Freitag, 27. Januar 2017

Pilgern auf dem Jakobsweg - Hörbuch

Pilgern auf dem Jakobsweg - Hörbuch
Author D. Selzer-McKenzie
Youtube-Video: https://youtu.be/RZUiHfzkvUA
 
 
 Wir freuen uns, jetzt geht es endlich los und es hat ja auch nach der Packerei der vergangenen Tage lange genug gedauert. Hin und wieder ist mir Inka ziemlich auf die Nerven gegangen. Was nehme ich mit? Was lasse ich hier? Rein in den Rucksack und wieder raus...
 Walti will uns mit dem Flieger nach Biarritz bringen, an die Côte des Basques. Von dort aus sind es dann knapp 50 km bis zur spanischen Grenze. Mir soll es recht sein. Die Hauptsache ist, es geht endlich los.
 Aber was ist das? Auf dem Flughafen gibt es großes Geschrei. Von ,Eislevel’ ist die Rede oder so. Keine Ahnung, warum die Wetterfrösche wegen des bisschen Schnees so einen Lamento machen. Jedenfalls wird uns die Starterlaubnis verweigert. Hoffentlich fahren wir nicht mit dem Auto. Nicht auszudenken, die ganze Zeit über in diesem Käfig zu hocken.
 Ciao, Walti. Unter uns gesagt: Ich bin heilfroh, dass er nicht mitkommt. Sobald er nämlich da ist, bin ich Inka völlig schnuppe, als ob ich nicht existieren würde. Kaum ist er zu Hause, kümmert sie sich nur noch um ihn. Und dann der ewige Kampf um den Platz auf dem Sofa, auf dem er sich so gern breit macht. Also, ciao, Walti, das Sofa soll vorerst dir allein gehören. Deine beiden Frauen machen sich auf zu neuen Abenteuern.
 Na ja, jedenfalls sitzen wir jetzt im Zug und ich muss mir das ewige Gerattere der Räder anhören. Zum Heulen! Aber was noch schlimmer ist, seit Zürich steigen andauernd Leute über mich hinweg.
 Später mache ich es mir auf Inkas Schoß gemütlich, weil ab und zu ein Auto mit Getränken vorbeikommt.
 Da mein schwarzes, wunderschön glänzendes Fell nicht zu übersehen ist, sagt fast jeder: „Och, ist der aber süß.“
 Lauter so einen Quatsch muss ich mir an hören. Dabei bin ich nicht ein der, sondern eine die. Oder sie fragen: „Kann man den streicheln?“ Inka, die vor Stolz beinahe platzt, sagt auch noch: „Ja.“
 Obwohl ich hundemüde bis, lasse ich dieses ständige Anpfoten über mich ergehen und versuche zu schlafen.
 Mal sehen, was der morgige Tag bringen wird. Wieso morgen? Diese Reise mit der Bahn ist noch lange nicht zu Ende. Das zunächst ruhige Zugabteil verwandelt sich nämlich nach und nach in ein Tollhaus.
 Kaum bin ich eingeschlafen, ist es auch schon passiert! Inka hat nicht aufgepasst. Und so verlieren wir ab Lyon unsere Plätze, als Massen von jungen Männern in den Zug strömen und dann hin- und hertigern. So geht es stundenlang, ein ständiges Hin und Her, und ich muss immer wieder aufstehen. Als der Zug dann endlich mal hält und ich raus will, darf ich nicht aussteigen, weil Inka Angst hat, uns würde das ganze Gepäck davonfahren. Es ist die Hölle!
 
 Auf Tila bin ich ganz stolz. Sie hat sich großartig verhalten, obwohl die Bahnreise eine ziemliche Tortur gewesen ist.
 Aber irgendwie ist die Nacht vergangen.
 Vom Zug aus kann ich nun auf die Pyrenäen sehen, die wie Zuckerberge in der Sonne liegen. Sie sollten eigentlich der Ausgangspunkt für unsere Wanderung sein. Aber wegen des Schnees entschließe ich mich, in Pamplona zu beginnen.
 Um die Mittagszeit betrete ich direkt hinter der französischen Grenze das spanische Städtchen Irun.
 
 
  14.4. Von Irun nach Pamplona
 
 Die Sonne steht hoch am Himmel, als wir nach unendlich langer Zeit aussteigen können. Ich freue mich riesig auf ein bisschen Auslauf auf spanischem Boden.
 Doch was ist das? Die Leute auf dem Bahnhof schauen Inka und mich böse an und schreien: „No perro!“ Ich verstehe nicht, was die wollen. Und um ehrlich zu sein, es ist mir auch völlig egal. Hauptsache ist: laufen und die Gegend erschnuppern.
 Ja, es riecht gar nicht so übel in diesem Städtchen.
 Der ausgiebige Spaziergang ist richtig erholsam und tut uns beiden gut. Danach geht es zurück zum Bahnhof, schließlich wollen wir heute noch nach Pamplona.
 Plötzlich wieder dieses Geschrei: „No perro!“
 Auf einmal kapiere ich: die meinen mich! Ich darf in Spanien nicht in einem normalen Bahnwagen reisen. Auch die dicke Frau am Busschalter gebärdet sich wie eine wild gewordene Katze und faucht: „No perro.“
 Das darf nicht wahr sein. Ich soll doch tatsächlich zu den Koffern und Rucksäcken in den Gepäckraum. Ich!!! Aber das lässt Inka natürlich nicht zu. Auch wenn unsere Reisekasse schon am ersten Tag ziemlich geplündert wird, nehmen wir ein Taxi.
 In Pamplona angekommen suchen wir ein Zimmer für die Nacht. Wieder heißt es: „No perro!“ Schließlich finden wir dann doch eins und ich kann endlich mal ungestört liegen bleiben.
 Bevor ich einschlafe, denke ich an ein paar Artgenossen, die ich zufällig am späten Nachmittag beim Stadtrundgang getroffen hatte, und bedauere sie zugleich.
 Nachdem ich ihnen erzählt hatte, dass ein Gärtner in der Nähe der Universität unter fürchterlichem Gezetere versucht hatte, mich nass zu spritzen, winkten sie müde mit ihren Pfoten ab. Sie berichteten von weitaus schlimmeren Gräueltaten, die sie tagtäglich erleben würden.
 „Das tun die Leute bloß, weil wir Hunde sind“, jammerte einer von ihnen. Ich hielt dagegen: „Ich bin zwar auch nur ein Hund, aber was für einer...!“
 
 Auf spanischem Boden muss ich lernen, dass Hunde nicht gern gesehen sind. Die Leute schauen uns an, als wären wir verrückt. Nach all dem Stress am Bahnhof und am Busschalter nehmen wir schließlich ein Taxi.
 Auf dem Weg nach Pamplona sitze ich ziemlich geknickt im Auto. Ich merke, wie Angst in mir hochkriecht. Ist es richtig, den Jakobsweg zu gehen? Ist das Ganze vielleicht eine Nummer zu groß für mich? Was erwarte ich von der Wanderung und was erwartet mich am Ziel?
 Als ich das erste Mal vom Jakobsweg hörte, war ich sofort fasziniert. Dieser Weg, der durch Europa führt, endet letztlich in Santiago de Compostela, einem der bedeutendsten abendländischen Wallfahrtsorte neben Jerusalem und Rom. Nachdem ich mich mit dem historischen Hintergrund des ,camino´ befasst hatte, schien es mir, als warte er nur darauf, von mir neu entdeckt zu werden. Es war genau der Weg, den ich gesucht hatte. Dieser Weg sollte unser Weg werden.
 Ich habe mich so auf die Wanderung gefreut und bin, ehe sie richtig angefangen hat, leicht eingeschüchtert und ein wenig traurig; aber zum Glück ist Tila bei mir. Meine Gedanken kreisen um Zuhause.
 Walti hat mir zum Abschied ein Taschentuch geschenkt. In jede Ecke hat er etwas ganz Persönliches für mich eingeknotet. Ich halte es in meinen Händen und es tröstet mich.
 
 
  1. Wandertag: Pamplona - Puente la Reina - 23 km
 
 Ich kann unseren ersten Wandertag kaum erwarten und bin wahnsinnig aufgeregt. Raus aus Pamplona und auf nach Cizur Menor. Vorerst kriegen meine Augen nur Neubauten aus Stein und Beton sowie asphaltierte Straßen zu sehen. Nicht sehr vielversprechend.
 Als wir bald darauf ein kleines Dorf durchqueren, bleibt Inka andauernd an Fliederbüschen stehen und begeistert sich: „Ist das nicht schön?“ Es ist mehr eine Feststellung als eine Frage.
 Na ja, ein hübscher kleiner Ort. Aber was mag wohl dahinter liegen? Endlich reißt sie sich von ihren langwierigen Betrachtungen los und es kann weitergehen.
 Die weiten Wiesen und Getreidefelder sind ein wahres Vergnügen. Wie wundervoll das raschelt, wenn man da so durchläuft... und ich renne kreuz und quer.
 Inka ruft zwar des Öfteren: „Tila, komm zurück!“, aber solange ich das Glöckchen höre, weiß ich, sie wird irgendwie nachkommen. Die Idee, dieses Glöckchen an ihrem Wanderstock zu befestigen, finde ich gut. So habe ich sie nämlich besser unter Kontrolle.
 Es geht über Stock und Stein, einen Gebirgspass rauf und dann auf der anderen Seite runter.
 Unser Tagesziel erreichen wir am Nachmittag. In der Pilgerherberge werden wir herzlich aufgenommen.
 Nette Leute hier, wirklich, die haben offenbar auf den ersten Blick meine Persönlichkeit erkannt und ich bin sogleich der absolute Star.
 Es stört mich nicht, mit zehn fremden Leuten in einem 20-Betten-Saal zu schlafen. Das könnte sich allerdings schlagartig ändern, falls die plötzlich alle an fangen zu schnarchen.
 Ein herrlicher Tag, dieser erste Wandertag!
 
 All meine Sorgen und Befürchtungen von gestern sind vergessen, als ich Pamplona hinter mir lasse und Richtung Sierra del Perdón ziehe. Die Bäume sind in Frühlingsgrün gehüllt, überall duftet es nach Thymian und in den Dörfern blüht der Flieder.
 Es macht so viel Spaß, endlich unterwegs zu sein.
 Zunächst geht es über Wiesen und Felder, vorbei am Schloss der Grafen von Guendulain, das dem Zerfall preisgegeben ist. Danach führt der Weg stetig bergauf und ist etwas mühsam, denn die aufgeweichte Erde klebt schwer an meinen Schuhen. Das ist zwar lästig, aber der Blick zurück über die weite Ebene von Pamplona entschädigt mich.
 Bevor ich den höchsten Punkt dieser Gegend erreiche, höre ich ein hell tönendes Surren, das von mehreren Windrädern erzeugt wird, die auf dem Plateau stehen. Als Hintergrundmusik harmoniert das Geräusch mit den Skulpturen aus Eisen, die wie Schattenrisse Pilger darstellen und uns den Weg nach Santiago de Compostela weisen. Ich bin beeindruckt und freue mich zugleich, denn der gleichmäßige Klang der Windräder gibt meiner Hochstimmung etwas Gewaltiges, das ich kaum beschreiben kann. Ich bin unterwegs auf einem Weg, den bereits viele Millionen Pilger vor mir gegangen sind. Seit dem Mittelalter schon haben die Menschen ihres Glaubens oder eines Gelübdes wegen diese Wallfahrt unternommen: Menschen aus ganz Europa.
 Und nun habe auch ich mich auf den ,camino´ begeben, auf den Weg, auf meinen Weg. Obgleich ich noch nicht weiß, was er mir bringen wird, so weiß ich doch, dass ich gehen muss und das Richtige tue.
 Das Wetter wechselt ständig: mal Sonne, mal Wind, und als ich vor der Kirche von Eunate stehe, fängt es an zu regnen. Das kann meine Stimmung jedoch nicht im Geringsten beeinträchtigen, denn ich bin beeindruckt.
 Die Kirche ist achteckig, steht mitten in einem Feld und scheint jeder Gefahr zu trotzen, aber nicht mit Strenge, sondern eher mit ihrer großen, runden, fast mütterlichen Form.
 Ich genieße es zu laufen.
 In Obanos glaube ich meinen Augen nicht zu trauen. An der weiß gestrichenen Mauer eines Hauses ranken sich rote Rosen. Wie gut sie duften und das im April! Bei uns blühen die Rosen erst Mitte Juni, ziemlich genau zum Geburtstag meiner Mutter.
 Meine Gedanken schweifen in die Kindheit zurück. Damals bangte ich jedes Mal um die herrlichen roten Kletterrosen, die im Garten meiner Freundin Anita wuchsen. Ob sie rechtzeitig blühen würden? Meistens machten sie das. Und Anitas Mutter drückte mir dann einen großen Strauß in die Hände, damit ich ihn meiner Mutter zum Geburtstag schenken konnte.
 Seitdem sind viele Jahre vergangen. Wie mag es meiner Mutter und meinem Vater gehen? Vermutlich sitzen die beiden jetzt beim Abendbrot. Ob sie in diesem Moment über mich sprechen?
 
 Wenn man es genau nimmt, sind es vier Jakobswege, die von Frankreich aus nach Santiago führen.
 Während die Nordeuropäer ihre Reise in Paris beginnen und über die Via Turonensis zum Ziel pilgern, gehen die Deutschen und die Schweizer meistens auf der Via Podensis. Wer aus Italien und dem östlichen Europa kommt, benutzt die Via Tolosana ab Arles. Andere wiederum brechen in Vèzelay in Burgund auf und wallfahren über die Via Lemovicensis.
 Über Puente la Reina, meinem Tagesziel, strahlt die Sonne. Vielleicht leuchtet sie so intensiv, weil sich hier die vier Wege zu einem Jakobsweg vereinigen, der auch ,Königsweg´ genannt wird.
 
 Am Abend werde ich Walti anrufen. Ich habe viel an ihn gedacht und es waren schöne Gedanken. Ich bin glücklich, ihn zu kennen und zu lieben.
 Gut, dass ich das Handy mitgenommen habe! Jawohl, ein Handy! Walti hatte darauf bestanden. Nicht, damit ich überall und jederzeit erreichbar bin, sondern mehr für den Notfall.
 „Stell dir vor, du brichst dir den Fuß hatte er unter anderem gewarnt. Einleuchtend. Deshalb hatte ich seine Argumente gelten lassen.
 Ich stehe zwar nicht vor einer gefahrvollen Situation, aber ich möchte ihm so gern erzählen, wie es mir bislang ergangen ist. Vor allem möchte ich seine Stimme hören.
 In der Pilgerherberge geht es international zu. Außer einem Niederländer und einem Franzosen, der mit seinen beiden Söhnen unterwegs ist, lerne ich zwei Australierinnen kennen, Wendy und Christobal.
 Alle stellen die gleiche Frage:
 „Warum gehst du?“
 So leicht wie den anderen fließt mir die Antwort nicht von den Lippen. Ihre Motive sind Heiligenverehrung und Gebet, Kunst und Kirchengeschichte.
 Warum gehe ich? Ich weiß es nicht. Oder besser: Ich kann es noch nicht richtig formulieren.
 Wer bin ich? Was will ich? Tausend Fragen schießen mir durch den Kopf. Ich werde darüber nachdenken.
 
 
  2. Wandertag: Puente la Reina – Estella – 21 km
 
 Ach, habe ich gut geschlafen. Ich recke und strecke mich und bin froh, dass wir in aller Herrgottsfrühe aufbrechen. Von den anderen Herbergsgästen ist nichts zu sehen; sie scheinen wohl nicht aus den Betten zu kommen. Ich habe zwar nichts gegen moderne Pilger, aber ich finde es gut, wenn wir allein laufen. Schließlich sind wir keine Pauschaltouristen.
 Der Weg führt uns über eine mittelalterliche Brücke hinaus in die Weinfelder. Der würzige Duft, der in der Luft liegt, erinnert mich an einen herrlichen Lammbraten mit... Na, wie heißt dieses Kraut? Richtig: Rosmarin. Oh, da läuft mir das Wasser im Mund zusammen.
 Mai sehen, ob Inka nicht bald eine Pause einlegen will. Immerhin hat sie heute früh irgendetwas beim Fleischer eingekauft. Ich hocke mich mitten auf den Weg und warte auf sie. Ais Inka in meinem Blickwinkel erscheint, setze ich meinen treuesten Hundeblick auf, mit dem ich nicht nur Herzen, sondern auch die Kühlschranktür öffnen kann. Zu Hause kenne ich den Inhalt des Kühlschranks ganz genau, obschon ich ihn leider nicht selbst öffnen kann.
 „Müde?“, fragt Inka. „Wenn du ja nicht so viel hin und her rennen würdest, ginge es dir bestimmt besser“, lacht sie.
 Manchmal könnte ich sie in ihren... - na, ihr wisst schon - beißen. Da hetzt man sich ab, guckt hinter jeden Baum und Strauch, wühlt sogar Riesenlöcher in Hügel, um auch nach unten alles abzusichern... Und für wen? Natürlich für Inka. Schließlich muss ich sie vor feindlichen Übergriffen schützen.
 Und was macht sie? Sie lacht mich aus! Aber so ist das. Als Hund hat man es nicht leicht. Also weiter!
 Inka ist ganz entzückt, a/s wir über eine alte Römerbrücke laufen. Mir dagegen macht es mehr Spaß, durch die Olivenhaine zu tollen.
 Kurz vor dem Ziel wird Inka ziemlich langsam. Sie bleibt immer öfter am Wegrand stehen und faselt dann etwas in die Richtung von herrlich und wunderschön. Ich weiß beim besten Willen nicht, was sie an den borstigen Mohngewächsen und dem dornenreichen Ginster findet.
 Ich mache jetzt Druck, denn der Himmel hängt voll dicker, schwerer Wolken. Falls wir uns nicht beeilen, geraten wir in einen heftigen Regenschauer. Und wenn ich etwas hasse, dann ist es ein nasses Fell.
 Mit den ersten Tropfen erreichen wir die Pilgerherberge. Geschafft! Oder auch nicht! Wieder tönt es unfreundlich: „No perro!“ Widerwärtig der Mann, der uns vor die Tür setzt. Obwohl sich die anderen Pilger für mich einsetzen, dürfen wir nicht bleiben. Also müssen wir im strömenden Regen wieder raus. Inka kullern ein paar Tränen über die Wangen. Sie scheint ebenso wütend auf diesen Typen zu sein wie ich.
 Nach mehreren Absagen finden wir dann eine sehr nette Dame, die uns ein Zimmer in ihrer kleinen Pension vermietet und mich streichelt. Ich bin ihr dankbar und denke: Wir Frauen sind doch die besseren Geschöpfe!
 
 Der Tag fängt wunderschön an. Wir laufen eine ganze Weile an einem plätschernden Bach entlang. Ständig geht es bergauf und ich atme tief den Duft von Rosmarin und Thymian ein.
 Kurz hinter Cirauqui treffen wir ein Ehepaar aus Köln und wandern gemeinsam über die alte Römerstraße. Da die beiden schon zum zweiten Mal auf dem camino sind, haben sie viel zu erzählen.
 Ich bin eigentlich ganz zufrieden, wenn da nicht der Rucksack wäre. Heute macht er mir schwer zu schaffen und ich muss mehrmals eine Pause einlegen. So bin ich wirklich froh, als wir das Refugium in Estella erreichen. Endlich kann ich ihn ablegen.
 Doch ich habe die Rechnung ohne den Herbergswirt gemacht. Er weist mich wegen Tila unwirsch ab. Vor lauter Wut auf diesen Mann wollen mir nicht einmal die wenigen spanischen Worte einfallen, die ich beherrsche. Sowohl das Ehepaar aus Köln als auch die drei Franzosen, mit denen ich mich in Puente la Reina unterhalten hatte, mischen sich ein. Doch dieser garstige Typ droht allen, die sich für Tila und mich einsetzen, ebenfalls hinauszuwerfen.
 Draußen regnet es inzwischen in Strömen. Gelähmt von dem Groll, der sich in mir breit macht, kommen mir fast die Tränen, als ich daran denke, bei diesem Wetter womöglich kein Zimmer zu finden. Plötzlich kann ich mir vorstellen, wie es sein muss, ohne Bett zu sein, bei Regen, bis auf die Haut durchnässt und durchfroren. Fürchterlich!
 Aber dann klappt es doch noch.
 
 
  3. Wandertag: Estella – Los Arcos – 21 km
 
 Inka scheint heute Morgen besonders gut drauf zu sein und marschiert putzmunter aus der Stadt Ihre Stimmung hat aber nicht nur etwas mit dem strahlenden Sonnenschein zu tun, wie ich bald verstehe.
 Kaum sind wir eine halbe Stunde unterwegs, kommen wir zu einem Kloster. Hier gibt es nicht nur einen Brunnen mit Wasser, sondern einen weiteren mit purem Wein. Da Inka dieses rote Zeug sehr gern mag, ist klar, dass zuerst mal eine Pause angesagt ist.
 Gähnend langweilig. Bis auf dieses neue spanische Futter, das Inka auftischt. Es schmeckt köstlich.
 Später folgen wir den gelben Pfeilen, die uns während unserer Wanderung stets den Weg nach Santiago de Compostela zeigen werden, in einen Eichenwald.
 Und was sagt mir meine Nase? Ich rieche den Braten im Nu: Lammbraten, an den ich gestern unentwegt denken musste. Also, nichts wie hin.
 Der Jagdinstinkt treibt mich. Und was sehe ich? Nicht einen Lammbraten - nein, eine ganze Herde! Doch da höre ich plötzlich hinter mir ein sehr energisches: „Du kommst sofort hierher zurück!“
 Da ich den Tonfall kenne, ist es wohl besser, ich mache kehrt; dabei wäre unser Essen für die nächsten Tage gesichert gewesen.
 Wohin ich auch komme, überall werde ich mit Geheul empfangen. Nun ja, manchmal auch mit krausen Nasen. Aber jeder weiß, dass ich, Tila, mit meiner ganzen Persönlichkeit komme.
 Die Pilger, die mich bereits kennen, erkundigen sich mitfühlend, wo Inka und ich die letzte Nacht verbracht haben. Während Inka Einzelheiten berichtet, atmen sie erleichtert auf, geben mir Käse und andere Leckereien.
 Ich zeige mich daraufhin natürlich von meiner besten Seite und lasse mich fotografieren. Schließlich bin ich der einzige Pilgerhund weit und breit.
 Die Sonne wechselt sich mit dunklen Wolken ab. Ein prächtiges Naturschauspiel. Bloß der Wind beißt ganz schön kräftig in den Augen. Immerhin erreichen wir trockenen Fußes das Ziel, das Inka für heute gesteckt hat.
 Ich bin heilfroh, wieder ein warmes Plätzchen für die Nacht zu haben. Vor dem Einschlafen denke ich:
 Welche Abenteuer werden wohl morgen auf mich warten? Falls ich wiederum einer Lammherde begegnen sollte, werde ich es jedenfalls geschickter an fangen und Inka überlisten.
 
