Samstag, 28. Januar 2017

Tatort Wuppertal Hörbuch - von Selzer-McKenzie

Tatort Wuppertal - Hörbuch - von Selzer-McKenzie
Author D. Selzer-McKenzie
YoutubeVideo: https://youtu.be/ocoR3mmIfBs
 Sie sang merkwürdige Verse, als sie über die Straße auf das große Gebäude zuging. Sie verzog die Lippen. Von allen dummen Sprüchen war das einer der dümmsten, wie sie fand. Worin sollte wohl der Zauber wohnen, wenn man sich zu seinem ersten Arbeitstag einfinden musste? In einer neuen Abteilung, einem neuen Team. In ihrem Fall: einem neuen Präsidium, denn sie stand vor dem Polizeipräsidium der Stadt Wuppertal. Und damit eigentlich am Ziel ihrer Wünsche, denn genau hier hatte sie stehen wollen, nachdem sie zuvor etliche Jahre in verschiedenen kleineren Dienststellen im Bergischen Land zugebracht hatte. Wenn nur der Einstand nicht wäre.
  Das Präsidium ragte vier Stockwerke hoch vor ihr auf, massiv und dominant. Sie hätte es nicht als Beschuldigte eines Verbrechens betreten mögen. Sie mochte es allerdings auch nicht als Neue betreten, die sich in Kürze einer Gruppe von ganz bestimmt skeptischen Kollegen vorstellen musste. Aber daran ließ sich nichts ändern. Ihr war jedenfalls keine Methode bekannt, den Anfang zu überspringen und gleich mit der zweiten Woche zu beginnen. Oder dem zweiten Monat oder am besten gleich dem zweiten Jahr, wenn man sich an sie gewöhnt haben würde wie an die Büromöbel, die einen Tag für Tag umgaben.
  Sandra spürte, wie es in ihren Beinen kribbelte. Wann immer sie innerlich unter Druck geriet, wollte sie laufen. Oder Gewichte stemmen oder auf Sandsäcke einschlagen. Auf jeden Fall sich bis an die Grenzen der Erschöpfung körperlich verausgaben. Das war die einzige Möglichkeit, sich wieder zu beruhigen. Sie hatte in ihrem Leben vermutlich schon mehrmals laufend die Welt umrundet und solche Mengen von Sand verprügelt, dass man damit ganze Traumstrände füllen konnte.
  Aber jetzt ging das leider nicht. Sie wurde in zehn Minuten dort drinnen erwartet. Sandra seufzte und straffte die Schultern. Sie reckte den Hals, was ihren 1,63 Metern Körpergröße vielleicht noch einen weiteren Zentimeter hinzufügen würde. Dann betrat sie das Gebäude und ging als Erstes auf den Pförtner zu, der gerade unterhalb des Tresens nach etwas kramte. Er hob ruckartig den Kopf und setzte sich mit einer raschen, geübten Bewegung ein Fläschchen an den Mund.
  »Guten Tag«, grüßte Sandra.
  Der Mann zuckte zusammen und verbarg sofort die Flasche in seiner Hand. Er räusperte sich. »Medizin«, sagte er. »Gegen ... Asthma.« Er sprach mit zur Seite gedrehtem Kopf, vermutlich damit sie seine Fahne nicht roch.
  Auch ein Blinder hätte gesehen, dass der Mann flunkerte. Aber das war sein Problem. Sandra mischte sich nicht in die Geheimnisse anderer Menschen ein. Jedenfalls nicht immer.
  »Ich möchte zu Herrn Kriminalhauptkommissar Fladerer«, sagte sie.
  »Haben Sie einen Termin?«
  »Ja. Ich habe heute meinen ersten Arbeitstag hier. Sandra Santori ist mein Name.«
  Nun schaute der Mann sie zum ersten Mal direkt an. Auf seiner Stirn konnte Sandra lesen: Die?
  Sandra war klein, sie war dünn und hatte feuerrote Haare, die nie dort blieben, wo sie sie morgens hinkämmte. Anscheinend stellte sich der Mann eine Kommissarin anders vor.
  Laut sagte er: »Ah ja, Frau Santori. Ich habe gehört, dass Sie heute kommen. Kriminalhauptkommissar Fladerers Büro befindet sich im zweiten Stock, Zimmer 217. Sie können den Fahrstuhl nehmen, dann rechts den Flur entlang, und dann sind Sie auch schon da.«
  »Vielen Dank«, nickte Sandra. Eierlikörtorte, dachte sie im Weggehen unwillkürlich. Dieser Pförtner war weich, süßlich und voller Alkohol.
  Sandra nickte ihm noch mal zu und wandte sich zur Treppe, nicht zum Fahrstuhl. Die 70 bis 80 Treppenstufen in den zweiten Stock waren immerhin besser als nichts, wenn sie schon nicht mehrere Kilometer laufen konnte. Sie nahm immer zwei Stufen auf einmal, ohne sich am Geländer hochzuziehen. Keine Minute später war sie oben, ohne außer Atem zu sein.
  Sie wandte sich nach links, da der Fahrstuhl dem Treppenhaus gegenüberlag, fand das Zimmer 217 und klopfte genau eine Minute nach der vereinbarten Zeit an.
  Anstelle eines »Herein« wurde Sekunden später die Tür aufgerissen, und eine Buttercremetorte schaute heraus. Fettmassen türmten sich in Ringen übereinander, das rote Gesicht glänzte wie poliert und wurde von einem Bart, der eines Walrosses würdig gewesen wäre, in eine obere und eine untere Hälfte geteilt. Der Kopf saß ohne den Umweg über einen Hals direkt auf den Schultern, das untere der beiden Kinne hing bis aufs Brustbein herab.
  Unter dem Bart verzog sich der Mund zu einem Lächeln. Aber nicht nur der Mund, das ganze Gesicht lächelte. Eigentlich lächelte sogar der komplette Körper.
  »Frau Santori, nicht wahr?«, kam es unter dem Schnurrbart hervor. Die Stimme klang etwas kurzatmig. »Kommen Sie doch herein. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
  »Ich ... ich auch«, stotterte Sandra, überrascht von so viel Herzlichkeit. Als sie dem Mann ins Büro folgte, überlegte sie, was sie gerade gesagt hatte. Freute sie sich auch, sich kennenzulernen?
  Der Mann steuerte einige bequem aussehende Sessel an, die um einen Tisch vor dem Fenster gruppiert waren, und ließ sich in einen von ihnen hineinfallen. Anders konnte er sich mit seinem enormen Gewicht vermutlich nicht hinsetzen. Sandra nahm ihm gegenüber Platz.
  »Kaffee?«, fragte Fladerer.
  »Gerne.«
  »Vermutlich schwarz, richtig? Keine Milch und keinen Zucker?«
  Sandra nickte und bekam ihre Tasse gereicht. Ihr Vorgesetzter kippte ein halbes Kännchen Sahne in seinen eigenen Kaffee und gab anschließend vier Stück Süßstoff hinzu. Sandra musste die Lippen fest zusammenpressen, um nichts Schlaues zum Thema Kalorien von sich zu geben.
  »Mögen Sie?«, fragte Fladerer als Nächstes und hielt ihr einen Teller mit englischem Teegebäck hin.
  Sandra nahm ein Plätzchen und drehte es so lange zwischen den Fingern hin und her, bis diese vor Fett glänzten.
  Kriminalhauptkommissar Fladerer griff selbst eine ganze Handvoll des Gebäcks und ließ sich ein Stück nach dem anderen mit geschlossenen Augen auf der Zunge zergehen. »Köstlich«, seufzte er, als nichts mehr übrig war, und spülte mit einem Schluck Kaffee nach. »Aber nun zu Ihnen. Ich bin sehr erfreut, Sie heute bei uns begrüßen zu dürfen. Sehr erfreut, wirklich.«
  »Ach?«, murmelte Sandra.
  »In der Tat. Ich habe hier Ihre Personalakte vorliegen und muss sagen, ich bin sehr angetan.«
  »Ja?«, fragte Sandra vorsichtig. Sie hatte noch nie einen Blick in ihre Akte geworfen und hatte keine Vorstellung, was dort so alles eingetragen wurde. Ob darin ihre gelegentlichen Ausrutscher erwähnt wurden? Die immer dann geschehen waren, wenn sie keine Gelegenheit gehabt hatte, den inneren Druck sozialverträglich abzubauen? Aber hätte Fladerer dann gesagt, er wäre angetan? Hoffentlich wurde wenigstens die Geschichte mit dem Kollegen, der ihr vor einiger Zeit zu nahe gekommen war, nicht erwähnt. Ihr früherer Chef hatte ihr deswegen jedenfalls keinen Ärger gemacht.
  »Sie haben ausgezeichnete Beurteilungen erhalten«, fuhr Fladerer fort. »Vielleicht nicht unbedingt, was alte Tugenden wie Pünktlichkeit und Ordnung angeht. Sondern vor allem, was die Ermittlungsarbeit betrifft.«
  »So?« Vielleicht könnte sie bald mal etwas anderes als nur Einwortsätze von sich geben, dachte Sandra.
  »Ja. So. Sie müssen wissen, Ihr vorheriger Chef ist ein alter Freund von mir. Wir waren zusammen auf der Polizeischule. Und daher habe ich nicht nur Ihre Akte hier vor mir, sondern bin auch im Besitz weiterer interessanter Informationen.«
  »Hm«, machte Sandra, was streng genommen noch nicht mal ein Einwortsatz war.
  »Wie mein Freund und Kollege mir mitteilte, haben Sie ein gutes Gespür für Menschen. Können hinter die Fassade blicken. Wenn Sie es genau wissen wollen: Er bezeichnete sie als fleischgewordenen Lügendetektor.«
  »Also ...«, murmelte Sandra. Mehr fiel ihr nicht ein.
  »Ich habe auch gehört, dass Sie ein sehr emotionaler Mensch sind«, fuhr Fladerer fort.
  Sandra wurde rot und öffnete den Mund. Aber diesmal kam lediglich ein Keinwortsatz heraus. »Emotional« war genau das, was sie nicht sein wollte. Und aus dem Mund eines Polizisten war es nicht unbedingt ein Kompliment.
  »Machen Sie sich keine Gedanken, ich sehe darin kein Problem«, lächelte Fladerer. »Im Gegenteil. Und wenn doch mal eines daraus entstehen sollte, kommen Sie bitte zu mir und reden darüber, ja?«
  Nie im Leben, dachte Sandra und nickte vage mit dem Kopf.
  »Ich hab mir schon gedacht, dass Sie das nicht wollen.« Ihr Vorgesetzter zwinkerte. »Aber das Angebot steht. Obwohl Sie sich gegen gewisse Probleme wie zum Beispiel zudringliche Kollegen ganz gut wehren können, wie ich erfahren habe.« Er grinste von Ohr zu Ohr. »Ist seine Nase denn wieder gut zusammengewachsen?«
  »Also ...«
  »Na, schon gut. Geht mich ja nichts an. Jetzt werde ich Sie erst mal Ihrem direkten Kollegen Herrn Bellers vorstellen. Anschließend findet eine Morgenbesprechung statt, bei der Sie die anderen aus dem Team kennenlernen werden. Kommen Sie.« Ächzend stemmte er sich aus dem Sessel hoch.
  Sandra starrte fasziniert auf den ausladenden Körper, dessen Massen bei jeder Bewegung leicht vibrierten. Nachdem er sich erst mal in Gang gesetzt hatte, lief Fladerer dann aber so schnell über den Flur, dass Sandra sich beeilen musste, um Schritt zu halten. Schließlich hielt ihr Vorgesetzter vor dem Büro 224. Neben der Tür war ein Schild angebracht: Kriminaloberkommissar Markus Bellers, Kriminaloberkommissarin Sandra Santori. Direktion Kriminalität.
  Fladerer klopfte und wartete auf das »Herein«.
  »Hallo Herr Bellers. Hier ist Ihre neue Kollegin. Sandra Santori, Markus Bellers«, stellte Fladerer sie einander vor.
  Markus Bellers stand auf. Er war sehr groß, weit über 1,90 Meter. Obwohl er um die Körpermitte ein wenig Fett angesetzt hatte, sahen seine Schultern aus, als hätte er Zeit seines Lebens Steine geschleppt. Die Oberarme waren dicker als Sandras Oberschenkel. Alte Narben im glatt rasierten Gesicht sowie ein Buckel in der Nase ließen auf eine bewegte Vergangenheit schließen. Trotzdem musste Sandra bei seinem Anblick an einen Baumkuchen denken, allerdings ohne Schokolade.
  »Machen Sie sich keine Sorgen«, lächelte Fladerer. »Er war früher mal Deutscher Box-Vizemeister im Schwergewicht. Deshalb sieht er so aus. In Wirklichkeit ist er das reinste Lämmchen.«
  Das Lämmchen verzog etwas gequält die Mundwinkel, sagte aber nichts.
  Sandra nickte und versuchte ein Lächeln.
  »Sie werden sich schon aneinander gewöhnen«, beruhigte Fladerer.
  Markus Bellers reichte ihr seine Pranke, und Sandra hielt die Luft an. Aber er drückte ihre Hand nur ganz kurz und nicht sehr fest. Dabei sah er auf ihr rechtes Ohr und sagte: »Angenehm.« Was nicht stimmte.
  Sie antwortete: »Freut mich.« Was ebenfalls nicht stimmte.
  Sandra schaute sich im Büro um und sah zwei Schreibtische, ein Regal und einen Schrank. Alles wirkte, als handelte es sich bei diesem Büro um einen Ausstellungsraum. Hätte sie nicht gesehen, von welchem Tisch Bellers aufgestanden war, sie hätte nicht sagen können, welchen von beiden er benutzte. Die Schreibtischunterlage an seinem Platz lag genau parallel zur Tischkante, die Stifte waren ordentlich in einem Kästchen verstaut. Der Bildschirm bildete einen rechten Winkel zur Längsseite einiger Akten, die Ecke auf Ecke übereinandergestapelt waren. Lediglich ein Kugelschreiber, der schräg neben den Akten lag, störte die Reinheit der rechten Winkel. Noch während Sandra auf den Stift schaute, trat Bellers zurück an seinen Schreibtisch und legte den Kuli parallel zum Rand der Schreibtischunterlage.
  »Sie erklären ihr ein paar Dinge, ja?«, sagte Fladerer zu ihm. »Wir sehen uns dann in zwanzig Minuten im Besprechungsraum.«
  Nachdem er gegangen war, schauten Bellers und Sandra umher, als hätten sie noch nie etwas Interessanteres als Metallschränke und klobige Schreibtische gesehen.
  Schließlich fragte Bellers: »Tja. Wollen Sie irgendwas wissen?«
  »Ich denke, das ergibt sich, wenn wir mit der Arbeit begonnen haben.«
  »Ja.«
  Das Gespräch versiegte.
  »Gut. Dann werde ich mal wieder ...« Bellers murmelte irgendetwas Unverständliches und setzte sich. Er starrte wie gebannt auf den Bildschirm. Sandra konnte sehen, dass seine Schultern ebenso angespannt waren wie ihre eigenen.
  Sie ging zu dem anderen Schreibtisch, der ja dann wohl ihrer war, und fuhr den Computer hoch. Sie räusperte sich: »Ähm, entschuldigen Sie. Kennen Sie das Passwort?«
  »Hm? Ach so.« Bellers schaute auf, als hätte er vergessen, dass sie da war. Sandra hatte aber gemerkt, dass er jede ihrer Bewegungen verfolgt hatte. Jetzt sah sie, wie er mit dem Kugelschreiber spielte, während seine Ohren flammend rot wurden.
  »Das Passwort ist ›Titten‹. Sie können es aber natürlich jederzeit ändern«, murmelte er.
  »Titten?«
  »Von Ihrem Vorgänger. Nicht meine Idee.«
  »Verstehe.« Nur gut, dass sie nicht mit diesem Vorgänger zusammenarbeiten musste. Markus Bellers hatte bestimmt so etwas wie: »wqrz27« als Passwort gewählt und wechselte es vorschriftsmäßig einmal pro Woche.
  Sandra gab also Titten ein und ging anschließend als Erstes auf Einstellungen, um ein neues Passwort zu vergeben. Sie wählte Inge03, wie immer. Und wie immer gab es ihr ein gutes Gefühl, den Namen zu schreiben und an die dazugehörige Person zu denken. Und an das Jahr, in dem sie sich kennengelernt hatten.
  Dann klickte sie eine Weile herum, um sich einen Überblick über die Programme zu verschaffen. Der Computer war voller Dateien, anscheinend hatte man ihn einfach so gelassen, wie ihn ihr Vorgänger übergeben hatte.
  Immer wieder schielte Sandra auf die Zeitangabe am unteren Bildschirmrand. Nur noch 17 Minuten bis neun, nur noch 16 Minuten, nur noch ... Zu diesem Zeitpunkt dachte Sandra noch, das gefürchtete Zusammentreffen mit den neuen Kollegen sei im Moment ihr größtes Problem. Nur wenig später verloren solche Nichtigkeiten jegliche Bedeutung, als Sandra hilflos miterleben musste, was über sie, das Präsidium und die ganze Stadt hereinbrach.


 Kapitel 2

  Sandra war noch immer damit beschäftigt, die Dateien ihres Vorgängers anzuschauen und über die ganzen Rechtschreibfehler zu staunen, als sie plötzlich unruhig wurde. Sie wusste erst nicht warum, aber auch Bellers hatte aufgeschaut und verharrte mit dem Kugelschreiber auf halbem Weg zu dem Notizblock, in dem er gerade etwas notieren wollte. Dann stand er wortlos auf und verließ einfach das Büro. Sandra starrte ihm hinterher. Was war jetzt? Es war doch noch Zeit bis neun Uhr? Und hätte er ihr nicht den Weg zu dem Besprechungsraum zeigen müssen?
  Dann wurde ihr bewusst, dass die Geräuschkulisse im Präsidium sich verändert hatte. Fußgetrappel auf dem Flur, erregte Stimmen, die sich Sätze zubellten, von denen sie nur einzelne Wörter verstehen konnte. Türen wurden aufgerissen und offenbar gegen Wände geknallt, Sachen fielen zu Boden.
  Sandra stand auf und schaute aus dem Fenster, von dem aus sie auf den Parkplatz des Präsidiums schauen konnte. Wie Ameisen, deren Hügel jemand mit einem Stock zerstört hat, rannten Menschen aus den verschiedenen Ausgängen und über den Platz. Im Gegensatz zu Ameisen ging es jedoch nicht zügig und geordnet zu, stattdessen prallten immer wieder Personen zusammen, standen sich im Weg oder wurden von den ersten bereits rollenden Fahrzeugen angehupt. Sandra sah, wie ein junger Beamter sich vergeblich bemühte, gegen den Strom ins Gebäude zurückzukehren. Vermutlich hatte er etwas vergessen. Eine Frau fiel zu Boden, sprang sofort wieder auf und rannte weiter, als hätte nichts ihren Lauf unterbrochen.
  Irgendetwas musste geschehen sein. Eine Massenkarambolage auf der Autobahn?
  In diesem Moment kehrte Bellers zurück, rannte zu seinem Schreibtisch, riss die oberste Schublade auf und holte einen Autoschlüssel heraus.
  »Kommen Sie!«, rief er, hetzte zur Tür und dann wieder zurück zum Schreibtisch, wobei er Sandra fast umrannte. Am Schreibtisch schloss er die Schublade, dann wendete er sich wieder zur Tür und lief schließlich über den Flur zum Treppenhaus.
  »Was ist denn los?«, fragte Sandra, die mühelos mit ihm Schritt halten konnte, obwohl seine Beine erheblich länger waren als ihre.
  »Bombe«, keuchte Bellers und verfehlte die letzte Stufe, fing sich aber wieder.
  »Wie, Bombe? Warum?«
  Inzwischen rannten sie über den Parkplatz, und Bellers betätigte noch im Rennen die Fernbedienung seines Wagens.
  »Steigen Sie ein«, rief er und stieß sich selbst seinen Kopf am Wagendach. »Eine Autobombe ist explodiert. Es gab Tote.«
  In Sandras Ohren rauschte das Blut. Eine Bombe! Tote! Ein Terroranschlag? In Wuppertal? Vor ihrem inneren Auge spielten sich Szenen ab, wie sie sie im Zusammenhang mit den Anschlägen von Paris im Fernsehen gesehen hatte. Zerstörte Straßenzüge, tote Menschen. Andere Menschen, die in Panik flohen. Cafés und Restaurants, deren Fensterscheiben in Scherben auf dem Boden lagen und in denen sich Unsagbares abgespielt hatte. Aber doch nicht in Wuppertal?
  »Ein Terroranschlag?«, fragte sie.
  »Das ist nicht bekannt. Vorerst müssen wir alle Möglichkeiten berücksichtigen.«
  Immer noch war Sandra wie betäubt. Die Zeit schien still zu stehen. Und nicht nur die Zeit, sondern auch Bellers’ Wagen.
  »Warum fahren Sie nicht los?«
  »Sie sind nicht angeschnallt.«
  Sandra starrte ihn an. Machte er etwa in dieser Situation Witze? Nein, er schien es vollkommen ernst zu meinen. Kopfschüttelnd schnallte sich Sandra an, und Bellers rollte vom Parkplatz. Fast als Letzter in der Schar der Ameisen, und trotzdem nicht schneller als mit den auf dem Parkplatz vorgeschriebenen zehn Stundenkilometern, wie Sandra mit einem Blick auf den Tacho feststellen konnte.
  Auf der Friedrich-Engels-Allee beschleunigte er auf fünfzig, und dabei blieb es. Sandra schüttelte erneut den Kopf.
  »Wohin fahren wir?«, fragte sie schließlich.
  »Nach Sonnborn. Genaues weiß ich auch noch nicht, aber ...« In diesem Moment klingelte sein Handy. Bellers fummelte eine Weile daran herum, bis es sich vorschriftsmäßig in der Freisprechanlage befand. »Ja? Bellers hier!«
  »Fladerer. Wir planen um. Sie fahren zum Bayer Sportpark. Ich wiederhole: zum Bayer Sportpark.«
  »Ist dort die Bombe ...«
  »Nein, das war in der Kaiser-Wilhelm-Allee. Direkt neben dem Zoo. Die Anwohner werden derzeit zum Sportpark gebracht. Das ganze Gebiet ist abgesperrt. Sie und die anderen fahren bitte sofort zum Sportpark und sprechen mit den Menschen.«
  »Gab es weitere Explosionen? Oder sonstige Attentate?«, rief Sandra dazwischen.
  »Bis jetzt nicht. Auffallend ist, dass offenbar nur präzise dieses eine Auto gesprengt und nicht ein Schaden so groß wie möglich angerichtet werden sollte.«
  »Was ist daran auffallend?«
  »Nun, zumindest spricht das nicht unbedingt für einen terroristischen Anschlag. Aus der Luft waren bisher auch keine weiteren Attentate an anderen Orten zu entdecken.«
  Jetzt erst wurde Sandra bewusst, dass der Ameisenhaufen durch fliegende Artgenossen unterstützt wurde. Über ihnen kreisten mehrere Hubschrauber und scannten vermutlich das Stadtgebiet ab.
  »Ich melde mich wieder«, kam es aus dem Handy, dann hatte Fladerer aufgelegt.
  »Warum können wir nicht zum Tatort, wenn er dorthin kann?«, fragte Sandra.
  »Haben Sie nicht gehört? Es ist abgesperrt.«
  »Mag sein. Aber das sind Tatorte doch immer. Und ich mache mir gerne selbst ein Bild.«
  »Das können Sie ja bei Delikten wie Morden gerne tun. Aber nicht, wenn im Raume steht, dass ein terroristischer Anschlag verübt wurde. In einem solchen Fall kommt es durch die Leitstelle zur Erstbewertung ›Anschlag‹, und darauf folgt die entsprechende BAO. Sagt Ihnen das etwas?«
  Das sagte Sandra überhaupt nichts. War wahrscheinlich eine der unzähligen Abkürzungen, die sie damals auf der Polizeischule als unwichtig abgetan hatte. »So ungefähr«, gab sie vage zurück.
  »Also nicht. BAO steht für Besondere Aufbauorganisation. Am besten lassen Sie es gut sein und halten sich an die Anweisungen Ihres Dienstgruppenleiters, nämlich Fladerer. Wissen Sie, Regeln und Ablaufpläne werden nicht zum Spaß gemacht. Dabei hat sich jemand etwas gedacht. Und in diesem Fall bedeutet das, dass sich die einen um eine mögliche Terrorgefahr kümmern, während die anderen, nämlich wir, den Anschlag wie eine nicht-terroristische kriminelle Tat behandeln und ermitteln wie gewohnt. Indem sie in diesem Fall zuallererst die Opfer identifizieren und anschließend mit Zeugen sprechen.«
  Sandra schaute angestrengt aus dem Fenster und zuckte mit den Schultern. Nachdem sie ein paar Mal geschluckt hatte, sagte sie: »›Wie gewohnt‹ heißt bei mir aber, ich verschaffe mir ein Bild vom Tatort.«
  »In diesem Fall nicht. Die BAO ...«
  Sandra schaltete ab. Dieser Mensch war unerträglich. Wenn sie doch bloß weiter mit ihrem früheren Kollegen Klaus zusammenarbeiten könnte. Mit dem war alles immer so unkompliziert gewesen.
  Je näher sie dem Zooviertel kamen, um so größer wurde die Dichte der Fahrzeuge, die mit Blaulicht und Sirene durch die Straßen jagten. Andere, normale Autofahrer blieben am Rand stehen und beobachteten mit offenen Mündern das Geschehen. Hinter den Bayer-Werken waren die Straßen ins Zooviertel hinein abgesperrt. Vorbeifahrende Autos wurden weitergewunken, Autos, die durch die Absperrung wollten, angehalten, kontrolliert und dann ebenfalls weitergewunken. Niemand kam in das Zooviertel hinein. Aus der anderen Richtung dagegen, vom Zoo und aus den umliegenden Wohnstraßen, bewegten sich Menschen mit und ohne Autos aus dem abgesperrten Bereich heraus. Einige von ihnen wurden in Busse geleitet, andere fuhren mit ihren Pkws in Richtung Vohwinkel, zu dem Bayer Sportpark. Dies alles wurde sowohl von der Polizei, als auch von der Presse gefilmt.
  Hinter der Absperrung sah Sandra etliche Beamte hin und her laufen, einige von ihnen mit Spürhunden. Am liebsten wäre sie ausgestiegen und zu ihnen gegangen, aber Bellers fuhr gerade am Zooviertel vorbei und bog schließlich in die Seitenstraße zu den Sporthallen ein.


