru Topa zu seinem Bruder ge-
führt. Als er den Reichtum und die wichtigen Adligen in Topa
Incas Begleitung sah, fiel er ehrfurchtsvoll nieder. Pachacuti
ließ Topa Inca dann zum Hauptplatz Cuzcos führen, zusam-
men mit den heiligen Bildnissen, in einer Zeremonie, die
prächtiger war als alles, was man je zuvor in Cuzco gesehen
hatte. Für Topa Inca wurden Opfergaben in einem Feuer ver-
brannt. Es folgte Topa Incas Initiation und dann seine Heirat
mit seiner Vollschwester Mama Ocllo.79
Sarmiento gibt diese Ereignisse wieder, ohne sie zu inter-
pretieren. Die Schwesternheirat fällt zusammen mit der Aner-
kennung der heiligen Natur Topa Incas und der Einführung
eines Kultes für ihn. Obwohl sich Sarmiento auf die Herrscher
konzentriert, können wir aus seiner Darstellung ableiten, daß
es sich in Wirklichkeit um eine Anerkennung des heiligen Sta-
51
tus handelte, der in der Linie der direkten Nachfahren Manco Capacs vererbt wurde. Was geschah, war nicht nur eine Heiligung der Person des Herrschers, sondern eine Heiligung der
Dynastie selbst. Die Inka waren intipchurin, die „Nachkommen der Sonne“. Diejenigen, die diese Blutslinie bewahrten,
waren heiliger als jene, deren Väter Inka waren, aber deren
Mütter entweder keine gute Position in der Abstammungslinie
oder überhaupt keine genealogische Verbindung zu Manco
Capac hatten.
Ein einheimischer Autor, der Anfang des 17. Jahrhunderts
schrieb, Pachacuti Yamqui Salcamaygua, bemerkt, daß Man-
co Capac niemanden finden konnte, der seiner Schwester
gleich war, und sie deshalb heiratete, um sicherzustellen, daß
die Inka nicht „ihre Kaste verloren“.80 Die Vorstellung, man
verlöre eine soziale Position, wenn man jemanden von niedri-
gerem Status heiratete, ist auch den Beschreibungen von Gua-
man Poma de Ayala zu entnehmen, der die verderblichen Zu-
stände in der Kolonialzeit darstellt, in der frühere gute Sitten aufgegeben worden seien.81 Die Heirat innerhalb der Dynastie
war also ein Weg, um den besonderen Status zu bewahren,
der in der Linie Manco Capacs vererbt wurde.
Ein anderer Grund für die Heirat zwischen Bruder und
Schwester war vielleicht, daß man dadurch keine Schwieger-
verwandten bekam. Bei den heutigen Bewohnern der Anden,
die noch Abstammungsgruppen benutzen, ist eine durch Hei-
rat entstandene Beziehung nicht symmetrisch: Die Gruppe, zu
der die Frau gehört, hat eine überlegene Position gegenüber
der Gruppe, in die sie heiratet.82 Die Informationen über den
Aufstieg der Inka sind in den historischen Berichten verschlüs-
selt. Zunächst den Ayarmacas untergeordnet, erreichten die
Inka zur Regierungszeit Yahuar Huacas Gleichrangigkeit in
der Machthierarchie durch den gegenseitigen Austausch von
Frauen. Indem die Inka später innerhalb der eigenen dynasti-
schen Linie heirateten, vermieden sie es, die Überlegenheit ei-
ner anderen Gruppe anzuerkennen. Zu der Zeit, als Pachacuti
seinen Sohn und seine Tochter miteinander verheiratete, hatte
es keine politischen Vorteile mehr, ein Heiratsbündnis außer-
52
halb der dynastischen Abstammungsgruppe zu suchen. Es bedeutete nur einen Verlust von Ansehen.
Da diese Erklärung jedoch in den Berichten nicht direkt zu
finden ist, muß sie mit Vorsicht vorgetragen werden. Es gibt
jedoch Hinweise darauf, daß Heiraten ein wichtiges Mittel
waren, um sich eine höhere Position gegenüber anderen zu si-
chern. Als Viracocha, Pachacutis Vater, plante, den wichtig-
sten Machthaber im Titicacasee-Gebiet zu unterwerfen, be-
absichtigte er, sich mit dessen lokalen Rivalen zu verbünden.
Doch bei der Ankunft im Titicacasee-Gebiet stellte Viracocha
fest, daß dieser Rivale den lokalen Machthaber bereits alleine
besiegt hatte. Die Beziehungen Viracochas zu seinem poten-
tiellen Verbündeten waren freundlich, aber als er bei einem
gemeinsamen Trinkgelage dessen Tochter zur Heirat angebo-
ten bekam, wich Viracocha sofort zurück und bemerkte, er sei
zu alt zum Heiraten.83 Wenn man die hier skizzierten Überle-
gungen anwendet, können wir daraus schließen, daß Vira-
cocha eine Heirat vermeiden wollte, da sie Unterordnung
symbolisiert hätte.
Wenn solche Heiraten eine Unterordnung bedeuteten, er-
klärt dies die Praxis von Pachacuti, Frauen seiner Abstam-
mungsgruppe an die politischen Führer jener Gruppen zu
verheiraten, die dem Reich angeschlossen worden waren. Be-
tanzos berichtet mehrmals, daß Pachacuti und seine Nachfol-
ger inkaische Frauen an lokale Herrscher verheirateten, so-
wohl bei Cuzco wie auch in weiter entfernten Gebieten.84
Heiraten waren für die Inka weiterhin ein nützliches politi-
sches Werkzeug.
Damit ist auch deutlich, daß die Zeugung von Nachkom-
men durch den Herrscher für die Dynastie wichtig war.
Pachacuti zeugte nicht nur ein Bruder-Schwester-Paar, das die
nächste Einheit der dynastischen Abstammungsgruppe her-
vorbringen sollte, sondern er heiratete auch alle seine Schwe-
stern. Da die Gruppenzugehörigkeit über die männliche Linie
bestimmt wurde, war es vorteilhaft, so viele Kinder wie mög-
lich zu zeugen. Töchter waren besonders wertvoll, weil die
Inka selbst nicht „die Kaste verlieren“ wollten und deshalb
53
vorzugsweise Frauen aus der eigenen Gruppe heirateten, und weil Frauen politisches Kapital außerhalb Cuzcos bildeten.85
Obwohl uns diese fremde Welt mit ihren politischen und
verwandtschaftlichen Berechnungen kaum zugänglich ist, gibt
es noch ein Thema, das nicht übergangen werden kann: Die
Teilung Cuzcos in zwei Teile (saya), die Hanancuzco und Hurincuzco genannt wurden. Betanzos verbindet die Entstehung
der beiden saya mit Pachacutis Reformen. Nach der Neuanlage Cuzcos verteilte Pachacuti die neuen Wohnstätten auf die
verschiedenen panaca der Dynastie. Alle panaca der Herrscher vor ihm sollten in Hurincuzco wohnen, dem Gebiet zwi-
schen den beiden Flüssen, das von der Coricancha bis zum
Zusammenfluß des Huatanay und Tullumayo reichte (Karte
6). Dies war der Teil, in dem die Inka bis zur Herrschaft Inca
Rocas gelebt hatten. Die drei Anführer, die Pachacuti bei sei-
nem Sieg über die Chancas und bei der Weihung Cuzcos ge-
holfen hatten, sollten sich ebenfalls dort niederlassen. Das
Gebiet von Hanancuzco, oberhalb des Hauses der Sonne, soll-
te von seinen eigenen Nachkommen bewohnt werden.86 Die
Bewohner sollten jene Nachkommen Manco Capacs sein, die
ihre Abstammung über die männliche und weibliche Linie
verfolgen konnten. Die Bewohner von Hurincuzco waren im
Gegensatz dazu Nachfahren von Manco Capac nur über die
männliche Linie. Die Mütter der drei Anführer waren keine
Inka. Ebenso waren die weiblichen Vorfahren, von denen die
anderen panaca abstammten, keine Inka.
Die Teilung in Hanancuzco und Hurincuzco war mehr als
nur eine Teilung in zwei Stadtbezirke. Die Stadt war jetzt -
physisch und gedanklich - zweigeteilt: In das alte Cuzco, das
an gleicher Stelle lag wie die erste Siedlung der Inka und von
den Gruppen bewohnt wurde, die von Manco Capac ab-
stammten und mit der frühen Geschichte der Stadt verbunden
waren; und in das neue Cuzco, das räumlich oberhalb des al-
ten lag und von den Gruppen bewohnt wurde, die mit der
Reichsausdehnung verbunden waren und die das Prestige ih-
rer Blutlinie erhielten, indem sie so nahe wie möglich unter-
einander heirateten.
54
Die neue räumliche Gliederung scheint wirklich die Wahl der Wohnorte bestimmt zu haben. Mit Sicherheit lagen die
Paläste Pachacutis und der beiden Herrscher nach ihm in Ha-
nancuzco.87 Angehörige der panaca konnten jedoch auch au-
ßerhalb der Stadt oder auf nahegelegenen Landsitzen leben.
Wir kennen kein Verbot, nach dem Angehörigen der beiden
Teile Cuzcos die Heirat untereinander untersagt war. Der
Wohnort kann von anderen Umständen als nur der Abstam-
mung abgehangen haben.
Vielmehr entstand die Verbindung von Abstammungsgrup-
pen zur räumlichen Aufteilung Cuzcos dadurch, daß ihnen
zur Verehrung bestimmte heilige Plätze (huaca) zugewiesen wurden, die sich in Cuzco und im Umland der Stadt befanden. Mehr als 300 huaca wurden so verteilt. Welche Ab-
stammungsgruppen den Kult einer bestimmten huaca unterhielten, scheint in einem quipo festgehalten worden zu sein.
Einzelne Bestandteile der Liste wurden wohl durch Knoten
dargestellt. Die überlieferte Liste der huaca könnte von einem solchen quipo stammen, wobei jede Schnur die huaca auf einer bestimmten Linie festhielt. Diese Linien wurden in der Li-
ste als ceque bezeichnet. Die meisten dieser imaginären Linien gingen von der Coricancha aus,88 aber einige verzweigen sich
auch von bestimmten ceque, als ob sie in dieser Art an den quipo geknotet gewesen waren, denn es war möglich, an die senkrecht herabhängenden Schnüre eines quipo weitere Ne-benschnüre zu knüpfen, um darauf zusätzliche Angaben fest-
zuhalten. Alles in allem gab es 41 ceque und mindestens 328
huaca.
Die Abstammungsgruppen aus Cuzco waren für den Kult
der huaca auf einer bestimmten ceque zuständig. Aus der erhaltenen Liste der huaca kann man die Zuordnung rekonstruieren.89 Aber nicht nur die panaca, sondern auch andere Gruppen mit Beziehungen zur frühen Geschichte Cuzcos - die
als ayllo bezeichnet wurden - unterhielten huaca auf einzelnen ceque. Aus der Liste der huaca können wir die räumliche Organisation Cuzcos rekonstruieren. Wie das Tahuantinsuyo
war die Stadt in vier Teile gegliedert. Zuerst wurde Cuzco in
55
saya geteilt, also in Hanancuzco und Hurincuzco. Dann wurde es weiter in suyo untergliedert: Zu Hanancuzco gehörten Chinchaysuyo und Andesuyo, zu Hurincuzco Condesuyo und
Collasuyo. Die folgenden Tabellen fassen die rekonstruierte
Zuordnung der Abstammungsgruppen zu den huaca der ein-
zelnen suyo zusammen. Alle Gruppen wurden dafür mit einer Nummer gekennzeichnet, die ihre genealogische Position an-zeigt (siehe Tabelle 1), sowie mit einem Buchstaben, je nach-
dem, ob die Gruppe eine panaca oder ein ayllo ist. Der Name des Inka-Herrschers, der der Vorfahr der jeweiligen panaca
ist, erscheint in Klammern (Tabelle 2).
Tabelle 2: Verteilung der panaca und ayllo auf die suyo (nachRowe 1979, Abb. 8)
Chinchaysuyo
10P/Capac Ayllo (Topa Inca)
9P/Iñaca Panaca (Pachacuti)
6P/Vica Quirao Panaca (Inca Roca)
1A/Chawin Cusco Ayllo
2A/Ayraca Ayllo
4A/Huacaytaqui Ayllo
Andesuyo
eP/Sucso Panaca (Viracocha)
7P/Aucaylli Panaca (Yahuar Huaca)
3A/Tarpuntay Ayllo
5A/Sañoc Ayllo
Collasuyo
4P/Usca Mayta Panaca (Mayta Capac)
5P/Apu Mayta Panaca (Capac Yupanqui)
3P/Awayni Panaca (Lloque Yupanqui)
6A/Sutic Ayllo
7A/Maras Ayllo
8A/Cuycusa Ayllo
Condesuyo
2P/Raura Panaca (Sinchi Roca)
1P/Chima Panaca (Manco Capac)
9A/Maska Ayllo
10A/Kesco Ayllo
56
Tabelle 3: Anordnung der panaca und ayllo in Paaren Chinchaysuyo 10P/1A
Andesuyo
9P/2A 8P/3A
6P/4A 7P/5A
Condesuyo
4P/6A Collasuyo
2P/9A 5P/7A
1P/10A 3P/8A
Neben der laufenden Sorge für den Kult der huaca in Cuzco waren die panaca und ayllo auch besonders mit ihrem suyo verbunden, das sie während des jährlichen Situa-Festes, einem
Reinigungsritual, säuberten. Je eine panaca und ein ayllo wurden für dieses Ritual zu einem Paar verbunden, und diese
Paarung ist auf der dritten Tabelle wiedergegeben. Die Zahlen
und Buchstaben, die die Gruppen bezeichnen, entsprechen
denen auf der zweiten Tabelle.
Die hochentwickelte Organisation Cuzcos reflektiert ihre
Umwandlung in die Hauptstadt des Inkareiches. Aber ent-
spricht die überlieferte Form derjenigen aus der Zeit der Neu-
organisation, oder ist sie vor der spanischen Eroberung noch
einmal verändert worden? Auf der erhaltenen Liste fehlt die
panaca des 11. und letzten Herrschers, Huayna Capac. Wenn wir Pachacuti, dem 9. Herrscher, die Anordnung der panaca
und ayllo, wie in Tabelle 3 dargestellt, zuschreiben, so hat er nicht nur bereits seine eigene panaca untergebracht, sondern auch die seines Sohnes, Topa Inca. In diesem Fall könnte die
Organisation mit zehn ayllo und zehn panaca vollständig gewesen sein, ohne daß eine weitere Veränderung geplant war.
Die Einführung der Schwesternheirat sollte vielleicht den Pro-
zeß der weiteren Aufsplitterung in panaca stoppen.
Andererseits könnte die Organisation so eingerichtet wor-
den sein, daß neue panaca und ayllo untergebracht werden konnten, oder sie könnte in der Zeit nach Pachacuti geändert
worden sein.90 Sollte das der Fall sein, muß es einen Weg ge-
geben haben, neue ayllo zu bilden, da die panaca symmetrisch mit ayllo verbunden waren.
57
Nach Betanzos bildeten die Kinder der Herrscher mit nicht-inkaischen Frauen eine getrennte Abstammungsgruppe.91 Auf
diesem Weg könnte in jeder neuen Generation ein weiteres
ayllo gebildet worden sein. Diese neuen ayllo gehörten zu Hurincuzco, da die einzelnen Mitglieder nur ihrem Vater nach
Inka waren. Geht man von einer unendlichen Abfolge von
Herrschern aus, hätte man das System unbegrenzt ausdehnen
können.