 Ich bin sehr gespannt auf das Kloster Irache und den Brunnen, der Wein spendet. Der Rebsaft schmeckt köstlich, wenn nicht gar göttlich. Schade, dass es so früh am Morgen ist und noch ein weiter Weg vor mir liegt.
 Wir wandern über Feldwege und durch einen Eichenwald. Die Sonne strahlt mal mehr und mal weniger, weicht dunklen Wolken, die ständig neue stimmungsvolle Bilder in den Himmel schreiben.
 Als wir Rast machen, stelle ich bestürzt fest, dass ich für Tila Katzenfutter eingekauft habe. Doch sie frisst es mit wachsender Begeisterung. Mit dem Käsebrot, das ich ihr zum Nachtisch gebe, versuche ich mein schlechtes Gewissen zu beruhigen.
 Während ein Schäfer mit seiner Herde an uns vorbeizieht, merke ich, wie ich allmählich ruhiger werde. Dass Tila und ich gestern Abend von diesem grässlichen Wirt abgewiesen wurden, hat mich mehr mitgenommen, als ich zugeben will. Allerdings war der uneigennützige Einsatz meiner Pilgerfreunde für mich eine gute Erfahrung. Sie hat mir zwar bei der Suche nach einem Quartier nicht genützt, aber die Gewissheit, mit meinem Problem nicht ganz allein zu sein, hilft mir.
 Beim Anblick riesiger Spargelfelder, die vor mir liegen, schweifen meine Gedanken zurück in die Welt, in der ich tagtäglich lebe. Ich sehe mich als funktionierendes Wesen, das in kürzester Zeit immer mehr schaffen will, das anerkannt werden will, das nach Größerem, Schönerem und Teurerem strebt, das von Dingen abhängig ist, die - wenn es darauf ankommt - nichts wert sind. Will ich das wirklich?
 Unter freiem Himmel verblassen all die materiellen Werte, die ich vor Augen habe. Ich weiß, ich bin auf der Suche nach einem Ideal, nach meinem Ideal. Und ich glaube, ich werde es finden, falls ich mich durch nichts ablenken und verunsichern lasse. Ich muss allein auf mich hören und meine Entscheidungen mit Bedacht treffen. Aber gerade das scheint mir das Schwierigste zu sein. Und doch ist es das Einzige, dem es bedingungslos zu folgen gilt: dem Gesetz des Eigenen. Das, was nur ich in mir trage: mein Verständnis für Freundschaft, Wahrheit und Liebe, die ich leben und annehmen kann.
 Die Kilometer der ersten beiden Tage kommen mir inzwischen wie eine Prüfung vor. Obschon ich in den letzten Jahren viel gewandert bin, habe ich diesmal das Gefühl, als hätten die Blasen an meinen Füßen noch nie so geschmerzt.
 Selbst auf dem Meraner Höhenweg, den ich innerhalb von zehn Tagen hinter mich gebracht habe, hat der Rucksack nicht so zentnerschwer an meinem Rücken geklebt wie gestern. Doch seit heute Morgen ist das Gehen für mich selbstverständlich geworden. Mir scheint, der Kopf ist frei und das eigentliche Abenteuer kann beginnen: das Abenteuer mit mir selbst.
 
 
  4. Wandertag: Los Arcos – Logroño – 29 km
 
 Es geht zwar wieder über Stock und Stein, aber unterwegs ist nichts Besonderes los. Endlich machen wir Pause. Es gibt Thunfisch aus der Dose und gekochten Schinken. Mmh, lecker! Was? Ich soll Brot fressen? Nein, das alte Zeug von gestern iss mal lieber selbst!
 So frisch gestärkt werde ich mich ein bisschen Umsehen. Meine Nase juckt schon wieder so viel versprechend. Ich glaube, es riecht nach Hase. Nichts wie los.
 Inka liebt dieses rote Zeug und ich die Weinberge, wo es wächst. Von hier oben hat man den totalen Überblick. Einfach super! Aber wo ist der Hase? Scheint sich verkrochen zu haben, der Feigling. Stattdessen höre ich Inka laut rufen: „ Tila, du kommst sofort hierher! „
 Manchmal geht mir ihre Unselbständigkeit ziemlich auf die Nerven. Scheint mal wieder den Weg nicht zu finden. Dabei ist es gar nicht so schwer. Immer den gelben Pfeilen folgen, Inka!
 Aber nein. Obwohl ich mit meiner Vielseitigkeit all ihre Schwächen abdecken kann und die beste Begleitung für sie bin, geht sie trotzdem des Öfteren ihren eigenen Weg und ich muss mir ihr Donnerwetter an hören. Dann schrillen bei mir sämtliche Alarmglocken. Ich muss zurück, sonst gibt es wirklich Ärger.
 Inka wiederholt sich. Bereits beim Frühstück hatte sie in ihren Reiseführern geblättert und mir erklärt, wo es heute langgehen soll. Daher weiß ich, dass wir in Torres del Rio angekommen sind. Auf der Kirchenmauer sehen wir die Australier sitzen, denen wir schon in Puente la Reina begegnet sind. Irgendwie trifft man unterwegs immer die gleichen Leute. Macht aber nichts.
 Mal sehen, wie es mit Käse aussieht. Wendy hat nämlich immer etwas für mich.
 Na ja, vielleicht beim nächsten Mal.
 Wendys Idee, mit Christobal in der Kirche zu singen, klingt gut. Warum nicht! Vielleicht sollte ich einfach mitmachen. Zur Übung lege ich kurz den Kopf in den Nacken, um zu heulen wie ein Wolf..., aber da zieht Inka schon an der Leine. Na ja, dann müsst ihr eben auf meinen Beitrag verzichten. Was ich dann höre, klingt trotzdem zufrieden stellend.
 Weiter geht’s und Inka erklärt, dass wir die Landesgrenze zwischen Navarra und La Rioja überschreiten.
 Na und?
 Schon von weitem schlagen Hunde an, würdigen gebührend meine Ankunft im Dorf und winseln ehrfürchtig. Doña Felisa, eine kleine, dicke, verrunzelte Frau, empfängt mich mit einem Stück Wurst und schenkt Inka ein paar Früchte.
 Kurz darauf marschieren wir in die Stadt ein. Hier müssen wir wieder mal lange nach einem Zimmer suchen. Inka scheint schon ganz zermürbt zu sein und sagt: „Wir versuchen es noch ein Mal.“
 Na bitte, es klappt doch. Wir haben ein Bett und es ist warm. Obwohl es erst halb fünf ist, herrscht in diesem Zimmer tiefe Nacht. Es hat keine Fenster!
 Wir freuen uns trotzdem und bummeln bei strahlendem Sonnenschein durch die Stadt. Inka kauft unterwegs unser Abendessen.
 Tortillas! Nicht schlecht!
 Bis Sonnenuntergang bleiben wir in einem Park; dann geht es in unser Quartier.
 Gute Nacht!
 
 Der Weg aus Los Arcos führt an einem Friedhof vorbei. Ich lese die in Stein gemeißelte Inschrift am Eingangstor: Ich war, was du jetzt bist, du wirst sein, was ich jetzt bin.
 In Gedanken an diesen Text versunken geht es bergauf und bergab, bis wir die kleine, achteckige romanische Kapelle von Torres del Rio erreichen.
 Señora Carmen, eine Frau aus dem Dorf, hat die Tür aufgeschlossen und so können wir die hohe Kuppel bewundern, die von muslimischer Baukunst zeugt.
 Während Christobal und Wendy ein Lied anstimmen, wird mir ganz feierlich zumute. Um keinen Preis möchte ich hier drinnen bleiben und verlasse rasch die Kapelle.
 Hier draußen fühle ich mich mit allem eng verbunden. Es fällt mir schwer zu sagen: mit Gott. Die Sonne streichelt mein Gesicht und hüllt meinen Körper in ein Tuch aus Wärme. Dieses intensive Fühlen ist mir erst jetzt möglich, jetzt, wo ich Zeit im Überfluss habe.
 Der Rucksack macht mir nicht mehr zu schaffen. Sobald ich meine Schultern hochziehe, kann ich loslassen und ganz entspannt sein. Oft habe ich es an Shiatsu-Tagen mit Helene geübt und es klappt auch diesmal. Das Loslassen-Können ist das A und O. Die Gegebenheiten, so wie sie sind, anzunehmen und mit ihnen zu leben, sehe ich als Chance und nicht als unüberwindliches Hindernis.
 Die östliche Philosophie, von der Shiatsu wesentlich geprägt ist, versucht uns die Achtung vor dem, was existiert, beizubringen und veranlasst uns, im Einklang mit allem Geschehen zu handeln. Es ist schwierig für mich, die Dinge und all das, was da ist, ohne Wertung anzunehmen. Ebenso habe ich Mühe mit Menschen, die sich arrogant benehmen und glauben, sich aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung über andere hinwegsetzen zu können. Für mich muss hinter jedem Tun eine Absicht stehen; es muss einen ersichtlichen Grund haben, sonst erscheint es mir nutzlos und nicht effektiv.
 Angesichts meiner Ausbildung im Shiatsu fällt es mir nun wie Schuppen von den Augen: Ich lerne die Welt und damit auch mich neu verstehen. Es gibt Türen, die sich plötzlich für mich auftun, wo ich vorher nur eine nackte Wand oder Grenzen gesehen habe. Alles ist möglich. Der voll aufgeblühte Flieder, der sich schwer neigt, scheint seinen frischen Duft ausschließlich für mich zu verströmen.
 Zeit in Hülle und Fülle zu haben, zu leben, jetzt - das alles beflügelt mich und ich bin unendlich dankbar für meine Gefühle.
 
 Früher als geplant komme ich in der schönen kleinen Stadt Viana an und beschließe bis Logroño zu gehen.
 Die Pilgerherberge befindet sich direkt hinter der Brücke über den Ebro. Das klare „No perro!“ heißt für uns: weiter suchen. Warum schickt man uns fort? Ich kann keinen Sinn darin erkennen.
 Erst später erfahre ich, dass viele Spanier kein Herz für Tiere haben sollen. Besonders Hunde werden zu Tode gequält. Ganz legal. Einfach so. Es heißt, so habe man es schon immer mit den Kreaturen gehalten und spricht von Tradition. Mir kommt es so vor, als befände ich mich im tiefsten Mittelalter.
 Nachdem wir zum sechsten Mal abgewiesen werden, bin ich deprimiert und mache mir Vorwürfe. Bin ich denn so wenig belastbar? Kaum läuft mal etwas anders als erwartet, bin ich geneigt aufzugeben...
 Ich versuche es ein letztes Mal... und eine Abstellkammer ohne Fenster wird unser Quartier für die Nacht.
 
 
  5. Wandertag: Logroño – Nájera – 28 km
 
 Keine Ahnung, wie spät es ist. Von einer kleinen Lampe fällt dämmriges Licht ins Zimmer. Inka scheint bereits seit Stunden auf zu sein, läuft hin und her und stopft ihren Rucksack voll. In meinem Magen rumort es. Ich will hier raus!
 Draußen lacht uns die Sonne viel versprechend entgegen. Könnte ein schöner Tag werden. Doch erst mal weg aus Logroño. Es dauert eine Weite, bis wir die Straßen, die Autos und deren Gestank hinter uns lassen.
 Sobald wir auf Feldwegen laufen, geht das Geschrei wieder los: „Wenn du noch ein einziges Mai weg läufst, kommst du an die Leine. „
 Wenn ich das schon höre! Aus Inka spricht der pure Neid. Sie hat eben keine Kondition! Bloß weil sie dreimal so lange braucht wie ich, muss ich doch nicht wie eine Schnecke kriechen.
 Heute ist es sehr viel wärmer als in den letzten Tagen, also tue ich ihr den Gefallen und trotte langsam neben ihr her. Hoffentlich schlafe ich dabei nicht ein.
 Irgendwo in einer kleinen Ortschaft treffen wir auf die anderen Pilger. Natürlich gibt es gleich ein großes Hallo.
 Während Inka von unserem gestrigen Tag erzählt, posiere ich vor den Kameras, wie üblich. Es ist schon ein Kreuz, eine Berühmtheit zu sein. Aber was tut man nicht alles für seine Fans...
 
 An unserem Tagesziel mache ich wieder gute Miene zum bösen Spiel: Ich hocke brav vor der Tür, setze meinen treuesten Hundeblick auf... Und kaum zu glauben: Es klappt beim ersten Mal.
 Dann kommt so ein blöder Dorfköter und rempelt mich plump an. Jetzt ist es aber vorbei mit dem Feintun. Ohne Vorwarnung haue ich ihm meine Linke zwischen die Augen. Das macht immer Eindruck. Auch diesmal. Fortan benimmt er sich anständig, ist sogar richtig nett.
 Heute dürfen wir beide ins Restaurant. Inka freut sich riesig auf was Warmes. Schließlich leben wir fast nur von Brot, Schmierkäse und Schokolade. Ich finde das alles nicht so tragisch, denn für mich gibt es stets Schinken, Thunfisch und andere Köstlichkeiten.
 Zu Hause dagegen muss ich überwiegend Trockenfutter fressen. Igitt!
 Die Sachen auf Inkas Teller scheinen wirklich gut zu sein, denn die herrlichsten Düfte kitzeln meine Nase. Doch ehe ich mich näher damit befassen kann, schwänzelt dieser ungehobelte Dorfköter wieder um mich herum. Obwohl er zum Anhang der Herbergsleute gehört, ignoriere ich ihn. Ich habe weder Zeit noch Lust, mich um ihn zu kümmern. Viel wichtiger ist es, Inka zu überzeugen, mit mir zu teilen.
 „Nein!“, sagt sie. „Leg dich hin und gib endlich Ruhe.“ Manchmal ist sie unverschämt.
 Sie kann aber auch lieb sein. Beim anschließenden Spaziergang rieche ich schon aus weiter Ferne Tortillas, diese flachen Omeletts, von denen ich letzte Nacht sogar geträumt habe.
 Oh, sind die gut! Warum?
 „Bei den spanischen Tortillas dominieren nicht Eier den Geschmack, sondern die großzügige Beimischung herzhafter Zutaten wie: Zwiebeln, gewürfelte Kartoffeln, Schinken, Paprika und Tomaten“, erklärt Inka.
 Also, so genau wollte ich es nicht wissen. Mir wäre es viel lieber, wenn sie diese flachen Dinger auch mal zu Hause auf den Tisch bringen würde.
 
 Als ich erwache, ist es stockdunkel. Schnell packe ich meine Habseligkeiten zusammen. Wir verlassen das Haus und ich blinzle ins Tageslicht, das mir irgendwie eigenartig vorkommt.
 Kleine, schwarze Vögel fliegen nahezu lautlos über uns hinweg. An einem Stausee nehme ich Tila vorsichtshalber an die Leine, ehe sie den jungen Enten hinterherjagen kann.
 Heute ist Sonntag. Alles um uns herum ist still, die Sonne strahlt wie ein Diamant und ich bin froh, bei diesem Wetter ein T-Shirt tragen zu können.
 Ich empfinde heute besonders intensiv und merke, wie die Bilder in meinem Kopf allmählich an Farbe gewinnen. Aus den Schwarzweißbildern hat sich die bunte Vielfalt dieses Frühlingsmorgens entwickelt. Mir wird in aller Deutlichkeit die Polarität vor Augen geführt, das Verhältnis der Gegensätzlichkeit zwischen zwei voneinander abhängigen, sich gegenseitig bedingenden Momenten, wie der ständige Konflikt mit mir selbst und meiner Umwelt. Liebe und Hass, Lachen und Weinen, Scherz und Ernst, Zweifel und Zuversicht, Hell und Dunkel, Geist und Körper, ein Hin und Her zwischen Vielfalt und Eintönigkeit.
 Ich genieße die Stille und gebe mich beinahe feierlich diesem glücklichen Gefühl hin.
 Seit ich unterwegs bin, verzichte ich freiwillig auf einige Annehmlichkeiten. Aber eigentlich ist es gar kein Verzicht, eher ein Stück Freiheit. Ich habe mich von Äußerlichkeiten unabhängig gemacht, brauche sie nicht. Vieles, was selbstverständlich war, lerne ich wieder zu schätzen. Jedes Extra ist wie ein Geschenk und darüber freue ich mich.
 Zur Feier des Tages gibt es etwas Besonderes: Kaffee, den ich am Anfang meiner Reise ziemlich vermisst habe. Jetzt trinke ich ihn sehr bewusst und genieße jeden Schluck.
 Ein schöner Tag. Wir finden auch gleich ein schönes Zimmer. Der Wirt führt mich in sein Restaurant und beköstigt mich mit allem, was er zu bieten hat. Es gibt Tortilla, Fisch, Oliven, eingelegte Paprika, Gurken und Anchovis, einen Riesensalat mit Thunfisch und dazu guten spanischen Rotwein, ein richtiges Festmahl!
 Spät abends telefoniere ich mit Walti und bin rundum zufrieden. Die vierte Blase und den Sonnenbrand auf meinen Armen registriere ich nur am Rande.
 
 
  6. Wandertag: Nájera – Santo Domingo – 21 km
 
 Zunächst geht es durch einen Pinienwald. Ich bin begeistert von den hohen Stämmen, die wie Wolkenkratzer in den Himmel ragen und oben eine schirmförmige, flache Krone tragen.
 Mit Rücksicht auf meine Reisegefährtin, die sich bergauf wie eine Schildkröte bewegt, trippele ich wie ein kleines Kind.
 Dann liegen wieder diese herrlichen, weitläufigen Weinfelder vor uns, auf denen ich mich behaupten kann. Was da so alles kreucht und fleucht! Ich schaffe es kaum, überall gleichzeitig zu sein. Ich laufe und trabe, schleiche mich an, stürme los...
 Aber wo ist Inka? Ich höre sie überhaupt nicht schreien. Ist sie etwa in die falsche Richtung gegangen? Hoffentlich ist ihr nichts passiert?
 Also, nichts wie zurück.
 Aha, da ist sie ja.
 Sie freut sich mich zu sehen, breitet beide Arme aus und lacht. Ich auch. Ich meine, ich freue mich ebenfalls, denn es gibt ein ,Guetzli’, wie bei uns in der Schweiz die Leckerchen heißen. Ich schmatze still vor mich hin und bin erleichtert. Inka scheint endlich kapiert zu haben, dass ich die Sicherung nach vorn übernommen habe und nicht ständig bei ihr sein kann.
 Das erste Dorf erreichen wir nach ungefähr einer Stunde. Nach und nach treffen wir auf vertraute Gesichter. Natürlich freuen sich alle mich zu sehen. Sie streicheln mich und reden pausenlos auf mich ein. Schon kapiert. Ich posiere wieder fürs Familienalbum. Ja, das ist nun mal so, wenn man ein Star ist. Es wird vermutlich nicht mehr lange dauern, dann werde ich Autogramme geben müssen.
 Weiter geht’s über Wiesen und Felder. Die Sonne scheint herrlich warm auf meinen Pelz. Die Arbeit, die es zu bewältigen gilt, mache ich mit links. Links und rechts vom Weg sind tiefe Gräben. Ich kümmere mich um Mäuse, Heuschrecken und anderes Getier und genieße den Tag auf meine Art.
 Trotz unseres Nickerchens am Mittag erreichen wir unser Ziel schnell. Inka steuert diesmal ein Hotel an. Schwingende Glastür, weicher Teppich... Richtig edier Laden. Also, mal schnell hinlegen, man weiß ja nie, wie lange es hier angenehm bleibt. Vermutlich schmeißen die mich gleich achtkantig raus.
 Inka erkundigt sich nach einem Zimmer. Die Frau an der Rezeption schiebt ihr verstohlen einen Zettel zu und sieht uns mitleidig an, denkt vermutlich, dass es uns sowieso zu teuer ist. Doch wir nehmen das Zimmer. Jetzt muss nur noch der Manager gefragt werden, ob auch ich hier wohnen darf. Und?
 Der Typ scheint mich zu kennen, hat bestimmt schon von mir gehört und sagt freundlich: „Sí.“
 Also dann, rauf ins Zimmer.
 Ah, ausstrecken auf diesem herrlich weichen Teppich und sich augenblicklich wohl fühlen.
 Inka! Was soll das? Tsss, es darf nicht wahr sein. Hat das Radio auf volle Lautstärke gestellt und fängt auch noch an zu singen... Aber darauf möchte ich nicht näher eingehen. Schwamm drüber.
 Verdammt, wo steckt sie denn?
 Hab ich’s mir doch gedacht. Kaum sichtbar vor lauter Schaum liegt sie in der Badewanne, eine Stunde... oder zwei?
 In Höchstlaune kommt sie wieder raus. Aber alle Achtung, sie sieht toll aus. Und wie sie duftet. Vielleicht sollte ich mich auch ein wenig zurechtmachen, denn es sieht irgendwie so aus, als ob sie groß ausgehen wolle. Und richtig. Inka scheint rundum zufrieden zu sein und spendiert uns Eiscreme.
 So ein Tag... ein herrlicher Tag!
 
 Einen Wecker brauche ich nicht; auch eine Armbanduhr wäre nicht nötig. Ich stehe nach dem Erwachen auf, packe alles zusammen und marschiere los. Ich fühle mich unabhängig von all den Zwängen, die ich mir sonst auferlege. Ich habe den Kopf frei, kann über Dinge nachdenken, ob wichtig oder nicht... Eine Wertung? Wozu?
 Bei unserer ersten Rast in einem kleinen Dorf treffen wir die uns inzwischen bekannten Pilger wieder. Warum ich mich freue sie zu sehen? Es ist schwer zu erklären. Ich habe das Gefühl, als ob ein unsichtbares Band die Wanderer auf dem Königsweg miteinander verbinden würde. Wir tauschen unsere Erlebnisse aus, danach geht jeder weiter seines Wegs. Ich bin allein unterwegs, natürlich mit Tila, aber nicht einsam. Ich genieße es, mich ausschließlich mit mir zu befassen, und fühle dabei jede Faser meines Körpers.
 Meine Gedanken kreisen wieder um die Frage: Warum pilgern Menschen schon seit Jahrhunderten zu heiligen Orten und nehmen den oft beschwerlichen Weg auf sich?
 Langsam ahne ich, was es sein könnte. Vielleicht hat es außer einem religiösen Bedürfnis etwas mit ,Zeit’ zu tun. Sich Zeit nehmen, Zeit für sich haben, dabei Zeit und Raum spüren und Freiheit.
 Ich werde die Antwort für mich noch finden.
 
 Das Bild der Landschaft hat sich verändert; unser Weg ist nicht mehr von Wein-, sondern von Getreidefeldern gesäumt. Schon bald erreichen wir unser Tagesziel: Santo Domingo de la Calzada. Ich lasse mir den Namen auf der Zunge zergehen.
 Das Zimmer ist prächtig. Alles, was an Badezusätzen vorhanden ist, schütte ich in die Badewanne und veranstalte sozusagen ein Badefest.
 Nach einem kurzen, erholsamen Schlaf sehe ich mir den Ort und besonders die Kathedrale an. Ich möchte wissen, was an der Geschichte dran ist, die mir die Kölnerin an meinem zweiten Wandertag erzählt hat.
 Es ist Tatsache: In der Kathedrale von Santo Domingo werden ein Hahn und eine Henne gehalten, beide weiß und lebendig. Und wie ich erfahre, werden sie jede Woche ausgewechselt.
 