 Kapitel 3

  Bellers fuhr auf den Parkplatz vor den Sporthallen und hielt zwischen zwei Streifenwagen. Sandra wollte schon aussteigen, da setzte er noch mal zurück, um anschließend exakt in die Mitte der Parklücke zu fahren.
  Während sie zum Eingang gingen, meldete sich Fladerer erneut auf Bellers’ Handy. »So? Gut. Machen wir«, war alles, was Bellers antwortete.
  »Was war denn?«, fragte Sandra.
  »Fladerer. Er hat gesagt, dass es mindestens drei Tote gegeben hat. Und das Nummernschild des Wagens ist gefunden worden. Der Halter ist ein gewisser Dieter Lamprecht, wohnhaft in der Kaiser-Wilhelm-Allee 17. In dem Haus, vor dem die Bombe explodiert ist.«
  »Also ist er vermutlich getötet worden«, murmelte Sandra.
  »Das ist nicht sicher«, widersprach Bellers. »Bislang konnte keiner der Toten identifiziert werden. Eine der drei Personen im Auto scheint übrigens weiblich gewesen zu sein.«
  »Seine Frau?«
  »Wir wissen doch noch nicht mal, ob er eine Frau hatte.«
  Sie kamen in ein Foyer, von dem aus mehrere Sporthallen, ein Kraftraum und ein kleines Schwimmbad abgingen. Im Foyer hatten sich bereits an die hundert Menschen versammelt, die sich um uniformierte Beamte scharten, durcheinanderredeten, wild gestikulierten und immer wieder ihre Handys checkten, vermutlich um im Life-Stream zu verfolgen, was gerade geschah.
  Bellers wurde von einem der Beamten begrüßt, und sie gingen zu dritt in eine Nische etwas abseits der schnatternden Menge.
  »Wie sieht’s aus?«, fragte der Beamte.
  »Soweit man es bis jetzt beurteilen kann, gibt es keine Hinweise auf eine erhöhte Gefahrenlage«, gab Bellers zurück. »Keine weiteren Sprengstofffunde, kein Bekennerschreiben, keine sonstigen Attentate. Wie ist es hier?«
  »Die Leute sind aufgebracht, siehst du ja.« Der Mann wies auf die Menschen im Foyer. »Einige stehen vermutlich unter Schock. Aber bislang haben wir keine Notfälle oder Probleme.«
  »Gut. Ich müsste dann mit den Menschen sprechen, die etwas beobachtet haben, oder die den Halter des Wagens, Dieter Lamprecht, kennen.«
  Der Beamte nickte. »Haben wir schon vorbereitet. Diejenigen, die glauben, etwas aussagen zu können, sind vorerst dort untergebracht.« Er wies auf den Kraftraum. »Es sind auch schon Kollegen von euch dort.«
  Bellers nickte. »Danke. Und ihr stellt die Personalien dieser Menschen hier fest, ja?«
  »Und schicken euch diejenigen, die etwas wissen, klar.«
  Sandra und Bellers gingen in den Kraftraum. Dort wurden sie direkt von einem bulligen Mann in Trainingshose und weißem T-Shirt mit gelblichen Schweißflecken unter den Armen begrüßt.
  »Hallo, sind Sie von der Polizei?«, fragte er. »Kann ich vielleicht endlich mal eine Aussage machen?«
  »Ich bitte darum«, gab Bellers zurück.
  »Also, ich wohne in direkter Nachbarschaft zu dem Auto. Gesehen hab ich zwar nichts, außer dass Lamprechts Auto völlig zerstört ist. Und den Knall habe ich gehört, natürlich. Ich habe auch die Polizei angerufen.« Er wartete kurz, aber Bellers reagierte nicht. Erst als Sandra sagte: »Das haben Sie gut gemacht, und weiter?«, fuhr er fort. »Ich wollte nur sagen, dass bei uns vorne an der Ecke so Islamisten wohnen. Die sind vor ein paar Monaten eingezogen. Und prompt geht hier eine Bombe hoch. Das ist ja wohl kein Zufall.«
  Eine ähnlich beleibte Frau neben ihm nickte heftig mit dem Kopf. »Ganz genau. Die reden mit niemandem. Und der Mann hat manchmal so ein Käppi auf dem Kopf. Und einen schwarzen Bart. Das sind Radikale, das sieht man sofort.«
  »Aha«, sagte Sandra. »Haben Sie denn etwas beobachtet? Nur weil diese Menschen vielleicht Muslime sind ...«
  »Das sind doch alles Terroristen«, blaffte der Mann.
  »Sie müssten nur mal sehen, wie die uns immer anstarren«, stimmte die Frau zu. »Mit so einem stechenden Blick. Wie Verbrecher.«
  »Vielleicht würden die nicht so finster schauen, wenn Sie nicht immer so unfreundlich zu Ihnen wären«, mischte sich ein anderer Mann ein. Er trug einen Anzug und einen Aktenkoffer in der Hand und hatte vermutlich eigentlich zur Arbeit gehen wollen.
  »Herr Özal ist ein Kollege von mir«, erklärte er dann Sandra. »Er ist Elektroingenieur. Lebt mit seiner Frau, die Lehrerin am Schulzentrum Süd ist, und drei Kindern, die alle das Gymnasium besuchen, seit einigen Monaten hier im Viertel. Ich gehe nicht davon aus, dass er Bomben legt, bloß weil er einen Vollbart trägt.«
  Sandra nickte. »Gibt es sonst irgendwelche Beobachtungen? Wichtige, meine ich.«
  Der Mann in der Trainingshose schnaubte und wandte sich ab. Er griff nach dem Arm der dicken Frau: »Komm, Bettina. Die Polizei will ja scheinbar unsere Hinweise nicht anhören.«
  »Einen Moment bitte«, rief ihm Sandra hinterher. »Ich brauche Namen und Adressen von Ihnen.«
  »Warum? Wir haben nichts getan. Wir sind anständige Leute, die ihre Steuern zahlen und ...«
  »Und die seit Jahren arbeitslos sind und eben keine Steuern zahlen«, warf der Anzugträger ein, ohne ihn anzuschauen.
  »Das ist ja wohl ...«, begann der Mann, aber diesmal unterbrach ihn Sandra: »Darf ich um Namen und Adresse bitten? Damit wir uns mit Ihnen in Verbindung setzen können, wenn wir mehr wissen wollen.«
  Vor sich hinmurmelnd schrieb der Mann seinen Namen und die Adresse in Bellers’ Notizbuch. Es stellte sich heraus, dass er und seine Frau in einer der Villen in dieser Straße wohnten, dort allerdings im Souterrain. Als Beruf gab der Mann Hausmeister und für seine Frau Hausfrau an.
  Der Reihe nach schrieben alle Anwesenden ihre Namen und Adressen in das Notizbuch. Danach verteilten sie sich auf die anwesenden Polizeibeamten und erzählten ihnen, was sie wussten oder zu wissen glaubten.
  Die Letzte, die ihre Adresse in Bellers’ Notizbuch schrieb, war eine alte Dame mit zerknittertem Gesicht, die kaum den Stift zwischen den verkrümmten Fingern halten konnte. Sie gab schließlich den ersten brauchbaren Hinweis: »Ist der Dieter ums Leben gekommen?«, nuschelte sie, mit einer Zigarette zwischen den Lippen, die hier drinnen natürlich nicht erlaubt war. Aber alle hatten gerade andere Sorgen.
  Außer Bellers: »Entschuldigung. Aber hier ist Rauchverbot«, mahnte er, und nach kurzem Zögern drückte die alte Dame ihre Zigarette in einem kleinen Taschenaschenbecher aus.
  »Sie kennen ihn?«, fragte Sandra.
  Die alte Dame nickte, während sie mit zittrigen Fingern in altdeutscher Schrift ihren Namen schrieb. Dann wandte sie sich zum Gehen. Sie neigte jedenfalls nicht zu Klatsch und Tratsch.
  »Moment, bitte. Können Sie mir mehr über ihn erzählen?«
  »Schon. Ich kenne ihn schon, seit er auf der Welt ist.« Pause. Nein, sie neigte wirklich nicht zum Tratsch.
  »Was können Sie mir denn über ihn erzählen? Und sollen wir uns vielleicht dort drüben hinsetzen?« Sandra zeigte auf eine Hantelbank. Möglicherweise war die Frau ja gesprächiger, wenn nicht mindestens zehn Personen drum herum standen und zuhörten.
  Die alte Dame folgte ihr. »Was wollen Sie denn wissen?«
  »Alles, was Sie wissen, am besten.«
  »Womit fange ich an? Also, der Dieter hat irgendwas mit Musik gemacht. Aber nicht selbst. Er hat irgendwelche Musiker gemanagt, wie das heute immer heißt. Hat denen Konzerttermine besorgt oder Plattenverträge und so. Heißt das eigentlich immer noch Plattenverträge? Es gibt doch gar keine Schallplatten mehr.«
  »Also ist er Musikagent?«
  »Ja, genau. So hat er sich bezeichnet.«
  »Und können Sie sich vorstellen, was passiert sein könnte? Und warum?«
  »Nein.«
  »Hatte er vielleicht Feinde? Oder haben Sie mitbekommen, ob jemand Streit mit ihm hatte?«
  »Es heißt zwar: über die Toten nichts Böses«, antwortete die alte Dame. »Aber das hilft Ihnen ja nicht weiter. Dieter hat leider mit vielen Menschen im Streit gelegen. Mit sehr vielen. Aber Genaueres weiß ich nicht.«
  Genaueres weißt du doch, du willst es nur nicht sagen, dachte Sandra.
  Laut fragte sie: »Können Sie mir nicht wenigstens einen Namen sagen? Vielleicht von der Person, mit der er den schlimmsten Ärger hatte?«
  Die alte Dame schürzte die Lippen. Dann sagte sie: »Na gut. Den größten Ärger hatte er mit seiner Frau. Aber die ist ja wohl mit ihm in die Luft geflogen, hm? Die ganzen Leute mit ihren Handys sagen jedenfalls, es habe drei Tote gegeben. Also würde ich es an Ihrer Stelle mal bei seinen diversen Exfrauen versuchen. Die feiern bestimmt eine Party, wenn sie hören, was passiert ist.«
  »Gab es Probleme zwischen Lamprecht und seinen früheren Partnerinnen?«
  »Probleme ist gar kein Ausdruck. Aber das müssen Sie jetzt wirklich selbst herausfinden.« Damit drehte sie sich um und ging zu den anderen zurück.
  »Nun gut. Lamprecht scheint also schon mal kein Engel gewesen zu sein, bei dem sich niemand auch nur die leiseste Vorstellung machen kann, weshalb ihn jemand töten sollte.«
  »Sie sind zu voreilig, Frau Santori«, ermahnte Bellers. »Noch wissen wir nicht mal, ob er überhaupt ums Leben gekommen ist.«
  »Es ist aber doch sehr wahrscheinlich, oder nicht? Wäre er sonst nicht hier aufgetaucht und hätte sich gemeldet? Inzwischen dürfte es niemanden mehr in Wuppertal geben, der nicht von den Ereignissen gehört hat.«
  »Es könnte doch sein, dass er auf Reisen ist. Oder stellen Sie sich vor ...«
  Bellers dozierte noch lange darüber, was Sandra sich vorstellen sollte, aber sie hörte nicht mehr zu. Schließlich ließ sie ihn einfach stehen und sprach mit der nächsten Zeugin, einer Nachbarin des Opfers. Des mutmaßlichen Opfers, verbesserte sie sich im Stillen.