Aus dem Blickwinkel Pachacutis war ein Wachstum des Sy-
stems vielleicht nicht wünschenswert. Um die Symmetrie in
der Zuordnung zu Hanan- und Hurincuzco zu erhalten, muß-
ten panaca fortschreitend von hanan nach hurin absteigen, während die ayllo schrittweise aufstiegen. Obwohl es offenbar Pachacutis Absicht war, Hanansaya mit seinen eigenen Nachkommen zu bevölkern, hätte die Weiterentwicklung des Sy-
stems nach weiteren acht Generationen dazu geführt, daß sei-
ne eigene panaca von Hanan- nach Hurinsaya wechselte.
Was auch immer beabsichtigt war, der Schöpfer des Systems
konnte nicht sicherstellen, daß seine Nachkommen sein Werk
unverändert ließen. In gewisser Weise waren jedoch alle neuen
panaca nur eine Erweiterung seiner eigenen. Neue Generationen entstanden, aber die Heirat mit der Vollschwester bewirk-
te, daß die neuen Generationen so weit wie möglich seiner ei-
genen ähnelten.
5. Inka und huaca –
die Bedeutung des Übernatürlichen
Cuzco selbst war ein heiliger Ort, bewohnt von Geschöpfen,
die ihre Abstammung auf die Sonne zurückführten. Diese ge-
nealogische Verbindung scheint den Inka übernatürliche Stel-
lung verliehen zu haben. „Sie waren mehr als Menschen“,
schreibt ein spanischer Verwaltungsbeamter.92 Der Begriff capac war ein Zusatz, teilt Betanzos mit, der „sehr viel mehr als König“ bedeutet.93 Der übernatürliche Status, über den die
Inka verfügten, wird deutlich belegt durch die gleiche Behand-
lung, die Inka - soweit sie nahe mit Manco Capac verwandt
waren - und andere übernatürliche Wesen in den Anden ge-
nossen.
Übernatürliche Wesen, wie auch heilige Orte und heilige
Objekte, wurden in der Kategorie der huaca zusammengefaßt.
Es gibt wichtige Unterschiede unter ihnen, die wir nicht völlig
verstehen. Die meisten huaca waren aus Stein. Manche hatten eine menschliche Form, männlich oder weiblich, und manche
waren die Kinder oder Gatten anderer huaca. Andere waren Darstellungen von Tieren. Sie wurden von bestimmten Personen versorgt, die mit ihnen sprachen und deren Aufgabe es
war, ihnen Opfer darzubringen. Es war eine Gnade, mit huaca
sprechen zu können, und diese Fähigkeit verlieh anscheinend
einen besonderen Status. Eine andere Kategorie von huaca
waren die mumifizierten Überreste von Vorfahren, die als
mallquis bezeichnet wurden. Auch sie hatten Menschen, die für sie sorgten, und besondere Rituale. Eine dritte Kategorie
von huaca, genannt conopas, war den einzelnen Haushalten heilig. Eines der Kinder - Sohn oder Tochter - erbte alle heiligen Objekte; sie wurden nicht unter den Nachkommen aufge-
teilt.94
Von Topa Inca an wurden die Inka-Herrscher so behandelt,
als gehörten sie zu den wichtigeren huaca. Ihr übernatürlicher Status leitete sich vermutlich von ihrer Beziehung zur Sonne ab.
Es hieß, der Status stieg nach einem Begräbnisritus, purucaya, 59
der ein Jahr nach dem Tod eines regierenden Inka durchgeführt wurde. Der Ritus fand offensichtlich auch nach dem
Tod der Ehefrau des Herrschers statt, da es Hinweise auf die
purucaya-Rhen für Mama Ocllo, die Tochter Pachacutis und Schwester-Ehefrau von Topa Inca, gibt. Dieser Ritus wurde
von verschiedenen spanischen Autoren mit der katholischen
Heiligsprechung gleichgesetzt, obwohl die damit angedeutete
Ähnlichkeit zwischen den Mumien der Inka und katholischen
Heiligen trügerisch ist.95
In der Inka-Geschichte von Sarmiento ist Topa Inca der er-
ste Inca, der zu Lebzeiten wie ein übernatürliches Wesen be-
handelt wurde. Von der Zeit seiner Machtübernahme an er-
scheint er wie eine bedeutende huaca. Die Spanier, die über die Inka schrieben, hatten ihre eigene Vorstellung von König-tum und begriffen den Anspruch auf einen übernatürlichen
Status bei den Nachkommen Manco Capacs nicht völlig. Viel-
leicht standen die Kandidaten, die nach dem Tod Huascars
und Atahuallpas für die Nachfolge als Herrscher vorgeschla-
gen wurden, nicht nahe genug an der Blutlinie, die übernatür-
lichen Status verlieh. Vielleicht hat aber auch die Niederlage
von Huascar und Atahuallpa den übernatürlichen Status ent-
wertet.
Wie auch immer, in den historischen Darstellungen findet
man klare Hinweise auf die übernatürliche Stellung der Inka.
So erzählt Sarmiento uns, daß Topa Inca nach seiner Krönung
auf seinen Feldzügen im Norden wie eine huaca behandelt wurde. Niemand wagte, ihm ins Gesicht zu sehen. In einiger
Entfernung zur Straße, auf der er reiste, beteten ihn die Men-
schen von den Berggipfeln an. Bei der Durchreise erhielt er
Opfergaben. Einige opferten ihm Koka, andere rissen sich
Augenwimpern aus und bliesen sie in seine Richtung. Diese
letzte Form des Opfers konnten selbst die Ärmsten der Sonne
geben. In den Städten, die Topa Inca besuchte, wurden Opfer-
gaben vor seinem Sitzplatz verbrannt, in derselben Weise, wie
die Sonne „ernährt“ wurde.96
Daß die Menschen sich entfernt hielten, ist ein Hinweis auf
die heilige Stellung des Inka. Cieza de León, ein spanischer
60
Soldat, beschreibt dieses Verhalten und erzählt, daß die Inkaherrscher sehr gefürchtet wurden und daß unter den Zu-
schauern großes Geschrei entstand, wenn einmal der Schleier
von der Sänfte des Inka glitt. Anderswo schreibt er, daß ihr
Geschrei aus verschiedenen ehrenvollen Titeln als Zeichen der
Verehrung bestand.97
Das Wort, das Sarmiento benutzte, wenn es um die Behand-
lung Topa Incas ging, ist mochar, eine spanische Entstellung eines Inka-Wortes für eine besondere Geste der Verehrung.
Mocba war eine Form der Opfers, die huaca von ihren rituellen Spezialisten erhielten. Es bestand darin, die linke Hand zu
der huaca zu halten und die Finger zu öffnen, „als ob man einen Kuß gibt“. Nur die rituellen Spezialisten durften zu der
huaca gehen. Die gewöhnlichen Menschen versammelten sich anderswo und nahmen nur an einer rituellen Anrufung nach
der Zeremonie teil. Übernatürliche Wesen wie die Sonne und
der Donner wurden auf diese Weise angebetet und ebenso die
herrschenden Inka.98
Die Sonne wurde rituell ernährt, und die rituelle Ernährung
(durch das Verbrennen von Opfergaben) des Inka, eines le-
benden Wesens, das wie jedes andere lebende Wesen essen
mußte, bekräftigt nur die Gleichsetzung zwischen Sonne und
Inka-Herrscher. Diese war auch auf andere Weise offensicht-
lich. Die Sonne besaß Häuser im Zentrum des neuen Cuzco
nahe der Inticancha, dem Wohnort der ersten Generationen
der Inka, sowie in vielen der Provinzen. Eine große Zahl von
Frauen wurde dem Dienst für die Sonne zugewiesen, ebenso
wie Abhängige, die yanacona genannt wurden. Um die Op-
fergaben zu produzieren und den riesigen Haushalt der Sonne
zu unterhalten, erhielt der Kult Land und Herden. Schließlich
besaß die Sonne noch verschiedene Kostbarkeiten.“ Dieser
Besitz ähnelte in Umfang und Art jenem, den jeder Inka-
Herrscher - zumindest von Pachacuti an - während seiner
Lebenszeit anzuhäufen versuchte.
Obwohl wir den Umfang des Besitzes der Sonne nicht ken-
nen, wurde in jeder Provinz zum Nutzen dieses übernatürli-
chen Wesens Land bearbeitet, und einige Provinzen waren
61
ganz dem Kult der Sonne gewidmet.100 Vielleicht war der Besitz direkt mit dem Personal und den Häusern der Sonne in
diesen Regionen verbunden. Zur Zeit der spanischen Erobe-
rung war Vila Oma, ein Bruder Huayna Capacs, der oberste
Verwalter der Sonne.101
Jeder Inka verfügte über Besitz mit ähnlichen Ressourcen,
das heißt mit Frauen, Abhängigen, Land, Herden und kostba-
ren Gütern.102 Ehefrauen konnten eigenen Besitz haben, und
selbst die Bildnisse, die huaoque, die manchmal als Vertreter des Inka dienten, konnten über Eigentum verfügen.103 Die
Ausstattung für den Kult der früheren Herrscher war von
Pachacuti eingerichtet oder zumindest gefördert worden, als
er den Mumien seiner Vorfahren Geschenke machte.104
Am besten ist der Besitz jener Inka-Herrscher, die das Reich
eroberten, dokumentiert; er umfaßte auch Land in einiger
Entfernung von Cuzco. Eine Beschreibung von Topa Incas
Besitz gibt eine Idee von seinem Ausmaß und seiner Vielfalt.
Als die Spanier Cuzco erreichten, wurde dieser Besitz von ei-
nem seiner Urenkel verwaltet und umfaßte Paläste am Haupt-
platz von Cuzco, Paläste auf dem Land nahe Cuzco in Calis-
puquio, Chinchero, Urcos (heute Urquillos) und Guaillabamba,
die Provinz Parinacocha auf den Westhängen der Kordillere
im Westen Cuzcos mit einer Bevölkerung von 4000 Haushal-
ten, eine zweite Provinz in Quipa (nahe Pucara) und Azanga-
ro im nördlichen Titicacasee-Becken mit 4500 Haushalten,
einschließlich von außenliegenden Gemeinschaften im Cara-
baya-Gebiet östlich des Sees, wo Gold gewaschen wurde, und
eine dritte Provinz in Achambi im Süden Cuzcos auf der
Westseite der Andenkordillere, mit 4500 Haushalten.105
Ein Teil dieses Besitzes wurde vermutlich durch Eroberun-
gen und die Ausrottung der Bewohner erworben. Beispiels-
weise besaß Pachacuti mehrere Ländereien im Urubamba-Tal
(Karte 8), die er sich auf diese Weise angeeignet hatte. Nach
einem erfolglosen Versuch, ihn im Gebiet der Cuyos bei Pisac
zu ermorden (Karte 4), vernichtete dieser Inka-Herrscher die
Bewohner Cuyos’ und setzte seinen Feldzug durch das Uru-
bamba-Tal fort. Er legte mehrere private Landsitze in diesem
62
Gebiet an, von denen einer die berühmte archäologische Fund-stätte Machu Picchu ist.106 Als Topa Inca beim Tode seines
Vaters einen Aufstand der Collas niederschlug, stieß er auf
starken Widerstand in Asillo, in einem Gebiet, wo er später
private Besitzungen anlegte.107
Die Besitzungen der Sonne und einzelner Inka-Herrscher
ähnelten jenen anderer wichtiger huaca, wenn auch nicht ermittelt werden kann, ob die Inka diese Einrichtungen nach
dem Vorbild vorhandener Institutionen schufen oder als erste
mit der Vergabe von Besitz an die huaca begannen. Die Inka-Herrscher gaben Geschenke von Land, Frauen, Abhängigen,
Herden und kostbaren Gütern an einzelne huaca. Wichtige huaca, die durch tragbare Bildnisse repräsentiert wurden, kamen einmal im Jahr nach Cuzco. Sie sollten dort vorhersagen,
was im nächsten Jahr passieren würde. Huaca, deren Vor-
hersagen aus dem vorangehenden Jahr eingetroffen waren,
wurden reich belohnt. Wie es scheint, konnten huaca auch be-straft werden. Sie konnten sogar getötet werden, und eine
huaca, die vernichtet worden war, wurde als atisca bezeichnet.108
Die Inka, die Sonne und eine Anzahl regionaler huaca unterhielten verschiedene Arten von Beziehungen untereinander.
Beispielsweise gaben die Inka Geschenke an die Sonne, aber
es war möglich, diese durch ein Spiel zurückzugewinnen, das
ayllusca hieß. Das Ziel des Spiels war, eine Stoffschlange, die in die Luft geworfen wurde, mit einer ayllo oder Bola einzu-fangen. Dieses Spiel konnte auch mit anderen übernatürlichen
Wesen gespielt werden.109
Eine Geschichte über das erste Zusammentreffen zwischen
Topa Inca und Pachacamac, der wichtigsten huaca an der Kü-
ste, gibt uns einen Rahmen zum Verständnis der Beziehungen
zwischen mächtigen übernatürlichen Wesen. Als Topa Incas
Mutter, Mama Anahuarque, mit ihm schwanger war, kam
eine Stimme aus ihrem Bauch und sagte ihr, es gebe an der
Küste einen Schöpfer in dem Tal Irma (für Ichma, dem heuti-
gen Lurin-Tal unmittelbar südlich von Lima). Als Topa Inca
erwachsen war, erzählte seine Mutter ihm, was sich ereignet
63
hatte, und ihr Sohn beschloß, nach diesem übernatürlichen Wesen zu suchen. Er reiste zu dem Ort, der heute als Pachacamac bekannt ist (Karte 5), und verbrachte viele Tage fastend
und betend, bis Pachacamac schließlich mit ihm sprach.
Pachacamac erzählte Topa Inca, daß er alle Dinge „hier un-
ten“ geschaffen habe, und wir interpretieren dies als „an der
Küste“. Er sagte auch, daß die Sonne sein Bruder sei und alle
Dinge „dort oben“ geschaffen habe, das heißt im Hochland.
Der Inka und seine Begleiter brachten Pachacamac umfang-
reiche Opfer dar. Als er gefragt wurde, welche Arten von Op-
fern er gerne hätte, antwortete Pachacamac - der aus einem
Stein sprach -, daß er eine Frau und Kinder habe und daß die
Inka ihm ein Haus bauen sollten. Topa Inca baute ihm ein
Haus in Pachacamac. Pachacamac sagte ihm auch, er habe
vier Kinder. Eins befand sich im Tal von Mala an der Küste
nach Süden, ein zweites in Chincha, an der Küste noch weiter
im Süden, ein drittes in Andahuaylas, im Hochland bei
Cuzco, und das vierte war ein tragbares Bildnis, das er Topa
Inca gab.110
Die Geschichte wurde offensichtlich aus der Sicht der Inka
erzählt, da sie das bereits existierende Heiligtum in Pachaca-
mac nicht erwähnt. Das Heiligtum ist seit Anfang dieses Jahr-
hunderts von Archäologen untersucht worden, und sie fanden
heraus, daß es an diesem Ort schon ein halbes Jahrtausend
vor der Entstehung des Inkareiches bestand. Es ist keine Über-
raschung, daß Verwandtschaftsbegriffe als Ausdruck für die
Beziehungen zwischen Pachacamac und anderen, geringeren
übernatürlichen Wesen wie auch zwischen Pachacamac und
der Sonne benutzt werden: In der Geschichte sind Pachaca-
mac und die Sonne Brüder. Interessanterweise wird keine
hierarchische Beziehung zwischen den beiden ausgedrückt.
Schließlich waren beide Schöpfer und die Vorfahren heiliger
Wesen: Pachacamac hatte seine huaca- Kinder und die Sonne die Inka.