 Der Legende nach übernachtete ein Ehepaar mit seinem Sohn auf der Wallfahrt nach Santiago de Compostela in einem Wirtshaus in Santo Domingo. Die Tochter des Wirtes verliebte sich Hals über Kopf in den Sohn, wurde aber von ihm abgewiesen. Aus Rache nahm sie einen Silberbecher und verbarg ihn in seinem Gepäck. Dann lief sie zum Richter und bezichtigte den jungen Mann des Diebstahls. Nachdem der Becher entdeckt worden war, wurde der junge Mann zum Tod durch Erhängen verurteilt.
 Nach Vollstrecken des Urteils wollten die Eltern Abschied nehmen und gingen zu dem Baum, an dem ihr Sohn hing. Verwundert stellten sie fest, dass er lebte, weil Santo Domingo die Beine des Jungen stützte.
 Nachdem die Eltern den Sohn vom Baum geschnitten hatten, liefen sie zum Richter und berichteten von dem Wunder, das zugleich die Unschuld des Verurteilten bewies.
 Doch der Richter, der gerade zu Mittag essen wollte, lachte und meinte, der Junge sei ebenso lebendig wie die beiden Hühnchen, die er nun verspeisen werde. Ehe er aber mit der Gabel zustoßen konnte, flogen die zwei auf und davon.
 
 Die Kathedrale von Santo Domingo ist kalt, feucht und dunkel. Bei der Vorstellung, dass Gott in diesem alten Gemäuer wohnen könnte, wird mir ganz mulmig. Rasch gehe ich nach draußen. Ebenso wie bei der kleinen Kirche von Torres del Rio fühle ich mich vor dem Portal wesentlich wohler.
 Hier bricht sich das Sonnenlicht in den Fenstern, verströmt Wärme und zugleich Fröhlichkeit. Auf dem Vorplatz tollen Kinder herum, während die Erwachsenen miteinander schwatzen und lachen. Obschon ich ihre Worte nicht verstehe, lache ich mit ihnen.
 Gegenüber der Kathedrale nimmt der Parador, die ehemalige Pilgerherberge, die Touristen auf, die bequem im Auto vorfahren und anschließend weitere Annehmlichkeiten unserer Zivilisation genießen. Um nichts in der Welt würde ich mit ihnen tauschen wollen.
 Bei diesem Gedanken erröte ich und schäme mich ein wenig. Ich bin mir plötzlich nicht mehr sicher, ob es richtig war, mich in diesem Hotel mit der prächtigen Badewanne einzuquartieren.
 Ich muss unwillkürlich an jene Pilger denken, die auf Reisebequemlichkeiten verzichten und betend zum Wallfahrtsort gelangen. Im Mittelalter hatten sie sich in ein braunes oder graues Gewand gehüllt und den breitrandigen Pilgerhut mit der Jakobsmuschel geziert.
 Die Pilgermuschel, die damals zum Wasserschöpfen benutzt wurde, signalisiert auch heute noch: Ich bin ein Jakobspilger.
 
 
  7. Wandertag: Santo Domingo – Villafranca – 33 km
 
 Jeder Tag ist anders. Gestern die herrlichen Felder, die Sonne, die warm auf meinen Pelz schien, ein wahrer Genuss. Und heute? Diesen Tag kann man vergessen.
 Immer der asphaltierten Straße entlang. Dieser Krach und Gestank, diese Wahnsinnshitze und dann das ewige Gezerre an der Leine, das hält der beste Pilgerhund nicht aus.
 Inka scheint topp fit zu sein. Während sie sich von den bisherigen Strapazen in diesem komfortablen Hotelzimmer bestens erholt hat, scheint mir die Nachtruhe auf dem behaglichen Teppich nicht bekommen zu sein. Der Gedanke, allmählich zu verweichlichen, treibt mich voran.
 Am Nachmittag geht es endlich wieder über Feldwege. Ich bin aber so k.o., dass ich hinter Inka hertrottele. Sie merkt es überhaupt nicht. Es scheint sie auch nicht zu interessieren, denn sie läuft mit weit ausholenden Schritten unserem heutigen Ziel entgegen.
 Ich habe keine Lust mehr.
 Schluss für heute. Null Bock.
 Aber wie mache ich ihr das klar? Ich schwänzle um sie herum, kneife sie in die Beine. Nichts! Sie macht wie immer, was sie will.
 Ich verkrieche mich kurz unter einem schattigen Strauch. Von hinten sieht Inka lustig aus. An ihrem Rucksack baumeln zwei Flaschen mit Wasser, eine für sie und eine für mich. Wäre eigentlich nicht nötig, denn fast überall am Wegrand befinden sich Brunnen mit erfrischendem Wasser.
 Nicht zu übersehen ist die Jakobsmuschel, die sie an den Rucksack genäht hat, damit sie auch äußerlich als Jakobspilger zu erkennen ist. Obwohl Inka ein Hutgesicht hat, hat sie keinen Hut mitgenommen. Versteh ich. Den würde sie unterwegs nämlich bestimmt vergessen und dann wäre die hübsche Muschel auch weg. Ich kann ja schließlich nicht auf alles aufpassen.
 Aber was ist das? Plötzlich bin ich hellwach. Ein Mäuschen! Mit einem Satz springe ich aus meinem Versteck und packe es.
 Die Gegend scheint doch ganz interessant zu sein!
 Denkste. Keine besonderen Vorkommnisse.
 Am ersten Gasthof werden wir abgewiesen. Das kennen wir ja schon und es macht uns überhaupt nichts mehr aus.
 In der Nähe der Kirche zeigt uns dann eine nette Señora unsere Unterkunft. Heute haben wir nicht nur ein Bett, sondern ganze sechzehn Betten für uns allein!
 Zum Abendbrot gibt es Kaninchen, das Inka in einem Dorfgasthaus gekauft hat. Der Wirt hatte das Fleisch in ein altes Glas mit Schraubverschluss gefüllt, damit wir es mitnehmen konnten.
 Schmeckt köstlich! Hoffentlich reicht es für uns beide, denn ich habe einen Mordshunger. Darüber hinaus bin ich unendlich müde.
 
 Am Morgen überqueren wir den Oja. Von der Brücke aus beobachte ich zwei Störche, die versuchen, in dem kleinen Flüsschen ihr Frühstück zu fangen. Das ist bis zum Nachmittag die vorerst letzte dörfliche Idylle, die ich antreffe.
 Es geht immer der N-120 entlang. Je höher die Sonne steigt, desto tiefer sinkt meine Stimmung. Tila halte ich an der Leine, denn der Verkehr auf dieser Landstraße ist mörderisch. Diese Hetze, Raserei und Ruhelosigkeit passt so gar nicht zu meiner schönen Wanderung und ärgert mich.
 Ich frage mich: Zeit, was ist das? Warum hetzen wir? Oder sollte ich besser fragen: Warum hetze ich in meinem Alltag von einem Termin zum anderen? Warum habe ich immer noch schnell etwas zu erledigen?
 Auch mir steht nur eine kürzere oder längere Zeitspanne zur Verfügung, um zu leben. Selbst wenn ich mich noch so sehr beeile, die Zeit wird weder mehr noch weniger.
 Und dann wieder die Frage: Warum gehe ich? Gehe ich, um mit mir allein zu sein? Kann ich das überhaupt, in mich hineinhorchen und mich aushalten? Ich glaube, indem ich behaupte, keine Zeit zu haben, begebe ich mich auf eine Flucht, will vor einer Gefahr davonlaufen, womöglich vor mir selbst. Warum will ich für all das, was ich tue und leiste, bestätigt und anerkannt werden? Warum will ich unter Beweis stellen, wie belastbar ich bin? Weshalb schiele ich dabei auf die Bewertung, das Urteil meiner Mitmenschen?
 Die Antwort fällt mir nicht leicht. Vielleicht, weil ich mir selbst nicht genüge, nicht vor mir selbst bestehen kann. Eigentlich ein trauriger Gedanke.
 Immer noch rast die Blechlawine an mir vorbei und stinkt. Was sie in einer halben Stunde schaffen, dafür brauche ich einen ganzen Tag. Es macht mir aber nichts aus, denn ich bin die ganze Zeit bei mir selbst und nicht schon beim Ausladen oder Wieder-Losfahren. Und plötzlich empfinde ich die Zeit, gerade diese Zeit mit dem allgegenwärtigen Benzingestank als einen Teil meines Lebens. Und es kommt mir so vor, als hätte ich eine weitere Lektion des Lebens gelernt.
 Kurz darauf mündet die Straße endlich wieder in einen Feldweg und mir scheint, als sei die Zeit stehen geblieben.
 Wir kommen in ein Dorf, das wie ausgestorben daliegt. Rechter Hand eine Einsiedelei aus dem 12. Jahrhundert.
 Dann ein Dorf mit einigen verfallenen Häusern. Die Kirchturmuhr zeigt Winterzeit an. Bei uns wäre das eine Katastrophe. Doch hier scheint es ohne jede Bedeutung zu sein. Auf dem kleinen Platz neben der Kirche sitzen drei alte Leute in der Sonne. Sie unterhalten sich und winken mir aufmunternd zu und wieder höre ich das mir inzwischen vertraute: „Buen camino.“ Sie wünschen mir einen guten Weg.
 Da es kälter wird, ziehe ich mir eine lange Hose über.
 Kurz vor dem Ortsausgang biegt eine alte Frau um eine Häuserecke, schlurft in abgewetzten Pantoffeln quer über die Straße und singt aus vollem Herzen. Auch sie winkt mir zu. Ihr Gesichtsausdruck ist warm und freundlich und stimmt mich fröhlich. Ich winke zurück. Vermutlich ist diese Frau in ihrem ganzen Leben noch nicht aus ihrem Dorf herausgekommen, hat sicher viel und hart gearbeitet, Kummer und Sorgen ertragen, und ist dennoch zufrieden. Ich stelle mir vor, wie sie tagsüber in der Sonne sitzt, ihre Hände in den Schoß legt und auf ihre Weise den Lebensabend genießt. Was spielt es da für eine Rolle, ob die Zeit auf Sommer oder Winter eingestellt ist? Vielleicht versteht sie nicht viel von unserer modernen Zeit, kennt weder Computer noch Mikrowelle, aber möglicherweise versteht sie dafür mehr vom Leben als die Zeitgenossen, die glauben, mit der Uhr alles im Griff zu haben.
 Ich kenne viele Leute, die danach streben, im Alter zufrieden in der Sonne sitzen zu können. Aber werden sie es schaffen, wirklich zufrieden zu sein?
 Diese Frau hat mich beeindruckt.
 
 Froh gestimmt bewältige ich die restlichen Kilometer bis Villafranca Montes de Oca.
 „No perro!“, klingt mir bereits am Ortseingang aus einem Gasthof entgegen. Was soll’s! Kurz darauf finden wir sechzehn Matratzen, vier Stehklos und eine eiskalte Dusche für uns allein. Gestern das heimelige Hotel und nun diese Notunterkunft. Ich lächele still vor mich hin; es amüsiert mich.
 Nachdem ich mein Handy an die Steckdose angeschlossen habe, genieße ich die Kaninchenteile, die ich eingekauft habe. Sie sind köstlich zubereitet.
 Im Reiseführer lese ich, dass Villafranca in knapp 1.000 Meter Höhe liegt und dass es auch in Sommernächten empfindlich kalt werden kann.
 Ich spüre nichts davon. Der große Raum ist gut geheizt und mir ist wohlig warm.
 Später zünde ich ein Teelicht an und breite all meine Schätze auf dem Tisch aus:
 das Engelkärtchen von Elvira, Ritas Briefe, die mir in der Not Trost spenden sollen. Mit Daniellas goldenem Armreif, der magische Kräfte haben soll, schmücke ich das Teelicht, das strahlenden Glanz verbreitet.
 Als Letztes lege ich Waltis Taschentuch mit den eingeknoteten Gegenständen dazu. Vorsichtig taste ich die vier Knoten ab. Zwei fühlen sich weich, die anderen eher hart an. Ich entscheide mich für einen weichen Knoten.
 Er ist so fest gezogen, dass ich mit dem Zahnstocher meines Taschenmessers nachhelfen muss. Endlich lockert er sich. Ganz gespannt öffne ich ihn und muss dann schallend lachen. Walti ist immer so praktisch. In einen kleinen Zettel hat er ein Blasenpflaster eingerollt, das sich wie eine zweite Haut auf wund gelaufene Stellen kleben lässt, sodass man problemlos weiterwandern kann.
 Amüsiert entziffere ich die winzigen Buchstaben auf dem Zettel: „Ich bin sicher, dieses Pflaster bringst du nicht wieder mit nach Hause. Ich drücke dich ganz fest, dein Walti.“
 Da hast du völlig recht, denke ich, denn davon kann man nie genug bei sich tragen.
 Die Akkus meines Handys sind zwar inzwischen aufgeladen, aber Walti ist nicht erreichbar.
 Schade, ich hätte so gern gewusst, ob er übermorgen tatsächlich mit dem Flieger nach Burgos kommt, wie wir es verabredet hatten.
 
 
  8. Wandertag: Villafranca – Burgos – 39 km
 
 Inka kündigt einen Gewaltmarsch an. Gut, dass ich wieder in Höchstform bin, denn heute, das wird mein Tag! Da bin ich mir sicher. Wir werden in die Berge Montes de Oca kommen, sagt sie, eine Gegend, die seit dem Mittelalter von den Pilgern gefürchtet wird: wegen des Wetters und vor allem wegen der Raubritter, die hier besonders blutrünstig sein sollen.
 Also, das mit dem Wetter stimmt schon mal. Die Sonne hat sich in nichts aufgelöst. Himmel und Erde sind kaum voneinander zu unterscheiden. Dabei gießt es wie aus Eimern. Die rote Erde klebt in dicken Klumpen an meinen Pfoten. Das wird die Jagd auf die Ritter - oder die Räuber? - vermutlich etwas schwieriger machen.
 Angesichts der Gefahr, die uns droht, hat sich Inka geschickt der Umgebung angepasst und schon mal ihre knallrote Rüstung angelegt. Die wird sie zwar vor dem Regen schützen, nicht aber vor unseren Feinden.
 Sobald wir in die Berge kommen, nehme ich Witterung auf. Meinen Argusaugen entgeht nichts. Und dann sehe ich sie plötzlich. Sie lauern zu Hunderten hinter Baumstämmen und Sträuchern und wollen offenbar den richtigen Moment abpassen, um Inka zu überfallen und auszurauben. Als ich meinen Kopf in den Nacken lege und wie ein Wolf heule, grinsen diese hinterhältigen Kerle doch tatsächlich. Das macht mich wütend.
 Na, denen werde ich Beine machen. Da Angriff die beste Verteidigung ist und in jedem Pilgerhund auch ein Höllenhund steckt, spurte ich los.
 Spätestens jetzt merken meine Gegner, dass bei mir nicht nur rein äußerlich der Greyhound durchgeschlagen ist, sondern dass ich auch über dessen Schnelligkeit verfüge. Obschon sie die Beine unter den Arm nehmen, entgeht mir keiner. Ich tue ihnen zwar nichts, aber ich schlage sie alle in die Flucht. Von denen traut sich keiner mehr in unsere Nähe.
 Und was macht Inka? Anstatt mir dankbar zu sein, schreit sie nach mir und schimpft mich aus. Hat natürlich keinen blassen Schimmer, dass ich einen heldenhaften Kampf geführt und die Wegelagerer bis ins hohe Heidekraut verfolgt habe. Ich bin drauf und dran, einen dieser Strolche zurückzuholen und auf sie zu hetzen...
 Stattdessen sehe ich sie bloß mitleidig an. Ja, so ist das, die wahren Helden bleiben unerkannt.
 Im strömenden Regen und bei ziemlich viel Wind überqueren wir einen Pass und erreichen kurz darauf eine kleine Ortschaft mit einem Gasthof, der geöffnet hat. Ich verkrieche mich hinter dem Ofen und so sitzen wir eine Weile im Trockenen.
 Danach geht es wieder durch viel Matsche.
 Ich versuche ein paar Schafe aufzuscheuchen. Die blöken zwar blöd, bleiben aber bei dem Hundewetter wie gelähmt liegen.
 Aber alles hat irgendwann mal ein Ende. Unmittelbar vor einer großen Stadt hört der Regen auf. Und wieder rollt viel Blech an uns vorbei. Ich bin ziemlich kaputt. Trotzdem kriege ich mit, wie uns ein grüner Jeep überholt und dann mit quietschenden Reifen anhält. Ich bin natürlich sofort auf der Hut, beobachte argwöhnisch, was als nächstes passiert. Vermutlich handelt es sich um moderne Raubritter. Aber mit denen werde ich auch noch fertig. Ich drängle Inka ein wenig näher an den Straßenrand, damit sie sich notfalls in den Straßengraben retten kann.
 Rechts und links werden die Türen aufgestoßen. Ich traue meinen Augen nicht. Das darf nicht wahr sein! Ist es eine Halluzination oder ist er es wirklich?
 Da steigt doch tatsächlich Walti aus. Soll ich mich jetzt freuen? Klaro, ich freue mich mit Inka und darauf, dass ich heute keinen Meter mehr laufen muss.
 Ursula, Waltis Fluglehrerin, ist übrigens auch dabei. Die beiden sind mit dem Flieger hierher gekommen, wie ich erfahre.
 Walti hat Zimmer für uns alle in einem Hotel reserviert. Also, das muss ich ihm lassen: organisieren kann er. Zu Hause organisiert er es so, dass er die besten Sachen aus dem Kühlschrank abkriegt, und zwar ohne einen Finger zu krümmen. Inka bedient ihn dann nämlich von vorn bis hinten. Aber ich will nicht ungerecht sein, manchmal fällt auch für mich ein Häppchen ab.
 
 Heute ist Mittwoch. Mittwoch ist normalerweise der Tag, an dem ich in die Qi-Gong-Gruppe zu Bruno Wiesmann gehe, der immer Ruhe und Gelassenheit vermittelt. Ein wenig wehmütig denke ich jetzt an Waltraud, die uns mit ihrer Fröhlichkeit stets in Schwung bringt, oder an Claudia, die vor Energie kaum zu bremsen ist. Meistens komme ich ziemlich abgehetzt an, aber dann genieße ich zusammen mit den anderen die Übungen, die wir stehend ausführen. Danach fühle ich mich sehr wohl und weiß, dass ich genügend Energie für die nächsten sieben Tage aufgetankt habe. In Gedanken an all die schönen Stunden fange ich an, die Übungen zu wiederholen, und dabei wird mir ganz warm.
 Als wir losgehen, verändert sich das Wetter schlagartig. Der Himmel hängt voll dunkler Wolken und nach wenigen Kilometern, immer bergauf, fängt es an zu regnen. Also, Rucksack runter und Regenjacke an. Es wird sicher bald wieder aufhören. Von wegen! Es gießt in Strömen. Rucksack wieder runter und Regenhose an.
 Ich laufe mit gesenktem Kopf. Trotzdem peitschen mir Wind und Regen ins Gesicht. Bald triefe ich vor Nässe und bin durchweicht bis auf die Haut. Mir ist kalt.
 Da ich so sehr mit mir und den widrigen Umständen beschäftigt bin, habe ich längst aufgehört, nach Tila zu rufen. Sie macht sowieso, was sie will. Trotzdem mache ich mir Sorgen.
 Ich habe gehört, dass herrenlose Hunde, die eingefangen werden, nach zehn Tagen eingeschläfert werden, sofern sich der Besitzer nicht meldet. Aber ich beruhige mich mit dem Gedanken, dass wahrscheinlich keine Menschenseele in dieser Wildnis und bei diesem Sauwetter unterwegs ist, die Tila gefährlich werden könnte.
 Und immer weiter geht es den steilen Berg hinauf. Ich fühle mich sehr allein und unendlich einsam. Die Landschaft wirkt wie ausgestorben. Weit und breit kein Vogel, der singt.
 Um die Mittagszeit endlich ein kleiner Ort: San Juan de Ortega. Trotz Ti las triefendem Fell und meiner klatschnassen Kleidung dürfen wir uns in einer kleinen Bar am Ofen aufwärmen und trocknen lassen. Der Kaffee tut gut und meine Stimmung steigt ein wenig.
 Aber das ist nicht der einzige Grund. Morgen will uns Walti besuchen. Er hat seine Fluglehrerin überzeugt, dass sein nächster Trainingsflug direkt nach Burgos führen soll. Ich hoffe, es kommt nichts dazwischen, denn ich freue mich schon sehr darauf ihn zu sehen.
 Rasch mache ich mich wieder auf den Weg. Die Erde hat sich inzwischen in eine breiige Masse verwandelt. Die Schuhe sind schwer wie Blei und das Gehen wird zur Qual.
 Zum Glück regnet es jetzt nicht mehr, aber der Wind bläst mir immer noch rau ins Gesicht.
 Ein großes Kreuz am Wegrand zeigt mir, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Die Bäume, die sich im Wind krümmen, stimmen mich irgendwie traurig.
 Ich stelle mir vor, wie es den Pilgern in früheren Jahrhunderten ergangen ist, als sie, womöglich mit Stofffetzen an den Füßen, den letzten Pass geschafft hatten. Ich höre sie in unterschiedlichen Sprachen murmeln und auch fluchen, weil Schlamm zwischen ihren Zehen quillt. Und dennoch waren sie vermutlich dankbar, ihrem Ziel wieder ein Stückchen näher gekommen zu sein, und gehorchten wie einem Befehl, indem sie unerschrocken ihren Weg gingen.
 Als wir den Pass überqueren, glaube ich, ein kleineres Flugzeug zu hören. Ob Walti schon heute kommt?, schießt es mir durch den Kopf.
 Quatsch! Jetzt fang bloß nicht an zu fantasieren, sage ich mir und marschiere weiter.
 Aber mein Gefühl hat mich nicht getäuscht. Kurz vor Burgos hält ein Jeep neben uns. Als ob es das Selbstverständlichste von der Welt sei, steigt Walti aus. Mein Herz hüpft vor Freude. Es ist schön, ihn in die Arme zu schließen.
 
 
  9. Tag der Wanderung: Burgos (Ruhetag)
 
 Inkas flehendem Blick habe ich widerstanden. Selbst als sie mich auf Knien bat, zusammen mit ihr und Walti die Stadt zu erkunden, bin ich, wenn auch schweren Herzens, konsequent geblieben.
 Von wegen Ruhetag. Ich habe heute eine wichtige Aufgabe zu erledigen. Deshalb können die beiden Turteltauben auch mal ruhig einen Tag ohne mich verbringen. Ich muss nämlich auf Ursula aufpassen. Sie scheint mir zwar vernünftig und auch ziemlich selbständig zu sein, aber da der erste Eindruck ja manchmal täuschen kann, werde ich die Zügel zunächst locker halten und abwarten, wie sie reagiert.
 