 Kapitel 4

  Die Befragungen zogen sich bis zum späten Nachmittag hin. Immer wieder wurde Bellers von Fladerer telefonisch auf dem Laufenden gehalten, vor allem mit der Information, dass es nach wie vor keine Hinweise auf einen terroristischen Anschlag gebe. Um 13.00 und um 16.00 Uhr schauten sie sich jeweils die Pressekonferenzen aus Düsseldorf an, an denen unter anderem der nordrhein-westfälische Innenminister teilnahm. In der ersten informierte er die Öffentlichkeit, dass es bislang keine konkreten Hinweise auf eine terroristische Tat gebe. In der späteren hieß es, man gehe von einem Verbrechen mit kriminellem Hintergrund aus, ermittle aber zunächst weiter in alle Richtungen. Am späten Nachmittag durften die Anwohner des Zooviertels in ihre Häuser zurückkehren, die Mitarbeiter der Kriminalpolizei wurden zu einer Besprechung ins Präsidium beordert. Das hieß, Sandra würde jetzt, mit mehrstündiger Verspätung, ihre übrigen Kollegen kennen lernen.
  Sie und Bellers kamen als Erste in den Besprechungsraum, was sie vor das Problem stellte, ob sie sich entweder direkt neben Bellers setzen und möglicherweise aufdringlich wirken, oder ein oder zwei Stühle frei lassen und gehemmt oder abweisend wirken sollte. Sie löste das Problem, indem sie selbst auf einen Stuhl zustürzte und sich als Erste setzte. Jetzt musste Bellers sehen, was er tun wollte. Er entschied sich für einen Stuhl Abstand.
  Nach und nach kamen die anderen in den Raum. Zuerst eine Kollegin um die dreißig. Oder bei näherem Hinsehen vielleicht um die vierzig. Mit Absätzen war sie an die 1,80 Meter groß, und die glatten, blonden Haare berührten den Bund ihrer hautengen Jeans. Als sie Sandra sah, runzelte sie die Stirn, verzog aber sofort den Mund zu einem breiten Lächeln, als hinter ihr ein Kollege etwa Mitte dreißig eintrat. Er war drahtig wie ein Langläufer.
  Die Frau sagte: »Schau mal, Luk. Unsere neue Kollegin ist da.«
  Der Langläufer kam auf Sandra zu und sagte: »Angenehm. Sehr angenehm! Ich bin Lukas Mann. Luk, für meine Freunde. Den Namen solltest du dir merken.« Er lächelte ein Lächeln, das er vermutlich als diabolisch bezeichnet hätte. »Und du?«
  »Sandra Santori«, antwortete Sandra und wartete auf den Kommentar. Der auch prompt kam: »Sandra Santori? Oder vielleicht San-San für deine Freunde?«
  »Nein, einfach nur Sandra.«
  Die Kollegin hatte sich bereits hingesetzt, ohne sich vorzustellen, und nun kamen zwei weitere Kollegen in den Raum, die sich als Bernd Bongarz und Michael Schweizer vorstellten. Bongarz war um die fünfzig, trug einen sauber gestutzten Vollbart und vollständig knitterfreie Jeans und Hemd. Als ob er die Sachen unmittelbar vor der Besprechung aus der Wäscherei geholt hätte. Sandra war sich sicher, dass er schwul war. Und sie war sich ebenfalls sicher, dass er das verbergen wollte, jedenfalls hier bei den Kollegen. Schweizer war höchstens dreißig und wischte, während er sich vorstellte, auf seinem Tablet herum. Vielleicht hätte er Sandra seinen Namen lieber per Mail geschickt.
  Als Letzter betrat Fladerer den Raum und schloss die Tür. »So, schön dass alle hier versammelt sind. Und schön, dass wir eine neue Kollegin begrüßen können. Haben Sie sich schon bekannt gemacht?«
  Allgemeines Gemurmel war die Antwort.
  »Schön. Dann lassen Sie mich damit beginnen, dass bezüglich der heutigen Ereignisse alles darauf hindeutet, dass wir es nicht mit einem Terroranschlag, sondern sozusagen mit einem normalen Verbrechen zu tun haben.«
  »Na ja. Normal?«, warf Lukas Mann ein.
  »Warum deutet alles darauf hin?«, fragte Bongarz.
  »Da ist zunächst die Tatsache, dass bislang kein Bekennerschreiben aufgetaucht ist. Weiterhin ist mit Ausnahme des Autos und der drei getöteten Personen so gut wie kein Schaden entstanden. Noch nicht mal Fensterscheiben sind zerbrochen. Lediglich ein paar in der Nähe parkende Autos sind beschädigt worden. Bei einem Terroranschlag hätte man doch versucht, so viel Schaden wie möglich zu verursachen.«
  »Und das wäre in dieser Gegend ganz einfach gewesen«, stimmte die Kollegin zu, die sich noch nicht vorgestellt hatte. Bellers raunte Sandra zu, dass es sich um Imke Hellweg handele. »Ganz in der Nähe ist der Zoo, in dem an Wochenenden Tausende von Menschen sind.«
  »Und ein paar Hundert Meter weiter das Stadion«, ergänzte Lukas Mann. »Das hätte sich auch gelohnt. Aus Sicht eines Terroristen, meine ich.«
  »Lassen Sie uns also vorerst davon ausgehen, dass tatsächlich eine oder mehrere Personen, die sich in dem Wagen befanden, gezielt getötet werden sollten. Was wissen wir bisher?«
  Die Ermittler trugen zusammen, was sie bislang über den Halter des Wagens, Dieter Lamprecht, erfahren hatten. Mehrere Nachbarn hatten bestätigt, dass sie gelegentlich beobachtet hatten, wie Lamprecht heftig mit verschiedenen Personen gestritten habe. Dabei sei es zum einen offensichtlich um diverse begonnene, laufende oder beendete Liebschaften gegangen, zum anderen um Konflikte, die mit seiner Tätigkeit als Musikagent zu tun gehabt hatten.
  »Als Musikagent hat er sich übrigens Dino Lambardo genannt«, erklärte Bongarz.
  »Ach, der?«, fragte Schweizer.
  »Kennst du den?«
  »Ich habe von ihm gelesen. Der hat die Master Stars ganz groß herausgebracht. Diese Boygroup aus dem Bergischen Land.«
  »Gibt es irgendwelche Hinweise, wo Lamprecht alias Lambardo sich aufhalten könnte? Sofern er nicht im Auto gesessen hat?«, fragte Fladerer.
  »Keine«, antwortete Schweizer. »Niemand wusste etwas über ihn, telefonisch war er nicht zu erreichen. Weder per Handy noch in seiner Agentur. Das Gleiche gilt für seine Ehefrau. In den Nachrichten ist das Nummernschild seines Wagens genannt worden, und der Halter wurde aufgerufen, sich bei der Polizei zu melden. Dass weder er noch seine Frau es bisher getan haben, lässt nichts Gutes für sie vermuten.«
  »Gibt es irgendwelche Erkenntnisse über die dritte Person im Wagen?«, fragte Imke.
  »Bislang nicht«, antwortete Fladerer. »Außer dass es sich um einen Mann handelt.«
  »Aber es gibt Vermutungen«, ergänzte Lukas Mann. »Ein Nachbar hat uns erzählt, dass Lamprecht seinen Wagen nie selbst gefahren hat. Stattdessen hat er einen Fahrer beschäftigt, der gleichzeitig als sein Bodyguard fungierte. Er wusste nur, dass sein Vorname Marvin ist.«
  »Gut. Gehen Sie dem weiter nach«, nickte Fladerer. »Es gibt erste Erkenntnisse der KTU. Und zwar hat sich gezeigt, dass die Bombe mit Klebeband an der Unterseite des Autos befestigt war. Der Zünder war mit dem Anlasser verbunden, sodass der Sprengsatz in dem Moment explodierte, als der Schlüssel gedreht wurde.«
  »Wie gehen wir weiter vor?«, fragte Lukas Mann.
  »Sofern wir aus Düsseldorf nichts anderes hören, behandeln wir das Ganze jetzt als einen Mordfall. Vorrang hat die Identifizierung der drei Opfer. Die DNA-Analyse läuft. Dann möchte ich Sie bitten, sich morgen erneut in der Nachbarschaft und dem Freundeskreis der Lamprechts umzuhören. Oder im Feindeskreis, je nachdem. Bellers und Santori, gehen Sie bitte morgen zuerst zu Lamprechts Haus und schauen sich dort um. Wir haben die Haushälterin ausfindig gemacht, die wird um acht Uhr dort sein und Sie und die Spurensicherung ins Haus lassen. Außerdem wird sie für Fragen zur Verfügung stehen. Die KTU hatte heute dort schon mit der Arbeit begonnen, hat aber im Haus noch nichts Bemerkenswertes entdeckt.«
  »Eine richterliche Genehmigung, das Haus zu betreten, liegt vor?«, fragte Bellers.
  »Aber sicher, Herr Kollege. Anschließend gehen Sie bitte in Lamprechts oder vielmehr Lambardos Musikagentur und schauen, was Sie dort in Erfahrung bringen können. Erstatten Sie mir Bericht, wenn Sie etwas herausfinden, was Ihnen wichtig erscheint. Ansonsten treffen wir uns morgen Abend, zur selben Zeit am selben Ort.«
  * * *
  Sandra atmete auf, als sie gegen sieben das Präsidium verließ. Es war ein langer Tag gewesen. Und er war ganz anders verlaufen, als sie erwartet hatte. Was sie jetzt ganz dringend brauchte, war Bewegung. Und danach brauchte sie Inge.
  Sandra fuhr nach Hause, rannte eine Stunde wie von Höllenhunden gehetzt durch den Park, sprang rasch unter die Dusche und fuhr anschließend zu Inge. Bei ihr konnte sie auftauchen, wann immer sie wollte, sie war stets willkommen.
  Kaum hatte sie geklingelt, zog ihre Freundin sie ins Haus und küsste sie rechts-links-rechts auf die Wangen. Inge war die Einzige, die das durfte. Aus der Küche duftete es nach Tomatensoße und Käse. Wahrscheinlich gab es die Gemüselasagne, die Sandra so liebte.
  »Komm in die Küche. Und dann erzähl. Alles. Aber erst mal bekommst du etwas zu trinken.«
  Inge ging voran in die Küche, und Sandra betrachtete ihre kleine, hagere Gestalt. Man sah ihr ihre 61 Jahre nicht an. Gut, die kurz geschnittenen Haare waren inzwischen weiß geworden, und die Haut im Gesicht und am Hals war längst nicht mehr glatt. Inge behauptete gerne, sie werde Orpheus und Eurydike, ihren Schildkröten, immer ähnlicher. Danach wartete sie dann auf Sandras Protest. Und wehe, der kam nicht! Aber es war nicht schwierig, ihr in diesem Punkt zu widersprechen. Inge war so voller Energie, dass sie alterslos wirkte. Außerdem war sie stets hellwach. Was, wie Sandra wusste, ein Überbleibsel aus ihrer Jugend war, die sie in den Straßen eines sogenannten Problemviertels verbracht hatte. Dort hatte sie die Augen überall haben und stets als Erste zuschlagen müssen, alles andere wäre ihr nicht gut bekommen. Zahlreiche Narben zeugten davon, dass sie sich jedenfalls nicht kampflos ergeben hatte.
  Mit vierzehn war sie in die wichtigste Gang ihres Viertels aufgenommen worden, mit sechzehn hatte sie eine eigene Gang gegründet, mit siebzehn gab es im ganzen Viertel niemanden mehr, der es gewagt hätte, sich mit ihr anzulegen. Außer einer Richterin, die sie mit achtzehn zu acht Jahren Jugendhaft verdonnerte, weil Inge ihren Vater halb tot geschlagen hatte, nachdem der sich an ihrer jüngeren Schwester vergriffen hatte. Trotz der mildernden Umstände bestand die Richterin auf der harten Strafe. Denn sie hatte einen Plan: Nachdem Inge einige Wochen im Gefängnis rebelliert hatte und Dauergast in der Isolationszelle gewesen war, bekam sie Besuch von eben dieser Richterin, die ihr klarmachte, dass sie zwei Möglichkeiten habe: Entweder sie machte so weiter wie bisher und verbrachte ein kurzes und aufreibendes Leben als Kriminelle. Oder sie kniff den Hintern zusammen und stellte endlich etwas Vernünftiges auf die Beine.
  Nachdem Inge der Richterin gesagt hatte, sie solle sich verpissen, war sie still sitzen geblieben, hatte lange nachgedacht und dann einen Entschluss gefasst. Schon am nächsten Tag besuchte sie die gefängniseigene Schule und legte der Reihe nach den Haupt-, den Realschulabschluss und dann das Abitur hin. Anschließend studierte sie Philosophie, Politik und Psychologie an einer Fernuni. Genauso exzessiv, wie sie vorher Drogen konsumiert hatte, konsumierte sie nun Wissen. Sie konnte nicht genug davon bekommen, und dieser Hunger war ihr bis heute geblieben.
  Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis absolvierte Inge in Rekordzeit ihre Promotion und Habilitation und wurde anschließend zu einer der jüngsten Professorinnen für Psychologie, die die Uni je gesehen hatte. Zu der Richterin hielt sie bis zu deren Tod Kontakt. Sie wurde zu dem wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Zu einer echten Mentorin, im besten Sinne des Wortes.
  Und genauso eine Mentorin war Inge Sterzel nun für Sandra geworden. Seit sie sie dreizehn Jahre zuvor als Sechzehnjährige von der Straße aufgelesen hatte, wohin Sandra geflohen war, nachdem sie es mit ihrem zynischen Vater nicht mehr ausgehalten hatte.
  »Also dann. Erzähl«, forderte Inge, nachdem sie Sandra ein Glas verdünnten Johannisbeersaft eingeschenkt hatte. Die Lasagne brutzelte im Ofen vor sich hin, die Käsekruste würde erst in einigen Minuten perfekt sein. Und was nicht perfekt war, das kam nicht auf Inges Tisch. »Ich hab’s in den Nachrichten gesehen. Mitten in unserem Wuppertal. Aber es heißt, man gehe davon aus, dass das keine Terroristen waren.«
  Sandra nickte und berichtete von ihrem ersten Tag, an dem bereits so viel passiert war, dass es eigentlich für eine ganze Woche reichte. Sie erzählte außerdem von der freundlichen Begrüßung durch Fladerer und der weder freundlichen noch unfreundlichen durch Bellers.
  »Was ist er für einer?«, fragte Inge.
  Sandra zuckte mit den Schultern.
  »Na los, sag schon.«
  »Ich weiß nicht. Ist noch zu früh.«
  »Ach was! Welches Gebäck ist er?«
  »Ein Baumkuchen ohne Schokolade. Aber nur scheinbar.«
  »Was soll das heißen?«
  »Dass er nichtssagend wirkt. Steif, unbeweglich. Langweilig. Und überkorrekt. Zum Beispiel war er der Einzige, der mich gesiezt hat. Außer Fladerer, aber der ist ja der Chef und siezt alle.«
  »Und warum nur scheinbar?«
  »Ich glaube, er hält etwas zurück. Deswegen braucht er auch so viel Distanz. Damit niemand etwas mitbekommt. Ich glaube, er leidet unter irgendetwas.«
  »Na bitte. Das ist doch schon eine ganze Menge. Nutze immer deine Fähigkeiten, Sandra. Habe ich dir das schon mal gesagt?«
  »Ich denke doch«, seufzte sie. »Einige Millionen Male.«
  Inge gab ihr einen liebevollen Klaps auf die Wange. Auch das durfte nur sie tun.
  Und dann war endlich die Lasagne fertig. Während des Essens erzählte Sandra von den ersten Ermittlungsergebnissen. Inge stürzte sich begeistert auf die Informationen. Sie liebte es, Theorien und Spekulationen zu Sandras Fällen aufzustellen. Bis nach zwölf saßen sie noch zusammen, anschließend war Sandra zum ersten Mal an diesem Tag entspannt.


 Kapitel 5

  Am nächsten Morgen stand Sandra schon um Viertel vor acht vor dem Haus der Lamprechts. Die Absperrungen waren entfernt worden, die Reste des Autos abtransportiert und Scherben und andere Überbleibsel des Anschlags waren offensichtlich eingesammelt worden.
  Die Villa von Dieter Lamprecht war prächtig. Aber nur auf den ersten Blick. Sehr groß, drei Stockwerke hoch, mit Erkern und Türmchen. Inmitten eines großen Gartens, der ebenfalls vordergründig gepflegt war. Der Rasen war penibel gestutzt, Büsche zu Pyramiden und Kugeln geschnitten. Aber wenn man genauer hinsah, entdeckte man überall Spuren der Vernachlässigung. An den Rosensträuchern hingen verwelkte Blüten, die Regenrinne wies mehrere Löcher auf, von den grün gestrichenen Fensterrahmen blätterte die Farbe.
  Das Grundstück war von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben, der nach oben in mörderischen Spitzen auslief. Gartentor und Haustüre waren durch Kameras gesichert.
  Sandra schaute noch durch die Gitterstäbe, als sie hinter sich ein unangenehmes Quietschen hörte. Sie drehte sich um und sah eine etwa vierzigjährige, rundliche Frau, die einen silbernen Rollkoffer hinter sich herzog. Hinter ihr gingen zwei junge Beamte, und alle drei trugen die dünnen, weißen Plastikanzüge der Spurensicherung. Die Frau sah darin aus wie ein Heißluftballon.
  »Hallo!«, begrüßte sie Sandra. »Bist du die Neue? Ich bin Petra Oberrath. Spurensicherung.« Sie reichte Sandra eine weiche und sehr warme Hand und schaute sie mit einem noch wärmeren Blick an. Ein Kirschkuchen mit Streuseln.
  »Hallo. Ich bin Sandra Santori.«
  »Und du arbeitest mit Bellers zusammen?«
  »Genau.«
  »Dann lass dich mal nicht verdrießen«, lächelte Petra. »So, wann kommt denn wohl diese Haushälterin?«
  Sandra sah auf die Uhr. Schon fast acht. Wo blieb Bellers? Der würde doch nie und nimmer zu spät kommen?
  In diesem Moment klingelte ihr Telefon. »Frau Santori? Bellers hier. Ich werde mich ein paar Minuten verspäten, tut mir leid. Gehen Sie doch bitte schon ohne mich ins Haus.« Bevor Sandra etwas entgegnen konnte, legte er auf.
  »Bellers kommt später? Das streiche ich mir rot im Kalender an«, sagte Petra, die dicht neben Sandra gestanden und dem Gespräch ungeniert zugehört hatte.
  Endlich kam eine ältere Frau, die sich als Katharina Wienholdt, die Haushälterin der Lamprechts vorstellte. Sie war nicht größer als Sandra und trug einen knöchellangen Rock, eine Bluse und sehr vernünftige Schuhe. Ihre Haare hatte sie zu einem straffen Knoten gebunden. Vermutlich gehörte sie einer der unzähligen Wuppertaler Freikirchen an, deren weibliche Mitglieder fast alle so aussahen. Sie begrüßte die Ermittler, ohne vom Boden aufzuschauen, und ließ sie in den Garten und dann ins Haus.
  »Bleibt ihr bitte auf der unteren Ebene, du und Bellers?«, bat Petra. »Da sind wir gestern schon gewesen. Wir gehen nach oben.« Sie nickte Sandra freundlich zu und verschwand auf der Treppe.
  Sandra folgte Katharina Wienholdt in ein kombiniertes Wohn- und Esszimmer, das fast die gesamte untere Ebene einnahm. Kurz darauf folgte Bellers, der inzwischen eingetroffen war und sich ebenfalls vorstellte. Sandra schaute sich um. In einer Ecke sah sie einen offenen Kamin, vor dem vier Ledersessel standen. In einer anderen Ecke befand sich eine Couchgarnitur, ebenfalls aus Leder, die auf einen Fernseher von der Größe einer kleinen Kinoleinwand ausgerichtet war. In einer Vitrine konnte Sandra Urkunden und Pokale sehen. Als sie nähertrat, sah sie, dass sie nicht etwa Dino Lambardo beziehungsweise Dieter Lamprecht, sondern einer Frau namens Sofia Oliewski verliehen worden waren. Und zwar für ihre Erfolge im Wrestling.
  Sandra wollte Bellers darauf hinweisen, aber der hatte sich abgewandt und studierte die Rücken mehrerer sehr alt aussehender Bücher. Auch Minuten später war er noch so darin versunken, dass Sandra ihn dreimal ansprechen musste, bevor er mit einem »Hm?« antwortete.
  »Haben Sie was entdeckt?«, fragte Sandra.
  »Ja, schauen Sie mal.« Bellers entfaltete sein Taschentuch und zog vorsichtig eines der Bücher aus dem Regal. »Erstausgabe. Ulysses. Ich wette ...« Seine Stimme verlor sich, und er öffnete behutsam das Buch auf der ersten Seite. »Hab ich’s doch gewusst. Hier, sehen Sie. Eine persönliche Widmung des Autors. Handschriftlich. Für einen Wilhelm Lamprecht.« Bellers strich mit sanften Fingern über die Seite wie über den Rücken einer Geliebten.
  »Ähm, und glauben Sie, das hat etwas mit dem Anschlag zu tun?«, fragte Sandra.
  »Was?« Bellers wirkte, als tauchte er aus einem tiefen Brunnen herauf ans Tageslicht. »Nein. Natürlich nicht. Ich fand es nur ... interessant.«
  Er stellte das Buch zurück ins Regal und ging zu einem anderen Regal, in dem etwa fünfzig Aktenordner standen. Sandra konnte seinem Rücken die Enttäuschung ansehen. Hatte er also doch wenigstens eine kleine, unkorrekte Macke. Denn sicher stand in keinem Lehrbuch für Ermittler, dass man sich von der Büchersammlung eines mutmaßlichen Mordopfers begeistern lassen sollte.
  Während Bellers die Beschriftungen der Aktenordner studierte, schaute sich Sandra weiter um. An einer Schmalseite des Raums befand sich ein Esstisch, an dem zwölf Personen bequem Platz gefunden hätten. Durch eine Durchreiche konnte Sandra einen Blick in eine topmodern eingerichtete und unbenutzt aussehende Küche werfen.
  Sandra wandte sich an Katharina Wienholdt, die inzwischen mit der Wand verschmolzen war und sie mit großen Augen beobachtete. »Meinen Sie, Sie können uns ein paar Fragen beantworten?«,
  Die Frau nickte, und sie, Sandra und Bellers setzten sich an den Tisch.
  »Sie arbeiten also hier im Haus?«, begann Sandra.
  Die Frau nickte wieder.
  »Und was machen Sie?«
  »Alles, was anfällt«, murmelte die andere.
  »Putzen, Kochen, Wäsche waschen. Solche Dinge?«
  Die Frau nickte ein drittes Mal.
  »Sind Sie jeden Tag hier?«
  Ein viertes Nicken.
  »Erzählen Sie doch ein bisschen von Ihrer Arbeit. Was hatten Sie sich gestern zum Beispiel vorgenommen?«
  »Gestern wollte ich zuerst die Betten neu beziehen«, begann die Frau mit tonloser Stimme. »Das mache ich alle zwei Wochen. Die Herrschaften wollen das so. Obwohl nach zwei Wochen die Bettwäsche noch nicht wirklich schmutzig ist, wenn Sie mich fragen. Na ja, manchmal schon. Wenn sie ... also ... Aber das ist ja jetzt egal. Dann hätte ich Wäsche gewaschen ...«
  Je länger sie redete, desto mehr entspannte sie sich.
  »Das ist interessant«, kommentierte Sandra mehrere Male. Und das war noch nicht mal gelogen. Wenn man zwischen den Zeilen lesen konnte, konnte man einiges über die Lamprechts erfahren. Dass sie in getrennten Schlafzimmern geschlafen hatten, zum Beispiel. Und dass trotzdem in beiden Betten die Bettwäsche gelegentlich schon vor Ablauf der zwei Wochen gewechselt werden musste, weil sich gewisse Flecken darauf zeigten. Und dass immer mal wieder Damenwäsche auftauchte, die eine andere Größe aufwies, als sie die Dame des Hauses trug. Frau Wienholt bekam in diesen Fällen den Auftrag, sie zu waschen und in eine bestimmte Schublade zu legen, in der Dieter Lamprecht alias Dino Lambardo offenbar seine Trophäen sammelte.
  Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis Frau Wienholts Erzählstrom ins Stocken geriet. Sie faltete die Hände, dann fragte sie: »Sind die beiden tot?«
  »Wir wissen es nicht. Es besteht aber die Möglichkeit«, antwortete Sandra.
  »Mein Gott«, seufzte die kleine Frau. Sie rieb sich übers Gesicht und zog dabei eine Haarsträhne aus dem Knoten, die sich sofort kräuselte und weit vom Kopf abstand. Es war ein Jammer, dass sie ihr Haar nicht offen trug. Sie schien eine echte Löwenmähne zu haben. Und das auch noch in Schwarz! Sandra hätte viel um diese Farbe gegeben. Dann würde ihr Kopf wenigstens nicht so aussehen, als wäre gerade ein Feuer darauf ausgebrochen.
  »Haben Sie eine Idee, wer Herrn Lamprecht etwas antun wollte? Oder seiner Frau?«, fragte sie.
  Die Frau schüttelte langsam den Kopf.
  Zu langsam, fand Sandra. »Sie würden uns sehr helfen«, drang sie sacht zu ihr vor. »Wissen Sie, wir werden es sowieso erfahren. Wir müssen es sogar erfahren, wenn wir den Täter finden wollen. Sie würden uns die Arbeit nur erleichtern. Das wäre doch nicht illoyal Ihren Arbeitgebern gegenüber?«
  »Na ja«, murmelte Katharina Wienholt. »Herr Lamprecht hat schon einige Menschen verärgert. Das brachte sein Beruf so mit sich. Wissen Sie, diese ganzen jungen Leute, die so gerne berühmt werden wollen. Wenn Sie denen sagen, dass ihre Musik nichts taugt, sind die maßlos enttäuscht. Ab und zu ist mal einer von denen hier gewesen. Und dann gab es manchmal unschöne Szenen.«
  »Können Sie uns Namen geben?«
  »Nein. Aber Sonja kann das.«
  »Wer ist Sonja?«
  »Seine Sekretärin. Sonja Kluge. Sie finden sie wahrscheinlich in seiner Agentur in der Innenstadt.«
  Sandra notierte sich den Namen und die Adresse, obwohl sie die schon hatten. Aber sie wollte Frau Wienholt zeigen, dass ihre Aussage wichtig war und ernst genommen wurde.
  »Und weiter? Gab es sonst noch jemanden, mit dem Herr oder Frau Lamprecht Probleme hatten?«
  Frau Wienholt schaute unbehaglich auf das Wasserglas in ihrer Hand. »Nun ja. Sie waren beide keine einfachen Menschen. Ich meine, mich hat das nicht gestört. Gott hat jeden Menschen nach seinem Bild geschaffen und liebt uns alle. Da werde ich nicht seine göttliche Weisheit infrage stellen. Aber andere ... Also, es gab schon einige Menschen, die mit ihnen Schwierigkeiten hatten. Sowohl mit Herrn Lamprecht als auch mit seiner Frau.«
  »Was reden Sie denn da?«, kam in diesem Moment eine schneidende Stimme von der Tür her.
  Frau Wienholdt schaute die Frau an, die eben ins Wohnzimmer trat, und riss die Augen noch weiter auf als zuvor. Dann stieß sie einen Seufzer aus und kippte lautlos vom Stuhl.