In diese Geschichte eingearbeitet ist die Vorstellung, daß es
mehr als einen Schöpfer gab und daß die Sonne ein wichtiger
Schöpfer war. In anderen Berichten, die auf Informationen aus
64
Cuzco beruhen, war die Sonne einer obersten Gottheit untergeordnet, die oft als Viracocha Pachayachachi bezeichnet
wird und von der es heißt, sie habe alles erschaffen.
Ob die Inka einen obersten Schöpfer neben der Sonne
kannten, ist eine offene Frage. Eine Gottheit namens Ticci
Viracocha oder Viracocha Pachayachachi ist in einer Anzahl
von Berichten als oberste Schöpfergottheit beschrieben, ein-
schließlich in denen indianischer Autoren. m Im 16. Jahrhun-
dert wurden von den Spaniern Parallelen zwischen den reli-
giösen Überzeugungen der Indianer und dem Katholizismus
gesucht, und die Identifizierung eines obersten Schöpfers
könnte ein Teil eines Versuchs sein, das Christentum auf dem
einheimischen Glauben aufzubauen. Vorspanisches Vorkom-
men von christlichen Überzeugungen wurde als Beweis für de-
ren „Wahrheit“ benutzt, und sie waren ein wichtiges Instru-
ment bei der Missionierung der indianischen Bevölkerung.
Diese Bemühungen sind manchmal durchsichtig, wie zum Bei-
spiel wenn der Fund eines Keramikgefäßes mit drei Köpfen im
Alti piano von Bolivien von einem Augustiner als Hinweis auf
einen Glauben an die Dreifaltigkeit interpretiert wurde.
Die Verwirrung über Viracocha in den Quellen deutet dar-
auf hin, daß die Gleichsetzung dieses Wesens mit einem ober-
sten Schöpfer ähnlich dem christlichen Gott falsch sein mag.
Wenn Betanzos uns berichtet, daß die Inka glaubten, Vira-
cocha Pachayacachi habe die Sonne erschaffen, erwähnt er
auch, „sie ändern ihre Geschichte“ und manchmal sagen sie,
die Sonne sei der Schöpfer, während sie zu anderen Zeiten die
Schöpfung Viracocha zuschreiben. Sarmiento ist überzeugt,
daß Viracocha ein oberster Schöpfer ist, aber es gibt auch in
seinem Bericht Hinweise auf Unklarheiten: Die meiste Zeit
sind die Inka „Söhne der Sonne“ (seine Übersetzung von in-
tipchurin), aber an einer Stelle nennt er sie „Söhne Viracochas“. Er lokalisiert auch einen „Tempel der Sonne und die
buaca von Ticci Viracocha“ auf einer Insel im Titicacasee.
Diese Insel war eng mit dem Sonnenkult verbunden, und die
Hinzufügung eines Heiligtums für Viracocha könnte ein
christlicher Versuch sein, Viracocha und den Sonnenkult zu
65
verschmelzen. Polo schreibt, er habe in Cuzco nach dem Haus Viracochas gesucht, ohne es zu finden, und er fügt an, man
habe ihm erzählt, daß es am selben Platz wie die Häuser der
Sonne liege. Schließlich gibt es Verwirrung darüber, welches
übernatürliche Wesen Pachacuti vor dem Angriff der Chancas
in Susurpuquio erschienen ist. Betanzos sagt, es sei Viracocha
Pachayachachi gewesen. Sarmiento beschreibt die Erscheinung
als ein Wesen „wie die Sonne“. Molina gibt ein Gespräch
wieder, in dem sich das übernatürliche Wesen als die Sonne
identifiziert.112
Es gab weiterhin eine lokale Gottheit, die als Viracocha be-
zeichnet wurde. Cristobal de Molina, ein Priester, der in Cuzco
Indianer missionierte, erwähnt einen Berg in einer Provinz
südlich Cuzcos mit Namen Cacha Viracocha. Hier hatte
Huayna Capac einen Kult eingerichtet. Betanzos fügt an, daß
dieser Kult Frauen und yanacona erhielt und vermutlich auch Ressourcen, um ihn mit Opfergaben zu versorgen.113 Die Verehrung dieser Gottheit könnte mit dem Sonnenkult verwech-
selt worden sein. Eine andere Möglichkeit ist, daß mehrere
übernatürliche Wesen die Bezeichnung Viracocha als Bestand-
teil ihres Namens führten. Viracocha Pachayachachi selbst
könnte ein weiteres übernatürliches Wesen gewesen sein oder
ein Aspekt der Sonne.
Ein wichtiger Grund für Zweifel an der Existenz eines
obersten Schöpfers neben der Sonne ist das Fehlen von Bele-
gen für die materielle Versorgung des Kults einer solchen
Gottheit. Wichtige übernatürliche Wesen waren nicht arm; sie
hatten Besitz, der ein komplexes Programm von Diensten und
Opferungen möglich machte. Wenn es ein separates, wichtiges
Schöpferwesen gab, können wir erwarten, daß es Ressourcen
im vergleichbaren Umfang wie die Sonne besaß. Das ist je-
doch nicht der Fall.
In dem kurzen Bericht des Priesters Jose de Arriaga über
religiöse Praktiken wird kein oberster Schöpfer erwähnt. Er
stellt vielmehr fest, daß die buaca die runapcamac waren, was er als „Schöpfer der Menschen“ übersetzt.114 Vielleicht ist
gemeint, daß die huaca die Erzeuger der Lebewesen waren, 66
daß sie der Ursprung von Lebensformen oder belebten Objek-ten waren. Schnelle religiöse Veränderungen nach der spani-
schen Eroberung beeinträchtigen unser Verständnis des in-
kaischen Glaubenssystems. Allerdings wurde der Sonnenkult
nicht sofort ausgerottet. Selbst im 17. Jahrhundert traf Ar-
riaga noch auf religiöse Praktiken, die mit dem Kult der Son-
ne und anderer inkaischer übernatürlicher Wesen zusammen-
hingen.
In der oben zitierten Geschichte bezeichnet Santillán so-
wohl die Sonne wie auch Pachacamac als Schöpfer. Wenn die
andinen Völker an verschiedene Schöpfer und die damit ver-
bundenen getrennten Ursprünge verschiedener Menschen
glaubten, dann hatten sie mit einer neuen Mythe zu kämpfen,
die die Spanier einführten: Nach dieser stammten alle Men-
schen von Adam und Eva ab, die von einem einzigen überna-
türlichen Wesen geschaffen worden waren. Das übernatürli-
che Wesen der Christen mochte verschiedene Aspekte haben,
aber es war das einzige übernatürliche Wesen in der Welt, ab-
gesehen von dem Teufel, einem bösen Alterego, das nicht ver-
ehrt wurde. Die Konstruktion eines andinen Schöpfers, der
dem obersten Wesen der Christen ähnlich war, könnte gehol-
fen haben, den Übergang zum Christentum zu erleichtern,
und er könnte fast unbewußt von christlichen Autoren einge-
führt worden sein, selbst von jenen indianischer Herkunft.
In Santilláns Geschichte finden sich die Umrisse einer an-
deren Weltsicht, und zwar eines Weltbildes, das spezifisch
inkaisch sein mochte. Zwei Welten, Küste und Hochland,
wurden getrennt geschaffen. Die Beziehung zwischen ihren
obersten übernatürlichen Wesen entsprach Verwandtschafts-
bindungen. Bestimmte Aspekte der inkaischen Verwaltung,
wie sie im siebten Kapitel diskutiert werden, folgen der ge-
danklichen Teilung des Raums, wie sie in Santilláns Geschich-
te dargestellt wird; es gibt zwei Listen über die Art der Dien-
ste, die unterworfene Provinzen den Inka leisten mußten, eine
für die Küste und eine zweite für das Hochland.115
Vielleicht hat Santilláns Bericht einen historischen Gehalt.
Beispielsweise entstand tatsächlich eine Beziehung zwischen
67
Topa Inca und Pachacamac, weil der Inka Geschenke an den Kult gab. Pachacamac hat vermutlich weitere Gaben von
Huayna Capac erhalten. Ein einheimischer Autor, dessen Vor-
fahren Huayna Capac auf Feldzügen gefolgt waren und In-
formationen über die Reisen dieses Inka in der nördlichen
Hälfte des Reiches geliefert haben, schreibt, daß Pachacamac
Huayna Capac an die Küste rief. Als Huayna Capac der Auf-
forderung nachkam, bat Pachacamac darum, nach Chimo ge-
bracht zu werden, nahe der heutigen Stadt Trujillo, wo er mit
einem beachtlichen Aufwand an Bediensteten untergebracht
wurde. Huayna Capac versprach, den ehrgeizigen Wunsch
Pachacamacs zu erfüllen.116
Die Überreste der monumentalen inkaischen Bauwerke
können noch heute in Pachacamac angesehen werden, und die
Bedeutung der inkaischen Präsenz ist erkennbar. Bestimmte
Aspekte der Einrichtungen für Pachacamac, wie zum Beispiel
eine Anlage, in der dem Kult geweihte Frauen wohnten, konn-
ten identifiziert werden. Ein Friedhof mit Grabstätten von
Frauen wurde auf einer Terrasse der Plattform gefunden, die
die Inka an dem Ort errichteten. Wegen der Trockenheit an
der peruanischen Küste ist die Kleidung der Toten, die einst zu
Pachacamacs Kult gehörten, erhalten geblieben. Die Frauen
trugen Kleidung in inkaischem Stil.117 Die Inka übten auch
einen starken Einfluß auf die materielle Kultur in Chincha
aus, das heißt, das Tal mit dieser untergeordneten buaca stand auch im Zentrum ihrer Interessen, entsprechend der Stellung
der buaca als Kind Pachacamacs.118
Pachacamac hatte eine „Heimat“ an der Küste, die der
inkaischen Expansion vorausging. Wenn wir die Geschichte
historisch auslegen, erzählt sie uns, wie Verhandlungen und
nicht Eroberungen die Beziehung zwischen den Inka und dem
Pachacamac-Kult prägten.
Der Kult der Sonne ging ebenfalls der Zeit der inkaischen
Expansion voraus, aber dieser Kult spielte in der inkaischen
Vergangenheit eine Rolle und über die Beziehung zur Sonne
konnte nicht verhandelt werden wie über die zu Pachacamac.
Auf der Insel Titicaca in der Nähe von Copacabana (Karte 5)
68
befand sich ein heiliger Felsen, von dem geglaubt wurde, die Sonne sei daraus hervorgegangen. Dies war der pacarisca oder der Ursprungsort der Sonne. Es gibt keine Geschichte über ein
Zusammentreffen zwischen den Inka und diesem übernatürli-
chen Wesen, in dem seine „Menschlichkeit“ erkennbar wird,
und daher wissen wir nicht, ob das mit Titicaca verbundene
übernatürliche Wesen ursprünglich als Inhaber eines bestimm-
ten Geschlechts mit Ehepartnern und Kindern aufgefaßt
wurde. Frühe Vorstellungen über dieses übernatürliche Wesen
können durch die Adoption als Vorfahr in der dynastischen
Abstammungsgruppe verwischt worden sein. Versuche, die
dynastische Linie mit dem heiligen Felsen auf der Insel Titi-
caca zu verbinden, führten zu einer Variante im Ursprungs-
mythos der Inka. Statt aus einer Höhle in Pacaritambo her-
vorzugehen, kamen Manco Capac und seine Schwester, die
Vorfahren der Inka, von der Insel Titicaca.119
Die Inka könnten den Anspruch auf eine Beziehung zur
Sonnengottheit usurpiert haben, nachdem dieser Anspruch in
den Jahren vor der inkaischen Expansion von einer anderen
Gruppe erhoben worden war. Die Collas, deren Machtzen-
trum im nördlichen Titicacasee-Becken lag, beanspruchten die
Auszeichnung, „Nachkommen der Sonne“ zu sein, als sie ge-
gen die Inkaherrschaft rebellierten.120 Eine enge Verbindung
zu einem wichtigen übernatürlichen Wesen zu behaupten
mochte ein ideologisches Mittel sein, um militärische und di-
plomatische Machtstrategien zu ergänzen. Vielleicht war der
Anspruch mit der Colla-Herrschaft im Titicacasee-Gebiet vor
den Inka-Eroberungen verknüpft. Wenn die Beziehung zur
Sonne ein gewisses Alter hatte, dann haben sich die Inka eine
Rolle angeeignet, die schon vorher existierte.
Wie auch immer, die Inka „besiegten“ Titicaca nicht. Im
Gegenteil, als pacarisca der Sonne hatte die huaca einen Platz in dem Reichskult. Ein größeres Bauprojekt wurde auf der Insel Titicaca begonnen. Die Bewohner auf der benachbarten
Copacabana-Halbinsel wurden umgesiedelt, und eine mul-
tiethnische Gemeinschaft von Menschen aus mehr als 40 Völ-
kern wurde auf der Halbinsel angesiedelt. Der Kult wurde
69
von hochrangigen Mitgliedern der inkaischen panaca geleitet.
Vermutlich wurde der Kult mit Ressourcen ausgestattet, um
Bedienstete zu unterhalten und ein komplexes Programm von
Opferungen zu ermöglichen. Der Zugang zu dem Ort war be-
schränkt und den Collas wurde verboten, an dem capac raymi
und inti raymi teilzunehmen, den wichtigsten Festen des inkaischen Zeremonialkalenders.121 Der Titicaca-Kult wurde
okkupiert und verändert, um die Verbindung zwischen der
dynastischen Linie der Inka und diesem wichtigen übernatür-
lichen Wesen zu spiegeln.
Es war notwendig, mit einer wichtigen buaca zu verhandeln oder sie in anderer Weise zu neutralisieren, weil diese Wesen
selbst politische Macht hatten. Obwohl es keine Fälle von be-
deutenden übernatürlichen Wesen gibt, die gegen die Inka
kämpften, finden sich zahlreiche Hinweise auf die Teilnahme
geringerer buaca am Krieg oder am Widerstand gegen die Herrschaft Cuzcos. Wenn wir Sarmientos Darstellung genau
verfolgen, so erkennt man, daß der Einfall der Chancas in
Cuzco durch zwei huaca geleitet wurde.122 Juan de Santa Cruz Pachacuti berichtet mehrmals von Schlachten, bei denen
die Inka gegen bekannte buaca kämpften oder bei denen
übernatürliche Wesen der inkaischen Seite halfen.123 Die Inka
nahmen meistens das Bildnis Manco Capacs und andere mit
in die Schlacht. Ebenso konnte ein lebender Herrscher eine
Abbildung von sich in die Schlacht schicken, so daß er danach
den Ruhm für einen Sieg in Anspruch nehmen konnte.124
Angaben über den Status von Inka und übernatürlichen
Wesen zeigen eine gänzlich andere Aufteilung der natürlichen
und übernatürlichen Welt als unsere eigene. Auf der einen Sei-
te überzeugten die Inka ihre Untertanen, daß sie „mehr als
Menschen“ waren - daß sie übernatürliches Wissen besaßen,
daß sie mit übernatürlichen Wesen sprechen konnten und daß
sie mit einem wichtigen übernatürlichen Wesen eng verbun-
den waren. Auf der anderen Seite griffen wichtige übernatür-
liche Wesen in das menschliche Leben ein und wiesen selbst
einen hohen Grad von „Menschlichkeit“ auf. Sie mußten ver-
sorgt werden, und sie konnten sprechen. Sie spielten eine
70
wichtige Rolle auf der politischen Bühne, indem sie Bedingungen für ihre Akzeptanz der Inka-Herrschaft aushandelten
und indem sie dieser Widerstand leisteten. Wie im Fall der
Inka, die die Abstammung von einem übernatürlichen Wesen
beanspruchten, konnten huaca genealogische Beziehungen zu der menschlichen Bevölkerung haben. Es existierte keine
scharfe Trennung zwischen den Kategorien natürlich und
übernatürlich.