 Ursula hat den Vorschlag gemacht, sich um Tila zu kümmern. Dankend nehme ich an und so gehört der ganze Tag Walti und mir.
 In Burgos gibt es viel zu sehen und doch empfinde ich die Stadt nach all der Ruhe als laut und unwirklich. Die vielen Menschen hasten hin und her und ihre Geschäftigkeit geht mir ziemlich auf die Nerven.
 In einem kleinen Lokal nahe der Kathedrale stehen Frauen und Männer an der Bar und trinken Kaffee.
 Hier ist es ruhig. Wir bestellen ein opulentes Mahl: Gemüsesuppe, Salami mit frischem Brot, Lammbraten mit feinen Gewürzen und frischem Gemüse; dazu einen würzigen Rotwein. Als Dessert gibt’s Kuchen.
 Seit über einer Woche bin ich mehr oder weniger allein gewesen und habe kaum mit anderen Leuten geredet.
 Ich bin voller Eindrücke und Gefühle und es macht mich glücklich, sie Walti mitzuteilen. Ich erzähle und erzähle. Dabei wird mir das eine oder andere, das ich erlebt habe, erst richtig bewusst.
 Die Stadt wirkt wie ausgestorben, sie scheint Siesta zu halten, als wir uns nach dem Essen zu Fuß auf den Weg zum Kloster Miraflores machen. Das Kartäuserkloster ist eines von vier in Spanien, das noch bewohnt und bewirtschaftet wird.
 Ich weiß nicht, ob es am Rotwein liegt, den ich genossen habe, oder an meiner übersprudelnden Freude mit Walti zusammen zu sein, jedenfalls gehe ich unbekümmert auf einen der Mönche zu und frage, wo ich den Stempel für meinen Pilgerausweis bekommen kann.
 Er lächelt still und schweigt.
 Während er mich stumm zu einem seiner Ordensbrüder führt, fällt mir plötzlich ein, was ich gelesen habe. Die Kartäuser sind beschauliche Einsiedler, deren Leben von Stille und Einsamkeit geprägt ist, die nur reden, wenn es für ihre Arbeit unerlässlich ist. Beschämt danke ich dem Mann in der weißen Ordenstracht, indem ich nicke und lächle. Ohne Worte überreiche ich dem anderen Mönch, der an einem Pult steht, mein Pilgerbuch.
 „Dieser Ausweis berechtigt mich, in den offiziellen Pilgerherbergen zu übernachten?, erkläre ich Walti und zeige ihm stolz die Stempel, die ich bereits dort oder in Kirchen erhalten habe.
 „Und man sammelt sie, weil sie zum Teil sehr schön sind?, stellt Walti fest.
 „Auch!“, lache ich. „Falls man mehr als 150 Kilometer gegangen ist, erhält man in Santiago de Compostela, die ,Compostela´, eine Art Ablassbrief. ?
 „Das heißt, dann bist du frei von allen Sünden. ?
 „Sozusagen! ?, lache ich.
 „Und was ist, wenn ein Pilger ein Stück des Wegs mit dem Auto fährt? ?, fragt Walti verschmitzt lächelnd.
 „Ich glaube kaum, dass überprüft wird, wie man nach Santiago kommt?, erwidere ich, „aber es ist doch wohl Ehrensache zu Fuß zu gehen. ?
 Ursula sitzt mit Tila vor dem Hotel und genießt es offenbar, auch mal ein wenig Ruhe zu haben.
 Den Abend verbringen wir gemeinsam mit einem guten Tropfen und einem vorzüglichen Nachtmahl, bei dem viel erzählt wird.
 
 
  10. Wandertag: Burgos – Castrojeriz – 38 km
 
 Also, gestern habe ich mich fantastisch erholt. Ursula war ziemlich pflegeleicht und hat mir keinen Kummer bereitet. Ein kleines Missverständnis gab’s allerdings. Ich wollte mit ihr zum Flughafen fahren, ihr Burgos vom Flieger aus zeigen und beweisen, dass ich nicht nur ein guter Pilgerhund, sondern auch ein ausgezeichneter Flughund bin. Wurde aber nichts draus. Ich konnte sie ja nicht zwingen. Sie hat sich lieber vors Hotel gesetzt und in die Sonne geblinzelt. Da sie sich ruhig verhielt, konnte ich getrost ein wenig schlafen und neuen Abenteuern entgegenträumen.
 Inka ist heute ziemlich still. Ich glaube, sie ist traurig, weil Ursula und Walti in aller Herrgottsfrühe abgedüst sind. Ich habe die beiden ja auch gern, bin aber froh, wieder unterwegs zu sein.
 Das Wetter ist herrlich und die nordkastilische Hochebene erweist sich als wahres Jagdparadies: überall Kaninchen, Vögel, Rebhühner...
 Ich bin den ganzen Tag im Einsatz gewesen.
 Jetzt noch ein gutes Nachtessen, ein schönes Plätzchen zum Schlafen und die Welt ist in Ordnung. Aber wie das so ist: Es kommt anders, als man denkt.
 An unserem vermeintlichen Ziel werden wir mehrmals eiskalt lächelnd abserviert. Inka tut mir Leid. Sie war genauso froh wie ich, endlich anzukommen und ein Dach überm Kopf zu haben. Und nun das.
 Sie hat Tränen in den Augen und ich tröste sie.
 Inkas Entscheidung finde ich sehr anständig. Sie hätte mich durchaus allein vor irgendeiner Unterkunft sitzen lassen und es sich drinnen gemütlich machen können. Hat sie aber nicht.
 Sie sagt: „Hier bleiben wir nicht.?
 Und so folgen wir den gelben Pfeilen bergauf. Auf halber Höhe finden wir ein wunderschönes Plätzchen für die Nacht Inka erklärt, der nächste Ort liege zu viele Kilometer entfernt, deshalb müssten wir in dieser Wildnis übernachten.
 Wir packen meine Decke und Inkas Schlafsack aus und essen unser sehr bescheidenes Nachtmahl in trauter Zweisamkeit.
 Als es dunkel wird, tut sich ein imposanter Sternenhimmel auf, der uns wieder mit diesem unfreundlichen Dorf versöhnt, das im Mondschein friedlich dort unten schlummert.
 Ich erinnere plötzlich, dass es unter freiem Himmel bitterkalt werden kann und Inka ein Stadtmensch ist. Damit sie die Nacht lebend übersteht, krieche ich zu ihr in den Schlafsack und halte sie schön warm.
 Wenn sie mich nicht gehabt hätte, wäre die Reise wahrscheinlich für sie zu Ende gewesen.
 
 Der Abschied stimmt mich traurig. Mir stehen Tränen in den Augen. Walti nimmt mich ganz fest in den Arm und gibt mir gute Wünsche mit auf den Weg. Ich bin traurig und glücklich zugleich, denn es ist schön, wenn man sich lieb hat und weiß, dass es nicht selbstverständlich ist.
 Zu Hause verläuft das Leben in geregelten Bahnen; man bemerkt den anderen oft nicht, alles scheint einem so selbstverständlich zu sein. Doch jetzt sehe ich es plötzlich mit anderen Augen. Es ist wie ein großartiges Geschenk. Ursula scheint meine Gedanken lesen zu können. Sie verabschiedet sich sehr herzlich von mir. Ihr fester Händedruck und ihr Blick verraten, was sie mir mitgeben will: nur das Beste.
 
 Der Weg ist nicht besonders beschwerlich. Ruhe und Einsamkeit sind heute genau das Richtige für mich.
 Es geht weiter und weiter. Stunde um Stunde. Ich weiß nicht, wie lange ich schon unterwegs bin. Mir ist das Gefühl für Zeit und Raum verloren gegangen. Ich gehe einfach weiter.
 Tila rast pausenlos hin und her, jagt von einem Steinhaufen zum anderen.
 Die kleine Ortschaft Hontanas liegt still und unberührt in der Sonne. Von hier aus sind es noch ungefähr zehn Kilometer bis zu unserem Tagesziel: Castrojeriz.
 Bäume und Sträucher säumen unseren Pfad und geben hin und wieder den Blick auf die schmale Straße frei, die weiter unten verläuft. Schon bald vereinigen sich die beiden Wege und wir gelangen durch einen Gewölbebogen zum Kloster San Anton.
 Ich mache an der Stelle Rast, wo die Pilger in früheren Zeiten eine warme Mahlzeit bekamen. Schon lange gibt es hier nichts mehr zu essen.
 Das ehemalige Kloster ist eine Ruine, aber eine eindrucksvolle.
 Mir tun die Füße weh. Ich entdecke eine neue Blase und habe mit einem Mal überhaupt keine Lust mehr, die restliche Strecke hinter mich zu bringen.
 Doch es ist nicht mehr sehr weit. Tila schleicht inzwischen nur noch hinter mir her. Es wundert mich nicht, denn sie ist wie eine Verrückte durch die Gegend gelaufen und hat alles gejagt, was sich bewegte.
 Ich bin so froh, als wir endlich Castrojeriz erreichen. Hier haben wir die große Auswahl: ein Hostal, ein Hotel und eine Pilgerherberge. Mit einem barmherzigen’ Lächeln auf den Lippen werden wir abgewiesen: überall.
 So müssen wir weiter und schleppen uns sozusagen auf dem Zahnfleisch voran. Bald finden wir jedoch einen Platz, der mir als Schlaflager geeignet erscheint.
 In diesem Augenblick möchte ich mit jemandem reden und versuche Walti anzurufen. Ich hocke in der freien Natur auf einer Anhöhe und bin in einem Funkloch gefangen.
 Während uns das Essen schmeckt, liegt unter uns, in mildes Abendlicht getaucht, Castrojeriz. Allmählich verfliegt mein Zorn über den barmherzig lächelnden Herbergsvater und all die anderen freundlichen Menschen.
 Der Anblick verzaubert mich und ich empfinde ihn als großes Geschenk. Still und andächtig verfolge ich, wie die Abendsonne versinkt. Ein grandioses Schauspiel, das von einem anderen abgelöst wird, als sich der Sternenhimmel öffnet. Ich sauge die Bilder in mich auf, bis mir die Augen überlaufen. Und ich muss weinen. Vor Glück.
 
 
  11. Wandertag: Castrojeriz – Frómista – 26 km
 
 Des Nachts sind wir zwar ein paar Mal von der Decke gerutscht, aber im Großen und Ganzen war es gar nicht so übel. Die Sonne steht schon am Himmel, als wir aufbrechen. Komisch, irgendwie fühle ich mich heute nicht so fit... egal.
 Zunächst geht es ein ziemliches Stück bergauf, an der anderen Seite wieder runter und so erreichen wir unseren ersten Rastplatz.
 Am Brunnen labe ich mich an dem kühlen Wasser.
 Igittigitt! Das schmeckt ja grausig. He, Inka! Kannst du deine Zähne nicht woanders putzen?
 Ich döse ein bisschen vor mich hin. Dabei spüre ich jeden Knochen einzeln. Nein, heute geht es mir wirklich nicht gut.
 Nachdem wir gefrühstückt haben und es weitergehen soll, kann ich kaum noch aufstehen. Alles, aber auch alles tut mir weh. Schmerzen bis in die hinterste Kralle.
 Inka schaut mich ganz überrascht an. Sie lacht und sagt: „Was ist denn mit dir los?“
 Sie hat gut lachen und marschiert los. Ich schleiche hinter ihr her. Die reine Quälerei. Dann scheint sie zu merken, dass mit mir irgendetwas nicht stimmt, ist besorgt und trägt mich ein Stück. Aber ich bin ihr zu schwer. Und so trotte ich wie ein Häufchen Elend hinter ihr her.
 Kurz hinter der kleinen Kirche San Nicolas hocken zwei Männer auf der Brücke, die über den Pisuerga führt, und angeln. Meine traurige Gestalt erweckt wohl Mitleid, denn einer schenkt mir sein Mittagsbrot. Oh, wie ich diesen spanischen Schinken liebe... Rasch die Butter abgeleckt, aber das Brot, nein, das sollen sie den Fischen spendieren.
 Kaum stehe ich auf, spüre ich wieder diesen Schmerz in allen Gliedern. Ich schlurfe jetzt nur noch.
 Nach einer Weile geht es etwas besser.
 Trotzdem, der Tag erscheint mir unendlich lang. Zum Glück finden wir gleich auf Anhieb ein Zimmer. Ich bin froh mich hinlegen zu können. Vielleicht sollte ich gar nicht mehr aufstehen.
 
 Wie benommen wache ich am Morgen auf. Mich fröstelt. Es ist aber nicht unangenehm, eher prickelnd. Die Sonne steht schon hoch am Himmel. Ein großartiger Tag scheint vor mir zu liegen.
 Die Morgenfrische beflügelt mich. Ich staune, wie es heute Morgen duftet, wie frisch und jungfräulich alles ist. Laut Reiseführer erwartet uns nach etwa sieben Kilometer ein schöner Rastplatz, die Fuente del Piojo.
 Aber bevor wir an diesen Brunnen gelangen, geht es erst mal weiter den Berg hinauf und dann wieder herunter. Ich habe das Gefühl zu schweben.
 Ich ziehe die Schuhe aus, nehme meine Zahnbürste und fange mit der Morgentoilette an... und das alles im schönsten Sonnenschein. Und weil das Brot so gut schmeckt, genehmige ich mir eine doppelte Portion.
 Einige Bauern aus den umliegenden Ortschaften kommen, um ihre Traktoren mit Wasser aufzufüllen. Sie winken mir freundlich zu.
 Gut gestärkt will ich weiter. Doch was ist mit Tila? Ist sie krank? Sie humpelt, sieht mich an, als sei sie mir bedingungslos ergeben. Ihre Pfoten sind in Ordnung und so hoffe ich, dass sie sich lediglich einen Muskelkater eingehandelt hat. Kein Wunder bei der gestrigen Raserei.
 Ich versuche sie zu tragen, aber das ist unmöglich! Hinten achtzehn Kilo Rucksack und vorn achtzehn Kilo Hund... Das schaffe ich nicht! So muss Tila wohl oder übel laufen.
 Die Gegend ist flach, eintönig, einfach langweilig. Links und rechts Getreidefelder. Mir scheint, als käme ich überhaupt nicht voran. Ich versuche lange Zeit zu Boden zu schauen in der Hoffnung, der Horizont würde beim ersten Blick nach oben schlagartig näher rücken. Aber die Landschaft ändert sich nicht, sieht immerzu gleich aus.
 Nach zwei ärmlichen Dörfern erreichen wir eine Schleuse und überqueren den Kanal von Kastilien.
 Ich bin sehr froh, dass wir in Frómista ein Hostal finden, denn Tila kann kaum noch laufen.
 Völlig erschöpft schläft sie ein.
 
 
  12. Wandertag: Frómista – Calzadilla – 36 km
 
 Ich traue mich kaum, die Augen aufzumachen. Ob meine Knochen noch alle heil sind? Erst mal kontrollieren: linke Pfote, rechte Pfote, vorn und hinten, alles bestens. Mein Kopf sitzt fest und der Schwanz ist auch noch dran. Wunderbar! Die Schmerzen sind plötzlich wie weggeblasen. War wohl doch nur Muskelkater, wie Inka vermutet hat. Die Bezeichnung ist sehr treffend: Katzen und Kater sind ebenso eine Quai wie dieser stechende Schmerz.
 Inka, nun mach schon! Los, pack den Rucksack, ich möchte raus. Nein, das darf doch nicht wahr sein! Ich weiß, dieser Satz ist alltäglich und dumm, aber es regnet in Strömen.
 Es geht über Feld- und Uferwege. Etwa drei Stunden später machen wir die erste Rast. Unter einem Kirchenportal versuchen wir uns vor dem Regen zu schützen. Ich kann gar nicht so schnell zittern, wie ich friere. Inka holt meine Decke aus dem Rucksack und wickelt mich in einen kuscheligen Pullover ein.
 Während sie die Kirche von außen und innen bewundert, kehren allmählich meine Lebensgeister zurück.
 Nach einer halben Stunde brechen wir wieder auf. Der Regen hat etwas nachgelassen und hört schließlich ganz auf. In einem kleinen Städtchen dringt uns das vertraute „No perro!“ ins Ohr und wir beschließen, diesen unfreundlichen Ort schnellstens zu verlassen.
 Der weitere Weg scheint direkt in den Himmel zu führen. Man läuft und läuft und trotzdem sieht es immerzu gleich aus, egal, ob man nach vorn oder nach hinten blickt. Hier ist wirklich nichts los. Tote Hose, weder Häuser noch Hühner, nicht einmal ein Kaninchen... lediglich ein Weg, der sich wie Kaugummi zieht.
 Doch dann tauchen in der Ferne ein paar Häuser auf.
 Nach einer guten Stunde sind wir da: in einem Dorf mit einem Gasthof und einem verdammt gut aussehenden Spanier, der uns ein Zimmer vermietet Ich weiß nicht, wer ihm besser gefällt: Inka oder ich. Ich bin so hundekaputt, dass es mir in diesem Moment egal ist. Ehrlich.
 
 Der Sonntag fängt gut an: mit Kaffee und Kuchen. Im Regenzeug marschiere ich los. Tila scheint es schon viel besser zu gehen und ich bin froh, dass sie wie am Anfang unserer Wanderung herumspringt.
 Der Regen wird immer stärker und schon bald fühle ich ihn auf meiner Haut. Aber da es nicht kalt ist, kann er mich nicht besonders beeindrucken.
 Tila dagegen zittert wie Espenlaub.
 In Villalcázar de Sirga legen wir eine kurze Pause ein. Tila decke ich mit einem Pullover zu. Es sieht lustig aus, da nur noch ihr Kopf herausschaut.
 Die Kirche Santa Maria la Bianca ist sowohl außen als auch innen sehr schön. Als ich eine Kerze anzünden will, fällt mir ein Automat auf. Sobald man eine Münze einwirft, leuchten wie an einem Weihnachtsbaum elektrische Kerzen auf, mal mehr, mal weniger, je nach Geldwert. So etwas habe ich niemals zuvor gesehen. Diese Landschaft ist von einer alten Kultur geprägt und nun hat die ‚Zivilisation’ ihren Einzug gehalten.
 Die Regenwolken hängen noch immer wie ein dichter Vorhang am Himmel, als wir uns wieder aufmachen; zunächst entlang der Landstraße. Einige Gemeinden in Kastilien wollten den Pilgern wohl etwas Besonderes bieten und haben neue Wege direkt neben den Straßen angelegt und gepflastert. Aber zum Glück sind die alten Pfade noch vorhanden und ausgeschildert.
 In Carrión hat es inzwischen aufgehört zu regnen.
 Viele Erwachsene sitzen in den Bars und plaudern miteinander; Kinder laufen lachend durch die Straßen.
 Doch Tila wird ziemlich unfreundlich registriert und so beschließen wir weiterzugehen.
 Der camino ist einsam, sehr flach und verläuft schnurgerade durch die Landschaft. Am Horizont ist nichts, rein gar nichts zu erkennen. Rechter Hand ahne ich das kantabrische Küstengebirge, die Picos de Europa. Es kommt mir so vor, als würden meine Sinne in dieser wenig beeindruckenden Gegend besonders geschärft. Ich fühle mich weit und durchlässig, einfach großartig.
 Bis vor wenigen Minuten hat es noch in Strömen gegossen und jetzt scheint die Sonne. Am Himmel bilden sich augenblicklich spektakuläre Wolkenbilder und gaukeln mir bizarre Landschaften, feuerspeiende Drachen und eine Heerschar Engel vor. Im Spiel des Lichtes wird mir bewusst, wie Stimmungen kommen und gehen, wie unterschiedlich ich manchmal darauf reagiere.
 Mal fühle ich mich sehr einsam, innerlich leer, todtraurig oder nahezu ohnmächtig und ein anderes Mal wiederum empfinde ich die Einsamkeit als etwas Erhabenes, sodass ich mich öffnen kann.
 Mir wird die Möglichkeit geboten, die Erde in all ihrer Schönheit zu riechen, auf einem Blatt den Regentropfen zu sehen, der wie ein Brillant in der Sonne glitzert. Dieses Gefühl, von Stunde zu Stunde zu leben, nichts erreichen zu müssen, weil alles erreicht werden kann oder schon erreicht ist, wünsche ich mir stets bei meiner Shiatsu-Arbeit. Nichts wollen und ohne Absicht sein. Ich meine, erst dann kann wirklich etwas in der Welt, im Leben bewegt werden.
 Unser Nachtquartier finden wir in der Beiz, der Dorfschenke von Calzadilla de la Cueza. Das Zimmer ist gut beheizt, sodass meine Kleidung trocknen kann und auch der Rucksack, der vor Nässe trieft.
 
 
  13. Wandertag: Calzadilla – Sahagún – 23 km
 
 Frischen Mutes machen wir uns auf den Weg. Heute scheint die Sonne, doch es weht ein ziemlich kalter Wind.
 Zunächst geht es die altbekannte N-120 entlang. Wie ich dieses Asphalttreten hasse! Aber zum Glück können wir bald auf einen Feldweg einbiegen.
 In einem kleinen Dorf kaufen wir ein. Anschließend suchen wir eine windgeschützte Stelle und legen eine Pause ein. Der Schinken ist frisch und schmeckt vorzüglich. Ein Zeichen dafür, dass ich wieder ganz okay bin.
 Vor jedem kleinen Dorf ruft Inka: „Tila, warte, ich muss dich anleinen!“
 Recht hat sie, ich fühle mich wesentlich wohler, wenn ich sie an der Leine habe.
 Schon von weitem ist das freudige Gekläffe der Dorfköter zu hören. Ob die aber so friedlich sind, wie sie womöglich aussehen, möchte ich bezweifeln. Ohren und Schwanz hoch, so marschiere ich voraus und zeige meine scharfen Zähne. Inka zieht unterdessen die Leine straff und schwingt ihren Wanderstock.
 Gemeinsam sind wir unschlagbar und ich bin überzeugt, das wissen diese Kreaturen genau. Jedenfalls werden wir nicht belästigt.
 Bei böigem Wind gelangen wir an einen Fluss und fragen uns: links oder rechts? Inka sieht mich unschlüssig an. Bevor ich entscheide, was zu tun ist, kommt ein Traktor angerattert. Der Fahrer ist freundlich und versucht uns mit Händen und Füßen zu erklären, wo die Ortschaft liegt, nach der wir uns erkundigt haben. Doch wir verstehen ihn nicht. Er fährt weiter und Inka schaut ihm eine Weite traurig nach.
 Ohne ein Wort zu sagen, rennt sie plötzlich hinter dem Traktor her. Was soll das denn jetzt werden? Inka verblüfft mich immer wieder. Sie schwingt sich auf das Trittbrett des Ungetüms und fährt trockenen Fußes über den Fluss. Dass sie lacht und mir zuwinkt, finde ich hundsgemein.
 Ich renne mir zwar die Lunge aus dem Hals, doch auf mich nimmt keiner Rücksicht. Mir steigt das Wasser bis zu den Barthaaren. Was soll’s! Augen zu und durch.
 Dass Inka mich am anderen Ufer bedauert, nützt mir überhaupt nichts. Ich bin zum Auswringen nass. Außerdem sehe ich pure Schadenfreude in ihren Augen.
 Leicht beleidigt laufe ich voraus. Es ist früh am Nachmittag, als wir unseren Zielort erreichen. Nach einigen Absagen, die uns ziemlich kalt lassen, finden wir dann eine Bleibe.
 Mit Inka bin ich wieder versöhnt; das hat sie allerdings eine ganze Packung, ‚Wienerli’ gekostet. Na ja, sie ist doch ein Schatzli, mein Fraueli...
 