 Kapitel 6

  Im selben Moment brach ein Tumult los. Bellers rief: »So ein Mist!«, sprang auf und eilte zu der Haushälterin, die bewusstlos halb unter dem Tisch lag. Aus einer Platzwunde an der Stirn sickerte Blut und lief am Ohr vorbei in den Haarknoten. Sandra schob ihn zur Seite und zerrte am Arm der Haushälterin, um sie aufzurichten. Bellers wiederum zerrte an Sandras Arm, um sie davon abzuhalten. »Sie hat eine Kopfverletzung. Wir dürfen sie nicht bewegen. Nur in die stabile Seitenlage bringen und einen Notarzt holen«, rief er. Dann nestelte er sein Handy aus der Tasche und wählte schließlich den Notruf.
  Und über allem lag die schrille Stimme der Frau, die immer wieder kreischte: »Was machen Sie in diesem Haus? Ich möchte sofort wissen, wer Sie hereingelassen hat und was Sie hier wollen.«
  Bellers bellte sie an: »Und Sie halten jetzt endlich die Klappe, sonst werfe ich Sie hinaus.«
  »Was fällt Ihnen ein?«, schrie diese. Sie trug ein Kostüm, das vermutlich mehrere Monatsgehälter eines Kriminaloberkommissars kostete, und balancierte auf Absätzen, die so hoch und so spitz waren, dass man damit einen Stapel Papiere hätte lochen können. Aber trotz dieser schicken Kleidung musste Sandra bei ihrem Anblick an ein Stück Bauernbrot mit Leberwurst denken. »Das hier ist schließlich mein Haus.«
  »Wieso ist das Ihr Haus? Hier wohnen Herr und Frau Lamprecht, und die sind ...«
  »Ich bin Frau Lamprecht«, kreischte die Frau im höchsten Diskant.
  Bellers stand der Mund offen.
  Sandra schüttelte den Kopf, bis die neue Information endlich einen Platz in dem Teil des Cortex fand, der dafür zuständig war, dem akustischen Brei gesprochener Worte einen Sinn zuzuweisen. Man durfte eben nie etwas als gegeben hinnehmen, nur weil es wahrscheinlich war. Da draußen war zwar Lamprechts Auto in die Luft gesprengt worden, und es hatte drei Tote gegeben. Aber deswegen mussten noch lange nicht Herr und Frau Lamprecht unter den Toten sein.
  »Wer war dann die Frau im Auto?«, fragte Sandra schließlich Bellers, der immer noch mit weit geöffnetem Mund und hängenden Armen im Wohnzimmer stand.
  »In welchem Auto? Und was machen Sie eigentlich hier? Wer sind Sie?« Die Stimme der Frau stieg weiter in die Höhe. Noch ein bisschen weiter, und nur noch Fledermäuse hätten sie hören können.
  »Haben Sie denn nichts von dem Anschlag gehört?«, fragte Sandra.
  »Welchem Anschlag?«
  »Das kann doch nicht sein. Jeder hat davon gehört«, rief Bellers.
  »Ich bin nicht jeder. Wer sind Sie eigentlich?«
  »Bellers, Kriminalpolizei. Frau Lamprecht? Verheiratet mit Dieter Lamprecht?«, vergewisserte er sich noch mal.
  »Ja doch. Sofia Lamprecht. Was ist los?«
  Sofia, dachte Sandra. War sie die Frau mit den Wrestling-Pokalen? Sie betrachtete sie genauer und sah muskulöse Waden über den hochhackigen Schuhen. Die Frau hatte ihre Kostümjacke abgelegt, und an Schultern und Oberarmen waren weitere Muskelpakete zu sehen, groß wie Grapefruits. Auf eine Schulter war ein Totenkopf tätowiert, auf der anderen waren zwei gekreuzte Schwerter zu sehen.
  »Nun. Es hat eine Explosion gegeben. Ihr Auto ist in die Luft gesprengt worden. Und Ihr Mann ...« Bellers unterbrach sich.
  »Was ist mit meinem Mann?«
  »Wir können ihn nicht finden«, sagte Sandra. »Wir können nur sagen, dass drei Personen bei der Explosion ums Leben kamen. Zwei Männer und eine Frau.«
  Die Frau vor ihnen zog kurz die Augenbrauen hoch, ließ sie aber sofort wieder sinken. »Verstehe«, sagte sie schließlich und setzte sich nun tatsächlich hin. Direkt neben ihre Haushälterin, die zu ihren Füßen lag und immer noch bewusstlos war. Sofia Lamprecht war einfach über sie hinweggestiegen, als wäre die andere ein Koffer, der zufällig im Weg steht.
  »Passen Sie doch auf!«, rief Bellers und ging zu Frau Wienholt. Er berührte vorsichtig ihren Kopf und strich ihr über die Wange.
  »Die hat nichts«, sagte Sofia Lamprecht. »Das ist nur der Schreck.«
  »Und das wissen Sie so genau?«
  Die Frau nickte nur, und Sandra hatte das Gefühl, dass sie es tatsächlich so genau wusste. Vielleicht kannte sie sich als Wrestlerin mit solchen Sachen aus.
  In diesem Moment kam eine Frau, die einen Metallkoffer trug, durch die immer noch offenstehende Tür. Auf ihrer weißen Jacke stand in roter Schrift Notarzt. Hinter ihr folgten zwei Sanitäter. Die Ärztin kniete sich neben die immer noch bewusstlose Frau, fühlte ihren Puls und leuchtete ihr mit einer kleinen Lampe in die Augen. Dann maß sie den Blutdruck und untersuchte anschließend die Platzwunde an der Stirn.
  »Und?«, fragte Bellers.
  »Wohl nicht so schlimm«, gab die Frau zurück. »Hat sie einen Schock erlitten?«
  »Ja, doch. Das kann man sagen.«
  »Dann wird es daran liegen. Kleine Gehirnerschütterung kann auch dabei sein. Erbrochen hat sie aber nicht?«
  »Nein.«
  »Gut. Wir nehmen sie mit und behalten sie eine Nacht in der Klinik. Zur Sicherheit.«
  Sie nickte zwei Sanitätern zu, die eine Trage in den Raum rollten, die Frau darauflegten und zusammen mit der Ärztin verschwanden.
  Sofia Lamprecht saß immer noch am Tisch und zupfte an ihrer Unterlippe, wodurch sie korallenrote Schmiere an die Finger bekam. Dann fragte sie: »Sie wissen also nicht, wer das war, da im Auto?«
  »Nein«, stimmte Bellers zu.
  »Welcher Wagen war es denn? Der Mercedes? Oder der Porsche?«
  »Es war ein Mercedes.«
  »Der Mercedes. Na, ist eigentlich auch egal«, murmelte die Frau.
  »Warum egal?«
  »Der Mercedes und der Porsche gehören beide meinem Mann. Für mich hatte er bloß einen BMW übrig.«
  Mein Gott, wie grausam, dachte Sandra. Bloß einen BMW!
  »Jedenfalls hat er außer sich selbst und seinen dämlichen Fahrer niemanden an die Autos rangelassen«, fuhr Sofia Lamprecht fort. »Also müsste aller Wahrscheinlichkeit nach entweder er selbst oder dieser Halbaffe Marvin im Auto gewesen sein. Oder beide.«
  »Marvin?«, fragte Sandra nach.
  »Marvin Degenhardt. Sein Fahrer und Leibwächter.«
  Bellers notierte sich den Namen.
  »Brauchte er denn einen Leibwächter?«
  »Schon. Mit seinen wütenden Ex-Geliebten und den noch wütenderen, betrogenen Ex-Partnern dieser Ex-Geliebten könnten Sie ganze Stadien füllen. Voll mit Exen, sozusagen.«
  Vor Sandras innerem Auge erschien unwillkürlich ein Stadion, voll mit Echsen.
  »Und die Frau im Auto? Haben Sie eine Idee, wer das sein könnte?«
  »Ph!« Sofia Lamprecht zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Er hielt sich immer ein paar Betthäschen gleichzeitig. Wahrscheinlich war es eine davon.«
  »Darf ich Sie mal was fragen?«, begann Bellers.
  »Warum ich nicht entsetzt bin?«
  »Ja. Genau.«
  »Weil ich ihn hasse, wenn Sie es genau wissen wollen. Hoffentlich saß er drin in dem Wagen.«
  »Wo waren Sie zwischen ...« Bellers stockte. Dann fuhr er fort: »Wissen Sie, wann der Wagen zuletzt benutzt wurde?«
  »Mein Mann ist vorgestern damit in die Agentur gefahren. Oder hat sich fahren lassen, man ist ja wer. Als ich abends gegen 20.00 Uhr weggegangen bin, war er noch nicht wieder hier.«
  »Wohin sind Sie gegangen?«, wollte Sandra wissen.
  »Zu meinem Liebhaber. Nach Solingen. Dort war ich bis heute Morgen. Wollen Sie auch wissen, was wir gemacht haben?«
  »Also ...«
  »Wir haben gefickt. Die ganze Zeit über. Deswegen hatte ich auch keine Zeit, Nachrichten zu hören. Der Typ hat echt Ausdauer! Na ja, ist ja auch erst zwanzig. Nicht so ’ne Mumie wie mein Mann.« Sie schaute an Bellers hinauf und hinab. »Möchte ja gerne mal wissen, wie lange Sie es so bringen.«
  Bellers verzog keine Miene. Allerdings wurden seine Ohren etwas dunkler. »Können Sie uns den Namen Ihres Geliebten sagen?«
  »Aber sicher. Tobias. Tobias von der Heide, um genau zu sein. Ich hab mit ’nem Adligen gefickt.«
  »Wir werden das überprüfen. Können Sie uns noch weitere Hinweise geben?«
  »Was denn für Hinweise?«
  »Personen, die mit Ihrem Mann Streit hatten«, erläuterte Sandra. »Oder Vorkommnisse, die Ihnen aufgefallen sind. Gab es in letzter Zeit zum Beispiel irgendwelche Drohungen?«
  »Es gab immer irgendwelche Drohungen. Diese Musiker haben doch alle ein Rad ab. Jeder von denen denkt, er sei ein Genie, und ist tödlich beleidigt, wenn das nicht alle anderen genauso sehen.«
  »Ist Ihnen da jemand speziell im Gedächtnis geblieben?«, fragte Bellers.
  »Nö. Für mich waren die alle gleich. Sogar im Bett. Einige von denen habe ich nämlich auch gefickt.« Sie mochte es offenbar, dieses Wort zu benutzen. Vielleicht weil Bellers jedes Mal fast unmerklich zusammenzuckte. »Die dachten wohl, sie bekämen einen Agenturvertrag, wenn sie es mit der Frau des Chefs treiben. Da können Sie mal sehen, wie bescheuert die sind.« Sie spießte Bellers mit ihren Blicken auf. »Soll ich Ihnen erzählen, wie die im Bett waren?«
  »Nein.« Bellers starrte auf seinen Notizblock. »Aber mich würde interessieren, wie Sie finanziell dastehen, sollte Ihr Mann tatsächlich eines der Opfer sein.«
  »Ja, das würde mich auch interessieren«, stimmte Sofia Lamprecht zu.
  »Gibt es ein Testament?«
  »Bestimmt gibt es eines. Mein Mann hat so etwas mit seinem Haus- und Hof-Notar geregelt. Auch die Eheverträge. Der Notar muss sich eine goldene Nase verdient haben. Immerhin bin ich die sechste Ehefrau.«
  »Und was regeln diese Eheverträge?«, erkundigte sich Sandra.
  »Die regeln vor allem, dass die jeweilige Ehefrau nach einer Scheidung keinen Cent zu Gesicht bekommt.« Sofia Lamprecht verzog das Gesicht zu einem Grinsen. »Wieder ein Motiv, stimmt’s?«
  »Stimmt«, gab Sandra zurück.
  »Müssten Sie mir jetzt nicht sagen, ich soll mich zu Ihrer Verfügung halten? Und die Stadt nicht verlassen?«
  »Halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung, und verlassen Sie nicht die Stadt«, antwortete Sandra.
  »Wenn Sie mich so nett darum bitten. Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich muss dringend mal schlafen.«
  »Moment«, rief Bellers ihr hinterher. »Wären Sie damit einverstanden, dass wir einige persönliche Gegenstände Ihres Mannes mitnehmen, um einen DNA-Abgleich vornehmen zu können? Außerdem eventuell einige Unterlagen, aus denen hervorgehen könnte, mit wem Ihr Mann geschäftlich oder privat zu tun hatte, mit wem er eventuell Konflikte hatte und wer ...«
  »Nehmen Sie, was Sie wollen«, unterbrach ihn die Frau. »Hauptsache, Sie lassen mich in Ruhe schlafen.« Damit verschwand sie in den oberen Stock, von wo sie wahrscheinlich gleich zurückgeschickt würde, wenn Petra sie entdeckte.
  Sandra schaute ihr hinterher. Die Frau war unmöglich. Eigentlich. Und gleichzeitig erfrischend. Auf jeden Fall ging Sandra davon aus, dass sie ihren Mann nicht umgebracht hatte. Wenn Sofia Lamprecht ihren Mann beseitigt hätte, hätte sie ihm wahrscheinlich mit einem Baseballschläger den Schädel zertrümmert. Etwas so Heimtückisches wie eine Autobombe passte nicht zu ihr.
  »Die ist ja ’ne Marke«, sagte Bellers in diesem Moment. »Wenn das im Auto wirklich ihr Mann war, steht die jedenfalls ganz oben auf der Liste der Verdächtigen.«


 Kapitel 7

  Sandra und Bellers schauten sich weiter im Haus um und wurden von Petra nun doch nach oben gelassen, nachdem sie sich Schutzanzüge und Überschuhe angezogen hatten. Von dort nahmen sie einige persönliche Dinge von Lamprecht mit. Seine Haarbürste, seinen Nassrasierer und das Bettlaken, auf dem weißliche Flecken zu sehen waren. Außerdem leerten sie die Trophäenschublade, in der sich so viel Damenunterwäsche befand, dass man damit einen kleinen Laden hätte eröffnen können. Später würden sie noch die Aktenordner abholen lassen. Sandra vermutete, dass irgendein bedauernswerter junger Kollege Stunden oder Tage damit zubringen würde, die größtenteils unwesentlichen Unterlagen zu sichten.
  Bevor sie gingen, übergab Bellers Petra Oberrath die Dinge, die sie aus dem Haus mitnehmen wollten. Dann telefonierte er mit Fladerer. Er stellte das Telefon laut, damit Sandra mithören konnte. Als er ihren Chef darüber informierte, dass Sofia Lamprecht unversehrt aufgetaucht war, hörte Sandra ein langstrecktes: »Waaas?«
  »Sie spazierte hier einfach herein. Hatte nach eigenen Angaben nichts von dem Anschlag mitbekommen, weil sie bei einem Geliebten in Solingen gewesen war.«
  »Ist das glaubwürdig?«, fragte Fladerer.
  »Ich weiß nicht. Eigentlich schon. Oder?« Bellers schaute Sandra an, die ihm zunickte. »Wie sieht es mit Hinweisen auf einen terroristischen Hintergrund aus?«
  »Immer noch nichts. Weder Bekennerschreiben noch sonst irgendwelche Hinweise. In Düsseldorf entspannt man sich langsam.«
  »Also ermitteln wir ...«
  »Weiter wie in einem normalen Mordfall, genau.«
  Fladerer und Bellers legten auf.
  »Und jetzt zu Lambardos Agentur?«, fragte Sandra, als sie und Bellers zu ihrem Auto gingen.
  Sandra öffnete den Wagen und sah einige Häuser weiter ihre Kollegen Imke und Schweizer, die an der Tür eines Nachbarhauses klingelten und wenig später eingelassen wurden, ohne dass sie ihre Kollegen bemerkt hatten. Bei Imkes Anblick musste Sandra an eine Sahnetorte mit buntem Zuckerguss denken.
  Seit sie ein kleines Kind war, fielen ihr zu den meisten Menschen, die ihr begegneten, Gebäckstücke ein. Sie hatte fast nie darüber gesprochen, nur ihrer engsten Vertrauten Inge hatte sie es mal erzählt. Die wiederum hatte es Sandras Vorgesetztem in ihrer letzten Polizeidienststelle erzählt. Und der fand ihre Gebäckcharakterisierungen so treffend, dass er sie einen Blick auf jeden Zeugen und Verdächtigen werfen ließ, damit sie ihm anschließend ihre Einschätzung geben konnte.
  Gerade als Sandra einsteigen wollte, bekam Bellers einen Anruf.
  »Ja? Schon wieder? Seit wann? Jetzt? Aber ich bin im ... Was?« Bellers wandte sich von Sandra ab und lauschte fast eine Minute lang in den Hörer.
  Sandra lauschte auch, konnte aber die Worte nicht verstehen. Sie bekam nur mit, dass die Person am anderen Ende der Verbindung sehr erregt klang.
  Irgendwann sagte Bellers: »Na gut. Ich komme«, und steckte sein Handy ein. Sandra sah, dass seine Hände zitterten. Er merkte es offenbar auch, denn er steckte sie hastig in die Hosentaschen.
  »Ähm, Frau Santori ...«
  »Was ist?«
  »Ich muss ... Sie müssen leider alleine zu der Agentur fahren. Ich muss ... Ach, verdammt.«
  Tja, jetzt müsste man lügen können, dachte Sandra und beobachtete interessiert, wie ihr Kollege versuchte, etwas zu sagen, ohne es zu sagen.
  »Also, ich habe leider etwas zu erledigen. Etwas ganz Dringendes«, brachte er schließlich heraus.
  »Gut. Wann und wo treffen wir uns wieder?«
  »Am besten rufe ich Sie an, wenn ich fertig bin. Vielen Dank.« Bellers wirkte aufrichtig erleichtert, dass sie nicht wissen wollte, was er zu erledigen hatte und warum das unbedingt in der Dienstzeit sein musste. Er setzte sich in seinen Wagen, hob noch mal die Hand zum Gruß und fuhr davon.
  Sandra fuhr zur Agentur von Lamprecht alias Dino Lambardo und legte sich unterwegs zurecht, was sie wie fragen wollte. Das hier war die erste Vernehmung, die sie in eigener Verantwortung führen würde, und die neuen Kollegen würden das Ergebnis anschließend bestimmt besonders kritisch begutachten.
  Die Agentur befand sich in der Elberfelder Innenstadt, in einem Bürogebäude zwischen den Cityarkarden und der Musikschule. Sandra klingelte, und wenig später wurde der Türöffner betätigt. Sie ging in den zweiten Stock und klingelte dort erneut an der Tür der Agentur. Eine junge Frau öffnete. Sie war mindestens 1,85 Meter groß und schlank wie ein Supermodel. Also fast krankhaft schlank. Die Frau trug eng anliegende Jeans und ein Top, das freie Sicht sowohl auf den Bauchnabel als auch auf zwei Drittel der Brüste zuließ. Schimmernde, honigfarbene Haare glitten wie Seide den Rücken bis zur Taille hinab. Das Gesicht war mit Sicherheit ebenmäßig und schön, war aber gerade nicht sichtbar, da die junge Frau sich einen ganzen Stapel Papiertücher vor Nase und Mund hielt. Die Augen waren geschwollen und der Lidstrich so verschmiert, dass sie an einen Waschbären erinnerte.
  Sie schluchzte etwas, das wie »Jaitte?« klang, und nahm die Tücher herunter. Die waren völlig durchweicht. Ein Papierklumpen klatschte nass und schwer auf den Boden. Wenigstens hier schien Lamprecht aufrichtig betrauert zu werden.
  »Sonja Kluge?«, fragte Sandra.
  Die junge Frau nickte.
  »Ich bin Sandra Santori von der Kriminalpolizei. Ich habe einige Fragen an Sie, wenn das jetzt geht.«
  Sonja Kluge nickte und schluchzte.
  »Es geht um Herrn Lambardo. Ich nehme an, Sie haben bereits erfahren, was passiert ist?«
  Die junge Frau heulte laut auf und hielt sich die zerfetzten und durchweichten Tücher vor die Nase.
  Sandra war zwar nicht übermäßig pingelig, aber das konnte sie jetzt doch nicht gut mit ansehen. »Ich darf doch?«, sagte sie und ging zu dem Tresen im Empfangsbereich, der wahrscheinlich das Reich der jungen Frau war. Sie zog sechs Kleenex aus einer Box und reichte sie der anderen. Die drückte ihr zum Dank die gebrauchten in die Hand. Mit spitzen Fingern warf Sandra sie in den Mülleimer neben dem Tresen und wischte sich die Hand am Polster eines Schreibtischstuhls ab.
  »Können wir irgendwo miteinander reden?«, fragte sie dann. Die junge Frau nickte und wies auf einige Stühle, die um einen Tisch gruppiert waren. Auf dem Tisch lagen mehrere Musikzeitschriften. An der Wand neben dem Wartebereich hingen zahlreiche Fotos von einem Mann, der beim Lächeln alle 32 Zähne enthüllte. Auf jedem Bild schüttelte er die Hände anderer Männer und Frauen, legte ihnen den Arm um die Schultern oder gab ihnen Küsschen auf die Wange.
  Sandra betrachtete den Mann auf den Fotos genauer. Alles an ihm wirkte unecht. Angefangen vom Lächeln, über die Zähne, die Haarfarbe, die Hautfarbe, das faltenlose Gesicht. Selbst die Beule vorne an seiner Hose wirkte auf Sandra, als wäre sie aufgepolstert worden. Auf jedem Bild trug er eine schwarze Lederhose und dazu ein Seidenhemd in verschiedenen Farben. Um den Hals und die Handgelenke blinkten goldene Kettchen, im einen Ohr funkelte etwas, das vermutlich ein Brillant war. Oder jedenfalls einen darstellen sollte.
  »Setzen Sie sich doch«, sagte Sandra schließlich zu der jungen Frau, als wäre sie hier zu Hause und die andere der Gast.
  Sonja Kluge folgte der Aufforderung und schluchzte weiter in ihr Taschentuch.
  Sandra wartete bestimmt zwei Minuten, während sie die Zeitschriften inspizierte. Ihr lag die Frage auf den Lippen, wie lange die junge Frau und Dino Lambardo schon etwas miteinander hatten, aber das verschob sie auf später. Erst mal vorsichtig herantasten und Vertrauen gewinnen.
  »Frau Kluge, ich sehe, wie schwierig das für Sie ist. Aber meinen Sie, Sie könnten mir ein paar Fragen beantworten?«
  Die junge Frau schluchzte »Ja« in die Tücher und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
  »Sie haben sicher aus den Medien erfahren, was gestern geschehen ist?«
  »Ja. Und von seiner Frau«, sagte Sonja Kluge, und nahm die Tücher herunter. »Die hat mich eben angerufen und gesagt, dass er tot ist. Stimmt das?«
  »Das können wir noch nicht mit Sicherheit sagen. Wir suchen nach ihm, bislang erfolglos.«
  »Hat sie aber behauptet. Musste sie mir natürlich sofort unter die Nase reiben.«
  Im Moment konnte man dort viel drunterreiben, denn die Nase war grotesk geschwollen. Sofia Lamprecht schien jedoch ein gutes Thema zu sein. Die Tränen versiegten, und die Stimme der jungen Frau klang plötzlich viel fester. Und zickiger.
  »Ja?«, fragte Sandra und schaute die andere aufmunternd an.
  »Ja, klar. Sie hätten sie mal hören sollen. Sie schien sich regelrecht zu freuen, mir das mitteilen zu können.«
  »Aber warum denn das?«, fragte Sandra unschuldig.
  »Na, weil ... Weil er und ich ... Also, wir gehörten zusammen. Wirklich zusammen, verstehen Sie? Es war Seelenbekanntschaft auf den ersten Blick.«
  So, so, dachte Sandra, Seelenbekanntschaft.
  »Wir ... Er wollte mich heiraten. Sobald er diese Hexe losgeworden wäre. Wissen Sie, die hat ihn gar nicht geliebt. Und er fühlte sich von ihr nicht verstanden. Er war so sensibel, und sie war so eine egoistische Kuh. Nur an sich hat sie gedacht. Außerdem war sie früher mal Wrestling-Kämpferin. Das war Dino richtig peinlich, aber er hat sie trotzdem so genommen, wie sie war. Oder hat es jedenfalls versucht, aber irgendwann hat er gemerkt, dass sie nichts für ihn ist. Er braucht eine Frau mit Niveau, verstehen Sie?«
  Sandra nickte: »Ich verstehe. Und in Ihnen hat er das gefunden?«
  »Ja!« Die junge Frau schaffte es, gleichzeitig zu lächeln und aufzuschluchzen. »Sehen Sie, das hier hat er mir geschenkt.« Sie streckte ihre rechte Hand aus und zeigte Sandra einen Ring mit einem funkelnden Stein. Genau so einen hatte Sandra am Finger von Frau Lamprecht gesehen. Ob Lamprecht sie im Zehnerpack bestellte? Und ob er keine Angst hatte, die diversen Ringträgerinnen könnten sich mal begegnen?
  »Wir hatten so viele Pläne. Wir wollten die Welt bereisen, einen alten Bauernhof kaufen und zehn Kinder bekommen, wir wollten Pferde, Hunde, Kaninchen haben. Wollten ...« Wieder schluchzte sie auf.
  Sandra seufzte unhörbar. Als Mann von fast fünfzig Jahren diese junge Frau zu verführen grenzte an Kindesmissbrauch. »Frau Kluge, es ist noch gar nicht sicher, dass er wirklich tot ist. Sie kennen Dino Lambardo doch sehr gut?«
  Sonja Kluge nickte und schniefte. Aber sie tauchte wieder hinter dem Taschentuch auf.
  »Er scheint ein ganz besonderer Mann zu sein.«
  Ein zittriges: »Ja, das ist er«, war die Antwort.
  »Nur für den Fall, dass er wirklich das Opfer sein sollte: Könnten Sie sich dann vorstellen, wer ihm so etwas Schlimmes angetan haben könnte?«
  »Na, seine Frau natürlich. Die wäre doch leer ausgegangen, wenn er sich von ihr getrennt hätte.«
  »Das wäre natürlich eine Möglichkeit. Das leuchtet mir ein. Und sonst? Haben Sie jemals mitbekommen, dass er Schwierigkeiten mit anderen Menschen hatte?«
  Die junge Frau zögerte. »Es gab natürlich immer mal jemanden, der ihn nicht verstanden hat.«
  »Ach?«
  »Ja. Zum Beispiel Frauen, die sich in ihn verliebt hatten, die aber nicht verstanden, dass er etwas ganz anderes suchte.«
  »Genau. Jemanden mit Niveau, nicht wahr?«
  Die Frau schien noch zu jung für ironische Untertöne zu sein. Sie nickte ernsthaft. »Genau. Manchmal hat er sich eben in einer Frau getäuscht. Und wenn er sie dann informierte, dass es doch nicht klappt zwischen ihnen, dann waren die wütend. Was heißt wütend. Die reinsten Furien konnten die sein.«
  »Haben Sie Namen für mich?«
  »Tja, die haben sich mir nicht vorgestellt. Aber einige habe ich trotzdem aufgeschnappt. Stefanie Treidler, zum Beispiel. Oder Nina Kunze. Dann gab es noch eine Melanie und eine Jessica. Mehr weiß ich jetzt nicht. Aber die waren nicht wirklich wichtig. Bloße Eintagsfliegen.«
  Sandra hatte sich die Namen notiert. »Und sonst? Noch jemand?«
  »Na ja, manchmal waren auch Musiker von ihm enttäuscht. Wenn Dino ihnen mitteilen musste, dass sie nicht gut genug sind. Einer hat mal behauptet, er wäre von Dino betrogen worden. Er hat sogar ... Moment mal!« Sie riss die Augen auf.
  »Ja?«, fragte Sandra.
  »Der hat sogar herumgeschrien, dass er Dino kaltmachen will. Hier, in aller Öffentlichkeit. Und das, wo Dino gerade einen neuen Kunden hatte.«
  »Worum ging es denn? Nur darum, dass Dino ihn nicht gut genug fand?«
  »Nein. Er behauptete, Dino habe ihm einen Song geklaut und habe ihn von den Master Stars singen lassen. Das ist eine Gruppe, die ...«
  »Die kenne ich«, unterbrach Sandra sie. Sie hatte sie gestern noch gegoogelt, nachdem Schweizer von ihnen gesprochen hatte. Die Master Stars waren eine Gruppe von fünf pickligen Jugendlichen, die auf cool machten, aber eben erst ihren Stimmbruch hinter sich gebracht hatten. Oder noch nicht so ganz, wenn man dem Sänger zuhörte. »Und die sind bei Ihnen unter Vertrag?«
  »Genau. Die sind echt super, oder? Und wissen Sie, was das Beste ist? Ich war es, die Dino empfohlen hatte, sie unter Vertrag zu nehmen. Er wollte erst gar nicht. Und jetzt haben die uns in einem Jahr so viel eingebracht wie andere Gruppen in zehn Jahren nicht.«
  Sandra nickte anerkennend. »Da hatten Sie wohl genau den richtigen Riecher.«
  »So ist es. Deswegen schätzt mich Dino ja auch so. Er meint, er kann nichts mit Frauen anfangen, die bloß gut aussehen. Sie müssten schon auch was im Köpfchen haben.« Für eine Sekunde strahlte ihr Gesicht, dann fiel das Strahlen in sich zusammen, als sie sich erinnerte, was mit ihrem Geliebten möglicherweise geschehen war.
  »Und dieser ... dieser Mann meinte also, Herr Lambardo habe einen seiner Songs weitergegeben?«, beeilte sich Sandra zu fragen, bevor die junge Frau erneut in Tränen ausbrach.
  »Das hat er sich eingebildet. Es geht um Love is like a black hole. Er behauptet, der Song sei von ihm.«
  »Den Song hört man doch ständig im Radio!«
  »Stimmt. Und ausgerechnet den will er geschrieben haben. Der spinnt doch.«
  »Haben Sie seinen Namen?«
  »Sven Pomoron. Nennt sich aber Svenja Pompon. Ist ’ne Transe. Deswegen wollte Dino ihn auch nicht länger behalten, obwohl seine Musik gar nicht so schlecht war.«