Schärfer waren die Grenzen zwischen Abstammungsgrup-
pen definiert. Anstelle einer einzigen Art von menschlichen
Wesen gab es viele von ihnen. Wenn eine Gruppe mächtig ge-
worden war, konnte sie ihre Beziehungen zu den anderen neu
festlegen. Die Inka definierten ihre Abstammungsgruppe und
deren Rolle in der andinen Welt neu und begannen danach,
ihre Vorstellung von Ordnung auf andere andine Gruppen
auszudehnen, die in den von Cuzco beherrschten Provinzen
lebten.
6. Organisation der Provinzen
Inka und huaca besaßen Land, Herden und abhängiges Ge-
folge. Einige dieser Besitztümer entsprachen ganzen Provin-
zen. Zum Besitz Topa Incas gehörten Gebiete in einiger Ent-
fernung von Cuzco: Parinacochas, Azangaro und Achambi.
Zwei Inseln vor der Copacabana-Halbinsel im Titicacasee
bildeten zusammen mit der Halbinsel ein separates Territori-
um, das dem Kult der Sonne geweiht war.125 In einigen Fällen
bildete Topa Incas Besitz keine getrennte Provinz, sondern
war mit dem Land der Sonne vermischt.126 Trotzdem bestand
der Besitz einzelner Inka und wichtiger übernatürlicher Wesen
- ob in irgendeiner Weise zusammengefaßt oder nicht - aus
separaten, umgrenzten Territorien, die physisch von anderen
Provinzen getrennt waren.
Es gibt zahlreiche Hinweise auf „Provinzen“ in den spani-
schen Dokumenten, oft bezeichnet mit dem Namen der dort
wohnenden Gruppe. Wir können allerdings nicht annehmen,
daß die Begriffe in spanischen Dokumenten indianische Vor-
stellungen von räumlicher Organisation korrekt wiedergeben.
Hatten die Inka eine Vorstellung von Territorien, die durch
Grenzen definiert waren?
Die Inka hatten eine Vorstellung von begrenztem Territo-
rium und definierten Provinzen aufgrund von festen Grenz-
linien. Die Grenzen zwischen Provinzen im Hochland waren
entlang landschaftlicher Merkmale gezogen, selbst dort, wo
sie durch unbewohnte Gebiete gingen.127 Obwohl solche Ge-
biete den Spaniern leer erschienen, waren sie als Weideflächen
für domestizierte und wilde Kameliden (Lama, Alpaka, Gua-
naco, Vikuña) wirtschaftlich wertvoll. Auch dienten sie zur
organisierten Jagd auf andere Wildtiere.
Territorien waren begrenzt, aber die Menschen, die einer
Provinz angehörten, mußten nicht notwendigerweise innerhalb
ihrer Grenzen leben. Die Inka siedelten zahlreiche Gruppen
um, sowohl innerhalb ihrer Heimatgebiete wie auch in ent-
fernt liegende Regionen. In einigen Fällen wurde ein Gebiet
72
entvölkert und dann mit Gemeinschaften von Menschen verschiedener Herkunft neu besiedelt.128 Gruppen von Menschen
aus der Nähe Cuzcos wurden zur Sicherung in neu annektier-
te Gebiete geschickt. Oft hatte die Umsiedlung auch mit der
Güterproduktion zu tun. Gemeinschaften von Handwerkern
fanden sich in der Nähe von inkaischen Verwaltungszentren,
damit sie nahe bei den Speichern lebten, in denen ihre Pro-
dukte untergebracht wurden. Menschen wurden eingezogen,
um einzelnen Inka zu dienen, und in Gemeinden auf den Län-
dereien der Inka-Herrscher angesiedelt. Für inkaische Projekte
wie Bergbau, Koka-Anbau und militärische Garnisonen war
die dauerhafte Umsiedlung von Gemeinschaften in Gebiete
weit entfernt von ihrer Heimat erforderlich. Menschen aus
hochliegenden Provinzen wurden in tieferliegenden Talgebie-
ten angesiedelt, um Nahrungsmittel für ihre Ursprungsprovin-
zen anzubauen.129
Personen, die dauerhaft umgesiedelt wurden, hießen miti-
ma. Viele wurden in Gebieten außerhalb ihrer Heimatprovinzen angesiedelt, aber gehörten weiterhin zu ihrer Ursprungs-
provinz, so als ob sie herangezogen worden wären, um einen
Arbeitstribut dieser Provinz zu erfüllen, wie im nächsten Ka-
pitel beschrieben werden wird. Sie unterstanden vermutlich
den politischen Autoritäten der Regionen, in die sie umgesie-
delt worden waren.130
Betrachten wir nun genauer die inkaische Provinz-Auftei-
lung in einem Teil des Inkareiches, dem Titicacasee-Gebiet
(Karte 7). Zunächst einmal berücksichtigt sie die Gliederung
des gesamten nördlichen Collasuyo in eine westliche und öst-
liche Hälfte, genannt Urcosuyo und Umasuyo. Südlich Cuzcos
bildete die Straße ins Collasuyo die Grenze zwischen Urco-
suyo und Umasuyo. Vor Erreichen des Titicacasees, in Ayaviri,
teilte sich die Straße in zwei Zweige, die ebenfalls Urcosuyo
und Umasuyo hießen und die den Titicacasee westlich bzw.
östlich passierten, bis sie südlich des Sees, in Caracolla im
heutigen bolivianischen Hochland, wieder aufeinandertra-
fen.131 Die Grenze zwischen Urcosuyo und Umasuyo scheint
den Titicacasee zu durchschneiden, obwohl die Einordnung
73
Inkaische
Provinzen in
3, Abb. 7.1)
Collasuyo (nach
Karte 7:
Julien 199
74
verschiedener Orte entlang dieser Grenze im Seegebiet uneindeutig ist. Als die Bewohner des Collasuyo verteilt wurden,
um inkaische Provinzen zu bilden, folgte die Teilung der
Grenze zwischen Urcosuyo und Umasuyo. Beispielweise wur-
den zwei Völker, die Canas und Canches, zusammengefaßt
und dann gemeinsam entlang der UrcosuyoAJmasuyo-Grenze
in zwei Provinzen geteilt. Die Pacajes waren entlang derselben
Linie auf zwei Provinzen verteilt. Die Lupacas hingegen ge-
hörten insgesamt ins Urcosuyo.132
Die Lupaca-Provinz scheint eine „normale“ Provinz gewe-
sen zu sein, das heißt, sie bestand aus einer Bevölkerung, die
eine Tributbeziehung mit Cuzco eingegangen war und von
den Inka organisiert wurde, um die üblichen Güter herzustel-
len und die üblichen Dienste zu leisten. Wir haben keine
Hinweise darauf, daß die Provinz einem einzelnen Inka oder
einem übernatürlichen Wesen gehörte. Es gibt Daten über die
Struktur der Lupaca-Provinz zur Zeit der Inka-Herrschaft,
aus einer Verwaltungsuntersuchung von 1567.133 Zwei huno
(oder Einheiten von 10000 Haushalten) wurden eingerichtet.
Ein einzelner Ort, Chucuito, diente als Zentrum für die Inka,
und die Herrscher der Lupacas, die die Arbeitskräfte entspre-
chend den Forderungen Cuzcos bereitstellen mußten, lebten
dort. Einige Haushalte wurden dauerhaft dazu bestimmt, Gü-
ter zu produzieren oder Dienste zu leisten, und sie wurden in
speziellen Dörfern bei Chucuito angesiedelt.134
Das Gebiet der Collas war ebenfalls entlang der Urcosuyo/
Umasuyo-Grenze geteilt, aber zumindest ein Teil scheint von
den Inka nach anderen Regeln als die Lupaca- und Pacajes-
Provinzen behandelt worden zu sein. In dem Gebiet befanden
sich zwei kleine Territorien, die dem Dienst für einen einzelnen Inka oder für die Sonne geweiht waren. Eins davon waren die
4500 Haushalte in Azángaro, die Topa Inca gehörten; das
andere Gebiet war Arapa, das der Sonne zugeordnet war. Arapa
war ein Teil eines größeren Gebietes namens Chiquicache,
und es ist möglich, daß ganz Chiquicache der Sonne gehörte.
Es gibt keine Dokumente über den Grund für die Einrich-
tung dieser Besitzungen. Wenn sie hauptsächlich ökonomi-
75
sehen Zwecken dienten, so können wir annehmen, daß Arapa frostgetrocknete Kartoffeln produzierte, denn in der frühen
Kolonialzeit war die Gegend auf deren Herstellung speziali-
siert.135 Während der Kolonialzeit wurde einer der wichtig-
sten Weidegründe für Alpaka, Umasbamba im Hochland an
der Grenze zwischen Peru und Bolivien, von den curaca aus Azángaro beherrscht, und die Woll- und Fleischerzeugung
könnte auch bei den Inka die Aufgabe dieser Provinz gewesen
ein.136 Eine oder beide Gegenden könnten auch die Arbeits-
kräfte gestellt haben, die im benachbarten Tiefland von Cara-
baya Gold wuschen. Die Bewohner von Chiquicache wurden
als mitima in die östlichen Tiefländer geschickt, um Nahrungsmittel für die Hochland-Provinz zu beschaffen;137 und
ein ähnlicher Zugang zu Gebieten ins Tiefland bestand ver-
mutlich für die Menschen aus Azángaro.
Weil sie einzelnen Personen oder übernatürlichen Wesen
dienten, könnten die Bewohner der Provinz yanacona gewesen sein, wie jene Menschen, die auf den Ländereien Huayna
Capacs in Yucay arbeiteten.138 Auf dem Land in Yucay lebten
zwei huaranca (2000 Haushalte), die sowohl mitima als auch yanacona waren, also von anderswo umgesiedelt waren - in diesem Fall aus dem Chinchaysuyo und dem Collasuyo -, und
auf Dauer für den Inka Huayna Capac tätig waren.139 Wir
können Gruppen von orejones im Azángaro-Gebiet nachweisen und mitima aus der Canas-Region in Chiquicache, aber größtenteils scheinen diese Ländereien von den einheimischen
Collas bewohnt worden zu sein.140
Im Titicacasee-Gebiet gab es zwei Territorien, die zu buaea
gehörten. Das eine war Copacabana, wie im vorherigen Kapi-
tel beschrieben. Eine zweite wichtige buaea bildete ein großer Sandsteinfels bei Pucara, ein heiliger Platz schon seit mindestens einem Jahrtausend vor den Inka. Die Inka verschönerten
den Ort mit Bauten und könnten einen Kult eingerichtet
haben, für den wie bei anderen buaea Besitz bereitgestellt wurde.141
Ein weiterer Provinztyp findet sich am äußersten Nord-
bzw. Südrand des Titicacasee-Beckens, in Ayaviri und Paria.
76
Beide Orte waren Zentren von Provinzen, die von miüma be-völkert waren. Informationen, die Cieza de León 1549 vor
Ort sammelte, deuten daraufhin, daß beide Provinzen nach
einem Feldzug der Inka geschaffen worden waren. Die dort
wohnende Bevölkerung wurde vernichtet, und die Gebiete
wurden mit Haushalten aus mitima neu besiedelt.142 Paria war ein wichtiges Sammelgebiet für die Inka-Armeen. Menschen aus dem benachbarten Hochland, Charcas, die für die
inkaischen Kampagnen in Ekuador rekrutiert wurden, ver-
sammelten sich zuerst in ihrer Provinz-Hauptstadt Sacaca.
Dann wurden die Soldaten aus Charcas in Paria mit anderen
aus der gesamten Region eingezogenen Soldaten vereinigt.143
Paria lag an der Hauptstraße der Inka. Ayaviri im Norden be-
fand sich ebenfalls an der Hauptstraße und könnte eine ähnli-
che Funktion gehabt haben. Die Entvölkerung eines Gebietes
und seine Neubesiedlung mit mitima- Siedlern könnte ein Mittel gewesen, um strategisch wichtige Orte besser zu sichern.
Das inkaische Cochabamba im östlichen Tiefland des
Collasuyo (Karte 7) ist ein weiterer Typ einer Inka-Provinz.
Cochabamba war als ein Zentrum organisierten Maisanbaus
aufgebaut worden. Die meisten der ursprünglichen Bewohner
wurden von den Inka in andere Gebiete ausgesiedelt, und
Menschen aus dem benachbarten Hochländern und aus dem
nördlichen Titicacasee-Gebiet wurden von Huayna Capac an
ihre Stelle gesetzt.144 Huayna Capac organisierte auch eine
großangelegte Kokaproduktion in Pocona (Karte 7), östlich
von Cochabamba, und brachte Siedler aus dem Südteil des
Reiches dorthin.145
Eine große Zahl von mitima wurde auch in Arequipa, im
Hinterland der Südküste Perus, angesiedelt, vermutlich um in
einer ähnlichen Einrichtung zu arbeiten. Manche von ihnen
stammten aus der Canas/Canches-Provinz im Hochland süd-
lich und östlich von Cuzco; einige kamen aus dem Chilques-,
Chumbivilcas- und Yanahuaras-Gebiet im Condesuyo südlich
Cuzcos; und einige andere aus dem Collaguas-Territorium
nördlich von Arequipa.146 Obwohl es fast sicher ist, daß die
mitima bei Arequipa für die Inka Mais in großen Mengen
77
Karte 8: Das Urubamba-Tal (nach Protzen, 1993, Abb. 1.2)
anbauen sollten, könnten auch andere Gründe ihre Umsied-
lung veranlaßt haben. Einige Gruppen, wie die Collaguas,
scheinen dorthin gebracht worden zu sein, um Mais für ihre
Heimat im Hochland zu pflanzen, wie es in den Anden bei
Gruppen üblich war, die im Gebirge nahe der Ackerbaugrenze
lebten und deren Nahrungsversorgung daher unsicher war.
Andere Gruppen wurden nach Arequipa gebracht, um dem
Kult des heiligen Berges Putina zu dienen. Ähnliche Kulte
wurden für anderen Berggipfel im Raum von Arequipa einge-
richtet und von den Inka mit Land, Abhängigen, Frauen und
Herden versehen.147
Es ist somit offensichtlich, daß es verschiedene Arten von
Provinzen gab. Es mochte organisatorische Ähnlichkeiten
zwischen ihnen geben haben - beispielsweise können be-
stimmte wirtschaftliche Aktivitäten überall auf ähnliche Weise
organisiert worden sein -, aber bestimmte Unterschiede sind
erkennbar. Einige Provinzen bildeten sich um städtische Zen-
tren, in anderen wie Cochabamba und die Ländereien der In-
ka-Herrscher fehlten solche Hauptorte. Zudem unterschieden
sich die städtischen Zentren in verschiedenen Typen von Pro-
vinzen vielleicht. Beispielweise verfügten Orte wie Paria und
Ayaviri vermutlich über Speicheranlagen, um durchziehende
78
Armeen zu verpflegen, über Personal und Einrichtungen, um Menschengruppen für längere Zeit zu versorgen, und vielleicht auch über einen großen Platz für Versammlungen, im
Gegensatz zu Zentren, die keine Sammelpunkte für Truppen
waren.148
Wenn zu erwarten war, daß sich in einem Zentrum öfters
Inka-Adlige aufhielten oder daß dort sogar Angehörige der
inkaischen Abstammungsgruppe auf Dauer lebten, so wurde
es offenbar ähnlich der inkaischen Hauptstadt angelegt. Inka-
Herrscher führten oft persönlich militärische Kampagnen an.