 Die Sonne täuscht. Es ist lausekalt und der Wind pfeift mir um die Ohren. Deshalb ziehe ich meinen Regenanzug an. Mit Kapuze zu laufen ist recht mühsam, sie behindert mich. Schließlich muss ich sehr genau auf die gelben Pfeile achten. Andere Wege kreuzen den unseren. Bin ich noch auf dem richtigen?
 Als wir an einen Fluss kommen, bin ich zunächst etwas irritiert. Wie soll ich ans andere Ufer kommen? Erfreulicherweise hilft mir ein Bauer weiter. Wir sprechen zwar nicht die gleiche Sprache, aber wir verstehen uns.
 Er nimmt mich auf seinem Traktor mit über den Fluss und der Umweg über die N-120 bleibt mir erspart.
 In Sahagún finden wir nach vier Absagen ein schönes Zimmer.
 Danach gehen wir ein wenig spazieren und picknicken auf dem Kirchplatz. Hier ist es ruhig. Ich beobachte die Störche, die auf dem Kirchturm nisten, und frage mich, ob es die gleichen sind, die uns seit zwei Tagen begleiten.
 Mir ist warm und wohlig zumute.
 Später ruft Walti an und berichtet, seine Mutter sei gestürzt und liege im Krankenhaus. Dass sie operiert werden soll, jagt mir einen Riesenschreck ein. Sie ist eine so liebenswerte alte Dame, voll Freude und Zufriedenheit. Mit ihren fast neunzig Jahren kann sie lachen wie ein Teenager. Ich denke ganz intensiv an sie. Es würde mir sehr weh tun, sie bei meiner Rückkehr nicht mehr anzutreffen. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, sie wird die Operation und die damit verbundenen Strapazen gut überstehen.
 
 
  14. Wandertag: Sahagún – Mansilla – 36 km
 
 Mal Sonne, mal Regen. Ich habe mich schon an diesen ständigen Wetterwechsel gewöhnt. Inka offensichtlich nicht. Bei Regen ist sie nicht so gut drauf und geht mir ziemlich auf die Nerven.
 „Tila, wo steckst du denn jetzt schon wieder?“, regt sie sich ab und an auf. Und das nur wegen des bisschen Regens. Ich habe versucht ihr zu zeigen, dass man sich bloß schütteln muss und schon prallt der Regen an einem ab, wie Speere vom Schutzschild im Kampf mit... zum Beispiel: Karl dem Großen, der nämlich hier in dieser Gegend, ich weiß nicht was gemacht haben soll.
 Anstatt zu begreifen, stöhnt Inka: „Der Rucksack wird immer schwerer.?
 Ich kapiere nicht, warum und weshalb sie diesen schrecklichen Fraß von Trockenfutter mit sich schleppt. Sie weiß doch, dass ich Schinken, Wienerli und Kekse viel lieber fresse. Und leichter sind diese Köstlichkeiten sowieso.
 Da wird der Hund in der Pfanne verrückt. Es quakt und hüpft. Da muss ich hinterher! Inka lacht lauthals. Beinahe wäre ich ins Wasser gefallen. Aber was tut man nicht alles, damit die Stimmung besser wird.
 Der Regen hat aufgehört. Trotzdem ist weit und breit keine Kreatur zu sehen, nicht einmal eine elende. Weil aber gerade eine Sonnenphase eintritt, beschließen wir zu rasten.
 Es scheint, als ob Inka meine Gedanken lesen könnte. Es gibt doch tatsächlich Schinken und Wienerli. Brot muss nicht sein! Na gut, ohne Brot - keine Wurst. Also würge ich das Zeug runter und lächle bonbonsüß.
 „In Mansilla de las Mulas gibt es nur wenige Unterkunftsmöglichkeiten“, sagt Inka.
 Na und?
 Der Dorfpfarrer, dem wir auf dem Weg zur Pilgerherberge begegnen, kommt mir gerade richtig. Meine Strategie steht sogleich fest. Zunächst verfolgen wir ihn bis zu seinem Haus. Falls wir später keinen Schlafplatz finden sollten, werden wir einfach umkehren, seine Wohnung belagern und an seine christliche Nächstenliebe appellieren.
 Mit dieser genialen Idee im Hinterkopf betreten wir sichtlich beruhigt die Herberge. Hier sind lauter nette, junge Leute, die mich und Inka gern aufnehmen. Na, da hat der Pfarrer noch mal Glück gehabt.
 
 Heute stört mich der Regen immens. Andauernd rutscht mir die Kapuze über meine Augen. Auch die ersten Kilometer neben der N-120 sind nicht gerade ein Zuckerschlecken. Nachdem wir ein Dorf passiert haben, liegen vierundzwanzig Kilometer Einsamkeit vor uns. Kein Auto, keine Menschenseele, nichts.
 Während ich einen Fuß vor den anderen setze, hänge ich meinen Gedanken nach. Die Hälfte des Weges habe ich geschafft. Ich bin voller Eindrücke, laufe fast über vor Gefühlen und denke: Alles ist wichtig, nichts ist wichtig!
 Seit ich unterwegs bin, betrachte ich die Welt um mich herum mit anderen Augen. Mir fehlt nichts, wenn etwas nicht so läuft, wie ich es gewohnt bin.
 Im Gegenteil. Ich sehe darin die Chance, etwas Neues zu erleben. Vieles fällt mir zu, einfach so, und die Reise kommt mir wie ein großes Fest vor.
 Es klingt banal, aber heute versuche ich ein Bonbon zu lutschen. Ja, wirklich, ich lutsche es. Normalerweise bin ich ungeduldig und zerbeiße es sofort.
 Diesmal bewege ich das Bonbon bewusst im Mund hin und her und lasse es allmählich zergehen. Dass es mir gelingt, führe ich auf meine innere Ausgeglichenheit zurück. Ich staune, wie sahnig es schmeckt und wie lange der Genuss anhält.
 Der Regen hat inzwischen aufgehört; die Sonne schimmert durch die dichten Wolken. Kurz vor dem Tagesziel müssen wir einen Bach überqueren. Schuhe aus, Hosen hochgekrempelt, mit meinem Wanderstock taste ich mich voran. Er ist mehr als eine Stütze oder Hilfe. Mein Vater hat ihn für mich gesucht, geschält und zurechtgeschnitten. Deshalb gehört er zu mir.
 Sicher erreiche ich das andere Ufer.
 In Mansilla de las Mulas zünde ich eine Kerze für Omi, Waltis Mutter, an. Ich glaube, es hilft ihr, wenn ich an sie denke.
 In der Herberge, die von einer jungen Frau geleitet wird, herrscht viel Betrieb.
 Ich setze mich zu den Pilgern, die vor mir eingetroffen sind. Es sind zwei Spanier, ein Amerikaner und ein Deutscher. Spät am Abend stoßen zwei Italienerinnen zu uns, die mit dem Fahrrad unterwegs sind.
 
 
  15. Wandertag: Mansilla – Hospital de Órbigo – 39 km
 
 Morgenstund hat Gold im Mund? Treffender wäre vielleicht: Morgenstund hat Blei im Hintern. Ich kann gar nicht beschreiben, wie müde ich bin. Aber Inka drängelt: „Es ist schon beinahe acht! Wir müssen los!“
 Ich habe es geahnt. Pausenlos rasen Brummis an uns vorbei, als ob sie an einer Rallye teilnehmen würden. Die Landstraße tötet mir jeden Nerv.
 Nach ein paar Kilometern scheint auch Inka die Nase voll zu haben. Sie stellt sich an den Straßenrand und hebt den Daumen. Autostopp. Keine schlechte Idee. Ich hocke mich brav neben sie, rolle mit meinen wunderschönen braunen Augen und prompt hält einer der Brummifahrer an. Inka sieht mich triumphierend an.
 Das hält man im Kopf nicht aus. Vermutlich bildet sie sich ein, er hätte ihretwegen angehalten, ihrer blonden Haare oder ihres strahlenden Lächelns wegen. Sie hat wohl vergessen, dass ich jedermann hypnotisieren kann. Na gut, ich lasse sie mal in dem Glauben.
 Ganz schön hoch gebaut dieser Lastwagen. Hätte ich nicht gedacht In der Kabine ist es ziemlich eng. Ich bin zwar zwischen Inka und ihrem Rucksack eingeklemmt, aber besser schlecht gefahren als gut gelaufen.
 Der Fahrer scheint sehr nett zu sein und schenkt Inka einen Kaugummi... Und was ist mit mir? Wieso gibt es für mich keinen Schinken? Selbstverständlich hat man mich mal wieder vergessen!
 Warum Inka unbedingt an der Stadtgrenze aussteigen will, ist mir schleierhaft. Also, ich hätte stundenlang weiterfahren können.
 Kurz darauf treffen wir auf die beiden Radfahrerinnen, die wir gestern in der Herberge kennen gelernt haben. Sie schauen uns erstaunt an, da sie uns schon in aller Herrgottsfrühe überholt hatten.
 Nachdem Inka erzählt hat, weshalb wir so schnell waren, verabschieden sie sich.
 Wir folgen den Jakobsmuscheln, die innerhalb der Stadt wie Gold funkeln, und gelangen zu verschiedenen Sehenswürdigkeiten. Na ja, dies und das ist recht interessant und außerdem kann Bildung ja nicht schaden.
 Ich wundere mich, dass wir bei diesem Wirrwarr von Straßen aus der Stadt herausfinden, und bin froh, als wir endlich unser Tagesziel vor Augen haben.
 In einer Gaststätte lernen wir beim Abendessen zwei Schweizer kennen, Ruedi und Margret. Oh, wie ich diese Sprache liebe! Nach all dem Lärm auf der Landstraße klingt sie wie Musik in meinen Ohren und ich bekomme ein bisschen Heimweh nach Walti und unserem schönen Sofa, auf dem wir gern unsere Abende verbringen.
 Danach gehen wir zusammen in die Herberge.
 Ich lege mich gleich hin und träume von meinem Zuhause, dem schönen weichen Bett, dem Garten und meinen Freunden. Ob ich das alles jemals Wiedersehen werde? Na, ich glaube schon, denn schließlich ist ja auch Odysseus nach dem Fall von Troja und seinen Irrfahrten letztlich wieder heimgekehrt. Da ich ebenso tapfer und klug wie dieser Odysseus bin, schlafe ich seelenruhig ein.
 
 Heute erwartet uns eine Riesenstrapaze. An Ruhe und Einsamkeit gewöhnt, kommt mir die Strecke Richtung León wie eine Strafe vor. Nach wenigen Kilometern halte ich es nicht mehr aus und entscheide mich für Autostopp.
 Ich staune, als einer der Lastwagen gleich anhält. Der Fahrer hilft Tila und mir in die Kabine und erzählt, dass er nach Santiago de Compostela fährt. Sein Angebot, mich bis dorthin mitzunehmen, lehne ich dankend ab.
 „Señora, Sie könnten bereits vor Einbruch der Nacht in Santiago sein“, wendet er ein, als ich an der Stadtgrenze von León dann tatsächlich aussteige. Offensichtlich hält er mich für verrückt, denn er schüttelt den Kopf.
 Nach meiner Berechnung werde ich noch etwa eine Woche brauchen, um Santiago zu erreichen. Ich habe Zeit - wie gut sich das anhört - viel Zeit, mich in Ruhe umzuschauen und dann anzukommen.
 Auf direktem Weg gehen wir zur Kathedrale von Leon, deren Glasfenster aus dem 13. bis 17. Jahrhundert stammen. Um diesem beklemmenden Gefühl zu entgehen, das mich meistens im Innern einer Kirche umfängt, bleibe ich draußen auf dem Kirchplatz sitzen. Ich zähle drei Storchenfamilien, die offenbar im Kirchturm ihre Nester gebaut haben.
 Nach dieser kurzen Rast orientiere ich mich an den goldenen Jakobsmuscheln, die mich zum ehemaligen Kloster San Marcos führen. Heute wird diese monumentale Anlage aus dem 16. Jahrhundert als Parador genutzt. Die Verzierungen und Ornamente auf der etwa einhundert Meter langen Fassade beeindrucken mich.
 Während ich aus dem Staunen kaum herauskomme, erinnere ich, dass Christobal, eine der beiden Australierinnen, am 1. Mai mit ihren Freunden hier ihren Geburtstag feiern möchte. Ich schreibe einen Geburtstagsgruß und gebe den Brief an der Rezeption ab.
 Ob sie ihn wohl erhält?
 Gegen Mittag stürzen wir uns wieder in den Verkehr und wandern bis Hospital de Órbigo; immer der Straße entlang, die einer Autobahn ähnelt. Ich nehme das Laufen über den Asphalt ruhig an, denn es gehört ebenso zu meinem Weg wie alles andere auch.
 Nachdem wir am späten Nachmittag eine prächtige Brücke überquert haben, liegt die Ortschaft Órbigo vor uns. Die Pilger, die hier übernachten wollen, müssen sich den Schlüssel zur Herberge in der Dorfgaststätte abholen. Also nichts wie hin.
 Doch die Schlüssel sind weg. Der Wirt führt mich zu einem Tisch, an dem zwei Pilger aus der Schweiz sitzen, Margret und Ruedi.
 Nachdem ich Platz genommen habe, trinken wir Kaffee und tauschen Erfahrungen aus. Da die beiden gegen Tila nichts einzuwenden haben, dürfen wir in der Pilgerherberge übernachten.
 Nachdem wir beschlossen haben, am Abend gemeinsam zu kochen, sehen wir uns zuerst den Ort an, kaufen ein und suchen dann verzweifelt einen Bäckerladen. Es dauert eine ganze Weile, bis ich zufällig hinter einer offenen Tür eine Brotknetmaschine entdecke. Das Brot ist frisch und schmeckt köstlich, wie wir später feststellen.
 Während wir über Gott und die Welt, die Schweiz und unser gemeinsames Ziel reden, treffen weitere Pilger ein: vier Franzosen und zwei Spanier.
 Einer der Franzosen überrascht mich. Zunächst bestellt er mir viele Grüße von meinem netten LKW-Fahrer und überreicht mir ein Papier, das ich noch gar nicht vermisst habe: eine Seite aus meinem Reiseführer.
 Ich staune und erfahre dann, dass der Fahrer auf den nächsten Pilger wartete, weil er meinte, ich würde diese Seite dringend benötigen.
 Ist das nicht großartig? Immer wieder erfahre ich Gutes. Verschmitzt lächelnd fügt der Franzose hinzu: „Aber vielleicht hat er ja nur gewartet, weil er befürchtete, Sie würden sich ohne diesen Plan verlaufen.?
 
 
  16. Wandertag: Órbigo – Santa Catalina – 25 km
 
 Mannomann, mir bleibt aber auch nichts erspart. Jetzt muss ich Inka doch tatsächlich aus den Klauen eines Ungeheuers befreien. Vermutlich ein Drache oder ein Lindwurm, jedenfalls ein Scheusal.
 Wie wir in diese dunkle Höhle geraten sind? Woher soll ich das wissen? Ist ja auch egal. Da sich dieses Untier über Inka beugt, schrillen bei mir sämtliche Alarmglocken. Das kann ich nicht zulassen. Ich setze zum Sprung an, will ihm an die Kehle... doch in diesem Moment wird es hell, irrsinnig hell. Ich stehe wie gelähmt und blinzle mehrmals. Ich fass’ es nicht. Dieses Monster ist gar kein Monster, es ist Ruedi. Er weckt Inka. Na, da hat er gerade noch mal Glück gehabt. Ich rolle mich schnell wieder ein und träume weiter.
 Erfreulicherweise artet es nicht zum Albtraum aus, als wir dann zu viert losmarschieren. Margret und Ruedi vertrauen sich bedenkenlos meiner Führung an. Recht so, denn solange ich sie nach allen Seiten hin absichere, kann ihnen wirklich nichts passieren.
 Demnach keine besonderen Vorkommnisse.
 Erst als Inka die Stadt Astorga an kündigt, halte ich es für ratsam, wenigstens sie an die Leine zu nehmen.
 Sicher ist sicher.
 Trotzdem kann ich es nicht verhindern, dass all meine Reisebegleiter vor dem strömenden Regen in eine kleine Bar flüchten. Na gut, sollen sie ein wenig trocknen und verschnaufen.
 Während der Regen allmählich weniger wird, kommt heftiger Wind auf, der mir, ich gebe es zu, ganz schön zusetzt.
 Aber deshalb muss man doch nicht gleich umkehren, wie die beiden Radfahrer, die uns entgegenkommen.
 Sie erzählen, auf dem nächsten Pass liege zu viel Schnee, da gäbe es kein Durchkommen.
 Papperlapapp. Zu viel Schnee, das gibt’s gar nicht. Für mich wäre Schnee jetzt gerade richtig. Also nichts wie weiter.
 Die Landschaft lässt sich leicht überblicken. Aber von Schnee ist weit und breit nichts zu sehen. Deshalb kümmere ich mich lieber mal um den Wildbestand.
 „Geh weg da, das stinkt ja bestialisch!“, schreit Inka und rümpft die Nase.
 Diese Frau hat ja keine Ahnung, soll sich mal nicht so haben, schließlich stöbere ich nicht jeden Tag einen... Berglöwen auf. Natürlich, ein panthera leo, eine der gefährlichsten Großkatzen, die...
 „Tila!“, schreit Inka wieder.
 Reg dich nicht so auf. Ist ja schon gut!
 Schlecht dagegen finde ich, dass sie petzt. Warum klärt sie unsere beiden Eidgenossen auf und erzählt, dass es sich bloß um ein Skelett handelt, mit dem ich gerade kämpfen wollte? Spielverderberin!
 Für mich ist der Tag gelaufen.
 
 Es ist ein wahres Vergnügen fern der Landstraße durch die Ebene zu wandern, die nach und nach hügeliger wird.
 Bäume, Sträucher und das Gras der Wiesen saugen sich mit Wasser voll. Obschon es in Strömen regnet, sehe ich bereits von weitem das Kreuz von Santo Toribio und ahne unter den dunklen, dichten Wolken die nächste Stadt: Astorga.
 Aber zuvor kommen wir in den Ort San Justo de la Vega. Nachdem Margret und Ruedi ein gutes Wort für Tila eingelegt haben, dürfen wir uns in der kleinen Bar aufwärmen.
 Der Kaffee ist heiß und tut gut. Allmählich löst sich die Starre aus meinem Gesicht und meinen Händen.
 Als wir aufbrechen, trommelt wieder der Regen auf meine Schultern. Ich ziehe die Kapuze meines Regenanzugs fest um den Kopf, doch der Wind weht mir weiter eisige Schauer ins Gesicht.
 Von Astorga sehen wir bei dieser ungemütlichen Witterung nahezu nichts, außer der Kathedrale und einem kleinen Lokal, wo wir pausieren.
 In der hügeligen Landschaft von Maragateria bricht dann zum ersten Mal an diesem Tag die Sonne durch, aber das Gehen wird immer beschwerlicher. Die Wege sind aufgeweicht, breite Reifenspuren haben sich mit Wasser gefüllt und die rote Erde klebt an den Schuhen.
 Am frühen Nachmittag erreichen wir Santa Catalina de Somoza. Auf den Straßen ist keine Menschenseele zu entdecken. Die Einwohner scheinen sich in ihre Häuser, die überwiegend aus Bruchstein geschichtet sind, verkrochen zu haben.
 Den Schlüssel zur Herberge, die in einer ehemaligen Dorfschule untergebracht ist, wird uns von einem jungen Mann in der Dorfbar ausgehändigt.
 Dort essen wir am Abend eine gute Suppe.
 Während Ruedi und Margret Karten spielen, versuche ich zu telefonieren. Doch der Akku meines Handys ist leer. Das einzige Telefon des Dorfes befindet sich zum Glück im Haus gleich nebenan.
 Es ist mit einem Zählwerk ausgestattet. Obschon es aus vorsintflutlicher Zeit zu stammen scheint, funktioniert es tadellos. Walti ist jedoch nicht zu Hause. Deshalb versuche ich es bei seiner Mutter. Sie meldet sich auch sofort und scheint wohlauf zu sein, denn sie scherzt mit mir. Sie will über alles reden, bloß nicht übers Krankenhaus; dann reicht sie den Hörer weiter. Auch Walti hört sich sehr gut an. Ich freue mich, mit ihm zu reden und darauf, ihn recht bald wiederzusehen.
 Bevor ich zu Bett gehe, habe ich das Bedürfnis, einen weiteren Knoten aus Waltis Taschentuch zu öffnen.
 Nachdem ich bereits eine weiche Ecke aufgeknotet habe, entscheide ich mich diesmal für eine harte. Aber für welche? Die eine Form fühlt sich rund und sehr flach an, wie eine winzige Uhr. Die andere ist ebenfalls rund. Ich denke an eine Murmel, eine Spielkugel aus meiner Kindheit.
 Dieser Gegenstand interessiert mich am meisten.
 Nach altbewährter Methode löse ich den Knoten.
 Wieder ein Zettel, in den ein kleiner, glatter, runder Stein eingewickelt ist. Ich lese: „Ein kleiner Stein aus unserem Garten. Ich bin so froh, wenn du wieder hier bist. Du auch?”
 Oh ja! Ich freu mich schon darauf. Vermutlich wird dann der Flieder blühen und die Enten schnatternd ihren Nachwuchs beschützen und...
 Schluss damit, sonst bekomme ich noch Heimweh, immerhin liegen noch etwa 260 km zwischen mir und Santiago de Compostela. Rasch knote ich den Stein aus Erlenbach wieder ein.
 