 Kapitel 8

  Sven Pomoron, alias Svenja Pompon wohnte in Vohwinkel. Aber bevor Sandra dorthin fuhr, schaute sie zunächst im Präsidium vorbei. Sie wollte sehen, ob Bellers vielleicht schon im Büro war und nur noch nicht angerufen hatte. Aber ihr Kollege war nicht da. Stattdessen begegnete sie Bernd Bongarz, der mit den Autoschlüsseln klimpernd Richtung Ausgang ging.
  »Na? Wohin des Weges, junge Kollegin?«, grüßte er.
  »Zu einem Musiker, der mit Lamprecht Ärger hatte. Er hatte gedroht ihn umzubringen.«
  »Oh? Nicht schlecht. Ich bin auf dem Weg zur Wohnung von diesem Marvin Degenhardt. Sie ... Du willst wohl nicht zufällig mitkommen?«
  »Was ist mit Luk-den-Namen-solltest-du-dir-merken?«
  Bongarz lachte. »Hat wohl tiefen Eindruck bei dir hinterlassen, was?«
  »Könnte man so sagen. Also, wo ist er? Auf Frauenfang?«
  »Nein, täusch dich mal nicht in ihm. Das ist alles nur Schaumschlägerei. Gut, er flirtet bei jeder Gelegenheit, das schon. Aber in Wahrheit hat er gar nicht die Zeit zum Schwerenöten, weil er für den Triathlon trainiert.«
  »Ach?« Das fand Sandra nun tatsächlich interessant.
  Bongarz nickte. »Hat schon zweimal den Ironman mitgemacht und sich ganz wacker geschlagen. Und wenn er gerade mal nicht trainiert, weißt du, was er dann macht?«
  Sandra schüttelte den Kopf.
  »Dann kümmert er sich um die Jungs aus seinem Fußballverein. Er trainiert irgendeine Jugendmannschaft. Lauter Halbstarke, die ihn abgöttisch lieben. Was natürlich keiner von denen zugeben würde, ist ja nicht cool. Ich glaube, er will was zurückgeben. Wie er sagt, lag es nur an seinem eigenen früheren Fußballtrainer, dass er nicht auf die schiefe Bahn geraten ist. Und warum bist du nicht mit Bellers unterwegs?«
  Sandra schaute auf. »Der hat irgendetwas zu erledigen, ich weiß aber nicht was.«
  »Der? In der Arbeitszeit? Passt gar nicht zu ihm. Aber dann komm doch mit mir. Und ich komme anschließend mit dir zu diesem Musiker. Vier Ohren hören mehr als zwei.«
  Gemeinsam gingen sie zu Bongarz’ Wagen, einem glänzend polierten, sportlichen Flitzer in leuchtendem Rot, den Sandra ihm gar nicht zugetraut hätte. Als sie einstieg, sog sie genießerisch den Duft der Ledersitze ein.
  »Hätte nicht gedacht, dass du so einen Wagen fährst.«
  »Nein? Was hättest du denn erwartet?«
  »Weiß nicht. Volvo vielleicht. Oder BMW, aber kein sportlicher, sondern ein vernünftiger.«
  Bongarz lachte laut und ließ den Motor aufheulen. »Mein vorletzter Wagen war ein Volvo. Und der letzte ein BMW. Kein sportlicher, sondern ein vernünftiger.« Er tippte das Gaspedal an, und der Wagen machte einen Satz nach vorne wie ein ungeduldiges Rennpferd.
  »Und wie kommt’s zu diesem Sinneswandel?«
  Bongarz zuckte mit den Schultern. »Manchmal verändert man sich eben.«
  Neuer Freund, tippte Sandra, sagte es aber nicht laut.
  Unterwegs teilte Bongarz Sandra mit, dass die DNA eines der Opfer identifiziert worden war. Es handelte sich tatsächlich um die von Dieter Lamprecht, alias Dino Lambardo.
  »Dann hat es ihn also wirklich erwischt«, meinte Sandra. »Und der andere Mann? War das Degenhardt?«
  »Die Analyse läuft noch. Müsste aber in den nächsten Stunden fertig sein. Sie muss dann nur noch mit der DNA von Degenhardt verglichen werden. Wir brauchen Vergleichsmaterial.«
  Wenig später hielten sie vor einem vier Stockwerke hohen Haus in der Nordstadt, in dem Lamprechts Fahrer und Leibwächter Marvin Degenhardt wohnte. Wenn er noch dort wohnte, und nicht inzwischen in den Kühlraum der Pathologie umgezogen war. Wie so viele Häuser in Wuppertal zeigte auch dieses eine schöne, aber wenig gepflegte Fassade. Zwischen den Stockwerken zogen sich reich verzierte Absätze um das Haus herum, jeweils zwischen zwei Fenstern hockten steinerne Engel oder aber ihre gehörnten Gegenspieler auf den Absätzen und schauten auf die Passanten herunter, als wählten sie aus, wer von ihnen sich wen schnappen dürfe. Das Haus war ursprünglich cremefarben gewesen, war jetzt aber an vielen Stellen schmutzig grau. Die Eingangstür war sehr hoch, und eine der Buntglasscheiben war eingeschlagen.
  Immerhin schienen aber die Klingeln funktionstüchtig zu sein. Sandra überflog die Namensschilder und entdeckte schließlich eines, auf dem Abel, Degenhardt, Kordes, Schmieling stand. Degenhardt schien in einer WG zu wohnen. Oder gewohnt zu haben.
  Bongarz klingelte, und wenig später fragte eine mürrische Stimme aus der Gegensprechanlage: »Was ist?«
  »Wir sind von der Kriminalpolizei und möchten zu Herrn Degenhardt«, antwortete Bongarz.
  Aus der Anlage war Rascheln, Gemurmel und Geklapper zu hören. Eine zweite Stimme fragte: »Wer ist da?«
  Bongarz wiederholte ihr Anliegen.
  Es dauerte einen Moment, dann noch einen, und endlich ertönte der Türsummer.
  Bongarz zwinkerte Sandra zu. »Sollen wir oben gleich mal im Spülkasten der Toilette nachsehen, was es dort so zu entdecken gibt?«, flüsterte er.
  Sandra grinste zurück.
  Sie gingen in den dritten Stock, wo ihnen zwei Männer aus einer geöffneten Wohnungstür entgegenblickten. Der eine, ein kleiner, bulliger Typ, war in Turnhose und Unterhemd gekleidet. Sein langer, klapperdürrer Mitbewohner trug eine schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt und breite, schwarze Lederbänder mit Nieten um beide Handgelenke, wohl in dem vergeblichen Versuch, gefährlich auszusehen. Beide hatten die Haare so kurz geschoren, dass sie nur noch einen dunklen Schatten auf dem Kopf bildeten. Um auch den letzten Zweifel bezüglich der politischen Gesinnung auszuräumen, hatte sich der Bullige SS in Runenschrift auf den Hals tätowieren lassen.
  »Was wollen Sie von uns?«, fragte er. Seine kleinen Augen wurden noch kleiner, als er die Augenbrauen zusammenzog. Der Kopf saß direkt auf den Schultern, das Gesicht erinnerte an einen Bullterrier. Jetzt machte er sich noch breiter, als er sowieso schon war, und füllte fast den gesamten Türrahmen aus. Sein Kumpel, der ihm über die Schulter guckte, erinnerte eher an einen Windhund. Lang, extrem dünn und mit einem Gesicht, das vorne spitz zulief.
  Bongarz hielt den beiden seinen Polizeiausweis unter die Nase. »Dürfen wir eintreten?«, fragte er zurück.
  »Muss das sein?«, fragte der Windhund. Seine Stimme klang hell und quengelig.
  »Es muss«, antwortete Bongarz und ging auf die Tür zu.
  Widerwillig trat der Bullterrier beiseite. Der Windhund nahm sowieso kaum Platz ein, er musste also gar nicht zur Seite gehen.
  Direkt im Eingangsflur der Wohnung sah Sandra das Plakat einer rechtsradikalen Rockband namens Arischer Widerstand. Grimmig dreinblickende Jünglinge mit Glatzen und kantigen Kinnladen starrten ihr von dem Plakat entgegen und marschierten auf einer Straße vermutlich in Richtung einer großen Zukunft. Im Hintergrund sah man grotesk verwachsene, hässliche Gestalten rechts und links des Weges liegen. Einige waren dunkelhäutig, andere trugen jüdische oder muslimische Kopfbedeckungen und lange Vollbärte oder Schläfenlocken. Die Botschaft war nicht gerade subtil.
  Hinter einem Vorhang, der in aller Eile nachlässig geschlossen worden war, schauten die beiden rechten Arme eines Hakenkreuzes hervor. Und unter der Garderobe standen eine ganze Batterie Springerstiefel, alle mit weißen Schnürbändern.
  »Aha«, sagte Bongarz und schaute sich mit hochgezogenen Brauen um. »Jetzt sehe ich, warum wir noch eine Weile hingehalten wurden.« Er zog den Vorhang beiseite und enthüllte das Hakenkreuz in seiner vollen Größe. »Das ist ein verfassungswidriges Symbol, das ist Ihnen bekannt, oder?«
  »Ey Mann, das ist unser Zuhause. Wir können doch wohl in unserer Wohnung machen, was wir wollen.«
  »Aber nicht verfassungsfeindliche Symbole aufhängen«, antwortete Sandra.
  »Und was hast du hier zu melden?«, kläffte sie der Windhund an. »Lesbische Weiber haben bei uns gar nichts zu melden.«
  »Oh! Woher wissen Sie denn, dass ich lesbisch bin?«
  »Das sieht man doch auf den ersten Blick«, behauptete der lange Kerl.
  »Und bei dir sieht man auf den ersten Blick, dass du dumm wie ein Eimer Spülwasser bist«, antwortete Sandra, nicht eben sachlich.
  »Ey, du Schlampe. Noch so ein Spruch und ich ...«
  »Was?« Sandra trat auf ihn zu und schaffte es, trotz eines Größenunterschieds von bestimmt 30 Zentimetern, auf ihn herabzublicken. »Was machst du dann, hm?« Sie ballte die Fäuste.
  Der andere wich so weit zurück, dass er fast zwischen den Bomberjacken an der Garderobe verschwand. Er sagte noch mal: »Ey!«, es kam aber recht halbherzig heraus. Dann schaute er Hilfe suchend zu Bongarz.
  Der legte Sandra eine Hand auf den Arm. »Lassen Sie mal, Frau Kollegin. Das lohnt doch nicht.«
  Einige Sekunden war Sandra vollkommen reglos. In ihrem Kopf dagegen schossen die Gedanken hin und her. In Farbe und 3D stellte sie sich vor, wie sie diesem Idioten ihre Faust ins Gesicht rammte, wie das Nasenbein mit einem zufriedenstellenden »Krack« nachgab, wie Blut über sein Kinn laufen und auf sein bescheuertes T-Shirt tropfen würde.
  Gleichzeitig spulte sich aber auch noch ein anderer Film ab: Die Untersuchung, die folgen würde. Ihre vermutlich jämmerlichen Versuche zu erklären, wieso sie einem Zeugen, der sich ängstlich zwischen dicke Jacken drückte, das Nasenbein gebrochen hatte. Inge, die ihr vorhielt, warum sie sich nicht mal ein bisschen im Zaum halten und diesen Idioten vor ihr verbal fertigmachen konnte.
  Schließlich stieß sie einen Kubikmeter Luft aus und sagte: »Auch wieder wahr.«
  Der Windhund atmete auf und tauchte aus den Jacken auf. »Also echt ...«, murmelte er, aber ganz leise.
  »Und Sie zeigen uns jetzt bitte, wo wir miteinander sprechen können«, wandte sich Bongarz an den Bullterrier.
  Der führte sie in die Küche. Sandra sah sich um. Die Arbeit für den arischen Widerstand schien keine Zeit für Hausarbeiten zu lassen. Was sie hier sah, wäre selbst für eine Küchenschabe zu schmutzig gewesen. Geschirr mit verschimmelten Essensresten stapelte sich auf den Flächen. Unzählige Pappkartons mit Fast-Food-Resten lagen auf dem Tisch und dem Boden. Bei jedem Schritt klebte man fest. Selbst an den Wänden entdeckte sie Flecken, bei denen sie jeden Moment damit rechnete, dass sie sich bewegen oder wachsen würden. Wenn das hier die Wohnung der Elite der Menschheit war, wollte sie lieber nicht beim Abschaum vorbeischauen.
  »Doch, hübsch«, meinte Bongarz gelassen, während er einen Stuhl unterm Küchentisch hervorzog. Mit angewidertem Blick starrte er auf einen braun angelaufenen Ketchupfleck, der sich die Sitzfläche mit einer eingetrockneten Pfütze teilte, bei der es sich wohl um Bier handelte. »Hier setze ich mich jedenfalls nicht hin«, sagte er. »Haben Sie noch einen anderen Raum? Sonst reden wir zur Not im Stehen.«
  Die beiden Männer sahen sich an. Schließlich meinte der Bullterrier: »Dann kommense halt mit ins Wohnzimmer. Wenn’s Ihnen hier nicht fein genug ist.«
  Er ging voraus, und Sandra und Bongarz folgten ihm. Der Windhund bildete die Nachhut. Vielleicht um sicherzustellen, dass sie nicht etwa eine der Türen öffneten, die von dem lang gestreckten Flur abgingen.
  »Bitte. Nehmen Sie doch Platz.« Der Bullterrier machte eine spöttische Verbeugung. Sandra betrachtete misstrauisch die Polstergarnitur. Ein ehemals beigefarbenes Sofa und drei dazu passende Sessel standen um einen niedrigen Tisch herum. Auf dem Tisch stapelten sich Landserheftchen und Pornos. Sollte tatsächlich einer der beiden des Lesens mächtig sein? Aber vielleicht schauten sie sich bloß die Bilder an. Die Polstermöbel waren völlig verdreckt und übersät mit Brandlöchern. Niemals würde Sandra sich hier hinsetzen.
  Sie schaute sich um und entdeckte einen riesigen Fernseher, etliche Spielekonsolen sowie Computer.
  Bongarz ging zu einem staubigen Regal, in dem bestimmt zwanzig Handys lagen. »Was ist das hier?«, fragte er und hielt eines der Geräte hoch.
  »Das sind Handys. Wissen Sie, die Dinger, mit denen man telefonieren kann, obwohl sie kein Kabel haben.« Der Bullterrier grinste dem Windhund zu. Jetzt hatte er es den blöden Polizisten aber mal so richtig gegeben.
  »Was Sie nicht sagen. Und warum so viele?«
  Der Mann zuckte mit den Schultern. »Ist das vielleicht verboten?«
  Sandra war in der Zwischenzeit zu einem anderen Regal getreten, das noch staubiger war. Sie entdeckte CDs mit Musik rechtsradikaler Gruppen, Kriegsfilme, Ballerspiele.
  »Können Sie uns jetzt endlich sagen, warum Sie hier sind?«, wollte der Windhund wissen.
  »Ja, sicher. Sie haben vollkommen recht. Setzen wir uns doch.«
  Bongarz zog sich einen Holzstuhl heran, der leidlich sauber aussah. Sandra fand einen Hocker. Die beiden Männer setzten sich aufs Sofa.
  »Dann schießen Sie mal los«, forderte sie der Bullterrier auf.
  Und Bongarz schoss los.