Sie nahmen einige der wichtigsten religiösen Bildnisse mit und
feierten wichtige inkaische Feste wie capac raymi auch außerhalb von Cuzco. Capac raymi war eine komplexe Abfolge von Ritualen, die mit der Initiation der Jungen verbunden war und
während eines Zeitraums von 23 Tagen stattfand. Zu ihr ge-
hörten Besuche auf den heiligen Bergen bei Cuzco, dem Hua-
nacauri, Anahuarque und Yavira.149 Ein indianischer Autor,
dessen Vorfahren Huayna Capac bei seinen Kämpfen in
Ekuador begleitet haben, berichtet, daß der Inka-Herrscher
auf dem Weg ins Kampfgebiet capac raymi in Vilcas - im
mittleren Hochland Perus - und Quito feierte.150 Wo immer
die Initiation der inkaischen Adligen stattfand, mußten be-
stimmte Charakteristika der heiligen Landschaft neu geschaf-
fen werden, um sie angemessen durchzuführen.
Zentren der Inka konnten aber auch äußerlich sehr unter-
schiedlich sein, obwohl sie gleichen Zwecken dienten. Ein
spanischer Verwaltungsbeamter bemerkte, daß die inkaischen
Hauptorte ceque wie Cuzco hatten; diese konnten sich auf markante Punkt der lokalen Landschaft beziehen und mußten
die Anlage aus Cuzco nicht exakt kopieren.151 Neben den
heiligen Plätzen, die zu Ritualen wie dem capac raymi gehörten, lagen auf den ceque in Cuzco auch solche Punkte, von denen astronomische Beobachtungen zur Festlegung des Aus-saat- und Erntetermins gemacht wurden. Die ceque in den Provinzzentren könnten solche örtlichen Beobachtungspunkte
festgehalten haben und mußten dann anders ausgerichtet sein
als die Linien in Cuzco.152
79
Die Inka organisierten auch die Produktionsaktivitäten jeder Provinz. Beispielsweise wurden Enklaven von Webern und
Töpfern in allen Provinzen eingerichtet. Aufgrund dieser Or-
ganisation verfügen wir über Informationen zur Einführung
einer gemeinsamen Provinzstruktur.
7. Die Dezimalorganisation
Provinzen, einschließlich solcher im Besitz eines Inka-Herr-
schers oder eines übernatürlichen Wesens, waren auf die Ab-
gabe von Tributen hin organisiert. Wenn ein neues Gebiet
annektiert wurde, wurden in großem Umfang Land und be-
weglicher Besitz eingezogen. Weitere Enteignungen fanden
möglicherweise später statt, aber die laufende Verwaltung ei-
ner Provinz erforderte meistens nur die Bereitstellung von Ar-
beitskräften durch die Untertanen, wobei deren Arbeit dann
auch zur Produktion von Gütern führte.153
Jede Provinz wurde von einem Gouverneur inkaischer Her-
kunft regiert. Er hatte richterliche Gewalt und konnte jede Art
von Strafen, einschließlich körperlicher, festlegen. Der Gouver-
neur hatte das Recht, Stellvertreter zu ernennen, die michoc genannt wurden, und er wurde von Rechnungsführern unterstützt, die quipocamayo hießen und Aufzeichnungen auf quipo festhielten.154 In gewissen Abständen kamen andere Inka in
die Provinz, um bestimmte Aufgaben zu übernehmen, wie zum
Beispiel eine Volkszählung durchzuführen, die Güter in den
Speichern zu prüfen oder bei Heiraten vorzustehen.155
In einer Provinz, die größtenteils von der autochthonen Be-
völkerung bewohnt wurde, wurde eine Verwaltungsstruktur
eingeführt, die die Volkszählungen und die Rekrutierung von
Menschen für Arbeitsaufgaben erleichterte. Die Posten in die-
ser Organisation wurden mit Einheimischen besetzt. Die Be-
völkerung wurde in Dezimaleinheiten gegliedert, und eine
hierarchische Ordnung diente dazu, die Befehlskette festzule-
gen (Tabelle 4). Die Einführung einer Dezimalstruktur erleich-
terte die Volkszählungen, die Berechnung des Arbeitsdienstes
und die Verteilung von Aufgaben.
Die aufsteigende Hierarchie der Dezimaleinheiten erweckt
den Eindruck einer fast utopischen Ordnung, und deshalb ist
es von Wissenschaftlern bezweifelt worden, daß diese Organi-
sation außer als Zähleinheit für Zensuszwecke überhaupt ei-
nen praktischen Wert hatte. Spanische Verwaltungsdokumen-
81
te aus einzelnen Provinzen und Aufzeichnungen aus quipo, die sie gelegentlich wiedergeben, erlauben uns jedoch zu verstehen, wie das System funktionierte und wann die Dezimalein-
teilung angewandt wurde.156
Tabelle 4: Dezimaleinheiten von 10 bis 10000
(Quellen: Falcón 1867, S.464; Santillán 1879, S.17-18)
Name der Einheit Zahl der Tributpflichtigen
huno 10000
pisca huaranca
5 000
huaranca
1000
pisca pachaca
500
pachaca
100
pisca chunca
50
chunca 10
Die Dezimalordnung hielt sich an die vorhandene Bevölke-
rungsstruktur. Ein Studium der Dezimalgliederung in der Lu-
paca-Provinz zeigt, daß die ursprüngliche Gliederung der Be-
völkerung in Lupaca ein wichtiger Faktor bei der Einführung
der Dezimalordnung war. In der Lupaca-Provinz wurden zwei
huno (20000 Haushalte) gebildet, aber die huno waren unterschiedlich auf die sieben Untergliederungen verteilt, die die
vorinkaische Organisation der Lupacas charakterisieren. Un-
ter den Inka konzentrierte sich jede der sieben Untergruppen
um einen Ort. Jeder Ort war wie Cuzco in saya geteilt (ha-nansaya, hurinsaya). Bei den Tributpflichtigen wurden nach ethnischer Herkunft und wirtschaftlicher Stellung Aymara
und Uru unterschieden. In den größeren Orten umfaßte jede
saya eine huaranca tributpflichtige Aymara, und die saya scheinen die wichtigste Verwaltungsgliederung gewesen zu
sein. Zwei Orte waren kleiner und bestanden insgesamt nur
aus einer huaranca von tributpflichtigen Aymara. In diesen Fällen bildete also der ganze Ort die Verwaltungseinheit innerhalb der huno. Wie wir feststellen, sind die Führer der Dezimalorganisation die Schlüsselpunkte des Systems: Im Fall
der Lupaca-Provinz die Führer der huno und huaranca. 157
82
Die beiden huno sind vermutlich aus Verwaltungsgründen paarweise gruppiert worden. Jeder curaca einer huno besaß einen quipo mit den Volkszählungsdaten für die gesamte Provinz, der dazu diente, den Zensus des anderen zu überprüfen.
In den benachbarten Colla-Provinzen wohnten beispielsweise
die Verwalter einer Wirtschaftsenklave in der anderen. Diese
Art der Zweiteilung diente als Kontrolle oder förderte Kon-
kurrenz zwischen Produktionsgebieten und scheint von den
Inka für diese Zwecke institutionalisiert worden zu sein.158
Da das Aufbringen von Arbeitskräften der Hauptzweck der
Dezimalordnung war, erleichterte eine Gliederung der Bevöl-
kerung nach den Dezimaleinheiten eine gleichmäßige Ver-
teilung der Arbeitsaufgaben. Überdies lag die Verteilung der
Arbeit auf die einzelnen in der Hand der unterworfenen Be-
völkerung, und so waren die Menschen dort für Unregelmä-
ßigkeiten verantwortlich.
Die Arbeitszuweisung insgesamt erfolgte durch die Inka und
beruhte auf einer Volkszählung. Nachdem eine Bevölkerung
in Dezimaleinheiten gegliedert und gezählt worden war, konn-
te die Arbeitszuteilung in Cuzco oder auch anderswo vorge-
nommen oder verändert werden. Es gab keine Provinzverwal-
ter oder Beamte für solche Aufgaben außer dem Gouverneur
und seinen Vertretern, wie sie oben beschrieben wurden.
Die Zuweisung von Arbeit basierte auf der Dezimaleinteilung
der Bevölkerung. Bei der Zuweisung war die Gesamtzahl der
Haushalte entscheidend. Eine solche inkaische Arbeitszuteilung
ist für die Chupachos (Karte 5) erhalten geblieben (Tabelle 5).
Obwohl es insgesamt 4108 Haushalte gab, erfolgte die Zutei-
lung nach der abgerundeten Dezimalzahl von vier huaranca,
also 4000 Haushalten. Beispielsweise wurden 400 Haushalte
oder 10 Prozent der Gesamtzahl angewiesen, Tapisserie-Webe-
reien herzustellen. 40 Haushalte oder 1 Prozent der Gesamt-
zahl wurden für die Herstellung von Keramik abgestellt. Von
den 108 Haushalten, die über die Gesamtzahl hinausgingen,
scheint eine Gruppe von 40 für eine Aufgabe verteilt worden
zu sein, und die übrigen 68 wurden für den Dienst an einem
tambo, einer Raststation an den Inka-Straßen, abgeordnet.
83
Tabelle 5: Arbeitsdienstverteilung bei den Chupachos (Quelle: Helmer 1955-57, S.40,41)
Prozent
Aufgabe Gesamtzahl
von 4.000
Bergarbeiter (Goldgewinnung)
120 3
Bergarbeiter (Silbergewinnung)
60
1,5
Bauarbeiter in Cuzco
400
10
Feldarbeiter in Cuzco
400
10
Abhängige (yanacona) Huayna Capacs
150
3,75
Wachen für den Körper Topa Incas
150
3,75
Wachen (yanacona) für die Waffen
Topa Incas
10 0,25
Garnison in Chachapoyas
200
5
Garnison in Quito
200
5
Wachen für den Körper Huayna Capacs
20
0,5
Federarbeiter
120
3
Honigsammler
60
1,5
Weber von feinen Stoffen (cumpi)
400
10
Hersteller von Farben (für Textilien)
40
1
Hirten für die Herden der Inka
240
6
Wächter der Maisfelder
40
1
Arbeiter auf a/Y-(Chilepfeffer-)Feldern
40 1
Arbeiter in Salzbergbau
(unterschiedlich)
60/50/40
1,5/1,25/1
Anbauer von Koka
60
1,5
Jäger für die inkaischen Hirschjagden
40
1
Sohlenmacher (für Sandalen)
40
1
Holzarbeiter
40
1
Töpfer
40 1
Wachen für den tambo von Huänuco
68
1,7
Träger zwischen tambo
80 2
Wachen für die Frauen des Inka
40
1
Soldaten und Träger
500
12,5
Arbeiter auf inkaischen Felder
500 12,5
Gesamtzahl
4,108 112,7
Der Gegensatz zwischen dauerhafter und zeitweiliger Arbeit
war die wichtigste Unterscheidung beim inkaischen Arbeits-
tribut. Im Fall der Chupachos waren etwa die Hälfte der
Haushalte auf Dauer einer Aufgabe zugewiesen. Ein Vorsteher
84
einer pachaca, Martin Carcay, beschreibt die Arbeitszuweisung, die seine pachaca betraf, so: „Sie wurden angesiedelt, wo der Inka sie hinschickte, und kamen niemals auf ihr eigenes Land zurück, denn sie blieben als mitima an dem Platz, wo sie angesiedelt wurden. Die 50 Tributpflichtigen, die zu-rückblieben, teilten die Feldarbeit und andere Aufgaben, die
ihnen zugewiesen wurden, unter sich auf.“159
Tributpflichtige, die auf Dauer eine bestimmte Arbeit aus-
führen mußten, hießen camayo. Carcays Aussage und die Liste über die Arbeitszuweisung in Chupachos ermöglichen uns
zu verstehen, welche Arten von Status es beim inkaischen Ar-
beitsdienst gab. Carcay sagt, daß Menschen, die eine be-
stimmte Arbeit ausführen mußten (also camayo), gleichzeitig auch mitima sein konnten, wenn sie von den Inka umgesiedelt worden waren. Die Liste enthält überdies vier Einträge zu
Menschen, die entweder als Abhängige oder Wachen für die
Körper bzw. Waffen zweier Inka-Herrscher eingeteilt worden
waren. Nur in zwei Fällen werden diese als yanacona bezeichnet, aber wir können diese Benennung auf die übrigen
ausdehnen. Diese yanacona waren zugleich camayo, das heißt, sie arbeiteten auf Dauer in einem bestimmten Bereich, und ih-re Nachkommen erbten diese Arbeitsverpflichtung. Sie waren
zudem auch mitima, denn sie waren von den Inka umgesiedelt worden, um diese Arbeiten zu leisten.160
Eine Form des Arbeitsdienstes, die Carcay nicht nennt, ist
der der mitayo. Mitayo waren nicht dauerhaft zugeteilt und können mit jenen Menschen gleichgesetzt werden, die nach
Carcays Beschreibung „die Feldarbeit und andere Aufgaben,
die ihnen zugewiesen wurden, unter sich aufteilten“. Sie dien-
ten als ein Reservoir für relativ unspezialisierte Arbeitsanfor-
derungen.
Seit vielen Jahren wird von Historikern die grundlegende
Verpflichtung zum Arbeitsdienst, die unterworfene Gruppen
gegenüber den Inka hatten, als die mita bezeichnet. Der Begriff mita bezeichnet eine Aufgabe, die im Turnus ausgeführt wird, und so ist diese Verpflichtung auch als eine Art Fronar-beit aufgefaßt worden. Man nahm an, daß nur die Arbeit
85
kleiner Personengruppen davon ausgenommen worden sei, das heißt, sie wurden dem allgemeinen Arbeitskräftereservoir
entzogen, um als Abhängige in verschiedener Form zu dienen.
Damit unterstanden sie nicht länger den politischen Führern
ihrer Heimat.161 Es wurde vermutet, daß die Zahl der so aus-
gegliederten Menschen im Verlauf der Inka-Geschichte an-
stieg, so daß mit der Zeit mehr und mehr Menschen den
Inka direkt unterstellt waren und dem Verband ihrer Ur-
sprungsgruppen nicht länger angehörten. So gesehen war die
historische Entwicklung dieser Gruppe Ausdruck einer grö-
ßeren Veränderung in der politischen Organisation in den
Anden.162
Mit Zunahme der Dokumente über die inkaische Provinz-
verwaltung ist diese Annahme unhaltbar geworden. Die Ar-
beitsverpflichtung einer Provinz umfaßte Dienste, die zeitwei-
lig geleistet werden mußten, wie auch andere, die dauerhaft
verteilt wurden. Die dauerhaft zugewiesenen Arbeiten waren
erblich, und wenn eine Familie ausstarb, mußte eine andere
Familie aus dem Ursprungsgebiet diese Aufgabe übernehmen.
Die Menschen konnten in großer Entfernung von ihrer Hei-
matprovinz angesiedelt werden und hatten möglicherweise
Beziehungen zum Inkastaat, die sich auf ihre Identität aus-
wirkten, aber die Verbindung zu ihrer Heimat blieb erhalten.
Die Vorstellung, daß eine zunehmende Zahl von Menschen
dauerhaft für Arbeiten abgeordnet wurde, ist eine Annahme,
die erst noch der Beweise bedarf.
Mita bezieht sich auf den Turnuscharakter einer Aufgabe und nicht auf eine Kategorie von Diensten. Einige Aufgaben,
wie Dienst in einer Garnison oder beim Koka-Anbau, wurden
auf Rotationsbasis durchgeführt. Im Fall des Garnisonsdien-
stes waren alle dafür eingesetzten Menschen camayo, die in ihren Dörfern ihre Felder bestellten, während der Dienst in
der Festung selbst unter ihnen rotierte (mita).16i Koka wurde dreimal im Jahr geerntet, und die Arbeiter wechselten sich ab,
um diese Arbeit auszuführen; da die Arbeiter nicht speziali-
siert waren, waren sie mitayoJ64 Ein Unterschied zwischen mita als einem organisatorischen Prinzip, das die Rotation 86
einer Arbeitsaufgabe bedeutet, und mitayo als nicht-spezialisierte Arbeit sollte beachtet werden.