 
  17. Wandertag: Santa Catalina – El Acebo – 30 km
 
 Margret und Ruedi haben wohl verschlafen. Bis die beiden ihre Sachen gepackt und gefrühstückt haben, inspizieren Inka und ich das Dorf.
 Zunächst ist alles still bei unserem Rundgang. Doch plötzlich schießt eine Horde schlecht erzogener Artgenossen auf uns zu und kläfft wie verrückt. Inka ist nicht wirklich in Gefahr. Ich brauche mich bloß ein wenig aufzubäumen und schon kuschen die dämlichen Köter. Argwöhnisch blicken sie hinter uns her.
 Unsere Schweizer Freunde sind inzwischen zum Abmarsch bereit. Nachdem wir in der Beiz den Schlüssel zu unserem Nachtquartier abgegeben haben, verlassen wir das Dorf und kommen an einer Viehweide vorbei.
 Pfoten mäßig links von mir steht ein Esel am Zaun und glotzt mich so blöd an, als hätte er noch nie in seinem Leben einen Hund gesehen. Während ich ihm unmissverständlich die Meinung geige, ihm klarmache, was ich von ihm und seinen Verwandten halte, fängt der doch tatsächlich an, mit seinen langen Ohren zu wackeln.
 Als er dann jeden meiner Sätze lauthals mit einem stupiden ,Ia’ bestätigt, lasse ich ihn einfach stehen.
 Aber ich will nicht ungerecht sein. Vermutlich war er von mir ziemlich beeindruckt, denn schließlich begegnet er nicht jeden Tag einem Hund, der so weit gereist und weltgewandt ist, wie ich es nun mal bin.
 Unermüdlich marschieren wir bergauf und erreichen bald ein gottverlassenes Dorf.
 Ruedi und Margret unterbrechen hier ihre Wanderung und wollen mal länger ausruhen.
 Es ist lausekalt. Im Dorf erzählt man uns, es sei trotz des Schnees möglich den Pass zu überqueren. Ich kann es kaum erwarten und treibe Inka zur Eile an.
 Ja, und dann ist es soweit. Schnee, wie versprochen. Die kleinen, weißen Flecken werden zunehmend größer und bilden irgendwann eine geschlossene Schneedecke. Die ist so hoch, dass ich regelrecht springen muss, um überhaupt durchzukommen.
 Ein wirklich abenteuerliches Vergnügen.
 Aber was ist das?
 Bilde ich es mir nur ein oder tragen die Blüten und Blätter des Heidekrauts tatsächlich Helme aus süßer Sahne? Ich schnuppere und schlecke. Igitt! Gefrorenes Wasser, das nach gar nichts schmeckt. Schnell weiter, sonst frieren meine Pfoten am Boden fest.
 Nachdem wir einen Hügel mit Eisenkreuz passiert haben, geht es immer bergab, und das heißt für uns, nach und nach Abschied nehmen vom Schnee.
 Ja, und jetzt liege ich hinter einem warmen Ofen und ärgere mich ein wenig über mich selbst. Ich muss wohl schneeblind gewesen sein. Wie hatte ich bloß die Schneeungeheuer vergessen können?
 Sie zu jagen, das wäre ein Heidenspaß gewesen! Na ja, vielleicht ein anderes Mai.
 
 Das Wetter sieht nicht besser aus als gestern. Dicke schwarze Wolken versuchen sich über die Montes de Leon zu wälzen.
 Auf den ersten Blick ist Santa Catalina, das wir nun hinter uns lassen, ein hübsches Dorf mit Häusern, deren Fenster und Türen blau gestrichen sind. Beim näheren Hinschauen stelle ich fest, dass die Farbe bröckelt und die meisten Häuser unbewohnt sind. Von den etwa 500 Menschen, die hier einst gelebt haben, sind knapp 40 übrig geblieben. Während die jungen Leute, die keine Arbeit fanden, längst in die Stadt und zum Teil in andere Erdteile gezogen sind, werden die älteren bleiben und bis zu ihrem Tod ausharren.
 Der Weg führt uns durch mehrere solcher Dörfer, die allmählich zerfallen. Und ich begegne, wenn überhaupt, ausschließlich alten Leuten.
 In Rabanal del Camino verabschieden sich Margret und Ruedi, da sie einen Ruhetag einlegen wollen.
 Die Zeit mit den beiden war eigentlich angenehm. Aber wenn man gemeinsam etwas unternimmt, muss jeder auf den anderen Rücksicht nehmen. Es gilt sich anzupassen, ob man will oder nicht. Man vereinbart mit Blick auf die Uhr eine bestimmte Zeit, zu der man losgehen will, zu Abend isst und...
 Ich werde die Gespräche mit den beiden wahrscheinlich vermissen, aber zugleich freue ich mich, wieder allein unterwegs zu sein: mit mir und meinen Gedanken.
 Der Regen stimmt mich nicht verdrießlich.
 Ich schenke meine Aufmerksamkeit den Sträuchern, die am Wegrand blühen und mir wie lodernde Flammen Vorkommen, und spüre, wie ich mich von Kilometer zu Kilometer besser fühle.
 Es stört mich kaum, dass aus dem Weg nach Foncebadón ein schlammiger Bach geworden ist, der Regen nahezu wie ein Wasserfall vom Himmel herunterklatscht und allmählich in Schnee übergeht. Die Passhöhe, auf der vor ein paar Tagen noch das Heidekraut geblüht hat, ist inzwischen dick eingeschneit. Auch Tila scheint sich wohl zu fühlen, denn sie springt wie eine Verrückte herum und ist kaum zu bändigen.
 Kurz darauf erreichen wir das ,Cruz de Ferro’.
 Aus einem gewaltigen Steinhügel ragt ein Eichenstamm, auf dessen Spitze das Eisenkreuz thront, in den Himmel.
 Die meisten Santiago-Pilger folgen einer alten Tradition und fügen dem Hügel einen Stein aus ihrer Heimat hinzu. Für mich ist es ein feierlicher Moment, als ich meinen Stein, den ich aus Erlenbach mitgebracht habe, zu den anderen werfe.
 Wehmütig denke ich an zu Hause, an den Zürichsee, und dabei überkommt mich ein zwiespältiges Gefühl.
 Ich frage mich: Was ist Heimat? Einerseits bin ich aufgebrochen, um in die ,weite Welt’ zu ziehen, etwas Neues kennen und verstehen zu lernen. Anderseits empfinde ich es als schmerzlichen Verlust, nicht an dem Ort geblieben zu sein, wo meine Wurzeln sind, wo ich als Kind gelacht habe und meine Eltern heute noch leben. Denn dort ist alles, was mir lieb und wert ist.
 Ist Heimat das Stückchen Erde, wo ich jeden Baum und jeden Strauch kenne? Ist es das Wohl-Bekannte, Vertraute? Oder sind es die Menschen, die tagtäglich um mich sind, mein Partner oder meine Freunde?
 Wahrscheinlich alles zusammen.
 Ich habe vor einiger Zeit eine neue Heimat gewählt und rasch gemerkt, wie sehr ich mich Erlenbach, diesem kleinen Dorf am Zürichsee verbunden fühle. Ich liebe unseren Garten, die Bäume und die Berge, die hinter der Meilener Kirche im Morgenlicht aufblitzen. Das alles ist mir lieb und wichtig.
 Aber was wäre, wenn es Walti nicht geben würde? Er vermittelt mir die Nähe und die Ruhe, die es mir ermöglichen, all diese schönen Dinge um mich herum wahrzunehmen und damit zu meinem Zuhause, meiner Heimat werden lassen. Auch Waltis Mutter, die mich vom ersten Augenblick an in ihr Herz geschlossen hat, gehört dazu.
 Letztlich sind es die Menschen in Erlenbach, die mich glücklich machen. Sobald wir uns miteinander unterhalten, empfinde ich so intensiv, dass meine Haut anfängt zu prickeln. All das ist Heimat für mich. All das ist wichtig in meinem Leben und hilft mir über die Augenblicke hinweg, in denen ich mich allein und nahezu ausgestoßen fühle, weil ich nicht akzeptiert werde, aus welchen Gründen auch immer.
 Darüber hinaus verkörpert meine Tochter Alexandra Heimat für mich. Ich bin glücklich, dass es sie gibt, dass sie ein Stück von mir ist. Zugleich bin ich sehr stolz auf sie, wie sie ihre Arbeit und letztlich ihr Leben meistert. Es wäre schön, mit ihr hier an diesem Ort zu sitzen und zu erfahren, wie sie empfindet.
 Meine Überlegungen werden jäh unterbrochen, da nach und nach mehrere Radfahrer eintrudeln. Der Leiter der Gruppe weiß viel über den Jakobsweg zu erzählen, aber nichts Neues.
 Nachdem mehrmals die Fotoapparate geklickt haben, fahren sie winkend und lachend im Trupp davon.
 
 Leise rieselt der Schnee... auf die Ruinen von Manjarín. Außer Tomás lebt niemand mehr in diesem Dorf. Vor seinem Haus gackern ein paar Hühner, ansonsten herrscht Totenstille. Bei einer Tasse Tee erzählt Tomás, wie er vor vielen Jahren als Pilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela hier vorbeikam. Spontan entschloss er sich in Manjarín zu bleiben und fortan ein Leben als Einsiedler zu führen. Einfach so. Und hier will er in Frieden sterben.
 Nachdem ich den höchsten Punkt des Tages von 1.517 Metern hinter mir habe, wehen mir Regenschauer ins Gesicht. Mein Rücken ist starr vor Kälte und Nässe, als ich am späten Nachmittag nach El Acebo gelange.
 Die Tür zur Herberge steht offen. Mein Nachtquartier ist zwar gesichert, aber es ist kalt und ungemütlich.
 Gerade als ich mich damit abgefunden habe, klopft es und in der Tür steht eine vielköpfige Familie.
 Die Señora versucht mir klarzumachen, dass ich mir in dieser Hütte und bei dieser Temperatur eine Lungenentzündung einhandeln würde. Ohne zu widersprechen, lasse ich mich im ,El Molino’ einquartieren, einer nagelneuen Pilgerherberge. Die Betten sind fabrikneu und die Matratzen noch in Plastikfolie eingeschweißt.
 Nachdem der Ofen beheizt ist, bekomme ich ein einfaches, aber köstliches Essen. Ich empfinde auch diesen Tag als gelungen und bin der spanischen Familie dankbar, die mich freundlich umsorgt hat.
 
 
  18. Wandertag: El Acebo – Cacabelos – 33 km
 
 Katzen rieche ich drei Meilen gegen den Wind. Ais ich sie dann sehe, juckt es mir ganz ordentlich in den Pfoten. Sie lungern vor Haustüren, auf Fenstersimsen, gar auf den Dächern. Eigentlich überall. Aber ich lasse sie in Ruhe, denn schließlich habe ich mit Inka abgemacht, dass wir uns innerhalb eines Dorfes gegenseitig an der Leine halten. Eine ziemlich blöde Vereinbarung. Aber versprochen ist versprochen!
 Die Ginsterlandschaft gefällt mir recht gut. Hier kann ich mich mal so richtig austoben. Die Schafherde, der wir begegnen, lasse ich aber links liegen. Ich unterhalte mich ein wenig mit dem zotteligen Artgenossen, der sie bewacht. Wir stecken die Köpfe zusammen und tauschen allgemeine Erfahrungen aus. Dabei gewinne ich den Eindruck, dass er eigentlich nett ist.
 Pustekuchen! So was Großkotziges ist mir selten über den Weg gelaufen. Anstatt mir zu erklären, warum seine Schützlinge ständig blöd blöken, erzählt er mir, wie wichtig seine Arbeit ist. Plötzlich faselt er, er fühle sich als Begleiter zwischen den Welten der Lebenden und der Toten. Und dann wirft er mir aus heiterem Himmel auch noch vor, mein einziges Ziel sei es, etwas zu fressen und eine warme Bleibe zu finden.
 Ich glaube, ich war das erste Mai in meinem Hundeleben sprachlos und habe ihn kopfschüttelnd stehen lassen. Dazu fiel mir nichts mehr ein.
 Außer: Blöder Hund, philosophischer!
 Dieses Gespräch und später die Lauferei durch die winkligen Gassen irgendeiner Stadt haben mich ziemlich erschöpft. Inka scheint es weder zu merken noch zu interessieren. Ich beiße sie zärtlich in die Waden, in den Po. Keine Reaktion. Erst als ich mich wie ein Sklave vor ihre Füße schmeiße, zeigt sie Mitleid.
 Wir legen uns eine Weile ins Gras und machen ein Nickerchen.
 Lustlos bringe ich den Rest des Weges hinter mich. Ich stöhne, weil es viel zu warm ist. Gestern Schnee und heute ein Wetter wie mitten im Sommer. Meine Pfoten sind so was von kaputt, vermutlich werde ich nie wieder einen Knochen halten können.
 
 Die Sonne lugt über die Berge und vertreibt nach und nach die Wolken. Der weißblütige Ginster wächst hier schulterhoch und duftet herrlich. Es sieht so aus, als liege ein schöner Tag vor mir.
 Während ich gestern eine Winterlandschaft durchwandert habe, geht es heute in die des Frühlings.
 Ich weiß nicht, wo ich zuerst hinschauen soll. Beim Anblick des blühenden Lavendels und der Rosen, die hellrot und violett schimmern, laufen mir die Augen über.
 Wie gebannt bleibt mein Blick an einem stattlichen alten Baum hängen. Es kommt mir so vor, als hätte er ein Gesicht, das lächelt, und Arme und Hände, die mir winken. Je näher ich komme, um so vertrauter wird er mir. Ich kann nicht anders, ich umarme ihn zärtlich und spüre seine Kraft, die zu meiner wird.
 Wir strecken unsere Arme gemeinsam in den Himmel, um mit dem Wind und den Vögeln zu singen und zu jubilieren...
 Ich muss verrückt sein. Doch ich fühle mich großartig, unabhängig und völlig frei. Vom Rhythmus meiner Schritte getragen mache ich mir das harmonische Zusammenspiel von Himmel und Erde bewusst, von Tag und Nacht, von Sonne und Mond, von Luft und Wasser.
 Einige Stunden später hat mich die Zivilisation wieder. In Ponferrada, der Hauptstadt des Bierzo, wird Eisen und Stahl erzeugt.
 Die Templerburg aus dem 12. Jahrhundert liegt gleich an der Brücke über den Sil und sicherte einst den Weg der Pilger nach Santiago. Die Ruinen beeindrucken ebenso wie die Wohnhäuser, die mir größer und gepflegter Vorkommen als anderswo.
 Nachdem wir die endlosen Kohlehalden am Rand der Stadt hinter uns gelassen haben, wandern wir in Weinberge und danach über saftige Wiesen.
 Als wir ein wenig müde sind, legen sich Tila und ich ins Gras. So einfach ist das. Ich genieße die Sonne, die mir warm ins Gesicht scheint. Mein Blick schweift von den fetten Kühen, die um uns herum grasen, zu den Kirschbäumen, die eine reiche Ernte ahnen lassen. Sie stehen in einem wunderbaren Kontrast zu den schneebedeckten Bergen am Horizont, wo sich dunkle Wolken ballen.
 Auf den Straßen von Cacabelos herrscht buntes Treiben. Die Dorfbewohner feiern ein Fest. Sie tanzen und singen zur Gaita, dem galicischen Dudelsack. Tila und ich sind selbstverständlich dabei.
 
 
  19. Wandertag: Cacabelos – O Cebreiro – 35 km
 
 Die Galicier sind fast so ausdauernd wie ich. Eine Zeit lang habe ich gedacht, die wollen überhaupt nicht mehr aufhören mit Singen und Tanzen und so. Na ja, Feste soll man feiern, wie sie fallen. Also schön war’s schon. Auch das Gedudele aus den Sackpfeifen. Nur als ich mitsingen wollte, hat mir Inka eins aufs Maut gegeben. Danach hat es nicht mehr so viel Spaß gemacht. Ich habe meine Ohren auf Durchzug gestellt und mich verkrochen.
 Der Tag fängt gut an. Kaum sind wir auf der Landstraße, stoppt ein Auto vor uns. Der Fahrer ruft uns irgendetwas zu und hält dann eine Tüte aus dem Fenster. Ein köstlicher Duft steigt mir in die Nase.
 Was mag das sein? Nun los, Inka, geh schon hin! Oder riechst du nichts? Mannomann, sie scheint gestern zu tief ins Glas geschaut zu haben. Sie kapiert erst, als ich sie ins Knie stupse. Nein, mitfahren will sie nicht, wir laufen selbstverständlich.
 He, und was ist mit der Tüte?
 Beinahe wäre ich leer ausgegangen. Aber der Mann ist freundlich und wirft mir ein Stück Kuchen zu. Leider nur ein einziges. Hm, hm, lecker!
 Inka erzählt heute erstaunlich viel. So in die Richtung von Sünde und sündigen. Keine Ahnung, was das soll. Ich kann mich nicht erinnern, jemals in meinem Hundeleben gesündigt zu haben.
 Oder doch?
 Im Moment liege ich neben dem Ofen in einer kleinen Bar und schon kommen mir Zweifel. Sicher ist: was in den letzten Stunden passiert ist, kann ich nur als Strafe werten. Aber wofür? Also, angefangen hat es auf Nationalstraße VI. Die ging rauf und runter und dann nur noch rauf. Mir wäre fast die Puste ausgegangen. Später wateten wir auf einem Weg, der überflutet war.
 Zu allem Überfluss wechselte das Wetter ständig. Mal Sonne, mal Regen. Und jetzt bin ich kaputt. Aber eine Sünde fällt mir beim besten Willen nicht ein.
 Wer schläft, sündigt nicht. Also schlafe ich den Schlaf der Gerechten.
 Als ich die Augen wieder auf mache, glaube ich zu träumen. Da sitzt doch tatsächlich eine Katze direkt vor meiner Nase. Also, die kann froh sein, dass Inka und ich angelernt sind. Blöd scheint das Vieh nicht zu sein. Sie springt zwar mal kurz auf, merkt aber sofort, dass ich ziemlich bewegungsunfähig bin. Ich stehe kurz vor einem Wutanfall, als sie sich wieder genau vor meiner Nase plaziert. Aber sie hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der kommt nämlich und schmeißt das hinterhältige Geschöpf aus dem Lokal. Es gibt also doch noch Gerechtigkeit.
 Draußen war es dann ziemlich ungemütlich, so wie in einer Waschküche. Und ob die Freiheit über den Wolken grenzenlos ist, kann ich nicht beschwören. Wir sind nämlich im Regen durchgegangen. Es war so neblig, dass man die Pfoten nicht vor Augen sehen konnte.
 
 Das Dorf schläft, als wir früh am Morgen aufbrechen. Nur ein Hund in der Ferne scheint wach zu sein und bellt müde.
 Sobald wir den Fluss Cúa überquert haben, geht es die Landstraße entlang. Nach ein paar Kilometern hält ein Autofahrer an und überreicht mir freundlich ein Stück Kuchen, das noch warm ist und wunderbar duftet.
 Ich erfahre, dass er Jatos heißt und in Villafranca eine Pilgerherberge bewirtschaftet. Der Ort liegt zwar auf meinem Weg, aber sein Angebot mitzufahren lehne ich dankend ab. Er zwinkert mir zu, lädt mich spontan in sein Haus ein und meint, ich solle einfach vorbeikommen, der Kaffee sei dann fertig.
 Jatos’ Haus, das neben der Santiago-Kirche liegt, ähnelt mehr einem Schuppen. Innen ist es jedoch urgemütlich, obschon es unangenehm zieht. Um mich nicht zu erkälten, streife ich mir einen dicken Pullover über.
 Überall sind Blumen. An den Wänden hängen unzählige Bilder und Sprüche von Pilgern, die in verschiedenen Sprachen allerlei Geschichten erzählen. Ich setze mich an den großen Tisch, während Jatos’ Frau den Kaffee frisch zubereitet.
 Jatos schwärmt unterdessen von seinem neuen, großen Haus, das gleich nebenan entsteht, mit Duschen und allem Komfort. Dort wird keine Zugluft herrschen, versichert er mir und sieht mich stolz an.
 Ob es ihm gelingt, die heimelige Atmosphäre, die sein Holzverschlag derzeit ausstrahlt, in sein modernes Haus hinüberzutragen? Ich vermag es nicht zu sagen, aber ich wünsche es ihm.
 In Villafranca sind nahezu alle Balkone mit Blumen geschmückt. Kaum glaube ich, den schönsten Balkon ausgemacht zu haben, sehe ich einen noch schöneren.
 Zufrieden und fröhlich ziehen wir weiter. Mal an verkehrsreichen Straßen entlang und mal in die Einsamkeit. Ein ständiger Wechsel, ein Auf und Nieder, wie im so genannten richtigen Leben.
 In einem kleinen Ort gehe ich schnurstracks in eine Kaffeebar. Früher, es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, habe ich stets gefragt, ob ich Tila mit hineinbringen dürfe, und wurde abgewiesen. Tatsächlich, wenn ich nicht frage, habe ich eine viel größere Chance auf ein warmes Plätzchen. Ich trinke Kaffee und ruhe mich ein wenig aus.
 Draußen empfängt uns weicher, grauer Regen. Wir gehen wie durch eine kalte, nasse Nebelwand. Ich sehe zwar die mit Butterblumen gesäumten Wiesen, auch weidende Kühe und Pferde, aber die Landschaft kann ich in ihrer Schönheit nur ahnen.
 Aus dem Pfad, der sich steil bergauf schlängelt, ist ein schlammiger Bach geworden. Ich muss sehr genau hinschauen, wo ich hintrete, sonst rutscht mir der Boden unter den Füßen weg. Immer weiter bergauf.
 Ein Hirte, der mir mit vier Kühen, drei Schafen und einem Esel entgegenkommt, bringt ein wenig Abwechslung in die Einöde. Wir grüßen uns freundlich und schon versinken meine Füße wieder in der Matsche.
 Mit jedem Höhenmeter wird die Sicht noch schlechter, als sie schon ist. Ich sehe kaum mehr die Hand vor meinen Augen.
 Wir verlassen Kastilien und befinden uns nun in Galicien. In O Cebreiro regnet es in Strömen. Das Dorf liegt etwa 1200 Meter hoch. Einst war es bedeutsam, da sich hier eines der wenigen Hospitäler auf dem Jakobsweg befand.
 Mir springen sofort die Häuser ins Auge: Rundbauten mit Strohdächern, die Pallozas genannt werden. In der Herberge, die am anderen Ende des Dorfes gelegen ist, erfahre ich, dass die Konstruktion dieser Häuser auf einer mehr als 2500 Jahre alten keltischen Bautradition basiert.
 Ob die alten Kelten diese weiche, runde Form der Natur abgesehen haben, weiß ich nicht. Aber ich frage mich: Was ist von Natur aus eckig?
 
 
  20. Wandertag: O Cebreiro – Calvor – 34 km
 
 Mir tun irgendwie alle Knochen weh. Das hängt bestimmt mit der Kälte und dem dichten Nebel zusammen.
 Es geht rauf und runter. Die Schneeflecken am Wegrand muntern mich ein wenig auf und so schaffen wir wieder mal einen Pass, der ziemlich hoch liegt. Über Inka kann ich mich bloß wundern. Sie scheint von einem Höhenkoller befallen zu sein, denn plötzlich fängt sie an zu singen. Na ja, vielleicht ist sie schon zu lange unterwegs und hat ihre Gefühle nicht mehr ganz unter Kontrolle.
 Also, nichts wie weg. Aber die Gegend enttäuscht mich. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen; nur ab und zu höre ich ein Auto auf der Passstraße, die unmittelbar neben unserem Weg verläuft. So geht es stundenlang bergab.
 Im nächsten Dorf erwartet uns dann eine schöne Abwechslung. Es gibt Makkaroni mit einer göttlichen Fleischsoße; danach eine Weile verschnaufen, ein bisschen schlafen... Denkste!
 Inka startet gleich durch, als ob wir etwas verpassen würden. Also, auf die drei Hühner und die beiden Kläffer, die mir auf den verbleibenden dreizehn Kilometern begegnen, hätte ich leicht verzichten können.
 Wieder ein Tag, den ich vergessen kann.
 