 Kapitel 9

  Namen?«, fragte er. Nach einigem Zögern gaben die Männer bekannt, dass es sich bei dem Bullterrier um Abel und bei dem Windhund um Kordes handelte.
  Auf die Frage nach dem Beruf gaben beide an, sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten.
  »Welche Jobs sind das?«, wollte Sandra wissen.
  »Was geht dich ...«, begann Kordes, stoppte aber abrupt. Dann sagte er: »Umzüge, Hilfe auf dem Bau, so was eben.«
  »Vor allem aber Security-Sachen«, fügte Abel hinzu. »Saalschutz bei Konzerten oder bei unseren Versammlungen und so was.«
  »Wer versammelt sich denn da? Und zu was?«
  »Wir sind eine politische Bruderschaft. Die Freien Männer Deutschland.«
  »Freie Männer?«, fragte Sandra nach. »Sind Frauen nicht zugelassen, oder was?«
  »So ist es«, grinste der Windhund.
  »Was ist denn das für eine bescheuerte ...«, begann Sandra, aber Bongarz unterbrach sie.
  »Sollen wir das später vertiefen? Vielleicht mit den Kollegen, die sich um extremistische Gruppierungen kümmern?« Er wandte sich an Kordes und Abel. »Ich nehme an, dass Sie Ihre Einnahmen aus diesen Gelegenheitsjobs ordnungsgemäß angeben und versteuern?«
  Die Männer schauten sich an. »Ja, ähm. Klar, Mann«, sagte Abel schließlich.
  »Dann können wir das ja sicherlich überprüfen. Geben Sie uns doch nachher Ihre Unterlagen mit.«
  »Ähm, pfff ...«, begann Abel, und massierte sich den Nacken.
  Kordes fragte: »Dürfen Sie das denn? Ich meine, einfach in unseren Sachen schnüffeln?«
  »Aber sicher dürfen wir das. Wir sind die Polizei.«
  Ganz so einfach war es zwar nicht, aber weder Bongarz noch Sandra wollten das jetzt weiter vertiefen.
  Bongarz ließ die Männer noch einen Moment schwitzen, dann sagte er beiläufig: »Wenn Sie allerdings bei unserer Ermittlung konstruktiv mit uns zusammenarbeiten, könnte man sich die Verfolgung Ihrer eventuellen Steuervergehen noch mal überlegen.«
  Der Satz war zu kompliziert gewesen. Sandra sah, wie sich Fragezeichen in den Gesichtern der Männer abzeichneten.
  »Hä?«, fragte schließlich Abel.
  »Wenn Ihr auspackt, lassen wir euch laufen. Vielleicht«, übersetzte Sandra.
  Erneut schauten sich die beiden Männer an. Dann räusperte sich Kordes: »Wir sind natürlich immer bereit, den Bull... der Polizei zu helfen.«
  »Sie wollen ja schließlich nichts anderes als Recht und Ordnung, was?«, nickte Sandra.
  »Genau, Mann. Oder ... nicht Mann.« Kordes Stimme verlor sich in unhörbarem Gemurmel.
  »Also dann. Wie wir gesehen haben, sind hier noch zwei weitere Personen wohnhaft. Degenhardt und Schmieling. Können Sie uns sagen, wo die derzeit sind?«, fragte Bongarz.
  »Das müssten Sie doch am besten wissen.«
  Diesmal schauten sich Sandra und Bongarz an. Wussten die Männer schon, dass ihr Mitbewohner mit einiger Wahrscheinlichkeit ums Leben gekommen war?
  »Ihr habt ihn doch selbst eingebuchtet«, fuhr Kordes fort. »Obwohl er nix gemacht hat.«
  »Wer hat nichts gemacht?«
  »Na, Schmieling. Der sitzt doch schon seit Wochen im Knast.«
  »Und was hat er nicht gemacht?«, fragte Sandra.
  »Das brauchst du nicht ...«, begann Kordes wieder, konnte sich aber noch stoppen.
  »Er hat einen zusammengeschlagen«, sagte Abel. »Oder eben nicht. Oder doch, aber der hatte das verdient.«
  »Und wodurch hat er das verdient?«
  »Diese linke Zecke wollte uns nicht durchlassen.«
  »Wohin durch?«
  »Na, zu ihrer Party. Wir wollten die mit ein paar Mann ein bisschen aufmischen.«
  »Und das haben die nicht gemocht? Na, das ist ja wirklich ganz erstaunlich«, meinte Sandra und sah, wie Bongarz’ Mundwinkel zuckten.
  »Ja. Echt«, stimmte Abel zu, der kein Sensorium für Ironie hatte. Kordes dagegen war vielleicht doch nicht so doof wie Spülwasser. Jedenfalls schaute er Sandra finster an.
  »Und was ist mit Degenhardt?«, fragte Bongarz. »Ist der zu Hause?«
  »Isser?«, fragte Abel Kordes.
  »Nee, glaub nicht.«
  »Wo könnte er denn sein?«, fragte Bongarz weiter.
  Im Leichenschauhaus, dachte Sandra.
  »Wird wohl wieder seinen Chef herumchauffieren«, meinte Abel. »Marv hat nämlich ’nen festen Job. Ist Leibwächter von so ’nem Musikfritzen.«
  »Leibwächter? Und was macht er da genau?«
  Abel zuckte mit den Schultern. »Fährt ihn rum. Passt auf ihn auf. So was halt. Verdient jedenfalls so viel Kohle, dass er nicht zur Arbeitsagentur muss.«
  »Und Sie schon?«, fragte Sandra harmlos.
  »Klar, aber nur bis ...«, begann Abel
  »Ey, halt die Klappe«, fiel ihm Kordes ins Wort. Abel stutzte und bekam dann Flecken am Hals, sodass das SS nun einen roten Hintergrund hatte.
  »Ich gehe davon aus, dass Sie selbstverständlich auch die Arbeitsagentur über Ihre diversen Nebentätigkeiten informiert haben«, meinte Bongarz trocken.
  Abel guckte schon wieder so, als hätte er den Satz nicht verstanden.
  Kordes antwortete: »Ja klar, Mann. Warum fragen Sie nach Degenhardt?«
  »Nun, es könnte sein, dass Ihr Mitbewohner in ein Verbrechen verwickelt wurde. Er ...«
  »Auf keinen Fall, Mann«, unterbrach ihn Kordes. »Der nicht. Der Marvin ist total sauber. Außerdem ist er viel zu schlau, um sich ... Ich meine.« Jetzt bekam Kordes rote Flecken am Hals. »Um sich strafbar zu machen«, fügte er halbherzig hinzu.
  »Ich meinte auch nicht als Täter. Sondern als Opfer.« »Hä?«
  »Es könnte sein, dass Ihr Mitbewohner Opfer einer Straftat geworden ist«, erläuterte Bongarz. »Wie ist es? Er hat doch bestimmt ein Handy. Können Sie versuchen, ihn zu erreichen?«
  Kordes kaute auf seiner Unterlippe, als suchte er nach einer Falle. Dann gab er sich einen Ruck. »Warum nicht? Wir machen ja schließlich nix Falsches.«
  »Na eben«, stimmte Bongarz zu.
  Kordes kramte ein Smartphone aus seiner Hosentasche und tippte und wischte kurz darauf herum. Das machte die Frage, was die vielen Handys im Regal sollten, noch interessanter. Kordes lauschte der Ansage, dann zog er die Augenbrauen hoch. »Ist nicht erreichbar«, sagte er schließlich.
  »Echt?«, fragte Abel. »Der schaltet sein Handy doch nie aus!«
  »Um was für ein Verbrechen geht es eigentlich?«
  »Haben Sie mitbekommen, dass gestern in Sonnborn eine Autobombe explodiert ist.«
  »Na klar. Das waren doch wieder diese Scheiß-Islamisten.«
  »So wie es aussieht, waren sie es nicht. Aber wie auch immer, bei dem betreffenden Auto handelte es sich um den Wagen von Dino Lambardo.«
  Abel glotzte sie mit offenem Mund an. Kordes fragte schließlich mit noch höherer Stimme als zuvor: »Wollen Sie etwa sagen ...«
  »Wir wollen gar nichts sagen. Wir wissen noch nichts. Aber wir müssen natürlich überprüfen, wo sich Herr Degenhardt zurzeit aufhält, und ob er vielleicht ... Sie verstehen.«
  Kordes war jetzt sehr blass geworden.
  »Wir müssen Sie bitten, uns Degenhardts Zimmer zu zeigen. Und dann brauchen wir einige persönliche Gegenstände, um einen DNA-Vergleich machen zu können. Vielleicht kommt ja heraus, dass er nicht im Wagen war«, fügte er mit sanfterer Stimme hinzu, als er sah, dass der Mann vor ihm inzwischen grau geworden war.
  »Ey, das geht doch nicht«, flüsterte Kordes. »Ohne den geht gar nix.«
  »Wie gesagt, wir wissen noch nichts. Und vielleicht können wir ihn bald schon als Opfer ausschließen.«
  »Nehmen wir mal an, Ihr Mitbewohner hat tatsächlich in diesem Wagen gesessen«, begann Sandra, der die graue Gesichtsfarbe des Mannes herzlich egal war. »Könnten Sie sich vorstellen, wer ihm etwas antun wollte? Hatte er Feinde?«
  »Feinde ham wir ’ne Menge«, meinte Kordes.
  »Nämlich?«
  »Na, schon mal die ganzen linken Zecken«, fiel Abel ein. »Die was gegen Gesetz und Ordnung haben. Die sind bloß auf Anes... Anas...«
  »Anarchie«, murmelte Kordes.
  »Genau. Also, die wollen bloß das. Und dann auch noch die ganzen Ausländer. Die hierherkommen und auf Kosten von uns Deutschen leben.«
  »Verstehe. Sie meinen sicherlich Menschen, die zu Unrecht Hartz IV beziehen, obwohl sie nebenher arbeiten?«, fragte Sandra mit Unschuldsmiene.
  »Genau. Also, das heißt ...« Abel brach ab.
  Kordes blickte Sandra finster an.
  »Wie auch immer«, mischte sich Bongarz ein. Um seine Augen herum hatte sich ein Kranz kleiner Fältchen gebildet. »Wir müssen das jedenfalls ernsthaft bedenken«, sagte er zu Sandra.
  Sie wusste, was er meinte: Sie waren automatisch davon ausgegangen, dass der Anschlag Lamprecht gegolten hatte. Aber vielleicht war gar nicht er, sondern sein Fahrer gemeint gewesen. Oder vielleicht auch die Frau, von der sie noch nicht wussten, wer sie war.
  »Sie beide möchte ich bitten, uns eine Liste zusammenzustellen mit Personen oder Gruppierungen, die möglicherweise zu einem solchen Anschlag fähig wären«, sagte Bongarz.
  »Und warum sollten wir das tun?«, fragte Kordes.
  »Hatten Sie uns nicht zugesichert, offen und vertrauensvoll mit uns zusammenzuarbeiten? Wenn nicht, müssten wir doch davon ausgehen, dass Sie irgendetwas zu verbergen haben. Und dann müssten wir ...«
  »Ja, ja, ist ja gut.«
  »Und jetzt zeigen Sie uns bitte Degenhardts Zimmer. Wenn er eines hat. Vielleicht haben Sie ja auch alle ein gemeinsames Schlafzimmer.«
  »Ey, was willste denn damit sagen?«, brauste Abel auf. »Meinste vielleicht, wir sind Schwuchteln?«
  Bongarz antwortete nicht, sondern schaute ihn nur auffordernd an.
  »Sein Zimmer ist da drüben.« Kordes wies über den Flur auf eine der Türen.
  Sie betraten Degenhardts Zimmer. Nicht weiter überraschend entdeckten sie auch hier mehrere Hakenkreuzflaggen an den Wänden, außerdem zwei Porträts von Adolf Hitler sowie ein Plakat: Freiheit für Hess. Stahlhelme und Orden aus der Zeit des zweiten Weltkriegs, alle mit Hakenkreuzen, verzierten die Wände.
  Weitaus interessanter war jedoch die Waffensammlung, die offen auf dem Tisch und dem Bett lag. Handfeuerwaffen, Schlagringe, Elektroschocker, zwei Schnellfeuergewehre, Messer aller Art, Pfefferspray. Die Sammlung war groß und umfasste die unterschiedlichsten Waffengattungen. Wobei Schusswaffen eindeutig die Favoriten waren.
  »Sagen Sie mal, Sie haben doch extra aufgeräumt, bevor Sie uns reingelassen haben«, meinte Bongarz kopfschüttelnd zu den beiden Männern, die betreten an der Tür stehen geblieben waren. »Warum haben Sie nicht wenigstens versucht, das hier zu verstecken?«
  Abel zuckte mit den Schultern.
  Kordes behauptete: »Wir wussten doch gar nicht, dass er Waffen hat. Er hat uns nie in sein Zimmer gelassen.«
  »Na klar. Sehr überzeugend. Und wenn wir jetzt in der übrigen Wohnung nachschauen, zum Beispiel in Ihren Zimmern, was werden wir da finden?«
  Die Männer zogen es vor zu schweigen.
  »Nach einem Waffenschein muss ich gar nicht fragen. Einige der Waffen hier sind per se verboten.«
  Noch immer sagten die Männer nichts. Was hätten sie auch sagen sollen?
  »Na gut. Dann wollen wir mal«, sagte Bongarz zu Sandra, und sie schauten sich näher im Zimmer um. Im Vergleich zur übrigen Wohnung war es hier nahezu aufgeräumt und sauber. Sandra sah sich um und entdeckte in der Ecke des Zimmers einen geflochtenen Korb mit Schmutzwäsche. Sie wies Bongarz darauf hin, und er klaubte eine Unterhose und ein T-Shirt heraus, die er in einem Beweismittelbeutel verstaute. Neben dem Bett entdeckten sie eine Bürste, die sie ebenfalls eintüteten. Auf dem Nachttisch lag außerdem ein dickes Buch. Es war Mein Kampf, in der unkommentierten Ausgabe. Degenhardt schien der Intellektuelle in dieser Gruppe gewesen zu sein.
  »Zeigen Sie uns bitte das Bad«, forderte Bongarz die beiden Männer auf, die sich immer noch vor der Tür herumdrückten. Abel nickte und ging mit ihnen zu einer anderen Tür. Dahinter lauerte das Grauen. Nicht nur, dass es wie in der schlimmsten Bahnhofstoilette roch, es huschten auch ganze Armeen von Insekten in dunkle Ecken, als Abel das Licht einschaltete.
  Im Waschbecken klebten Seifenreste von Monaten, in der Dusche ebenfalls, zusätzlich noch so viele Haare, dass man damit Kissen hätte füllen können. Da die Männer hier gar keine Haare hatten, jedenfalls nicht auf dem Kopf, wollte Sandra lieber nicht so genau wissen, woher die Haare sonst stammen könnten. Was in der Toilettenschüssel klebte, wollte Sandra erst recht nicht überprüfen.
  Bongarz wedelte mit der Hand vor dem Gesicht herum. »Mein Gott. Wie können Sie so leben?«
  Abel schaute ihn bloß ausdruckslos an.
  »Welches Rasierzeug gehört Herrn Degenhardt?«
  Kordes wies auf das am wenigsten verdreckte. »Wozu brauchen Sie das eigentlich alles?«, fragte er dann.
  »Das habe ich doch bereits gesagt. Für einen DNA-Abgleich.«
  »Aber Sie haben doch seine DNA schon.«
  »Ach?«
  »Klar. Der ist doch mal wegen einer angeblichen Vergewaltigung verknackt worden. Quatsch, wenn Sie mich fragen. Die Alte wollte das so, und hinterher hat sie rumgeschrien. Jedenfalls habt ihr ihm damals Blut abgenommen und so einen Test gemacht.«
  Bongarz und Sandra sahen sich an. Auf die Idee hätten sie ruhig selbst kommen können.
  Kordes bemerkte den Blick. »Na, habt ihr wohl nicht geschnallt, was? Nicht gut vorbereitet, oder?«
  »Nicht schlechter als Sie«, entgegnete Sandra. »Die ganzen Waffen herumliegen zu lassen war auch nicht gerade schlau.«
  »Na und? Können wir doch nichts dafür, wenn Marvin Waffen hortet. Ham wir nichts mit zu tun.«
  »Wie Sie meinen«, sagte Bongarz. »Jedenfalls sind wir dann fürs Erste hier fertig. Denken Sie an die Liste, ja?«
  »Welche Liste?«
  »Die Liste der Personen oder Gruppen, die möglicherweise den Anschlag verübt haben könnten.« In Bongarz’ Augen las Sandra den Satz: Sind die doof! Dann verließen er und Sandra die Wohnung und atmeten in der muffigen Luft des Hausflurs tief durch.
  »Sie lassen die doch jetzt nicht einfach in Ruhe?«, vergewisserte sich Sandra, als sie zu Bongarz’ Auto gingen.
  »Selbstverständlich nicht. Das mag ein Zufallstreffer gewesen sein, aber es ist dennoch ein Treffer. Was wir eben alles gesehen haben, ist hochbrisant. Ich alarmiere sofort die Kollegen, die sich mit extremistischen Gruppierungen auseinandersetzen. Und bis die hier sind, bleiben wir vor der Haustür und passen auf, dass die Waffen nicht plötzlich Beine kriegen.«


 Kapitel 10

  Sandra und Bongarz verbrachten eine knappe halbe Stunde vor dem Haus. Bongarz hatte in einer Bäckerei um die Ecke zwei Kaffee und zwei Stück Kuchen geholt. Sandras Augen leuchteten, als sie ihn mit dem Gebäck kommen sah.
  »Käsekuchen, klasse! Genau mein Lieblingskuchen!« »Hab ich mir gedacht«, meinte Bongarz. Für sich hatte er ein Stück Sahnetorte mit einem Marzipanröschen geholt.
  »Ja? Warum?«
  »Du bist der Käsekuchen-Typ«, meinte er und schob sich ein Stück Torte in den Mund.
  Sandra riss die Augen auf. Es war doch wohl nicht möglich, dass noch jemand andere Menschen in Gebäck-Typen einordnete? »Wie ist denn der Käsekuchen-Typ?«, fragte sie vorsichtig.
  »Sportlich, bodenständig. Irgendwie ...«
  »Ja?«
  »Na, irgendwie robust. Allerdings nur vordergründig. Gleichzeitig ... Ach, vergiss es.«
  Sandra ging lieber nicht näher darauf ein.
  »Und wie ist der Sahnetorten-und-Marzipanröschen-Typ?«, fragte sie ihn stattdessen. Und dachte: schwul.
  »Der?« Bongarz suchte sichtlich nach einer Antwort. »Der ist ... Na, jedenfalls anders als du. Ah, die Kollegen!«
  Eben bogen zwei Wagen um die Ecke und hielten neben ihnen.
  »Hallo Bernd. Meinst wohl, wir haben nicht genug Arbeit, was?«, grinste ein älterer Kollege.
  »Aber nur, weil es so ist. Ihr sitzt euch doch Schwielen am Hintern und kriegt Hornhaut an den Fingern vor lauter Kaffeetassen-Halten.«
  »Kannst ja gerne in unsere Abteilung wechseln. Wenn wir es so gemütlich haben.«
  »Nee, lass mal, Guido. Ich arbeite lieber.«
  Sie klopften sich lachend auf die Schultern und schauten dann am Haus nach oben.
  »Die Brüder kennen wir übrigens«, sagte der Beamte. »Konnten denen aber nie was anhängen, außer dem Verwenden verfassungsfeindlicher Symbole. Die Wohnung war immer sauber – egal, wann wir kamen. Die hatten irgendeinen Draht ins Präsidium.«
  »Diesmal werdet ihr was finden.«
  »Schön wär’s. Dieser Degenhardt ist wie ein Aal. Der hat sich bisher noch aus allem herauswinden können. Aus fast allem.«
  »Der ist gar nicht oben. Möglicherweise wird er auch nie wieder oben sein.«
  »Ach? Warum?«
  »Es könnte sein, dass er eines der Opfer der Bombenexplosion von gestern ist.«
  Der andere pfiff leise vor sich hin. »Sieh mal an«, meinte er dann. »Hat’s ihn also irgendwann doch erwischt? Hab ja schon darauf gewartet.«
  »Wieso?«, fragte Sandra. »Gab es Drohungen gegen ihn?«
  »Das auch. Übrigens, ich bin Guido Knauff. Entschuldige, dass ich mich nicht vorgestellt habe.«
  Sandra schüttelte seine Hand und stellte sich ebenfalls vor.
  »Habt ihr was über Degenhardt, das uns weiterhelfen kann?«, fragte Bongarz.
  »Jede Menge. Wir haben ihn schon lange im Visier.«
  »Hatte er Feinde?«
  »Wie Sand am Meer. Übrigens nicht nur aus dem anderen politischen Lager oder von irgendwelchen religiösen Extremisten. Sondern auch aus dem eigenen Lager. Die rechten Spinner sind sich untereinander nicht grün. Wisst ihr was? Ich stell euch alles zusammen, was wir über ihn haben. Ist das Einfachste.«
  Bongarz nickte und schlug ihm zum Abschied auf die Schulter. Dann gingen er und Sandra zu seinem Wagen.
  »Na gut, das war ja alles sehr aufschlussreich«, meinte Bongarz. »Dann fahren wir jetzt mal zu diesem Sven Pomoron. Oder Svenja Pompon, wahlweise.«
  Er war kaum losgefahren, da klingelte Sandras Handy. Sie meldete sich und wurde sofort von einem Schwall Worte überflutet.
  »Na endlich. Wo stecken Sie denn? Ich suche Sie schon seit Stunden«, hörte sie Bellers’ Stimme.
  »Sie suchen mich nicht seit Stunden. Ich war nämlich noch vor einer knappen Stunde im Präsidium, und da waren Sie nicht da.«
  »Das ... Dann war ich aber kurz danach da. Sie müssen doch wenigstens eine Nachricht hinterlassen, wenn Sie unterwegs sind. Ich muss schon wissen, wo Sie sind und was Sie machen. Schließlich arbeiten wir zusammen, und da ist es Usus ...«
  »Wo waren Sie denn? Sie haben mir ja auch keine Nachricht hinterlassen.«
  »Das ist auch etwas ganz anderes. Ich hatte etwas Dringendes zu erledigen, das hatte ich Ihnen gesagt. Und da hatte ich natürlich erwartet, dass Sie mir eine Nachricht hinterlassen, wo ich Sie finden kann, damit wir gemeinsam weitermachen können.«
  »Wenn Sie so etwas erwarten, müssen Sie mir das sagen. Ich kann ja nicht Gedanken lesen.«
  »Das versteht sich doch wohl von selbst, oder nicht?«
  »Versteht es sich auch von selbst, dass man einfach verschwindet, wenn man etwas Dringendes zu erledigen hat? Ohne zu sagen, was das ist und wie lange es dauert?«
  »Wie gesagt, das ist etwas ganz anderes. Aber jetzt teilen Sie mir bitte mit, wo Sie sich gerade befinden. Ihr Auto steht nämlich hier auf dem Parkplatz, wie ich festgestellt habe.«
  »Ich bin auf dem Weg zu einem gewissen Sven Pomoron. Das ist ein Musiker, der mit Lamprecht im Streit liegt und Drohungen gegen ihn geäußert hat.«
  »Aha. Und wie sind Sie auf dem Weg? Zu Fuß? Mit dem Bus?«
  »Nein. Mit Bernd Bongarz.«
  »Wieso mit Bongarz? Sie sind mir zugeteilt.«
  »Sie waren ja nicht da.«
  »Und da gehen Sie einfach mit einem anderen mit?«
  »Mir hat keiner gesagt, dass ich nicht mit fremden Männern mitfahren soll«, gab Sandra zurück.
  »Dann sagen Sie mir jetzt die Adresse von diesem Pomoron, und ich werde dorthin kommen. Bernd können Sie von mir ausrichten, er kann wieder ins Präsidium zurückfahren.« Nachdem Sandra die Adresse durchgegeben hatte, legte er ohne Gruß auf.
  Sandra atmete tief durch und steckte das Handy wieder ein. Dann nestelte sie an ihrer Hosentasche herum und drehte dabei den Kopf zur Seite. So weit zur Seite, dass Bongarz ihr Gesicht nicht sehen konnte, auch wenn er zu ihr herüberschaute. Er sollte die Tränen nicht bemerken.
  Sie zog ein Taschentuch heraus und tat so, als müsste sie sich lediglich die Nase putzen. Dabei wischte sie sich unauffällig über die Augen.
  Bongarz meinte beiläufig: »Ist schon ein sturer Hund, der Bellers, was?«
  »Hm«, machte Sandra.
  »Lass dich nicht unterkriegen. Der bellt zwar, aber er beißt nicht.«
  »Hm«, machte Sandra noch mal. Worte hätte sie nicht an dem Kloß im Hals vorbeibekommen.
  Zum Glück ließ Bongarz das Thema fallen. Sandra ließ es innerlich nicht fallen. Sie würde Bellers’ Verhalten nicht vergessen. Nie.
  Sven Pomoron alias Svenja Pompon wohnte in einem schönen, alten Stadthaus in Vohwinkel. Das Haus schien frisch gestrichen zu sein und leuchtete in einem sanften Gelbton. Die Fensterhöhlungen waren orangefarben, der Sockel war in einem kräftigen Ockerton gehalten. Das Ganze wirkte, als sähe man auf eine riesige Sonnenblume.
  »Sollen wir reingehen?«, fragte Bongarz.
  »Also ... Bellers meinte, er wolle hierherkommen und dich ... also ...«
  »Und mich ablösen?«
  »Ja. Das hat er gesagt.«
  »Eigentlich wäre das ein Grund mehr, da jetzt reinzugehen. Aber besser nicht. Du musst es ja noch eine Weile mit ihm aushalten.«
  Sie warteten vor dem Haus und sprachen noch mal die Vernehmung der beiden Rechtsradikalen durch. Sie überlegten, ob Degenhardt das eigentliche Ziel des Anschlags gewesen sein könnte, und stellten fest, dass sie es beide für unwahrscheinlich hielten. Den Wagen des Arbeitgebers in die Luft zu sprengen wäre eine sehr indirekte Methode, um jemanden zu beseitigen. Wäre Degenhardt wirklich Opfer einer rivalisierenden extremistischen Gruppierung geworden, hätten diese wohl eher seine Wohnung in die Luft gesprengt. Oder ihn schlicht und einfach auf offener Straße erschossen.
  Sie waren noch mitten in der Diskussion, als Bellers’ Wagen um die Ecke bog. Sandra richtete sich auf und straffte die Schultern. Was immer ihr Bellers jetzt an den Kopf werfen würde, sie hatte nicht vor, sich das schweigend anzuhören. Sie versuchte, alle Gedanken an Ohnmacht beiseitezuschieben und in den Wut-Modus umzuschalten. Hoffentlich bekam sie keinen Kloß im Hals.
  Bellers parkte gekonnt in einem Zug in eine winzig kleine Lücke zwischen zwei Autos am Straßenrand. Dann stieg er aus, sagte: »Wollen wir?« zu Sandra und ging zur Haustür. Bongarz beachtete er gar nicht.
  »Na dann.« Bongarz zog die Augenbrauen hoch. »Einen schönen Tag noch. Ich fahre schon mal ins Präsidium und schreibe den Bericht.«
  »Gut. Danke.« Sie nickte Bongarz zu und folgte Bellers zur Haustür.
  Sandra schaute auf die Namensschilder. Auf dem obersten stand: Pomoron und Weiland. Bellers drückte auf den zugehörigen Klingelknopf.
  »Ja bitte?«, trällerte es aus der Gegensprechanlage.
  »Ähm. Herr Pomoron?«, fragte Sandra.
  »Nein, Liebes. Hier ist Tobi. Tobi Weiland. Aber Svenja ist auch zu Hause. Was gibt’s denn?«
  Bei aller Freundlichkeit war die Person offensichtlich nicht gewillt, einfach eine Unbekannte ins Haus zu lassen. Auch nicht, wenn sie ein »Liebes« war.
  »Wir sind von der Kriminalpolizei und möchten mit Herrn Pomoron sprechen«, mischte sich Bellers ein.
  »Aber sicher, gerne. Warum hältst du nicht einfach deinen Ausweis vor die Kamera?«
  Bellers und Sandra schauten sich um. Aus einer Ecke über der Tür glotzte sie die Linse einer Kamera an. Bellers zückte seinen Ausweis und hielt ihn unmittelbar davor.
  »Sehr schön. Könnt ihr mir jetzt bitte noch die Nummer eurer Dienststelle geben?«, kam es erneut aus dem Lautsprecher.
  »Warum?«, fragte Bellers.
  »Ich möchte dort anrufen. Nehmt’s mir nicht übel, aber ich möchte einfach sicher gehen, dass ihr die seid, die ihr vorgebt zu sein.«
  »Ist das jetzt nicht etwas übertrieben?«
  »Nein.«
  Bellers runzelte die Stirn. »Na schön. Die Nummer ist ...«
  »Tobi, wer ist da?«, tönte in diesem Moment ein angenehmer Bariton aus der Sprechanlage.
  »Sie sagen, sie sind von der Polizei. Ich will das gerade nachprüfen.«
  »Haben sie dir ihren Ausweis gezeigt?«
  »Ja, aber der könnte schließlich auch gestohlen oder gefälscht sein.«
  »Tobi, jetzt übertreib mal nicht.« Und dann, etwas lauter: »Entschuldigung, hören Sie?«
  »Ja, wir hören«, antwortete Bellers.
  »Bitte entschuldigen Sie«, wiederholte die Stimme. »Ich öffne jetzt die Tür.«
  Der Summer schnarrte, und als Sandra Bellers ins Haus folgte, hörte sie gerade noch, wie die erste Stimme zur zweiten sagte: »Du kannst doch nicht einfach aufmachen. Wenn das nun ...« Dann wurde oben die Anlage abgeschaltet.