Ein wesentlicher Unterschied in der inkaischen Klassifika-
tion bestand zwischen den mitayo und den camayo. Camayo waren Menschen, die auf Dauer eine bestimmte Arbeit ausführen mußten. Listen von camayo sind von zwei spanischen Autoren aufgezeichnet worden.165 Jeder Autor gibt zwei verschiedene Listen von Arbeiten, eine von den camayo-Diensten
der Hochland-Provinzen und eine zweite von ähnlichen Dien-
sten an der Küste. Obwohl sie weitgehend übereinstimmen,
gibt es Unterschiede.
Wenn man die obige Liste aus Chupachos mit diesen allge-
meinen Aufstellungen vergleicht, so erkennt man eine generel-
le Ähnlichkeit, aber es gibt auch Unterschiede, die vielleicht
bedeutsam sind. Chupachos war ein Gebiet, das einem einzel-
nen Inka-Herrscher gehörte, und die Unterschiede gehen wohl
auf diese besondere Stellung zurück. Beispielsweise waren 800
Haushalte - 20 Prozent der gesamten Bevölkerung - zur Ar-
beit in Cuzco abgeordnet, wo sie „Mauern errichteten“ oder
die Bauarbeiter mit Nahrungsmitteln versorgten.166 Wenn,
wie der oberste curaca von Chupachos aussagte, die Provinz dem Inka-Herrscher Huascar unterstand, war diese große
Gruppe vielleicht rekrutiert worden, um Paläste für diesen
Inka zu bauen. Es könnte auch andere Arbeitszuweisungen
geben, die mit diesem besonderen Status der Chupachos zu-
sammenhängen. Trotzdem scheint es, als wäre die Wirtschafts-
organisation ähnlich gewesen wie die anderer Provinzen.
Im Hinblick auf die Arbeitszuteilung gab es einen wichtigen
Unterschied zwischen den Provinzen. „Normale“ Provinzen
wurde eingerichtet, um Arbeitskräfte zu stellen; deren Rekru-
tierung war der wichtigste Zweck der Dezimalorganisation.
„Besondere“ Provinzen - beispielsweise solche, die einer Person
oder einem übernatürlichen Wesen gehörten wie Chupachos,
Parinacochas, Azángaro und Achambi - konnten zu besonde-
ren Arbeitsleistungen für ihren Besitzer herangezogen werden.
Sie waren allerdings so strukturiert, daß sie auch dieselben
Güter und Dienste wie „normale“ Provinzen hervorbrachten.
87
Die oben beschriebenen Provinzen könnte man auch als
„Basis-Provinzen“ bezeichnen, das heißt, sie hatten eine Be-
völkerungsbasis, aus der Haushalte für Arbeit - wo auch im-
mer benötigt - abgezogen werden konnten. Daneben gab es
andere, meistens kleinere Einheiten, die ein bestimmtes Gebiet
umfaßten und somit „Provinzen“ waren. Aber sie waren nicht
für die Rekrutierung von Arbeitskräften eingerichtet, sondern
bezogen diese vielmehr selbst aus den „Basis-Provinzen“. Zur
Abgrenzung kann man diese „zusammengesetzte Provinzen“
nennen, da sie entstanden, indem man Menschen aus Basis-
Bevölkerungen anderswo zusammenzog.
Eine solche Provinz war Copacabana, die von den Inka für
den Kult Titicacas eingerichtet worden war. Die gesamte
Copacabana-Halbinsel wurde mit mitima besiedelt, die aus 42 verschiedenen Gebieten zusammengezogen worden waren
(Karte 7). Wenn diese Menschen camayo waren, wie es scheint, so mußten sie bei Absinken ihrer Zahl aus ihrer Heimat ersetzt werden und wurden deshalb noch zusammen mit ihrer
Heimatprovinz erfaßt. Die Bewohner der Provinzen Ayaviri
und Paria, die ebenfalls aus raifrma-Siedlern bestanden, könn-
ten ähnliche Verbindungen zu ihren Herkunftsgebieten gehabt
haben.
Cochabamba war ebenfalls eine „zusammengesetzte“ Pro-
vinz (Karte 7). Dorthin brachte Huayna Capac Gemeinschaf-
ten aus mitima des Collasuyo-Gebiets, um in dem Tal in gro-
ßem Maßstab Mais anzubauen. Als camayo waren sie über
die Dezimalorganisation ihrer Herkunftsprovinz rekrutiert
worden und wurden von dort ersetzt, sollte ihre Familie sich
nicht fortpflanzen. Die Bindung an ihre Herkunftsprovinz war
noch deutlich zu erkennen, da zur Erntezeit Menschen aus
ihren Provinzen als mitayo herangezogen wurden, die nach Cochabamba gingen, dort Mais ernteten und ihn möglicherweise auch zu einem bestimmten Punkt transportierten.
Die camayo hatten daneben kleine Felder, auf denen sie
Nahrung für ihren eigenen Haushalt anbauten. Die Anbau-
früchte, die sie in Gemeinschaft produzierten, waren für ande-
re bestimmt.
88
Die mitima in Cochabamba kamen aus verschiedenen Provinzen: Carangas, Quillacas, Soras, Lupacas, Pacajes und zwei
Gruppen der Collas. Wir haben einige Kenntnisse über die
huno-Organisation: Die huno, die Cochabamba einschloß, bestand aus den Charcas wie auch aus anderen Gruppen von
mitima. 167 Die mitima, die oben aufgelistet wurden, waren jedoch keine Charcas und gehörten nicht zu dieser huno, sondern kamen von anderswo im Collasuyo. Menschen aus
Charcas scheinen nicht an dem Maisanbauprojekt beteiligt
gewesen zu sein, soweit es sich aus den heute zur Verfügung
stehenden Quellen ermitteln läßt. Das Cochabamba-Tal bilde-
te also eine kleine zusammengesetzte Provinz auf dem Gebiet
der Chaicas -huno.
Im Osten von Cochabamba, in Pocona, gab es eine weitere
Provinz, die auf eine bestimmte Produktion spezialisiert war,
in diesem Fall auf die von Kokablättern (Karte 7). Koka wur-
de in den Tälern des Tieflands nördlich von Pocona angebaut.
Mitayo, die aus Pocona, aber auch Sacaca und anderen
Hochlandgebieten kamen, wurden ausgeschickt, die Koka zu
ernten und auf ihrem Rücken zu einem Abgabepunkt im
Hochland zu tragen. Pocona stellte auch die camayo, die auf Dauer abgeordnet waren, um die Materialien für die Verpak-kung der Koka zu sammeln und sie für den Transport vorzu-
bereiten, und die in den Tälern des Tieflands, wo die Koka
wuchs, lebten. Die Nahrungsmittelproduktion fand nicht in
diesen Tälern statt, und die von den mitayo und vielleicht auch den camayo konsumierten Lebensmittel wurden anderswo angebaut.168
Ein größerer Teil der Bevölkerung in Pocona bestand gänz-
lich aus mitima. Ihre wichtigsten curaca stammten aus Condes (im Condesuyo), Chinchaysuyo und Collasuyo. Vielleicht
standen sie heterogenen Gruppen von Menschen vor, die aus
den Provinzen dieser drei der vier suyo des Inkareiches stammten. Da die Bezeichnungen für die suyo aber auch für die Untergliederung der Cuzco-Provinz selbst verwendet wurden - die gänzlich oder zumindest größtenteils von orejones
bewohnt wurde -, kamen manche dieser Menschen vielleicht
89
aus der Gegend von Cuzco. Die zweite wichtige Bevölke-rungsgruppe in Pocona waren die Chuyes, von denen es hieß,
sie seien aus dem Cochabamba-Tal in die Provinz Pocona ge-
bracht worden.169 Weiter wurden Menschen aus den südlich
gelegenen Charcas-Provinzen in die Täler zum Koka-Anbau
geschickt, und weitere Gruppen, wie zum Beispiel die Yam-
paräes aus dem Gebiet des heutigen Sucre, scheinen auch Be-
standteil des Projektes gewesen zu sein, da sie in der frühen
Kolonialzeit noch an der Koka-Produktion in diesen Tälern
beteiligt waren.
Huayna Capac organisierte die Produktion in Pocona wie
auch Cochabamba um, obwohl er in beiden Fällen eine Or-
ganisation, die sein Vater geschaffen hatte, vorfand. Sarmien-
to erwähnt einen einzigen Besuch Huayna Capacs in der Re-
gion, wobei er feststellt, daß der Inka in Cochabamba wegen
der Fruchtbarkeit des Landes eine große Zahl von mitima angesiedelt habe; außerdem habe er Pocona neu organisiert und
dort eine Festung wiederaufgebaut, die sein Vater angelegt
hatte.170 Da seine Reformen in Cochabamba die Umsiedlung
von Bevölkerung in Pocona und Cochabamba umfaßte, waren
die beiden Projekte nicht voneinander zu trennen, sondern
Teil einer einzigen Neuorganisation der Verwaltung.
Es fällt auf, daß sie dennoch recht verschieden sind. Poco-
na, das in Teilen aus mitima bestand, die weit von ihren Heimatprovinzen angesiedelt wurden, diente als Bevölkerungs-reservoir, von dem die Arbeitskräfte für die Koka-Produktion
in den nahegelegenen Tiefländern geschickt wurden. Die Re-
krutierung erfolgte also in zwei Stufen. Im Fall von Cocha-
bamba beschränkte sie sich auf eine Stufe: Die Arbeitskräfte
wurden aus der Ursprungsprovinz eingezogen und direkt ein-
gesetzt.
Die Unterschiede in der Organisation mögen auf den Unter-
schieden zwischen den Anbaupflanzen Mais und Koka beru-
hen. Im Fall der Koka scheint die Bevölkerung in Pocona
nicht nur die Erntearbeiter, sondern auch den Unterhalt für
die in den Tälern niedergelassenen camayo geliefert zu haben.
Die Anwesenheit in zwei verschiedenen Anbaugebieten war
90
notwendig, und eine enge Nachbarschaft zwischen diesen erwies sich als günstig. Von der Koka heißt es, sie sei ein Monopol der Inka gewesen. Die Heranziehung von Menschen
von außerhalb, um Koka anzubauen und ihre Aufbewahrung
und ihren Transport durchzuführen, könnte auch die nötige
Kontrolle gewährleistet haben, um das Monopol durchzu-
setzen.
Ein weiterer Faktor sollte bedacht werden. Huayna Capac
ist für den Maisanbau in Cochabamba verantwortlich, aber
wir wissen nicht, ob er oder sein Vater den Kokaanbau in Po-
cona eingerichtet hat. Wenn Topa Inca damit begonnen hat,
dann können wir den Kokaanbau in Pocona vielleicht mit ei-
nem Projekt vergleichen, das dieser Inka-Herrscher in Chu-
pachos organisiert hat. Dort wurden vier pachaca von mitima eingezogen, um die inkaischen Garnisonen zu besetzen. Zwei
stammten aus der Provinz der Quechuas, unmittelbar nörd-
lich von Cuzco, und zwei bestanden aus orejones der Provinz von Cuzco. Diese Menschen wurden in den Hochland-Gemeinden in Chupachos angesiedelt, wo sie für ihren eige-
nen Unterhalt Ackerbau betrieben sowie auch für den Unter-
halt derjenigen unter ihnen sorgten, die auf rotierender Basis
eingezogen wurden, um in den Garnisonen im Tiefland weiter
östlich zu dienen. Die Besatzungen in den Garnisonen bauten
nicht ihre eigene Nahrung an, sondern beschäftigten sich
damit, Waffen herzustellen. Die mitima im Hochland der Chupachos hatten überdies Zugang zu hochgelegenen Weidegründen für Herden wie auch zu Koka-Feldern auf niedrige-
ren Höhenlagen. Der Dienst in den Garnisonen war somit
nicht unzumutbar hart, da dafür gesorgt war, daß die umge-
siedelten Menschen sich mit allem Notwendigen versorgen
konnten.171
Eine ähnliche Rekrutierung von Menschen aus der Nähe
Cuzcos ebenso wie eine m/towa-Bevölkerung als Zwischen-
station für die Rekrutierung von Arbeitern für benachbarte
Tieflandgebiete finden sich offenbar in Pocona. Die Art, wie
das Projekt in Pocona organisiert war, deutet darauf, daß sein
Schöpfer Topa Inca war. Vielleicht wurde die Organisation in
91
Pocona und Chupachos aber auch von Sicherheitsinteressen in einem Grenzgebiet bestimmt, da die Täler am Rande des von
den Inka kontrollierten Gebietes lagen.
Im Fall von Pocona gibt es jedoch noch andere Hinweise
darauf, daß das Projekt auf Topa Inca zurückging: Neben den
in Pocona angesiedelten mitima waren die Chuyes, Charcas und Yamparaes an der Koka-Produktion in den Tälern beteiligt. Diese Gruppen waren von Topa Inca besiegt worden,
nachdem sie sich in der Festung Oroncota am Fluß Pilcomayo
südlich von Sucre eingeschlossen hatten, ein bemerkenswerter
Fall von Widerstand gegen die Inka. Außer den mitima waren nur diese Gruppen an der Koka-Produktion für die Inka beteiligt. Andere Gruppen, die in gleicher Entfernung lebten,
wie beispielsweise die Carangas, waren ausgeschlossen. Die
Zusammensetzung der herangezogenen Gruppen ist ein Hin-
weis darauf, daß ihre Beteiligung an dem Projekt in Pocona
auf Topa Inca zurückgeht.172
Das Projekt in Cochabamba sollte mit der Organisation der
Maisproduktion auf den Ländereien Huayna Capacs in Yucay
verglichen werden (Karte 8). Zweitausend camayo, jeweils tausend aus Collasuyo und Chinchaysuyo, wurden im Urubamba-Tal nahe dem heutigen Yucay angesiedelt. Sie bauten
dort Mais an und Koka in den tieferliegenden Tälern Tono
und Avisca. Die Kokablätter, heißt es, waren dreimal mehr
wert als alle anderen und für den Verbrauch in Huayna Ca-
pacs Haushalt bestimmt. Huayna Capac ließ in Yucay Häuser
bauen und ein kleines Tal für Erholungszwecke einrichten.173
Betrachtet man also Yucay und Cochabamba, so wurden
die camayo für den Maisanbau aus großer Entfernung heran-gebracht und sorgten für ihre Bedürfnisse aus Feldern nahe
jenen, die sie für die Inka bestellten. Es gab keine „Basis“-
Bevölkerung dazwischen, von der Menschen eingezogen wur-
den, um die Anbauprojekte zu betreiben. In keinem dieser
Fälle scheinen Sicherheitsaspekte wichtig gewesen zu sein.
Allerdings war eine Einrichtung geschaffen worden, um Mais
in großem Maßstab zu produzieren, und die andere, um eine
kleinere Menge für die panaca Huayna Capacs anzubauen.