 Der Nebel verschluckt die Häuser von O Cebreiro. Es kommt mir so vor, als gehe ich ins Nichts. Ein eigenartiges Gefühl, aber nicht unangenehm.
 Beim Anstieg zum Alto de San Roque sehe ich vor mir einen seltsamen Wanderer, der wie ein Pilger aus früherer Zeit aussieht. Erst als ich nah an ihn herankomme, erkenne ich, dass es sich um eine Statue aus Bronze handelt.
 Schnee säumt den Weg, der steil bergauf zum höchsten Pass des Jakobswegs in Galicien führt. Auf dem etwa 1300 Meter hohen Alto do Poio befindet sich eine kleine Herberge, in der ich von der Besitzerin freundlich begrüßt werde.
 Sie scheint sich zu freuen, weil jemand vorbeikommt, und kocht rasch Kaffee. In der gemütlich warmen Küche sitze ich an einem Tisch, der rund um den großen Herd verläuft, und spüre, wie allmählich meine Lebensgeister zurückkehren.
 Während die Frau Gemüse in die Suppe schneidet und ihre gewohnte Arbeit verrichtet, fühle ich mich wie zu Hause.
 Wohl gestärkt und guter Laune machen wir uns an den Abstieg. Auf den nächsten zwölf Kilometern liegen 700 Höhenmeter vor uns. Ich fühle mich frei wie ein Vogel und stimme lauthals ein Lied an.
 Der Himmel ist noch bedeckt, aber allmählich löst sich der Nebel auf und ich kann weit ins Land sehen.
 Die Vegetation verändert sich. Links und rechts wächst hohes Heidekraut und vermischt sich mit kleinen tiefblauen Blumen.
 Die beiden Dörfer, die wir als nächstes passieren, wirken sehr ungepflegt; nicht wegen der Kuhfladen, die überall auf der Straße liegen, sondern weil die Bewohner an allen möglichen Ecken Müll gestapelt haben.
 Danach führt der Weg an sehr alten Bäumen vorbei, die mir auf Anhieb lieb und vertraut sind. Stehen einfach da, sind fest mit der Erde verwurzelt und strecken ihre Zweige in den Himmel, geben geschmeidig dem Wind nach und sind doch stark und leben in ihrem ureigenen Zyklus.
 Vielleicht lachen sie insgeheim über meine Gedanken, die Gedanken eines Menschen, der nur eine relativ kurze Zeit in dieser Welt lebt und dem so vieles ungeheuer wichtig erscheint. Vielleicht sagen sie: Die Jahreszeiten wechseln, Jahrhunderte gehen ins Land und dennoch glauben die Menschen: er sei das Wichtigste auf dieser Erde, jeder zu seiner Zeit.
 An einem Bach, der über die Ufer getreten ist und über den Weg plätschert, ziehe ich mir die Schuhe aus und tauche mit meinen Füßen in die Matsche ein. Ich mag es sehr, wenn die Erde an den Zehen vorbeiquillt und nachher das frische Wasser alles wieder abwäscht.
 Nach einer längeren Pause ziehen wir weiter. Der Weg ist nun von Kastanien, Birken, Eichen und Pappeln gesäumt. Die Sonne, die einen Moment durch die Wolken lugt, lässt das frische Grün erstrahlen.
 Es geht wieder bergauf und ich genieße den herrlichen Blick ins Tal, als wir aus einem Wald hinaustreten. Neben uns blühen auf einem Hang Erika und gelb leuchtende Pflanzen, die ich nie zuvor gesehen habe. Dass es regnet, kann dieser Schönheit keinen Abbruch tun.
 Tila humpelt die letzten zehn Kilometer bis Calvor hinter mir her. Sie tut mir Leid. Vermutlich wird sie froh sein, wenn sie endlich alle viere von sich strecken kann. Und ich sehne mich danach den Rucksack abzustreifen, meine Schuhe auszuziehen...
 Aber die Herberge ist geschlossen.
 Was tun? Ich bin mir absolut sicher, dass ich heute Nacht hier schlafen werde. So halte ich ein vorbeifahrendes Auto an. Die Fahrerin ist freundlich und hilft mir jemanden zu finden, der das Haus aufschließt. Es ist ein junges Mädchen, das mit dem Schlüssel kommt und mir erklärt, wie die Heizung funktioniert und wo die Betten sind.
 
 
  21. Wandertag: Calvor – Portomarín – 28 km
 
 Obwohl wir verhältnismäßig spät aufgestanden sind, trödelt Inka unterwegs. Kaum sind wir in einem kleinen Städtchen angekommen, will sie unbedingt Kaffee trinken.
 In der Bar glotzen mich alle an, als ob ich von einem anderen Stern käme. Ich bin froh, dass wir bald wieder draußen sind.
 In der Altstadt kauft Inka ein. Da ich den Metzgerladen nicht betreten darf, weiß ich nicht, ob sie ein paar ,Wienerli’ für mich aufgetrieben hat. Ich kann es nur hoffen.
 Bald darauf heißt es: Wassertreten. Das hat nichts mit der allgemein bekannten Kneipp-Behandlung zu tun, bei der man in einem Bach oder einem Becken auf und ab geht. ,Corredoiras’, erklärt Inka, sind Wege mit durchfließendem Wässer und großen Steinen. Da es gar nicht so leicht ist, dort einigermaßen trocken durchzukommen, übernehme ich die Führung; schließlich fühle ich mich für Inka verantwortlich. Deshalb suche ich sorgfältig die Steine aus, auf die wir treten können.
 Inka scheint sehr zufrieden mit mir zu sein. Sie hat zwar pitschnasse Füße, aber sie ist weder ausgerutscht noch ins Wasser geplumpst. Als Dankeschön gibt es für mich eine kleine Wurst. Leider kein, Wienerli’, aber auch nicht schlecht. Daran könnte ich mich eine Zeit lang schon gewöhnen.
 Die Hunde, denen ich bisher begegnete, waren meistens angekettet. In diesem Landstrich dagegen laufen sie frei herum. Vermutlich sind sie deshalb so freundlich. Sobald ich nämlich in ein Dorf ein marschiere, versammeln sie sich und begrüßen mich mit freudigem Gebell... wie einen siegreichen Feldherrn.
 Das macht einen Heidenspaß.
 Ach ja, beinahe hätte ich es vergessen. Unterwegs hatte ich ein einziges Mal eine Heidenangst. Wir gingen nichts Böses ahnend durch ein Dorf, als plötzlich eine Horde gehörnter Vieh eher auf uns zu kam.
 Inka, jetzt bist du zur Abwechslung mal an der Reihe!, dachte ich und hielt mich ein wenig im Hintergrund. Ais eines dieser wiederkäuenden Ungeheuer mit seinen Hörnern direkt auf uns zielte und mit den Hufen scharrte, blieb Inka, die schon viel von mir an Verteidigung gelernt hat, unerschrocken stehen. Sie sagte kein Wort. Ich konnte es nicht genau erkennen, aber ich glaube, sie hat den bevorstehenden Angriff allein mit ihrem Blick abgewehrt. Alles in allem sehr souverän. Das Horntier schnaubte zwar durch die Nasenlöcher, gab aber den Weg frei.
 „Du blöde Kuh, du blöde, galicische“, rief ich ihr nach, wenn auch nur ganz leise. Ich gebe zu, ich hatte Angst, eine Heidenangst... um Inka.
 
 Erst gegen acht werde ich wach. Es ist schön warm im Zimmer. Tila und ich haben die Nacht allein verbracht. Die Tür hatte ich nicht verschlossen, es hätte ja noch ein Pilger kommen können. Früher hätte ich bestimmt Angst gehabt, aber jetzt...
 Wovor sollte ich Angst haben? Ich bin so sicher geworden, in mir, mit einem warmen Gefühl für alles um mich herum. Wer sollte mir etwas anhaben können?
 Angst hat man doch nur, wenn man jemandem misstraut, wenn man keine guten Erfahrungen gemacht hat und im anderen gleich das Schlechte vermutet. Sofern Vertrauen und Liebe fehlen, können leicht Verwirrung, Verzweiflung, Angst und Gewalt entstehen.
 Entsteht nicht gerade Gewalt auch daraus, dass Menschen zutiefst verletzt und gedemütigt wurden? Und ist diese Gewalt nicht letztlich ein Hilfeschrei aus der Angst heraus, sodass der letzte Funke Liebe erstickt wird?
 Angst lässt Liebe sterben.
 Ich bin unendlich dankbar, dass ich viele gute Erfahrungen in meinem Leben machen durfte. Sicher hat es auch die schlechten gegeben, die mich wütend, hilflos und traurig gemacht haben, aber auch sie haben mir gezeigt, dass es richtig war zu vertrauen und an die Liebe und das Gute zu glauben.
 Mit einem guten Gefühl im Bauch packe ich meinen Rucksack. In Sarria, einer modern anmutenden Stadt, lege ich eine erste Kaffeepause ein. Die Bar ist voller Menschen; Tila scheint sich sichtlich unwohl zu fühlen.
 Also weiter durch die Altstadt; hier kaufen wir ein. Es macht mir jedes Mal einen Riesenspaß, diese kleinen Geschäfte zu betreten, in denen ein freundlicher Herr oder eine freundliche Dame bedienen. Und was immer das Herz begehrt, sie ziehen es aus irgendeiner Schublade oder holen es aus der angrenzenden Kammer. Es ist die reinste Freude hier einzukaufen.
 Jetzt geht es wieder über eine kleine Brücke hinaus in die Natur. Ich höre, wie fast jeden Morgen, einen Kuckuck rufen; ein mir vertrauter Gesang. Es ist aber nicht nur der Kuckuck, ich vernehme auch anderes Vogelgezwitscher.
 Die Apfelbäume stehen in voller Blüte. Bienen sammeln geschäftig Nektar ein. Mitten im Frühling, wenn alles keimt, wächst und gedeiht, liegt bereits der Sommer in der Luft. Galicien ist schön, dieses satte Grün, die vielen Blumen, die kleinen Brücken sowie die Menschen mit ihren breitknochigen Gesichtern und ihren freundlichen, warmen Augen.
 Es geht über Pisten, corredoiras, die schon zur Zeit der alten Römer existierten; das sind Wege mit großen Steinen, die oft von Wasser umspült sind. Ich habe den Eindruck, als gehe ich durch einen Flusslauf. Aber was macht das schon? Ich folge Tila. Sie weiß genau, wo der Weg am besten zu begehen ist.
 Unser Pfad führt durch kleine Dörfer, an vermoosten Mauern vorbei und in Wälder mit uralten Bäumen.
 Meine Freunde, die Bäume, meine altvertrauten Gesellen, begleiten mich auf meinem Weg. Wenn sie erzählen könnten, was sie erlebt haben, manche lustigen und traurigen Geschichten kämen aus dem Verborgenen, mal Freund, mal Feind, Glück und Unglück. Und nichts könnte sie von ihrem Platz verweisen; sie stehen fest verankert als Bindeglied zwischen Himmel und Erde. Jedem, der vorbeikommt, spenden sie Schatten und Schutz, ohne zu fragen: Wie heißt du, welche Nationalität hast du, wie viel kannst du zahlen?
 Bald sehen wir auf der Anhöhe Portomarín liegen. Das alte Portomarín ist in einer Talsperre untergegangen, über deren Staumauer wir das neue Dorf erreichen. Die San-Nicolás-Kirche ist seinerzeit Stein für Stein abgetragen und hier oben wieder aufgebaut worden.
 Eine wunderbare, blau schillernde Fensterrose ziert das Hauptportal.
 
 
  22. Wandertag: Portomarín – Palas de Rei – 34 km
 
 Puh, es ist verdammt warm geworden. Ich trippele über Feldwege und kleine Straßen, bis wir um die Mittagszeit endlich Rast machen. Während ich den Schatten bevorzuge, lässt sich Inka die Sonne auf den Bauch scheinen. Ich bin froh, dass sie nach einer Weile einschläft, denn anders ist sie in ihrem Wandertrieb nicht zu bremsen. Warum habe ich mich bloß auf dieses Abenteuer eingelassen? Und das bei dieser Affenhitze.
 Aber egal, ob es heiß ist oder nicht, ich werde die Pilgertour durchstehen, durchstehen müssen, denn ohne mich wäre Inka verloren. Ich tröste mich darüber hinaus mit dem Gedanken, dass diese Wanderung irgendwann einmal ein Ende nehmen wird.
 Ich muss Inka mal fragen, wie lange Odysseus in der Weltgeschichte rumgeirrt ist; wahrscheinlich nicht halb so lang wie wir.
 Aber jetzt habe ich wirklich keinen Bock mehr!
 
 Erst als wir den Miño überqueren, lichtet sich der Nebel. Es wird brüllend heiß. Unterwegs fällt mir auf, dass ich in Galicien bislang nicht ein einziges großes Monument entdeckt habe, weder ein Ehrenmal noch ein Mahnmal. Stattdessen finde ich auf den Friedhöfen Gräber aus Granit, die an kleine Häuser erinnern und von einem oder mehreren Kreuzen bekrönt sind. Mir scheint, als symbolisiere die enorme Häufung von Kreuzen in Verbindung mit der keltischen Mythologie die Abwehr des Bösen.
 Der volkstümlichen Architektur entsprechen auch die Horreos, die Maisspeicher. Sie sehen ebenfalls wie kleine Häuser aus: ein rechteckiger Kasten aus Granit und Holz mit einem Satteldach aus Steinplatten. Sie stehen auf steinernen Säulen, damit Mäuse und anderes Getier nicht hochsteigen können. Manchmal schmücken bizarre Türmchen und Kreuze den Dachfirst.
 Ein Horreo ist schöner als der andere und ich kann mich gar nicht satt sehen an diesen prachtvollen kleinen Kunstwerken.
 Tila zeigt deutlich, dass sie keine große Lust mehr hat weiterzulaufen. Auf einer saftig grünen Wiese legen wir eine längere Pause ein. Die Sonne hat den Himmel tiefblau geputzt und strahlt. Während ich die Erde rieche und einen Marienkäfer über meinen Fuß klettern sehe, ist alles einfach und klar. Jeder hat seinen Platz und folgt seinem eigenen Rhythmus. Doch je mehr ich nachdenke, desto rätselhafter erscheint mir die Welt. Vieles verstehe ich nicht. Früher hat mich dieser Gedanke gequält. Ich wollte Missstände verändern, wollte wissen, warum etwas so ist und nicht anders. Und jetzt liege ich mit der Gewissheit in der Sonne, dass ich es mit Sicherheit erfahren werde, irgendwann, wenn es an der Zeit ist.
 Zunächst aber genieße ich diesen herrlichen Platz im Sonnenschein.
 Nach einem ausgiebigen Mittagsschlaf mache ich mich wieder fröhlich auf den Weg durch die hügelige Landschaft. Auf einem Feldweg begegne ich einer Frau, die ihre Kühe neben sich grasen lässt und in aller Seelenruhe Socken strickt. Später treffe ich einen Mann an, der vor seinem Haus ein großes Weinfass reinigt. All diese Leute lachen und winken mir zu.
 In Palas de Rei ist die Herberge von zwei Schulklassen erobert worden, deshalb quartieren wir uns im nahe gelegenen Hostal ein.
 Die Zimmersuche ist schon lange kein Problem mehr; entweder sind die Leute hier hundefreundlicher oder ich nehme alles gelassener als am Anfang.
 Den Abend verbringen Tila und ich auf dem Dorfplatz. Hier treffen sich Jung und Alt, erzählen und genießen wie ich die letzten Sonnenstrahlen des Tages.
 Danach befühle ich Waltis Taschentuch. Zwei Knoten sind bereits gelöst. Beim ersten Mal fand ich das Heftpflaster; das andere Mal den Stein aus Erlenbach. Weich, hart, also demnach weich...
 Ich durchbreche das bisherige System und entscheide mich für den harten Knoten. Ich öffne ihn und halte ein ,Vreneli’ ein Schweizer Goldstück, in meiner Hand. Auf dem beiliegenden Zettel ist zu lesen: Für den Notfall!
 Früher war es in der Schweiz unter Handwerksburschen und Studenten Brauch, dieses besondere Geldstück im Gürtel zu tragen; gewissermaßen als Notgroschen. Ich lächle still vor mich hin und denke an Walti, wie praktisch er denkt. Zugleich bin ich beeindruckt, wie liebevoll und feinfühlig er das Taschentuch gefüllt hat, denn auch heute noch hat das ,Vreneli’ seinen Wert. Nahezu überall kann man es einlösen.
 Ich bin fast am Ziel meiner Wanderung.
 Meine Gedanken eilen voraus: lediglich drei Tage bis Santiago de Compostela.
 
 
  23. Wandertag: Palas de Rei – Arzúa – 31 km
 
 Heute ist mit mir nicht viel los... ein paar Hühner... sonst nichts, was erwähnenswert wäre.
 
 In aller Herrgottsfrühe werden wir von einem Hahn geweckt, der seine Aufgabe sehr ernst nimmt: er kräht nahezu eine Stunde lang.
 Die Sonne lässt die Bäume in ihrem schönsten Grün erstrahlen und lockt uns mit ihrer Wärme nach draußen. Im Spiel der Farben entspricht die Landschaft einer Idylle, wie man sie so nur von Postkarten kennt.
 Auf einer Weide grasen Pferde mit ihren Fohlen, der Kuckuck, unser täglicher Begleiter, stimmt einen Lobgesang an, in den andere Vögel mit ihrem Gezwitscher einfallen.
 In Melide ist heute Markttag. Auf einer Bank sitzend beobachte ich das geschäftige Treiben und ruhe mich ein wenig aus. Ein älteres, rundliches Ehepaar kommt neugierig auf mich zu und stellt Fragen in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Aber wir verständigen uns mit Händen und Füßen und lachen zusammen.
 Die Menschen hier sind alle vergnügt und erfreuen sich an diesem herrlichen Sonnentag. Auch ich werde von einem rundum guten Gefühl getragen und gehe mit dem mir eigenen Rhythmus weiter. Ich bin einfach da und genieße von kleinen Brücken aus, die sich über Bäche spannen, den Blick in die malerische Landschaft. Um eine Eidechse, die sich in der Maisonne aalt, nicht zu verscheuchen, trete ich besonders leise auf.
 Schon von weitem kündigt sich ein Wald mit erfrischendem Duft an. Die Stämme der Eukalyptusbäume sind hoch und schmal. Bei der leichtesten Luftbewegung rascheln die länglichen, silbergrauen Blätter. Der Geruch der ätherischen Öle dringt tief in meine Lunge ein und ich habe plötzlich das Gefühl freier zu atmen als sonst.
 Der Eukalyptus, der besonders für Australien kennzeichnend ist, wurde hier an vielen Orten gepflanzt. Für die heimische Natur, so lese ich in meinem Reiseführer, bedeutet diese Gattung ein großes Problem, denn das Laub des Eukalyptus ist hart und mit Aromastoffen imprägniert. Die ledrigen Blätter decken Schicht für Schicht den Erdboden zu und ersticken andere Pflanzen. Es soll viele Jahre dauern, bis das Laub verrottet.
 Darüber hinaus brauchen die Bäume viel Wasser, das tief aus der Erde in die Kronen gezogen wird. Die Folge: der Grundwasserspiegel sinkt und die Landschaft wird über kurz oder lang austrocknen.
 Für mich ein Beispiel dafür, dass der Mensch glaubt etwas Gutes zu tun und genau das Gegenteil auslöst. Mit sehr gemischten Gefühlen atme ich diesen erfrischenden Duft ein.
 Bald darauf erreichen wir Ribadiso mit einer idyllisch gelegenen Pilgerherberge, die direkt am Fluss liegt. Tila ist offensichtlich fix und fertig. Sie legt sich sofort ins Gras und streckt alle viere von sich.
 Ich sehe mich in aller Ruhe um; die Postkartenidylle scheint kein Ende zu nehmen. Auf der nahe gelegenen Brücke versucht sich eine ältere Frau im Fischfang. Wieder und wieder wirft sie ihre Angelschnur ins Wasser, aber anscheinend will heute keiner anbeißen.
 Während ein Mann vor seinem Haus die Axt schwingt, mäht ein anderer die Wiese in seinem Garten und singt aus voller Brust.
 Wir müssen weiter, denn schließlich wollen wir heute noch nach Arzúa kommen.
 Ich wecke Tila aus vermutlich süßen Träumen. Während sie hinter mir herschleicht, fordere ich sie voller Mitgefühl auf: „Mach nicht schlapp. Halt bitte durch! Nur noch 45 Kilometer. Dann sind wir am Ziel.“
 Die Herberge in Arzúa liegt am anderen Ende der Stadt. Zunächst ist es dort recht still, denn wir sind die einzigen Gäste.
 Erst spät am Abend treffen etwa 20 Radfahrer ein. Es sind Spanier, die etwas erstaunt schauen, da ich Tila dabei habe. Aber keiner hat etwas dagegen, dass sie ebenfalls in der Herberge übernachtet. So können wir beide beruhigt einschlafen.
 
 
  24. Wandertag: Arzúa – Monte del Gozo – 35 km
 
 Ich bin total geschafft! Ich gehe fast gar nicht mehr jagen. In einem Eukalyptuswald, der uns jetzt Schatten spendet, bin ich allerdings damit beschäftigt ein wenig aufzuräumen, damit Inka unversehrt unser Ziel erreichen kann.
 Also morgen werden wir in Santiago ankommen.
 Am Abend sitzen wir gemeinsam auf einem Berg, dem Monte del Gozo, und uns ist ganz feierlich zumute.
 Inka sagt: „Tila, ich bin sehr froh, dass du mit mir gegangen bist. „
 Na, ist doch selbstverständlich, dass ich sie begleitet habe, schließlich sind wir ja Freunde.
 Richtige Freunde!
 Ja, und dann ist etwas passiert... aber das berichte ich lieber zu einem späteren Zeitpunkt.
 