 Kapitel 11

  Der Hausflur war sehenswert. Im Eingangsbereich lief man über ein buntes Mosaik, das so schön war, dass man fast die Schuhe ausgezogen hätte, um es nicht zu beschmutzen. Danach kam man zu einer Treppe, die sich breit und würdevoll nach oben zog. Die Holzstufen waren ausgetreten, aber nicht schäbig, sondern nur alt. Sandra war sich beim Hochgehen bewusst, dass schon seit mindestens hundert Jahren unzählige Menschen den gleichen Weg gegangen waren, wie sie gerade. Wie sie hatten sie vermutlich den glatt polierten Handlauf unter den Händen gespürt. Und wie sie würden sie in jedem Zwischengeschoss aus dem Fenster geschaut haben, wie hoch sie schon waren. Welche Schicksale dieses Haus schon in sich geborgen haben mochte? Wenn Häuser ihre Geschichten erzählen könnten, man bräuchte keine Bücher mehr.
  Pomoron und Weiland wohnten im vierten Stock. Sandra hatte also reichlich Gelegenheit, die von Stockwerk zu Stockwerk wachsende Aussicht zu bewundern. Oben erwartete sie ein Mann in der geöffneten Tür. Oder eine Frau. Oder ein Mann in Frauenkleidung. Jedenfalls musste Sandra an eine mindestens vierstöckige Schwarzwälder-Kirsch-Torte denken. Er/sie war etwa so groß wie Bellers, aber deutlich schmaler. Gekleidet war er/sie betont weiblich mit einer weit ausgeschnittenen Bluse und einem kurzen Rock. Die Haare waren schulterlang und glänzend braun. Die Beine in den schwarzen Netzstrümpfen waren eine Wucht. Das Gesicht war so geschickt geschminkt, dass auf den Wangen der dunkle Schatten eines Barts kaum zu erahnen war. Alles in allem war diese Person als Frau nicht unattraktiv. Allerdings war die klangvolle Baritonstimme nur schwer mit dem optischen Erscheinungsbild in Einklang zu bringen.
  »Herr Pomoron?«, fragte Bellers, außer Atem nach den vielen Treppen.
  »Ja. Oder lieber Frau Pompon, wenn’s recht ist.«
  »Gut. Frau Pompon, ich bin Markus Bellers von der Kriminalpolizei Wuppertal. Das hier ist meine Kollegin Sandra Santori. Wir möchten kurz mit Ihnen sprechen, wenn das möglich ist.«
  »Aber sicher. Kommen Sie rein.« Svenja Pompon öffnete die Tür noch ein Stück weiter und wies mit dem Arm in die Wohnung.
  Die Ermittler gingen hinein. Sandra sah sich um. Die Garderobe war riesig, und trotzdem hingen die Jacken in dicken Schichten übereinander. Auf der einen Seite sah Sandra bestimmt zehn Lederjacken, alle in Schwarz. Sie unterschieden sich nur im Schnitt. Auf der anderen Seite tummelten sich Jacken und Jäckchen in allen Farben und Formen, mit oder ohne Pelzkrägen, mit oder ohne Pailletten oder sonstigem Glitzerkram. Eine ganze Batterie Hüte türmte sich auf der Ablage, und Handtaschen, Schals und Seidentücher hingen von der Garderobe herab wie Lianen von Dschungelbäumen. Sandra sah mehrere flauschige Federboas und konnte es nicht lassen, beim Vorbeigehen eine davon zu streifen. Sie war unglaublich weich, und es musste ein schönes Gefühl sein, sie um den Hals zu legen. Allerdings hätte Sandra es nie über sich gebracht, mit so einem Ding das Haus zu verlassen.
  Unter der Garderobe standen etwa hundert Paar Schuhe. Vielleicht zehn Paar Herrenschuhe, die alle nahezu gleich aussahen. Und neunzig Paar Frauenschuhe, die alle komplett unterschiedlich aussahen. Diese Garderobe wäre der siebte Himmel für kleine Mädchen gewesen, die gerne Verkleiden spielen.
  Svenja Pompon ging ihnen voraus in ein Wohnzimmer. Es war etwa vierzig Quadratmeter groß und sehr hell. Man konnte von hier aus ganz Vohwinkel überblicken. Die Hälfte des Raums wurde von einem cremefarbenen, flauschigen Teppich eingenommen. Auf dem übrigen Boden waren dunkle Holzdielen zu sehen. Eine Längsseite des Zimmers war komplett mit einem Bücherregal zugestellt. Ein Sofa, auf dem sicher zehn Personen bequem Platz gefunden hätten, stand davor und lud dazu ein, sich mit einem Buch darauf niederzulassen und erst wieder aufzustehen, wenn man es durchgelesen hatte.
  Hier und da sah Sandra Geräte oder Vorrichtungen, die ihr nichts sagten. Sie zeigte auf eines von ihnen und fragte: »Was ist das hier?« Das Ding sah aus wie das Oberteil eines Notenständers mit einem Greifarm daran. Wie sich herausstellte, war es das Oberteil eines Notenständers mit einem Greifarm daran.
  Pompon lächelte und sagte: »Passen Sie mal auf.« Dann legte sie ein Buch auf die Vorrichtung und drückte mit dem Fuß auf einen Schalter. Der Greifarm setzte sich in Bewegung, ergriff eine Seite und blätterte sie um. »Sehen Sie, man kann das in alle Richtungen bewegen. So können Sie im Sitzen, Stehen oder Liegen lesen. Gerade im Liegen ist das besonders von Vorteil. Da müssen Sie nicht immer das schwere Buch hochhalten.« Sie schwenkte das Gerät so, dass sie sich aufs Sofa legen und ins Buch schauen konnte. Dabei brachte sie das Kunststück fertig, sich hinzulegen, ohne dass man ihr Höschen unter dem kurzen Rock sah. Wieder löste sie den Schalter aus, diesmal per Hand, und wieder wurde umgeblättert. »Toll, nicht?«, strahlte sie. »Ab und zu wird allerdings mehr als eine Seite umgeblättert, das muss ich noch verbessern.«
  »Sie haben das gebaut?«, fragte Sandra.
  »Ja. Gut, nicht wahr? Obwohl Tobi meint, es reiche, wenn das Buch gehalten wird. Umblättern könne man doch wohl auch einfach mit der Hand, anstatt auf den Knopf zu drücken. Aber ich finde, das ist nicht dasselbe.«
  Bellers nahm in einem Sessel Platz, Sandra in einem anderen.
  Dann begann Bellers: »Frau Pompon. Wir sind hier, um mit Ihnen über Dieter Lamprecht oder auch Dino Lambardo zu sprechen. Der ist Ihnen bekannt?«
  »Und ob!« Die Miene ihres Gegenübers verfinsterte sich, und ihre Stimme wurde noch tiefer.
  »Was können Sie uns über ihn sagen?«
  »Außer, dass er ein Verbrecher ist, meinen Sie? Und außer, dass er von mir aus in der Hölle schmoren soll?«
  »Was ist denn vorgefallen?«
  »Er hat mich bestohlen, das ist vorgefallen. Ich hatte die aberwitzige Idee, ihn als meinen Agenten zu beschäftigen. War froh, dass ich das lästige Geschäft mit den Verträgen und Verhandlungen los war.«
  »Ja? Und?«
  »Im Laufe der Zeit arbeiteten wir auch auf musikalischem Gebiet zusammen. Ich spielte ihm neue Songs vor, er sagte, wie sie auf ihn wirkten. So was eben.«
  »Und dann?«
  »Und dann landete ich einen richtig großen Treffer. Schon als ich den Song fertig hatte, wusste ich, dass das ein Hit wird. Es stimmte einfach alles. Der Text, die Melodie. Bis hin zur Begleitung durch Schlagzeug und Gitarre. Der Song war einfach perfekt.«
  »Handelte es sich dabei um Love is like a black hole?«, fragte Sandra.
  »Genau. Sie haben’s erfasst.«
  »Kann mich vielleicht jemand aufklären?«, fragte Bellers.
  »Love is like a black hole ist ein Lied, das schon seit Wochen ganz oben in den Charts steht«, erklärte Sandra. »Es wird von der Gruppe Master Stars gesungen. Dem Schwarm aller Teenies.«
  »Die haben mit dem Song ihren Durchbruch geschafft«, erklärte Pompon. »Und dabei ist es mein Song! Lambardo hat ihn mir geklaut und an diese gegelten Schnösel weitergereicht.«
  »Haben Sie vorher keine Aufnahmen gemacht? Um beweisen zu können, dass der Song von Ihnen stammt?«, wunderte sich Bellers.
  »Diesmal nicht. Ich habe mit Lambardo doch schon seit Jahren zusammengearbeitet. Dachte, ich könnte ihm vertrauen. Ich habe ihm den Song einfach vorgesungen und mich dabei selbst auf der Gitarre begleitet. Meine Band kannte das Stück also leider noch gar nicht. Aufgeschrieben hatte ich auch noch nichts, es existierte alles nur in meinem Kopf.«
  »Wie konnte Lambardo es dann an diese Master Singers weitergeben?«, fragte Bellers.
  »Master Stars«, verbesserte Pompon automatisch. »Lambardo hat eine Probeaufnahme gemacht. Das hatte mich zwar etwas gewundert, weil ja meine Band gar nicht mit dabei war. Aber wirklich etwas dabei gedacht habe ich mir nicht. Schön dumm.«
  »Sie können ihn also nicht verklagen?«, fragte Sandra.
  »Keine Chance. Diese Musikerimitate werden jetzt mit meinem Song berühmt. Und wissen Sie, was das Schlimmste ist? Die waren noch nicht mal in der Lage, richtig zu plagiieren. In Wahrheit heißt es nämlich: Love is like a black whole. Also wie ein schwarzes Ganzes. Nur so ergibt der Rest des Textes Sinn. Oder wie verstehen Sie sonst: And everything we do just partly / but be in love and you can hardly / be in control about your life.«
  Sandra nickte nachdenklich.
  »Aber nein, die singen jetzt von schwarzen Löchern und haben selbst keine Ahnung, was das mit dem Rest des Textes zu tun haben soll«, ärgerte sich Pompon. »Als wäre es ein Song über die Liebe zwischen zwei Galaxien, oder so etwas. Na ja.« Sie seufzte. »Das Publikum hat es ja auch nicht geschnallt, wie ich feststellen musste.«
  »Und jetzt? Kämpfen Sie noch weiter um Ihre Rechte?«, fragte Bellers.
  Pompon zuckte mit den Schultern. »Nein. Alle Rechtsmittel sind ausgeschöpft. Die Anwaltskosten haben mich fast ruiniert. Zum Glück hat Tobi gerade ein gutes Engagement. Sonst würde es eng.«
  Eine nachdenkliche Pause entstand. Dann fragte Pompon: »Aber warum sind Sie hier? Die Kriminalpolizei interessiert sich doch wohl nicht für den Raub geistigen Eigentums. Jedenfalls habe ich bei meinen bisherigen Kontakten zur Polizei außer Schulterzucken nicht viel Resonanz bekommen.«
  »Ähm, nein. Wir sind wegen etwas anderem hier«, antwortete Sandra. »Sie haben sicher mitbekommen, dass es gestern in Sonnborn einen Anschlag gegeben hat?«
  »Mein Gott, man redet von nichts anderem mehr. Und?«
  »Bei diesem Anschlag ist Dino Lambardo ums Leben gekommen.«
  »Der ist tot?«, fragte Pompon und riss die Augen auf.
  »Pass auf«, kam es in diesem Moment von der Tür her. »Die wollen dir die Sache anhängen.«
  An der Wohnzimmertür stand ein Mann Anfang dreißig. Er war etwa 1,80 Meter groß und wirkte geschmeidig wie ein Panther. Wären da nicht die Gipsverbände um den rechten Arm und das linke Bein gewesen. Außerdem war seine Nase grotesk geschwollen, und unter einem Auge hatte er einen ehemals blauen Fleck, der sich gerade durch das gelb-braune Stadium arbeitete.
  »Wer sind Sie?«, fragte Bellers.
  Im selben Moment fragte Sandra: »Was ist denn mit Ihnen passiert?«
  Nach kurzem Zögern antwortete Pompon: »Das ist Tobi, mein Mann. Seit sieben Wochen.« Sie lächelte dem anderen zu.
  »Sieben Wochen und zwei Tage«, lächelte der andere zurück, falls Sandra das Verziehen des geschwollenen Gesichts richtig interpretierte. Der Mann kam herein und setzte sich neben Pompon aufs Sofa.
  »Tobi ist vor zwei Wochen zusammengeschlagen worden«, erklärte Pompon. »Von einer Gruppe Glatzköpfe.«
  Sandra stutzte. Diese Glatzköpfe waren ja wohl nicht Degenhardt und seine Kumpels? Dann hätte Pompon gleich doppelt Grund gehabt, den Wagen in die Luft zu sprengen.
  »Haben Sie die Tat angezeigt?«, fragte Bellers.
  »Klar«, antwortete Pompon. »Mit dem gleichen Ergebnis wie bei dem Raub meines Songs. Schulterzucken.«
  »Aber nein, nicht nur«, wandte Tobi ein. »Als die Beamten mein Zimmer im Krankenhaus verlassen haben, haben sie nicht nur mit den Schultern gezuckt. Sie haben auch noch getuschelt und gekichert.«
  »Stimmt«, gab Pompon gelassen zurück.
  »Warum?«, fragte Bellers.
  »Na, warum wohl?«, fragte Pompon zurück. »Sie haben mich gesehen. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, sehe ich etwas ungewöhnlich aus. Für einen Mann. Für eine Frau übrigens auch.«
  »Und Sie wissen ja wohl, wie man mit zwei verrückten Tunten umspringt«, ergänzte Tobi.
  »Wieso?«, fragte Bellers. Er fragte es naiv wie ein Kind.
  Das war wohl die Kehrseite seiner unerträglichen Pedanterie, was Regeln und Gesetze anging: Im Handbuch für Ermittler stand sicher irgendwo, dass alle Menschen gleich zu behandeln seien, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion, sexueller Orientierung und ähnlicher Dinge. Also behandelte er alle Menschen gleich, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion, sexueller Orientierung und ähnlicher Dinge. Und ging zusätzlich davon aus, dass alle anderen dies genauso machten. Schließlich stand es doch in den Richtlinien.
  »Wir waren der Witz des Tages für Ihre Kollegen«, meinte Pompon.
  »Das tut mir leid. Wenn Sie mir die Namen der Beamten sagen, werde ich mich darum kümmern, dass diese Angelegenheit untersucht wird und die betreffenden Kollegen gegebenenfalls eine Rüge erhalten. Oder eine Abmahnung.«
  »Lassen Sie mal«, wehrte Tobi ab. »Das einzige Ergebnis wird sein, dass man auch über Sie kichert. Und Sie verdächtigt, heimlich schwul zu sein.«
  »Das ist ganz unerheblich«, widersprach Bellers. »Es ist nicht in Ordnung, wenn Beamte mit Ihnen ...«
  »Lassen Sie es. Wirklich«, fiel ihm Pompon ins Wort. »Tobi braucht jetzt vor allem Ruhe. Er hat jede Nacht Albträume. Und wenn jemand an der Tür klingelt, will er gar nicht mehr aufmachen. Deswegen auch die Sache mit dem Ausweis und dem Anruf auf dem Präsidium vorhin.«
  »Kann ich verstehen«, nickte Sandra.
  »So, aber zurück zur Frage, wie ich Ihnen helfen kann«, meinte Pompon, während sie den Arm um Tobis Schultern legte und seinen Hals streichelte. Ausnahmsweise musste Sandra bei diesem Anblick nicht an Gebäckstücke, sondern an zwei Liebesvögel denken, die sich auf ihrer Stange eng aneinanderkuscheln.
  »Ich sag dir, die wollen dir das anhängen«, sagte Tobi.
  »Ist das so? Wollen Sie das?«, erkundigte sich Pompon.
  Sandra kam sich hier völlig fehl am Platz vor. Sie waren an der falschen Adresse, ganz eindeutig. »Also gut, spielen wir mit offenen Karten«, sagte sie schließlich. »Wir haben von Sonja Kluge gehört, dass es Streit zwischen Ihnen und Lambardo gab, und dass Sie dabei eine Drohung gegen ihn ausgesprochen haben sollen.«
  »Ja? Hab ich? Kann sein. Ich war sehr aufgeregt«, antwortete Pompon.
  »Verständlich, wenn man bedenkt, dass der Song ein echter Hit ist, oder?«, fragte Tobi.
  »Das ist richtig. Aber vielleicht verstehen Sie, dass wir Sie das jetzt fragen müssen ...«
  »Ob ich Lambardo in die Luft gesprengt habe? Nein, das habe ich nicht.«
  »Damit dürfte das ja geklärt sein«, ergänzte Tobi. »Einen schönen Tag noch.«
  »Moment, so einfach ist das nicht. Wir müssen wissen, wo Sie in der Zeit zwischen vorgestern Abend, sagen wir 20.00 Uhr, und gestern Morgen um 8.42 Uhr waren«, sagte Bellers.
  »Ich war zu Hause«, begann Pompon.
  »Mit mir zusammen. Ich kann ja zurzeit nicht auf die Bühne, wie Sie sehen.« Tobi klopfte mit dem Gips seines Armes auf den seines Beines.
  »In Ordnung. Das war es dann schon. Entschuldigen Sie die Störung.« Sandra stand auf und ging zur Wohnungstür, ehe Bellers noch weitere peinliche Fragen stellen konnte. Aus dem Augenwinkel sah sie ihren Kollegen zögern. Dann stand er auf und folgte ihr.