92
Man beginnt also zu verstehen, wie die Inka die Produktion für verschiedene Zwecke organisierten. Der Zeitpunkt und
der persönliche Stil einzelner Herrscher waren ebenso wie die
Ansprüche unterschiedlicher Anbaupflanzen oder die Lokali-
sation des Projekts wichtige Faktoren. Im Fall der Gemein-
schaften, die die Güter produzierten, müssen wir noch weiter
untersuchen, wie ihre Produkte verteilt und von wem sie
letztlich verbraucht wurden. Selbst im Fall von Dienstleistun-
gen, wo der Empfänger eindeutig zu sein scheint, wie der
Staat beim Militärdienst, haben wir noch keine Vorstellung
von dem ideologischen Rahmen, der solche Dienste erklärte
und rechtfertigte. Was man findet, sind einzelne Aspekte der
Wirtschaftsorganisation, die die Inka einführten. Die Quellen
erlauben uns, einzelne Fälle zu untersuchen, und diese Teil-
sicht auf das Ganze läßt uns vermuten, daß die Inka Wirt-
schaftsaktivitäten in großem Maßstab umorganisierten und
dabei große Menschenmengen bewegten. Wenn an einem
neuen Wohnort Anbau möglich und wünschenswert war, so
erhielten die Haushalte Land für ihre eigene Grundversor-
gung. In Chupachos erfaßte die Arbeitszuweisung der Inka
alle Haushalte in der Provinz. Die Heranziehung von Men-
schen aus allen Untereinheiten der Chupachos führte zur Bil-
dung zahlreicher neuer Gemeinschaften, deren Angehörige
von überall in der Provinz stammten. Eine umfassende Umor-
ganisation der gesamten Wirtschaft in der Provinz war die
Folge.
Trifft dies zu, so waren die Inka bis zu gewissen Grad für
die Rationalisierung des Wirtschaftsleben auf lokaler Ebene
verantwortlich. Sie hatten dafür Anlaß und Fähigkeiten, und
die vorhandenen Belege stützen die Hypothese, daß die Inka
eine von ihnen entworfene Ordnung in ihrem Herrschaftsge-
biet verbreiteten.
8. Schöpfung und Ordnung
Während unser Verständnis für die Wirtschaft der Inka in den
Provinzen in den letzten Jahren erheblich gewachsen ist, fehlt
uns oftmals noch der Zugang zu dem gedanklichen Hinter-
grund der Eroberungen. Für einige Autoren ist Ideologie das,
was die Elite eines Reiches ihren Untertanen aufzuzwingen
versucht, als ein Mittel, um ihre Unterordnung zu erreichen.
Sie wird hauptsächlich als ein Werkzeug angesehen, um An-
hänger zu gewinnen, wobei angenommen wird, daß sie zu-
gleich auch das Glaubenssystem der Elite selbst ist. Aber
Glaube leitet nicht nur Handlungen, sondern ist selbst eine
wirksame Kraft. In dieser Untersuchung war es unser Interes-
se, aufgrund der Quellen, die auf historischen Traditionen der
Inka beruhen, den Prozeß der Expansion zu verstehen wie
auch den gedanklichen Rahmen, in den er eingebettet war.
Wir haben die Frage angesprochen, wie eine kleine Gruppe,
die ursprünglich nur auf lokaler Ebene eine Macht darstellte,
einen Plan zur Beherrschung und Organisation großer Gebiete
des Andenraums entwickelte und warum sie das tat.
Das Quellenmaterial zeigt, daß die Inka eine aktive Rolle
bei der Reorganisation des von ihnen beherrschten Gebietes
spielten und eine von ihnen entworfene neue Ordnung ein-
führten. Sie waren zudem in der Lage, ihre Beziehungen zu
anderen andinen Gruppen und zur übernatürlichen Welt neu
zu definieren.
Unsere Versuche, diese vergangene Welt zu rekonstruieren,
bleiben unvollkommen. Wenn von den Spaniern Menschen,
die zur Zeit der spanischen Eroberung Erwachsene waren,
befragt wurden oder wenn Informationen aus inkaischer hi-
storischer Überlieferung gezogen wurden, so enthielten diese
Quellen auch Einzelheiten darüber, wie die Inka ihren Platz
im Universum sahen. Wegen des Verlustes ihrer Autonomie
nach der Gefangennahme Atahuallpas hatte sich die Sicht ih-
rer eigenen vorspanischen Vergangenheit verändert, um - fast
unmerklich - der geschichtlichen Entwicklung unter den 94
Spaniern einen Platz einzuräumen. Wie am Beginn festgestellt, sind die Stimmen der Menschen in den Anden auch durch die
Übersetzung ins Spanische verändert worden. Doch selbst an-
gesichts dieser Mängel finden sich in den vorhandenen Quel-
len noch Spuren der inkaischen Sicht.
Durch den glücklichen Sieg der Inka über die Chancas und
den Sieg über eine zweite, noch wichtigere politische Macht
im Titicacasee-Gebiet entwickelte sich in den Anden ein Reich.
Cuzco wurde neu aufgebaut und neu organisiert; die Beziehun-
gen zwischen den Inka und dem mächtigsten übernatürlichen
Wesen im südlichen Andenhochland wurden durch Monumen-
talbauten in Cuzco und anderswo dargestellt; und Institutio-
nen für ständige Kriegsführung, die Verwaltung weit entfern-
ter Gebiete und die Erziehung der Elite wurden entwickelt.
Als die Spanier ankamen, beschrieben sie eine Ordnung, die
die Inka aufgebaut hatten. Heute, 500 Jahre danach, ist das
wenige, was wir über die inkaische Vergangenheit erfahren kön-
nen, in jenen Berichten enthalten. Für das weitere Studium der
Inka gibt es verschiedene Ansatzpunkte. Da sind zum Beispiel
die Darstellungen lokaler religiöser Praktiken aus den Kam-
pagnen zur Christianisierung der andinen Völker im 17. Jahr-
hundert, die uns erlauben könnten, das inkaische Glaubenssy-
stem vor der Expansion besser zu verstehen. Ahnenkult, wie
er in diesen Berichten beschrieben wird, ist in den Anden weit
verbreitet gewesen. Die Zeremonien für die verstorbenen
Herrscher in Cuzco können sehr wohl aus allgemein-andinen
Praktiken entwickelt worden sein, denn Sarmiento erzählt
uns, daß Pachacuti den inkaischen Ahnenkult neu organisier-
te. Noch im 17. Jahrhundert wurden einige dieser Kulte be-
trieben.174 Aber ob die Kulte schon immer über Ressourcen
für regelmäßige Opfergaben verfügten oder ob dieser Reich-
tum auf eine Neuerung durch die Inka zurückging, ist ungewiß.
Die Untersuchung allgemeiner andiner Praktiken könnte die
Forschung in jene Periode der inkaischen Geschichte führen,
die durch Dokumente zu den Inka selbst unzugänglich ist.
Dieses Bild, wenn auch unvollständig, gibt uns eine bessere
Grundlage für die Interpretation der materiellen Überreste
95
Cuzcos. Diese Untersuchung hat sich bisher fast ausschließlich
mit schriftlichen Zeugnissen beschäftigt, doch auch die mate-
riellen Überreste der Inka sind herausragende Belege für ihre
imperialen Ziele. Objekte aus Ton, Textilien und Bauwerke
dienten zu symbolischer Kommunikation.
Bei einigen Gruppen von Erzeugnissen, wie der Keramik
und den Textilien, ist ein hohes Maß an Standardisierung zu
erkennen. Motive und ihre Anordnung werden aus einem be-
grenzten Repertoire von geometrischen Mustern gewählt.
Frühere Kunststile, wie zum Beispiel auf den Tongefäßen der
peruanischen Moche- und Nazca-Kulturen, bevorzugten Dar-
stellungen aus der natürlichen Umwelt, doch das Interesse an
naturalistischen Abbildungen war zur Zeit des Inkareiches
geringer geworden. Wegen der Vergänglichkeit ihres Materials
sind weniger Textilien als Keramiken erhalten geblieben. Als
weitere Kunstform gab es eine Reihe von Porträts der Inka-
Herrscher auf bemalten Holztafeln, die angefertigt wurden,
um sie im kleinen Kreis zu betrachten. Es könnte auch Abbil-
dungen auf Stoffen für eine ähnliche Verwendung innerhalb
der Dynastie gegeben haben, doch waren diese Darstellungen
Abb. 4: Inkaisches
Männerhemd im
Karo-Muster (California
Academy of Sciences)
96
Abb. 5: Mama Huaco Coya,
die erste Inka-Königin.
Bemerkenswert sind die
Nadeln an Kleid und Schal
(Guaman Poma de Ayala,
1936, S. 120)
selten, und keine ist erhalten geblieben. Unter den erhaltenen
Überresten finden sich nur wenige erkennbare Darstellungen
von Menschen, Pflanzen oder Tieren.
Eine Anzahl von inkaischen Männerhemden, die uncu hie-
ßen, kann man in Museumssammlungen besichtigen (Abb. 4).
Diese Hemden wurden in Tapisserie-Technik aus Alpakawolle
oder Baumwollfasern gewebt. Aufgrund der Feinheit der We-
berei waren es leichte, weich fallende Kleidungsstücke. Be-
sonders auffällig ist bei den erhaltenen Hemden, daß die mei-
sten in vier standardisierten Mustern gewebt wurden. Die
Hemden wurden überdies in einer einheitlichen Größe herge-
stellt, mit Ausnahme von zwei kleineren Exemplaren, die als
Kleidung für junge Männer oder für huaca gedient haben könnten.175 Männer trugen über den Hemden einen langen
Umhang, der auf der Brust verknotet wurde. Die Frauenklei-
dung ist schwerer zu untersuchen, da sie nicht zu erkennbaren
Kleidungsstücken zusammengenäht wurde. Statt dessen wur-
97
de ein großes Stoffviereck um den Körper geschlungen, dessen
obere Ränder auf den Schultern zusammengesteckt wurden.
Das röhrenförmige Kleidungsstück wurde dann durch einen um
die Hüften gewickelten Gürtel zusammengehalten (Abb. 5).
Ein kleineres, quadratisches Tuch wurde über den Schultern
getragen und vorne mit einer Nadel zusammengesteckt.
Wegen der nur einzeln erhaltenen Stücke gibt es keine
kompletten Sätze Männer- oder Frauenkleidung. Es gibt aber
Angaben darüber, welche Kostüme bei verschiedenen Ritualen
in Cuzco getragen wurden, und diese deuten daraufhin, daß
es bestimmte standardisierte Kleidungsstile gab. Zu solchen
Kleidungsstilen gehörten auch Schmuck und andere Verzie-
rungen wie die schon erwähnten Nadeln aus Gold oder Silber
bei den Frauen, goldene Ohrpflöcke für die Männer, bestimm-
te Formen von Kopfschmuck, Frisuren und Gesichtsbema-
lung. Kleidung war bei den Inka wie in anderen Regionen der
Welt eine wesentliche künstlerische Ausdrucksform.
Die Keramik war ebenfalls standardisiert. Zwei Stilarten
sind sehr leicht zu identifizieren, selbst wenn von ihnen nur
eine kleine Scherbe eines weit größeren Gefäßes gefunden
wird. Einer besteht aus einem Bandmuster, das „Farnmuster“
genannt wird, Linien, die schräg von einer schwarzen Linie
ausgehen, und auf den natürlichen orangefarbenen Grund des
gebrannten Tons gemalt wurden (Abb. 6). Dieses Bandmuster,
kombiniert mit anderen, wird als Stil A bezeichnet. Stil A
Abb. 6: Inkaische Keramiken aus einem Grab in Sacsahuaman (University of Cuzco Museum). Links: Schüssel in Stil A (muc 1/15151). Mitte: Schüssel im Stil B (muc 1/1524). Rechts: Schüssel im Stil A (muc 1/15424) 98
Abb. 7: Inkaische Keramiken aus Copacabana
(American Museum of Natural History).
Links: Schüssel im Stil Urcosuyo Polychrome (AMNH 5700).
Rechts: Schüssel im Stil Urcosuyo Polychrome (AMNH 5701)
wurde auf unterschiedlichen Gefäßtypen verwendet, auf Töp-
fen und Flaschen verschiedener Größe, flachen und konvexen
Tellern und tiefen Schalen mit geraden Wänden. Ein anderer
Stil bestand aus Bändern hängender Dreiecke, die schwarz auf
einem tief-purpurfarbenen Hintergrund gezeichnet wurden
(Abb. 6). Diese Bänder, in Verbindung mit anderen Muster-
bändern, bildeten den Dekorationsstil B. Stil B findet sich auf
den gleichen Gefäßtypen wie Stil A. Es gibt Stilvarianten, eine
davon eine sehr ausgeprägte Form des Stils B, die Urcusuyo
Polychrome genannt wird und zusätzliche Farben und ein Re-
pertoire sehr komplizierter Bänder verwendet (Abb. 7). Ande-
re Inka-Gefäße haben von diesen Stilen verschiedene Muster
und gehören offenbar nicht zu den Gefäßsätzen, die in einem
der standardisierten Stile verziert wurden.176
Wir wissen nicht, wozu die Gefäßsätze verwendet wurden,
die in einem der normierten Stile verziert wurden, da die mei-
sten vollständig erhaltenen Gefäße aus Gräbern stammen,
aber die Gefäßformen deuten daraufhin, daß sie zum Servie-
ren von Essen dienten. Es gab öffentliche Anlässe, bei denen
von zu Hause mitgebrachtes Essen serviert wurde. Während
Angehörige der inkaischen Abstammungsgruppen möglicher-
weise nur Eßgeschirr aus Gold und Silber benutzten, konnten
99
die anderen Inka und selbst Nicht-Inka bei diesen Gelegenhei-
ten ihre kostbar dekorierte Keramik zu Schau stellen.177
Die Muster auf Keramik oder Kleidungsstücken gingen auf
eine komplizierte Wechselbeziehung zwischen Herstellern und
Verbrauchern zurück. Eine eklektische Mischung aus Stilen
entstand, mit einigen erkennbaren Modetrends. Während sich
zeitliche Veränderungen und eine gewisse mechanische Zu-
sammenstellung in den mit der Dynastie verbundenen Objek-
ten zeigen, gibt es auch deutliche Hinweise auf andere Kräfte
bei der Entstehung dieser Stile. Besonders bei der Keramik,
wo sich der imperiale Stil offenbar nicht allmählich aus Vor-
läufern in der Gegend von Cuzco entwickelt hat, können wir
die Hand von einzelnen Künstlern oder Künstlergruppen er-
kennen. Stil A und B sind komplexe und bewußte Komposi-
tionen, die einer Reihe von Regeln folgen, die ihren Ursprung
in den kreativen Bemühungen eines oder mehrerer Menschen
haben. Es sieht aus, als ob jemand einen geschickten Hand-
werker ausgewählt und ihn gebeten hätte, einen Stil zu ent-
Abb. 8: Nordwestliche Mauer der Halle E, Coricancha
100
Abb. 9: Torbogen aus
weißem Granit nahe
Rundbau in Machu Picchu
wickeln, der den späteren Betrachtern ein Gefühl von Ord-
nung vermittelt. Wir wissen weniger über den Ursprung der
Textilmuster, aber die Ergebnisse vermitteln eine ähnliche Bot-
schaft wie die Keramik.
Eine andere Botschaft sprechen die inkaischen Steinbauten.
Die Inka hinterließen einen Bestand an monumentalen Stein-
bauwerken, der ihre Sicht von sich selbst und ihrer Rolle in
der andinen Welt wiedergibt. Architektonische Formen bilden
ein wichtiges Medium, diese Sicht auszudrücken.178
Die Inka bauten mit fein eingepaßtem Steinmauerwerk
(Abb. 8 und 9) aus einer großen Zahl von Gesteinsarten (Basalt,
Kalkstein, rotem Rhyolith, grünem Porphyr, Granit und ande-
ren). Sie benutzten in wichtigen Gebäuden allerdings auch
Adobe (Lehmziegel), und Mauern aus einfachen Mauerwerk
konnten verputzt und bemalt werden, weshalb man Bauten
aus anderen Materialien nicht für unbedeutend halten sollte.
101
Dennoch werden wir uns Steinmauerwerk und natürlichen
Felsbildungen zuwenden, da sich in ihnen wichtige Aspekte
inkaischer Glaubensvorstellungen darstellen.