 Mehr als drei Wochen sind wir nun unterwegs. Das Laufen ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Der Himmel ist strahlend blau, als wir zu unserer letzten großen Etappe aufbrechen. Wie gewohnt geht es über Feldwege, unser Kuckuck begleitet uns dabei...
 Und doch ist es heute irgendwie anders.
 Hier in Galicien zeigen die Wegmarkierungen auch die Kilometer an, die den Pilger noch von Santiago de Compostela trennen. Es werden immer weniger und weniger.
 Es ist ein unbeschreibliches Gefühl! Ich freue mich schon sehr auf den morgigen Tag, auf die Ankunft und dass ich Walti wiedersehe, der uns abholen will. Es kommt mir so vor, als könnte ich die letzten Stunden gar nicht mehr erwarten.
 Während meiner Wanderung habe ich sowohl über ihn als auch über unsere Beziehung nachgedacht. Mit seinem ausgeglichenen Wesen, das mich manches Mal zur Weißglut getrieben hat, hat er mir gleichzeitig die Augen geöffnet und mich gelehrt, dass es besser sein kann, eine Entscheidung zunächst zu überdenken, anstatt rein gefühlsmäßig zu handeln.
 Jäh werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Unser Feldweg ist verschwunden. Wir müssen über eine Schnellstraße gehen; zu allem Überfluss hat es auch noch eine Baustelle.
 Ich befinde mich jetzt bereits im Einzugsbereich des Flughafens von Santiago und bin einem Riesenkrach ausgesetzt. Über uns donnert ein startendes Flugzeug hinweg. Mit viel Mühe versuche ich mich nicht über diesen Höllenlärm aufzuregen. Morgen wird Walti auch dabei sein. Mit seiner Cessna verursacht er vielleicht nicht ganz so viel Krach wie die großen Maschinen, aber immerhin.
 Ich muss unwillkürlich daran denken, wie gern ich selbst fliege, und erinnere mich an meine erste Solo-Platzrunde. Ich hielt das Steuer fest in der Hand, voller Power... und dann hob meine Maschine ab und stieg hoch und höher... Mit vor Aufregung feuchten Händen schwebte ich dem Himmel entgegen.
 Nicht vergessen werde ich auch den Sonnenuntergang in Florida, den ich gleich zweimal erlebte.
 Vern, dieser liebe Mensch, der versucht hatte, mir das Fliegen beizubringen, stieg mit mir in den rot verfärbten Himmel auf. Unter uns das Meer.
 Während die Sonne gigantische Bilder in die Wolken malte und mir Heerscharen von Engeln vorgaukelte, die plötzlich wieder im Nichts verschwanden, saßen wir andächtig im Cockpit und waren sprachlos.
 Nachdem die Sonne untergegangen war, stiegen wir noch höher in den Himmel und die Sonne zeigte sich uns ein zweites Mal, um dann unwiderruflich für diesen Tag im Meer zu versinken.
 Ich saß einfach nur da; vor unsäglichem Glück liefen mir Tränen die Wangen herunter. Auch Vern, der als Flugkapitän bei einer großen amerikanischen Fluggesellschaft dieses Spektakel schon oft gesehen hatte, schien zutiefst gerührt zu sein.
 Das sind Erlebnisse, die ich nie vergessen werde. Zugleich empfinde ich den Zwiespalt zwischen Gefühl und Verstand. Einerseits der enorme Lärm, die unnatürliche Geschwindigkeit, mit der man über alles hinwegfliegt und die Welt mit großem Abstand betrachtet, und andererseits dieses fantastische Gefühl des Abhebens. Jedes Mal packt es mich wie einen Zauber, wenn ich das Steuer in den Händen halte. Mit jeder Faser meines Körpers spüre ich dann das Vibrieren der Maschine, die mit mir in den Himmel strebt, auf mein Ziehen wartet und leicht wie ein Vogel durch die Luft gleitet...
 Schluss jetzt mit den Erinnerungen, schließlich liegen noch einige Kilometer zwischen mir und Santiago de Compostela.
 Gedankenverloren laufe ich an den Antennen des galicischen Fernsehens vorbei und erreiche den Monte del Gozo. In dem riesigen Pilgerkomplex ist es momentan ruhig. Ich kann nur ahnen, was hier im Sommer los ist, wenn der große Ansturm der Pilger beginnt. Trotzdem bange ich ein letztes Mal um unser Nachtlager.
 Manuel, der die Schlafplätze zuteilt, ist sehr nett. Er lacht und sagt, Tila dürfe im Zimmer übernachten, sofern kein anderer Pilger etwas dagegen einzuwenden habe. Er zwinkert mir zu. Mir ist sofort klar, er wird sich sehr darum bemühen, dass es keine Probleme geben wird.
 
 Voller Erwartung begebe ich mich auf den Aussichtshügel des Monte del Gozo, den ,Berg der Freude’.
 Der Name spiegelt das Glücksgefühl wider, von dem die Pilger erfüllt waren, nachdem sie trotz aller Strapazen den religiösen und kulturellen Mittelpunkt Galiciens, nämlich Santiago de Compostela, erreicht hatten.
 Mein Blick folgt den beiden Pilgerstatuen, die auf die Stadt weisen. Unter den vielen Klöstern und Kirchen nimmt die Kathedrale mit ihren Türmen eine herausragende Stellung ein.
 Still berührt lasse ich mich hier oben auf der Wiese nieder. Pilger aus allen Jahrhunderten hatten von unzähligen Szenen überwältigender Ergriffenheit berichtet, die sich an dieser Stelle abgespielt haben sollen.
 Und nun bin auch ich da.
 Wir sind da. Tila hat mich über Tage und Wochen treu begleitet. Ich empfinde etwas, das nur schwer zu beschreiben ist. Ich bin glücklich, gerührt und unendlich zufrieden. Tila, so scheint es mir, versteht meine Empfindungen. Während ich nahezu feierlich unser Brot und den Käse auspacke, liegt sie mucksmäuschenstill neben mir.
 Ich erinnere mich an eine Freundin, die mal gesagt hat: Abendmahl wird überall da gefeiert, wo Menschen zusammen essen, etwas miteinander teilen und sich mit warmen Herzen zusammenfinden.
 Und so teilen Tila und ich unser letztes Brot und den Käse. Ich esse sehr bewusst. Tila ist zwar kein Mensch, aber sehr wohl eine Kreatur. Sie scheint diese besondere Stimmung, die mich ergriffen hat, zu spüren und frisst ganz ruhig ihren Anteil am Brot. Sie schlingt nicht, bleibt still liegen und sieht mich ab und zu an.
 Später packe ich meine ,Schätze’ aus: mein Tagebuch, den kleinen Engel von Elvira, den goldenen Reif von Daniella, drei Briefe von Rita, die ich nicht geöffnet habe.
 Es gab Momente auf meiner Reise, da habe ich mich gefragt: Bin ich jetzt am Ende meiner Kraft? Aber die Antwort war immer eindeutig ausgefallen: Nein!
 In solchen Augenblicken wurde mir deutlich, wie gut es mir ging.
 Außerdem gibt es das Taschentuch von Walti. Es ist nicht mehr schneeweiß. Es trägt einige Zeichen meiner Reise: Blutflecken, nachdem ich mir in den Finger geschnitten hatte; Schweiß, den ich mir von der Stirn gewischt hatte; auch Tränen, die aus Wut, Ärger und Einsamkeit geflossen sind, aber ebenso aus Freude oder unendlichem Glück.
 Und nun sitze ich auf dem ,Berg der Freude’ und bin fast am Ziel meiner Wanderung.
 Überglücklich rufe ich Walti an.
 Ja, er wird mich morgen abholen, wie versprochen.
 Alles stimmt... keine Worte dieser Welt können meine Gefühle beschreiben. Ich nehme Waltis Taschentuch und versuche den letzten Knoten zu lösen. Er ist noch fester gezogen als die anderen.
 Mit dem bewährten Zahnstocher und viel Geduld schaffe ich es schließlich. Ich finde ein winzig kleines Päckchen aus Seidenpapier und zwei noch winzigere Zettelchen mit den Zahlen 1 und 2.
 Die Buchstaben auf Zettel 1 fließen ineinander, haben sich nahezu aufgelöst und verschwimmen vor meinen Augen, aber schließlich kann ich sie entziffern:
 Nimm das Päckchen zwischen beide Daumen und Zeigefinger, schließ die Augen, komm mit dem Kopf über das Päckli und zieh es schnell auseinander.
 Leichter geschrieben - als getan. Erstens ist das Päckli so winzig klein und zweitens bin ich gespannt wie ein Flitzbogen. Doch es gelingt. Ich schließe meine Augen und ziehe das Päckli rasch auseinander. Ich warte einen Augenblick, dann noch einen... Und? Ich öffne wieder die Augen, sehe auf meine Hände, auf den Boden. Nichts! Absolut nichts!
 Ich lese das zweite Zettelchen: Du hast ihn gespürt, nicht wahr? Meinen warmen, feuchten Kuss.
 Und wie ich ihn gespürt habe.
 „Walti, du bist ein Schatz!“, rufe ich vor lauter Glück.
 
 
  25. Wandertag: Monte del Gozo – Santiago – 4 km
 
 Also, ich versteh die Weit nicht mehr. Inka spielt total verrückt. Ob es so etwas wie einen ‚Pilgerkoller’ gibt?
 Den ersten Anfall hatte sie gestern Abend, als wir friedlich auf dem ,Berg der Freude’ picknickten. Der Blick auf die Stadt war grandios, der Käse schmeckte ausgezeichnet, na ja, über Brot lässt sich bekanntlich streiten.
 Hellhörig wurde ich in dem Moment, als Inka mit Walti telefonierte. Klaro, ich hab sofort kapiert, dass er tatsächlich kommen und uns abholen wird. Nun gut, soll er, ich freu mich auch darauf ihn wiederzusehen.
 Auf der anderen Seite werde ich mich damit ab finden müssen, dass Inka sich dann wieder mehr mit ihm als mit mir beschäftigt.
 Aber wie sollte es weitergehen? Inka befand sich nämlich in einem Zustand, einem erschreckenden Zustand, der mir Kopfschmerzen bereitete.
 Also, ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Jedenfalls hat sie nach dem Telefongespräch mit Walti wieder an diesem blöden Taschentuch rumgemacht. Ich döste nichts Böses ahnend vor mich hin und rief mir gerade Höhepunkte unserer Wanderung in Erinnerung...
 „Walti, du bist ein Schatz!“, schrie Inka plötzlich auf. Wie von der Tarantel gestochen sprang ich hoch und dachte zunächst: Jetzt fällt er vom Himmel herab, unser Walti. Klaro, ich habe ihn natürlich überall gesucht, aber nirgendwo gefunden.
 Also, ich glaub, Inka sieht Gespenster. Ich weiß beim besten Willen nicht, was mit ihr los ist.
 Sie schien heute Morgen mit dem linken Fuß aufgestanden zu sein und bekam gleich den zweiten Anfall. Sie geriet völlig aus dem Häuschen und lief aufgeregt hin und her, bis sie endlich unsere Siebensachen gepackt hatte. Nun gut, ich bin ja einiges gewohnt, aber dass sie mich dann über eine Stunde allein im Zimmer ließ, das nehme ich ihr nun doch ein wenig übel.
 Und deshalb schmolle ich mit ihr. Dennoch werde ich in den nächsten Stunden höllisch auf sie aufpassen müssen. Wer weiß, was sie sonst noch alles anstellt.
 Ob ich mit ihr zum Arzt gehen soll?
 
 Wie auch immer, jetzt marschieren wir los, stets bergab, mitten in die Stadt hinein. Kurz bevor wir die Kathedrale erreichen, ich war wohl ein wenig unaufmerksam, ist Inka plötzlich verschwunden. Das darf nicht wahr sein! Ebenso plötzlich kommt sie aus irgendeinem Tor heraus. Anstatt zu erklären, warum und weshalb sie mich allein gelassen hat und was sie dort gesucht hat, macht sie sich auf den Weg zum Pilgerbüro.
 Also hier gefällt es mir recht gut. Jedenfalls wird mein Name in einem riesengroßen Pilgerbuch für immer und ewig festgehalten. Jeder, der nach Santiago de Compostela kommt, sollte mal unter dem Datum 09.05.98 nach lesen, wer an diesem ehrwürdigen Tag alles da war. Na? Na?
 Richtig! Ich! Tila! Der Pilgerhund, Höllenhund und beinahe Flughund... Ach ja, Inkas Name steht übrigens auch dort.
 
 Auf der Plaza del Obradoiro sammeln sich vor der Kathedrale nach und nach immer mehr wandelnde Regenschirme. Vermutlich Pilger. Es gießt wie aus Eimern.
 Einer dieser Regenschirme steuert direkt auf uns zu und fragt: „Wie war’s denn so auf dem camino?“
 Wieder so ein Pressemann, der mich erst interviewen will und dann wahrscheinlich ein Autogramm von mir fordert. Ohne mich! Ein Blick zu Inka genügt und schon speist sie ihn ab; sehr souverän. Wie in alten Zeiten!
 Demnach scheint sich der Pilgerkoller verflüchtigt zu haben.
 Hurra! Ich darf mit in die Kathedrale. Wenn das mal gut geht! Um Inka nicht zu kompromittieren, verkrieche ich mich gleich unter der erstbesten Bank. Aber wie nicht anders zu erwarten, ein Hund bleibt natürlich nicht unerkannt, nicht einer wie ich.
 Eine nette Dame, die mich schon beim ersten Blickkontakt wohlgefällig angeschaut hatte, verhält sich mir gegenüber solidarisch. Ehe man mich aus dem Tempel vertreiben kann, gelange ich unter ihrem Schutz nach draußen. Während ich auf Inka warte, aale ich mich ein wenig in der Sonne.
 Bald darauf kommt sie und da uns der Trubel vor der Kathedrale zu bunt wird, fahren wir zum Flughafen hinaus.
 Walti wartet schon auf uns. Welche Freude! Jetzt sind wir drei endlich wieder vereint. Meine Odyssee hat ein gutes Ende genommen und ich überlege ernsthaft, ob wir im nächsten Jahr nicht nach Rom oder gar nach Jerusalem pilgern sollten.
 
 Heute Morgen stehe ich mit einem Gefühl auf, das nur schwer zu erklären ist. Ich komme mir wie ein kleines Kind vor, das am Heiligen Abend auf die Bescherung wartet. Ich kann es kaum erwarten, Santiago de Compostela zu betreten und am Endpunkt des Jakobswegs vor der Kathedrale zu stehen.
 Ich dusche ausgiebig und ziehe meine letzte frische Bluse an. Es gehört zur Tradition der Pilger, den Fuß sauber in die heilige Stadt zu setzen. In einem alten Pilgerführer habe ich gelesen, die Pilger hätten aus Liebe zum Apostel im Fluss Labacolla nicht nur einzelne Körperteile gereinigt, sondern den Schmutz des ganzen Körpers abgewaschen. Ich muss nicht in den Fluss steigen, denn heute sind beinahe alle Pilgerherbergen mit Duschen ausgestattet.
 Zum letzten Mal packe ich meinen Rucksack.
 Fast alles, was ich mit auf die Reise genommen habe, ist aufgebraucht. Die Medikamente, die meine Tochter sorgsam ausgewählt hatte, habe ich nicht benutzt, außer der Blasenpflaster. Lachend halte ich den Rasierapparat in den Händen, den unser fürsorglicher Tierarzt für das Wichtigste überhaupt gehalten hatte. Falls Tila von einem Hund gebissen würde, müsste ich sofort die Stelle rasieren und desinfizieren, hatte er gemeint. Wir haben auch ihn Gott sei Dank nicht gebraucht.
 Nachdem der Rucksack gepackt ist, gehe ich in aller Ruhe frühstücken, denn dieser Tag, der für mich etwas ganz Besonderes ist, soll wie ein Fest beginnen.
 
 Nebel liegt über der Stadt. Was ich zuerst bedauerlich finde, kehrt sich schnell ins Gegenteil. Je weiter ich auf die Stadt zugehe, umso mehr kommt es mir vor, als hätte sie sich herausgeputzt und allein für mich ihr schönstes Gewand übergezogen.
 Neunmal höre ich eine Glocke schlagen, als wir das erste Wohnviertel erreichen. Es ist Samstagmorgen.
 Allmählich scheint die Stadt zu erwachen. Die Häuser sind in wallende, durchscheinende Schleier gehüllt. Leise und verhalten klingen die Autos. Durch kleine, winklige Gassen gelangen wir zur Kathedrale. 24 Tage bin ich gegangen und nun stehe ich davor.
 Das Portal des Seitenschiffs ist mit vielen Jakobsmuscheln geschmückt, dem Symbol für Pilgerschaft und Pilgerpatrone. Die Muscheln und die gelben Pfeile haben mich all die Tage sicher zum Ziel geführt. Mir ist feierlich zumute. Andächtig betrete ich das Gotteshaus und lege die Wiesenblume, die ich auf dem Monte del Gozo gepflückt habe, auf den kleinen Altar.
 Lautlos verlasse ich wieder die Kathedrale. Ich bin da und kann es noch gar nicht richtig fassen.
 Draußen kaufe ich zwei Rosenkränze, die sich Elvira und meine Mutter gewünscht haben.
 Staunend schlendere ich an der Kathedrale entlang und nähere mich dem Plaza del Obradoiro, an dem auch das Hostal de los Reyes Catolicos liegt, ein staatlicher Parador.
 Ich fühle mich großartig und steige kurz darauf die Stufen zum Hauptportal der Kathedrale hoch, die trotz spätbarocker Ummantelung ein hervorragendes Beispiel frühromanischer Architektur in Spanien ist.
 Durch die Vorhalle Pórtico de la Gloria betrete ich die Kathedrale ein zweites Mal und bewundere zunächst den Skulpturenschmuck, ein großartiges Kunstwerk mit mehr als 200 Figuren und dem übermächtig thronenden Apostel. Einem alten Brauch folgend berühren die Pilger am Ende des Jakobswegs mit ihren Händen die Säule des Apostels Jakobus. Auch ich lege, wie schon Millionen vor mir, meine Hände dorthin und fühle mich eng verbunden mit all denen, die bereits hier waren, und jenen, die noch kommen werden. Für eine Weile befinde ich mich in Gedanken wieder auf meinem Weg und merke, wie mir Freudentränen über die Wangen laufen.
 Draußen begrüßt mich Tila überschwänglich und springt an mir hoch. Ich bin sehr stolz auf sie, denn sie hat mir auf unserem Weg manches Mal gezeigt, wie leicht es sein kann, die Dinge ganz unmittelbar zu sehen, so zu sehen, wie sie sind. Wenn sie jagen ging, was mich oft zur Weißglut gebracht hat, war sie immer ganz bei der Sache, dachte an nichts anderes als an das, was sie gerade tat. Sobald wir rasteten, legte sie sich auf der Stelle hin und ruhte sich aus. Ging es weiter, war sie sofort wieder fit und freute sich über jede Maus, die auftauchte. Wenn ich mich einsam fühlte, schmiegte sie sich an mich, als ob sie zeigen wollte, wie sehr ich ihr am Herzen liege.
 Ich sitze auf einer Mauer und beobachte das bunte Treiben vor der Kathedrale. Auf dem großen Platz treffen mehr und mehr Reisegruppen ein, die mit Schirmen, Fotoapparaten und Videokameras ausgerüstet sind.
 Ich bin froh, dass ich schon so früh hier war und dieses prächtige Bauwerk still und andächtig betrachten konnte.
 Nachdem ich im Pilgerbüro die Pilgerurkunde Compostela’ abgeholt habe, nehme ich zusammen mit Tila an der 12-Uhr-Messe teil. Da sie den langen Weg mit mir zurückgelegt hat, soll sie nun auch den Höhepunkt unserer Reise miterleben.
 Doch kaum hat die Messe begonnen, wird Tila unmissverständlich aufgefordert die Kirche zu verlassen. Eine ältere Dame, die offensichtlich bemerkt hat, wie wichtig mir dieser Gottesdienst ist, geht zusammen mit Tila hinaus.
 Ich verstehe zwar kaum ein Wort der in spanischer Sprache gehaltenen Messe, aber sie ist der krönende Abschluss meiner Wanderung.
 Unter all den Kirchenleuten entdecke ich plötzlich Lukas, den ich in Mansilla als Pilger kennen gelernt habe, und staune, als er anfängt zu predigen.
 Dann breitet sich ein narkotischer Duft aus. Drei Männer tragen einen Weihrauchkessel ins Querschiff und befestigen ihn an einem Seil.
 Von dem neben mir knienden Spanier erfahre ich, dass der ,Botafumeiro’ etwa 54 Kilo wiegen soll und nur aus besonderem Anlass zum Schwingen gebracht wird.
 „Und warum gerade heute?“, frage ich. Er zuckt mit den Achseln und entgegnet augenzwinkernd: „Vielleicht Ihretwegen.“
 Ich lächle und konzentriere mich auf das brausende Geräusch, das von einem Zischen begleitet wird, je höher der Kessel durch die Luft saust.
 Am Ende des Gottesdienstes wird der Segen in verschiedenen Sprachen gesprochen, auch in meiner Muttersprache. Während ich die beiden Rosenkränze fest in meinen Händen halte, weine ich vor Rührung und bin unendlich zufrieden und glücklich.
 Nach dem Gottesdienst erwarten mich vor der Kirche Tila und die alte Dame. Obwohl ich diese Frau erst vor einer halben Stunde kennen gelernt habe, habe ich das Gefühl, von ihr verstanden zu werden. Wir sind beide sonderbar gerührt und uns nah. Wir umarmen uns, ohne viele Worte zu machen, und weinen. Auch diese Begegnung werde ich sicherlich niemals vergessen.
 
 
  Jetzt bin ich da!
 
 Es ist schön, endlich am Ziel zu sein. 700 Kilometer zu Fuß - quer durch Nordspanien. Unterwegs habe ich viel erlebt und manches Neue sehen und erfahren dürfen. Ich habe erlebt, wie meine Gefühle offen lagen und wie ich mir selbst ein ganzes Stück näher gekommen bin.
 Ich habe mich nicht aus religiösen Gründen auf den Weg gemacht. Und doch habe ich mich Gott manchmal so nahe gefühlt wie nie zuvor in meinem Leben.
 Ich habe die wunderbare Erfahrung gemacht, wie schön es ist Stille zu genießen, wie unterschiedlich Erde riechen kann, wie schön es ist, wenn nach Regen die Sonne strahlt und ich ihre warmen Strahlen auf meinem Gesicht spüre, wie gut Kaffee schmeckt, wie schön es ist, ein Bett für die Nacht zu haben.
 Ich habe das Abenteuer mit mir in vollen Zügen genossen, habe gelernt achtsamer zu sein mit jeder Kreatur und mit mir selbst, mich erst zu fragen und meine Antwort abzuwarten, bevor ich handle. Ich habe gelernt mir Zeit zu lassen und mich in Geduld zu üben. Dabei habe ich herausgefunden, dass besonders Shiatsu für mich das Richtige ist, um meinen Weg weiterzugehen. Ich habe bei meinem Streben nach vorn zugleich gelernt mich auch zurücklehnen zu können, nach links und nach rechts zu schauen, ohne den Weg, meinen Weg aus den Augen zu verlieren.
 All dies ist mir sehr wichtig, ebenso wie die Menschen, denen ich begegnet bin und die zu Hause an mich gedacht und in Gedanken begleitet haben. Als ich meine Mutter anrief und ihr erzählte, ich sei in Santiago angekommen, da weinte sie vor Freude.
 Unterwegs hatte ich oft das Gefühl, dass sie an mich denkt. Und oft habe ich gedacht, ich sollte es ihr sagen und zeigen. Jetzt habe ich Gewissheit: Sie ist in Gedanken stets bei mir gewesen.
 Und nicht nur sie, auch meine Tochter Alexandra, meine Freundinnen Elvira, Rita, Agnes und all die anderen und ebenso Walti, dessen Stimme mir auf meiner Reise so wohl getan hat. Kann es ein größeres Glück geben, als dass Menschen einem ihre Freundschaft, Zeit und Liebe schenken und einen mit guten Gedanken begleiten?
 All diese Erfahrungen sind erst möglich geworden, weil ich mir Zeit genommen habe und für kurze Zeit aus meinem alltäglichen Leben ,ausgestiegen’ bin... einem unbekannten Ziel entgegen.
 
 


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.