Feines Steinmauerwerk wurde in freistehenden Gebäuden
und bei Mauern benutzt. Viele Bauten in Cuzco bestanden dar-
aus. Die Stadt wurde jedoch seit der spanischen Eroberung
ständig bewohnt und umfangreiche Neubauten wurden vorge-
nommen, so daß die inkaische Stadt weitgehend verschwunden
ist. Inka-Bauten mit genau eingepaßtem gereihten Steinmauer-
werk finden sich auch im Cuzco- und Urubamba-Tal zwischen
Pisac und Machu Picchu verwendet (Karte 8). Obwohl Stein-
mauerwerk auch in den Provinzen vorkam, sind diese Täler
eindeutig das Entwicklungsfeld für den inkaischen Architek-
turstil.179
Steinmauerwerk im Inka-Stil wurde häufig zum Bau recht-
eckiger Gebäude verwendet, aber es diente auch als Dekora-
tion, um natürliche Felsbildungen abzuwandeln, die entweder
Teile von Gebäuden waren oder einzeln standen. Diese natür-
lichen Felsen wurden oft in bestimmter Funktion in Gebäude
Abb. 10: Mauer aus schwarzem Basalt auf natürlichem Fundament
im Sektor von Intihuatana, Pisac
102
Abb. 11: Natürliches Fundament und Mauern aus weißem Granit
im Sektor von Intihuatana, Machu Picchu
eingefügt, beispielsweise als Fundamente und untere Mauer-
abschnitte (Abb. 10 und 11). Es lassen sich also Wechselbe-
ziehungen zwischen „natürlicher“ und „gebauter“ Umwelt fest-
stellen.180
Einige Orte in den Tälern von Cuzco und Urubamba schei-
nen errichtet worden zu sein, um Felsbildungen zu nutzen.
Solche Felsen finden sich oft auf steilen Graten, so daß die
Lage der Orte an sich beeindruckend ist. Solche Plätze sind
Beispiele für die einfallsreiche Nutzung von natürlichem
Steinvorkommen und Steinbearbeitung von hoher Qualität. In
Machu Picchu wurde überall der einheimische weiße Granit
in den Fundamenten und Mauern der Gebäude verbaut, und
man findet die bildhauerische Bearbeitung von natürlichen
Felsen (Abb. 11). Weißer Granit könnte als besonders anspre-
chendes Material geschätzt worden sein, denn andere Orte in
derselben Gegend zeigen das gleiche Interesse der inkaischen
Baumeister an diesem Stein.181 In Pisac im Urubamba-Tal in-
spirierte ein Vorkommen feinkörnigen Basalts die Inka-
Baumeister zu sehr fein bearbeiteten Steinbauten (Abb. 10,13).
103
Im Cuzco-Tal selbst war das beste vorhandene Gestein Kalkstein. An verschiedenen Orten im Callachaca-Gebiet und
oberhalb Cuzcos waren Kalkstein-Felsen der Mittelpunkt von
Gebäudekomplexen. Höhlen und die Vorderseiten von Klip-
pen wurden mit Reihen von Steinmauerwerk reich verziert
oder wurden bearbeitet, um inkaischen Architekturformen zu
ähneln.182 In den meisten Fällen scheinen funktionale Erwä-
gungen minimal oder überhaupt nicht vorhanden gewesen zu
sein.
Einige dieser Orte sind als das Eigentum bestimmter Personen
identifiziert worden. Wissenschaftler, die sich mit Architektur-
Stilen beschäftigen, haben angefangen, deren Entwicklung zu
rekonstruieren. Sie konnten mit Hilfe von Dokumenten, die
bestimmte Ländereien bestimmten Herrschern zuordnen (da
diese Ländereien von deren panaca geerbt wurden, konnten die Besitzverhältnisse in der spanischen Kolonialzeit untersucht werden), diese Stilentwicklung mit bestimmten Perioden
der Dynastie verbinden. Stilistische Regeln bei Bauten, die mit
Pachacuti verbunden waren, unterscheiden sich von denen der
Gebäude, die für Huayna Capac oder in den ersten Jahren der
spanischen Kolonialzeit gebaut wurden.183
Die Orte mit der beeindruckendsten Verwendung von fei-
nem Naturstein, Machu Picchu und Pisac (Abb. 12, 13), ge-
hörten Pachacuti.184 Historische Überlieferungen der Inka, die
Grundlage für die Bücher von Betanzos und Sarmiento, erzäh-
len uns von der Erneuerung Cuzcos während seiner Herr-
schaft. Die Neuorganisation der Landwirtschaft im Cuzco-Tal
ist in diesen Berichten ebenfalls klar beschrieben, aber die
Umwandlung von natürlichen Merkmalen der Landschaft für
anscheinend ästhetische Zwecke wird nicht erwähnt. Baupro-
jekte wie die Errichtung von Kanälen und Ackerbauterrassen
waren auch Veränderungen der natürlichen Umwelt, aber die-
se Arten von Projekten lassen sich nur schwer als Ausdruck
der inkaischen Weltsicht interpretieren, außer man sieht sie
als Teil eines Programms, bei dem die natürliche Umwelt in
solchem Maße neu geordnet wurde, daß selbst natürlichen
Felsbildungen eine bestimmte Ästhetik auferlegt wurde.
104
Abb. 12: Machu Picchu mit dem Berg Huayna-Picchu im Hintergrund
Die natürliche Umwelt neu zu ordnen - sie tatsächlich umzu-
formen - könnte hinter dem inkaischen Interesse an natürli-
chen Steinvorkommen gestanden haben, aber noch besser kann
diese Aktivität aus den schriftlichen Quellen interpretiert
werden. Viele Einzelheiten der andinen Landschaft, besonders
im Raum von Cuzco, waren den Inka heilig. Viele der Plätze,
die in und um Cuzco als huaca genannt werden, waren Steine verschiedenen Typs, einige davon vermutlich zutageliegende
Felsen. Achtung und Furcht waren die Reaktionen gewöhnli-
cher Menschen auf Objekte mit übernatürlicher Macht. Wenn
105
Abb. 13: Die Terrassen von Pisac
die Inka die Umrisse natürlicher Steine bearbeiteten, damit sie
inkaischen Architekturformen ähnelten, so sagten sie etwas
aus über ihre eigene Position in der natürlichen Welt als
Schöpfer, die Ordnung bringen.185
Die Abstammung der Dynastie von der Sonne wurde am
Anfang der inkaischen Expansion offenbart, wenn wir der
relativen Chronologie der historischen Traditionen folgen.
Statt „dem Bilde Gottes entsprechend“ oder „Werkzeug Got-
tes“ zu sein - Rollen, die im christlichen Denken der Spanier
einen Menschen kennzeichnen konnten -, waren die Inka Teil
der Gottheit selbst: sie wurden „mehr als Menschen“.186 Weil
ihr Vorfahr ein Schöpfer war - in dem Sinn eines Wesens, das
Ordnung ins Chaos bringt -, waren auch sie Schöpfer.
Die Inka bildeten eine Klasse von Wesen, die anderen Men-
schen überlegen war. Nachdem diese Gleichsetzung stattge-
funden hatte, war die Nähe zu der Linie, die den speziellen
Status vererbte, entscheidend. Es gab Inka verschiedenen
Grades. Vor diesem Hintergrund erklärt sich eine Anordnung
Pachacutis:
„Er befahl und erließ, daß diejenigen aus seiner Abstam-
mungslinie und seine Nachkommen, wenn sie echte Inka
durch Abstammung in männlicher und weiblicher Linie aus
der Stadt Cuzco waren (und das sagte er, weil er einige seiner
106
Töchter an lokale Herrscher gegeben hat, sowie viele Töchter von Männern seiner Abstammungslinie, und sie an diese
Herrscher verheiratet hat, um sie sich und der Herrschaft
Cuzcos zu unterwerfen, und diese Anordnung betraf sie
nicht), eine oder zwei Falkenfedern als Zeichen an ihrem
Kopfschmuck tragen sollten, damit sie erkannt und behandelt
und verehrt wurden von allen Menschen als seine Nachkom-
men; und wenn jemand anderes dieses Symbol, daß er aus
Cuzco sei und zu den wichtigen Menschen gehöre, nutzte,
würde er dafür sterben.“187
Die Inka verwandelten die andine Landschaft. Die Verände-
rung der Menschen durch die Inka war so wichtig wie die ma-
teriellen oder institutionellen Veränderungen. Andine Völker
gehörten nicht einer Art von Wesen an, sondern vielen. Wenn
eine Gruppe von Wesen mächtig wurde, konnte sie ihre Be-
ziehungen zu den anderen neu definieren. Es war dieser Pro-
zeß der Neudefinition, der hinter der Umwandlung Cuzcos
stand. Wie durch ihren Vorfahren, den Sonnengott, fand eine
Schöpfung statt, und das Schicksal aller Beteiligten änderte
sich.
Glossar
adobe
Spanische Bezeichnung für luftgetrocknete Lehmziegel.
ají
Spanische Bezeichnung aus den Taino-Sprachen der Kari-
bik. Chili-Pfeffer, Capsicum frutescens.
arpa Bestimmte
Opferform.
atisca Eine
buaca (siehe dort), die getötet worden war, wurde als
,atisca’
bezeichnet.
ayllo
Hier allgemein für eine Gruppe von Menschen verwendet.
ayllos
Bolas. Waffen zu Jagd- und Kampfzwecken, aus meist drei
durch Schnüre verbundenen Steinen, die auf die Beine ei-
nes Jagdtieres oder Menschen geworfen wurden.
ayllusca
Ein Wettspiel, bei dem eine Schlange aus Stoff in die Luft
geworfen und mit einer Bola „gefangen“ wurde. Wurde
gewöhnlich von dem Inka-Herrscher und Vertretern des
Besitzes der Sonne gespielt. Gespielt wurde um Land der
Sonne und wohl im Gegenzug auch um das des Herr-
schers.
caca
Mutterbruder eines Mannes. Außerdem die Männer, mit
denen ein Mann über seine Ehefrau verwandt war.
cacacuzcos
Wörtlich, die Schwäger der Inka.
camayo
Jemand, der den Inka diente, indem er auf Dauer eine be-
stimmte Arbeit leistete oder ein Handwerk ausübte. Diese
Arbeiter verfügten über Felder für ihren eigenen Unterhalt.
cantares
Spanische Bezeichnung für die Lieder oder Gesänge, die
über das Leben jedes Inka-Herrschers verfaßt und bei ver-
schiedenen Anlässen öffentlich vorgetragen wurden.
capac
Wenn der Begriff nach einem Namen steht, bedeutet er
„viel mehr als ein Herrscher“, das heißt „heiliges Herr-
schertum“.
capacocha
Von den Inka organisiertes Menschenopfer, in Cuzco und
den Provinzen durchgeführt.
capac raymi
Eines der beiden jährlichen Feste zur Sonnenwende. Bei
diesem wurden junge Männer, die zu den Inka gehörten,
als Erwachsene initiiert.
ceque
Wörtlich „Linie“. Der Begriff bezieht sich auf die imagi-
nären Linien, die eine bestimmte Gruppe von Heiligtü-
mern verbanden. Diese Linien gingen von oder bei der
Coricancha aus oder von einer anderen Linie. Von der
Idee her ähnelte die Anordnung der ceque der eines quipo, auf dem die Heiligtümer festgehalten wurden.
churi
Ein Wort, das „Sohn“ bedeutet, wenn der Sprecher ein
Mann ist. Der Begriff bezieht sich auch auf die jüngeren
108
Mitglieder der eigenen patrilinearen Abstammungsgruppe, von einem Mann gebraucht.
conopas
Heilige Objekte, die einzelnen Haushalten gehörten.
coya
Die Frau, die die Hauptfrau des Inka-Herrschers war.
cumpi Feiner
Stoff.
curaca
Eine Gruppe von Führern des Dezimalsystems, zusam-
mengesetzt aus jenen, die 100 oder mehr Haushalten vor-
standen.
huaca
Ein Schrein, ein Heiligtum, ein übernatürliches Wesen.
huahua
Die Bezeichnung für einen Sohn oder eine Tochter, wenn
die Sprecherin eine Frau war. Auch eine allgemeine Be-
zeichnung für Nachkommen.
huaoque
Bruder eines Mannes. Auch Bezeichnung für die Angehö-
rigen der eigenen patrilinearen Abstammungsgruppe, die
so alt wie man selbst oder älter waren, von einem Mann
gebraucht.
huaranca
Eine Einheit des Dezimalsystems aus 1 000 Haushalten.
huarmi churi
Ein weiblicher cburi.
huno
Eine Einheit des Dezimalsystems aus 10000 Haushalten.
inti
Die Sonne, bei den Inka eine Gottheit. Auch der Name ei-
ner steinernen Vogelfigur, die als heiliger Haushaltsgegen-
stand von den Inka aufbewahrt wurde.
inti raymi
Das wichtigste Sonnenwendfest.
intipchurin
Wörtlich „Nachkomme der Sonne“, allgemein ein Ange-
höriger der Abstammungsgruppe der Sonne, das heißt der
Herrscherdynastie.
mallquis
Die mumifizierten Vorfahren, die verehrt wurden.
michoc
Der Assistent eines inkaischen Provinzgouverneurs.
mita
Eine abwechselnd ausgeführte Aufgabe.
mitayo
Jemand, der zeitweilig für die Inka Dienste leisten muß.
mitima
Jemand, der umgesiedelt worden war, um den Inka dau-
erhaft Dienste zu leisten. Deshalb war eine solche Person
auch gleichzeitig immer ein camayo (siehe dort).
mocha
Ein Opfer an die huaca, von religiösen Spezialisten ausgeführt, bestand aus der Geste eines Kusses.
orejones
Spanische Bezeichnung, bedeutet „Großohren“. Wurde
für die Männer aus der inkaischen Abstammungsgruppe
verwendet, die goldene Ohrpflöcke trugen.
pacarisca
Der Ort, aus dem eine bestimmte Gruppe von Menschen
hervorgekommen war, ihr mythischer Ursprung, wie eine
Höhle oder eine Quelle.
pachaca
Eine Einheit des Dezimalsystems aus 100 Haushalten.
pana
Schwester, wenn der Sprecher ein Mann ist.
panaca
Die Teilgruppe der Inka-Dynastie, die von einem be-
stimmten
Herrscher
abstammt.
109
purucaya Ein
umfangreiches Ritual, das einige Zeit nach dem Tod
eines Inka-Herrschers abgehalten wurde.
quipo
Ein mnemotechnisches Hilfsmittel aus Knotenschnüren,
das numerische Angaben festhalten konnte und vielleicht
auch dazu diente, das Auswendiglernen und die Wieder-
gabe von mündlichen Überlieferungen zu unterstützen.
quipocamayo Ein Beamter, der gwz’po-Aufzeichnungen führte.
saya
Die Bezeichnung für Teil eines Ganzen. Beispielsweise
wurden Inka-Städte gewöhnlich in zwei Teile gegliedert:
Hanansaya und Hurinsaya.
suyo
Die Bevölkerung des Reiches war in vier Teile geteilt, die
zusammen als Tahuantinsuyo bezeichnet wurden. Einzeln
hießen die Teile Chinchaysuyo, Andesuyo, Condesuyo und
Collasuyo.
tambo
Ein Raststelle an den Straßen der Inka.
uncu Männer-Hemd.
ususi
Eine andere Bezeichnung für Tochter, von einem Mann
gebraucht.
vinachini Auf-,
großziehen.
vinakmaci
Altersgenossen, oder jene, die zusammen aufgezogen wur-
den.
vinay Generation.
yanacona
Menschen, die dazu bestimmt wurden,
einem übernatürlichen Wesen zu dienen.
Donnerstag, 26. Januar 2017
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