 Kapitel 12

  Was sollte das denn jetzt?«, ärgerte sich Bellers, noch während sie die Treppe hinuntergingen.
  »Was denn?«, fragte Sandra, obwohl sie genau wusste, was er meinte.
  »Warum unterbrechen Sie die Vernehmung, bevor ich sie zu Ende geführt habe?«
  »Sie hätten ja noch weitermachen können.«
  »Wie denn, wenn Sie sich schon verabschieden und einfach gehen? Sieht ja wohl komisch aus, wenn ich dann noch dableibe.«
  Sandra zuckte mit den Schultern. Er hatte vielleicht nicht ganz unrecht. »Glauben Sie etwa, dass Pompon der Bombenleger ist? Beziehungsweise die Bombenlegerin?«, fragte sie, als das Schweigen zu drückend wurde.
  »Das spielt überhaupt keine Rolle. Ich bin nicht zum Glauben da, sondern zum Ermitteln. Und das tue ich. So gründlich und objektiv wie möglich.«
  Bla, bla, dachte Sandra. »Ja, aber trauen Sie ihm so etwas zu?«, fragte sie laut.
  »Es geht auch nicht darum, wem ich was zutraue oder nicht. Es geht um Tatsachen.«
  Sandra fühlte sich wie ein Vulkan, dessen Lava bereits dicht unter der Erdkruste brodelt, während der Druck von unten weiter steigt. Gleichzeitig schwoll in ihrem Hals ein Kloß von den Ausmaßen eines Tennisballs heran.
  »Danke. Ich laufe lieber«, presste sie mühsam hervor, als Bellers ihr die Beifahrertür öffnete.
  »Was? Wir sind in Vohwinkel. Bis Unterbarmen sind es über zehn Kilometer. Wann wollen Sie denn im Präsidium ankommen?«
  »So lange wird es schon nicht dauern. Ich brauche das manchmal, um ... um nachzudenken.«
  »Können Sie nicht im Sitzen denken?«
  »Nicht so gut.«
  Bellers verzog sein Gesicht und sagte: »Wie Sie wollen. Aber um sechs haben wir Besprechung. Vergessen Sie die nicht.«
  Dann fuhr er los, und Sandra atmete auf. Entweder musste sie jetzt erst mal eine Runde heulen oder sich körperlich verausgaben. Es ging allerdings auch beides gleichzeitig, wie sie merkte, als sie losgetrabt war. Aus dem lockeren Trab wurde ein zügiges Laufen, bis sie schließlich so schnell rannte, dass sie meinte, ihre Lunge würde sich durch den Hals nach draußen pressen. In ihrem Kopf kreisten in einer Endlosschleife Worte, die sie Bellers an den Kopf geworfen hätte, wenn sie nicht gerade erst den zweiten Tag mit ihm zusammenarbeiten würde. Und wenn nicht möglicherweise noch Tausende weitere Tage folgen würden.
  Als sie nach einundvierzig Minuten in der Nähe des Präsidiums angekommen war, ging sie die letzten Meter im Schritttempo, damit sich ihre Atmung einigermaßen normalisieren konnte. Schnell huschte sie am Pförtner vorbei, bevor der aufschauen und sich wundern konnte, warum sie an diesem eher kühlen Tag nass geschwitzt war. Sie machte einen kurzen Abstecher in ihr Büro, atmete auf, weil Bellers gerade nicht da war, und holte sich eines der Shirts, die sie für solche Fälle in einer Schreibtischschublade deponiert hatte. Dann ging sie direkt in den dritten Stock und dort auf eine Toilette, die so gut wie nie benutzt wurde. Sie wusch sich den Oberkörper und zog das frische Shirt an.
  Als sie wenige Minuten später ihr Büro betrat, war es halb sechs. Bellers schaute sie verwundert an. »Sie sind schon hier? Haben Sie doch ein Taxi genommen? Oder die Schwebebahn?«
  Sandra gab ein nichtssagendes Geräusch von sich.
  »Und? War das Nachdenken produktiv?«
  Schon. Nur hatte sie nicht über den Fall nachgedacht. Aber sie war geübt im Improvisieren: »Ich habe mir Gedanken gemacht, in welche Richtung wir noch gründlicher ermitteln sollten.«
  »Und das wäre?«
  »Zum einen das rechtsradikale Milieu, in dem Degenhardt sich bewegt hat. Wir sollten zum Beispiel überprüfen, von wem Tobi, der Partner von Pompon, zusammengeschlagen wurde. Nicht, dass es da Verbindungen gibt.«
  Bellers nickte und machte sich Notizen. »Und weiter?«
  »Vor allem aber müssen wir den Hintergrund von Dino Lambardo gründlich ausleuchten. Es war sein Wagen, der in die Luft geflogen ist. Und Feinde scheint er sich ja genügend gemacht zu haben.«
  Bellers nickte wieder. »Natürlich. Und dafür mussten Sie nun zehn Kilometer laufen?«
  Sandra sagte nichts dazu und setzte sich an den Computer. Sie sah, dass Bongarz bereits den Bericht über die Vernehmung von Degenhardts Mitbewohnern geschrieben und ins Intranet gestellt hatte, und überflog ihn kurz. Dann entdeckte sie auch Bellers’ Bericht über die Befragung von Svenja Pompon. Sie musste zugeben, dass dieser sachlich richtig, ausführlich und ohne jede Wertung verfasst worden war. Wobei es durchaus hilfreich sein konnte, den Kollegen einen persönlichen Eindruck mitzuteilen. Schließlich waren sie ja nicht dabei gewesen und konnten folglich nicht wissen, wie etwas gesagt worden war. Aber entweder hatte Bellers keine Eindrücke, oder er redete nicht darüber.
  Sandra sah aus dem Augenwinkel, dass Bellers etwas schrieb. Gerade nahm er sich ein zweites Blatt, schrieb erneut, faltete das erste Blatt sorgfältig Ecke auf Ecke und warf es dann weg. Das zweite legte er mit der Schrift nach unten auf die Schreibtischunterlage, die ansonsten klinisch sauber war, und stand auf. »Vergessen Sie nicht die Besprechung«, brummte er und ging aus dem Büro.
  Sandra stand ebenfalls auf. Sie konnte es nicht lassen, und schlenderte zu Bellers’ Schreibtisch. Jederzeit bereit, die Richtung zu wechseln, wenn er zurückkommen sollte. Dann drehte sie beiläufig den Zettel um. Es war ein Einkaufszettel. Als Nächstes fischte sie das andere Blatt aus dem Papierkorb. Es war auch ein Einkaufszettel. Sie verglich den einen mit dem anderen und stellte fest, dass auf beiden haargenau dieselben Produkte notiert waren. Aber auf dem im Papierkorb war ein Wort falsch geschrieben und durchgestrichen worden, bei einem anderen hatte der Stift am Ende geschmiert. Hatte Bellers allen Ernstes den Einkaufszettel noch mal ordentlich abgeschrieben? Wie zwanghaft konnte man eigentlich sein!
  * * *
  Die Besprechung war erfreulich kurz. Zunächst kam ein kleiner, runder und kahlköpfiger Mann zu Wort, der sich Sandra als Peter Hahn, Gerichtsmediziner vorstellte. Er hatte nicht nur keine Haare auf dem Kopf, sondern auch keine Wimpern und Augenbrauen, keinen erkennbaren Bartwuchs und keinerlei Haare an den Armen. Er musste unter irgendeiner Krankheit oder genetischen Besonderheit leiden. Peter Hahn bestätigte, dass die beiden Männer und die Frau aus dem Wagen durch die Explosion ums Leben gekommen und unter keinen erkennbaren Vorerkrankungen gelitten hatten. Die Identität des einen Mannes war bekannt, die des anderen wurde vermutet. Die Frau war vermutlich zwischen 15 und 25 Jahren alt, etwa 1,80 Meter groß und schlank gewesen. Sie hatte kastanienbraunes Haar gehabt, mehr konnte man über ihr Aussehen nicht sagen.
  Sandra, Bongarz und Bellers berichteten von den Vernehmungen, die sie geführt hatten, und genau wie Sandra vorgeschlagen hatte, sollten sowohl Degenhardts rechtsradikale Kontakte als auch Lambardos Hintergrund näher beleuchtet werden. Fladerer berichtete, dass inzwischen der Verdacht in Richtung terroristischer Anschlag vom Tisch sei, was auch der Öffentlichkeit mitgeteilt worden war. Natürlich nur bis auf Weiteres. Die Ermittlungen im Hintergrund würden bis zum Beweis des Gegenteils weitergehen. Sie konnten daher den Fall bearbeiten wie jeden anderen Mord auch.
  Was Svenja Pompon anging, fragte Fladerer lediglich: »Und? Ihr Eindruck?«
  Noch während Bellers Luft holte, antwortete Sandra: »Ich traue es ihr nicht zu.«
  Fladerer nickte.
  »Trotzdem sollten wir sie nicht von vornherein ausklammern. Immerhin hat sie ein Motiv und ...«, begann Bellers.
  »Ja, ja, schon gut.« Fladerer winkte ab. »Aber solange wir so viele andere, vielversprechendere Spuren haben, sollten wir uns nicht damit aufhalten.«
  Sandra musste sich zusammenreißen, um nicht laut »Ha!« zu rufen. Sie sah, wie Bongarz ihr zuzwinkerte.
  »Außerdem hätte diese Svenja Pompon doch wohl keine Bombe gelegt«, warf Lukas Mann ein. »Die hätte Lambardo doch sicherlich mit Wattebäuschchen bombardiert.«
  Jetzt verdrehte Bongarz die Augen.
  »Unglaublich witzig!«, meinte Fladerer, während Lukas Mann die Hände hob und sagte: »Gut, gut. War nicht so toll.«
  »Was haben wir noch? Was Neues von der Vermisstenstelle?«
  Michael Schweizer räusperte sich. »Noch nichts. Bislang keine Meldungen, die auf eine seit gestern vermisste weibliche Person hindeuten. Jedenfalls nicht im Alter zwischen 15 und 25 Jahren. Vermisst gemeldet wurde heute nur eine verrückte, alte Schachtel, die aus einem Pflegeheim weggelaufen ist. Sie ...«
  »Was soll das denn jetzt?«, unterbrach Bellers mit hochrotem Gesicht. »Wie können Sie so respektlos über diese alte Dame reden? Was wissen Sie denn schon, wie sie gelebt hat? Was sie geleistet oder gelitten hat? Und Sie kommen daher und ...«
  »Ist gut, Herr Bellers. Schon gut!«, sagte Fladerer mit einer Stimme, als wollte er ein scheuendes Pferd beruhigen. »Und Sie könnten sich tatsächlich etwas respektvoller ausdrücken«, wandte er sich an Schweizer, der verlegen auf seinem Tablet herumwischte und offenbar gar nicht wusste, wie ihm geschah.
  Schließlich räusperte er sich: »Ja, also dann. Die DNA-Analysen für den unbekannten Mann und die Frau sind gelaufen. Wie sieht es mit Vergleichsmaterial für diesen Degenhardt aus?« Schweizer schaute Sandra an, als hoffte er, sie und Bongarz hätten es vergessen.
  Sandra bedauerte fast, dass sie ihm die benutzte Unterhose Degenhardts nicht auf den Schoß werfen konnte. Scheinbar gelassen sagte sie: »Das brauchen wir nicht. Degenhardts DNA liegt uns bereits vor, da er vor einiger Zeit wegen einer Vergewaltigung verurteilt wurde.«
  »Ach? Warum wissen wir das nicht?« Fladerer schaute in Schweizers Richtung. »Sie haben mir nur etwas von der Körperverletzung berichtet.«
  »Also ich ... Ich werde das überprüfen.« Schweizer bekam rote Ohren.
  Manchmal hatte Sandra direkt Mitleid mit den Männern. Entweder sie trugen einen Kurzhaarschnitt, und jeder konnte den Zustand ihres vegetativen Nervensystems an den Ohren ablesen. Oder sie ließen ihre Haare lang wachsen, was bei Männern aber immer noch als ein Statement über ihre allgemeine Lebenseinstellung angesehen wurde. Jedenfalls bei der Polizei.
  »Übrigens konnten von einem der vorgefunden Arme Fingerabdrücke genommen werden. Wenn auch nur partielle. Aber so wie es aussieht, haben wir sie in unserer Kartei«, sagte Fladerer.
  »Und?«, fragte Luk.
  »Sie stimmen mit denen von Degenhardt überein, soweit man das sagen kann. Trotzdem möchte ich zur Sicherheit eine DNA-Analyse. Die Fingerkuppen waren nicht ganz unbeschädigt, es bestehen wohl gewisse Restzweifel.«
  Sandra verspürte eine leichte Übelkeit bei der Erwähnung der »nicht ganz unbeschädigten« Fingerkuppen.
  »Was gibt es noch von Ihnen, Hellweg und Schweizer?«, fragte Fladerer als Nächstes.
  »Ich habe mich mit Frau Sofia Lamprecht beschäftigt«, begann Schweizer, noch ehe Imke Hellweg auch nur den Mund geöffnet hatte. »Wie Sie meinem Bericht entnehmen können, habe ich einerseits ihre Vergangenheit gründlich unter die Lupe genommen. Außerdem habe ich mit einigen der Anwohner gesprochen.«
  Gut, es gab noch schlimmere Partner als Bellers, stellte Sandra fest. Dann schon lieber einen sturen Paragraphenreiter als diesen ehrgeizigen Streber.
  »Und Ihre Kollegin? War die inzwischen einkaufen?«, hakte Fladerer nach.
  »Was? Wieso? Nein, die war mit dabei.«
  »Dann reden Sie von ›Wir‹, und nicht von ›Ich‹. Wir arbeiten im Team, nicht vergessen.«
  Das Ohrenbarometer von Schweizer schien kurz vor dem Explodieren zu stehen.
  »Frau Hellweg, erzählen Sie bitte.«
  Imke fasste zusammen, was sie und Schweizer über Frau Lamprecht herausgefunden hatten. Sie tat das sehr gut, musste Sandra zugeben. Knapp und präzise. »Sofia Lamprecht, geborene Sofia Oliewski, stammt aus der Ukraine. Sie kam 2001 mit ihrer Familie als Spätaussiedlerin nach Deutschland und hatte offensichtlich Schwierigkeiten, sich zu integrieren. Jedenfalls hat sie eine lange Liste von Jugendstrafen, angefangen von fortgesetztem Schuleschwänzen über Ladendiebstähle, Einbrüche, Drogenvergehen bis hin zu schwerer Körperverletzung, als sie siebzehn war. Sie bekam damals eine Freiheitsstrafe und entdeckte im Gefängnis ihre Liebe zum Kampfsport.«
  »Was ja wohl nichts anderes heißt, als dass sie jetzt noch professioneller gewalttätig werden konnte«, meinte Lukas Mann.
  »Eben nicht«, widersprach Imke. »Jedenfalls gab es weder im Gefängnis noch in der Zeit danach weitere Anzeigen wegen Körperverletzungen. Stattdessen wurde sie in den Jahren nach ihrer Entlassung eine professionelle Wrestling-Kämpferin. Sie war in der Szene recht bekannt und verdiente wohl nicht schlecht.«
  »Und dann? Wie lernte sie Lamprecht kennen?«
  »Er sah sie bei einem ihrer Kämpfe. Und da es erst so aussah, als könne er sie nicht haben, wollte er sie natürlich unbedingt haben. Ihre Unnahbarkeit forderte wohl den Jäger in ihm heraus. Er hat sie mit Geduld und viel Geld umworben. Und damit er sie auch ja sicher hatte, heiratete er sie so schnell wie möglich und sorgte dafür, dass sie mit der Wrestling-Geschichte aufhörte. Sodass sie also von ihm und seinem Geld abhängig wurde.«
  »Was sie scheinbar nicht davon abhielt fremdzugehen«, bemerkte Bellers.
  »Das kann man ihr aber nicht verdenken«, warf Schweizer ein. »Lamprecht hat es fertiggebracht, noch in der Hochzeitsnacht mal eben ins Nachbar-Hotelzimmer zu verschwinden, wo er eine seiner Geliebten untergebracht hatte. Bei der holte er sich dann seinen Nachtisch.«
  »Ein Wunder, dass Sofia ihn nicht einen Kopf kürzer gemacht hat«, fügte Imke hinzu.
  »Wie lange sind die beiden verheiratet?«
  »Seit vierzehn Monaten. Und damit hat die Ehe länger gehalten, als jede von Lamprechts fünf vorherigen Ehen. Sofia Lamprecht gab an, sie habe so viel wie möglich seines Geldes durchbringen wollen, bevor sie sich scheiden lassen würde. Ehrlich gesagt, glaube ich, sie hat auch noch etliches Geld heimlich auf die Seite gebracht.«
  »Und wie ist sie als Witwe gestellt?«, fragte Sandra.
  »So wie es aussieht hat Lamprecht kein Testament gemacht. Das heißt, sie wird erben«, erklärte Imke. »Und zwar alles, weil Lamprecht keine weiteren Verwandten hat außer zwei Cousinen zweiten Grades.«
  »Na, wenn das kein astreines Motiv ist«, sagte Lukas Mann.
  Fladerer nickte. »Bleiben Sie dran und schauen Sie, was Sie noch herausfinden können.«
  »Was ist eigentlich bei der Durchsuchung von Degenhardts WG herausgekommen?«, erkundigte sich Bongarz.
  »Ach ja, das.« Fladerer grinste, wobei seine kleinen Äuglein hinter den fleischigen Wangen fast verschwanden. »Die beiden Herren Mitbewohner sind derzeit unsere Gäste. Wir haben nicht nur in Degenhardts Zimmer, sondern auch bei ihnen illegale Waffen gefunden. Und wissen Sie, wo sie sie versteckt hatten?« Jetzt waren die Augen gar nicht mehr zu sehen.
  »Wo denn?«, fragte Bongarz.
  »Im Kleiderschrank. Wenn das nicht mal ein überaus originelles Versteck ist.«
  Alle lachten.
  »So, sind wir durch? Frau Hellweg, wären Sie so lieb, alles noch mal kurz zusammenzufassen? Sie machen das immer so gut.«
  Knapp, präzise und übersichtlich schilderte Imke den augenblicklichen Ermittlungsstand. Als sie fertig war, bedankte sich Fladerer bei ihr und sagte: »Wir sehen uns morgen um 18.00 Uhr wieder hier. Wenn Sie nichts anderes von mir hören.« Ächzend stemmte er sich nach oben und wogte aus dem Raum.


 Kapitel 13

  Sandra war nach der Besprechung noch kurz zurückgeblieben, um Imke ein Kompliment wegen der Zusammenfassung des Ermittlungsstandes zu machen. Eigentlich, um mit ihr überhaupt mal ein wenig ins Gespräch zu kommen. Immerhin waren sie die beiden einzigen Frauen im Team, wenn man von Petra Oberrath absah, die ja bei der Spurensicherung arbeitete. Das Gespräch war schnell erledigt, hatte in Imkes Fall lediglich aus einem knappen Nicken und einem: »Aha!« bestanden. Sandra hatte keine Ahnung, was sie ihr getan hatte, würde sie aber wohl so schnell nicht wieder persönlich ansprechen.
  Den Abend, und weil es spät geworden war auch die Nacht, hatte sie dann bei Inge verbracht. Sie hätte noch weitergeschlafen, wenn Inge sie nicht am nächsten Morgen um acht wachgerüttelt hätte.
  »Ich störe dich ja nur ungern, Liebes, aber ich glaube, du musst zur Arbeit.«
  »Wibät isses«, lallte Sandra. Sie griff nach ihrer Uhr. Als sie schließlich einen Blick darauf werfen konnte, schrak sie hoch. »Oh nein, ich sollte mich um acht mit Bellers treffen.«
  »Soll ich ihn anrufen und sagen, dass du später kommst?«
  »Danke, Mama, aber das schaffe ich schon selbst.« Sandra hechtete ins Bad, duschte und zog die frischen Sachen an, die bei Inge immer für sie deponiert waren. Dann gab sie ihr einen Kuss auf die Wange. »Vielen Dank für alles.«
  »Schon recht. Pass auf dich auf, ja? Und wenn dich dein Kollege ärgert ...«
  »Dann trete ich ihm in die Eier. Genau wie du das machen würdest.«
  »So ist es.« Inge lächelte ihrem jungen Schützling hinterher.
  Als Sandra um kurz nach halb neun auf den Parkplatz fuhr, überlegte sie, ob sie Bellers überhaupt noch im Präsidium antreffen würde. Sie hatten verabredet, dass sie um acht erneut zu Lamprechts Agentur fahren wollten, und wie Sandra ihren Kollegen einschätzte, hatte sein Wagen um 8.01 Uhr den Parkplatz verlassen.
  Aber sie irrte sich. Bellers war im Büro. Durch die offene Tür konnte sie sehen, dass er seine Arme schwenkte, als wollte er einen Schwarm Vögel vertreiben. Erst als sie das Büro betrat, sah sie, was los war. Ein Mann war bei Bellers. Er war an die zwei Meter groß und hatte volles, schwarzes Haar, obwohl er schon in den Fünfzigern sein musste. Seine Augen verschwanden fast unter den dichten, über der Nasenwurzel zusammengewachsenen Brauen. Der Mann redete auf Bellers ein, der heftig gestikulierte, in der Hoffnung, auch mal zu Wort zu kommen.
  »Es kann ja sein, dass sie schon erwachsen ist und ihrem Vater keine Rechenschaft mehr schuldig ist«, sagte der Mann gerade. »Aber sie ist noch nie von zu Hause weggeblieben. Jedenfalls nicht, ohne mir Bescheid zu sagen.«
  »Hören Sie ...«
  »Es muss ihr etwas zugestoßen sein, glauben Sie mir.«
  »Können Sie ...«
  »So etwas macht sie nicht. Nie! Ich kenne sie doch. Ihr ganzes Leben bin ich jetzt mit ihr zusammen, und noch nie hat sie so etwas getan. Sie muss ... Sie ist ...« Endlich hörte der Mann auf zu reden und ließ sich auf den Besucherstuhl vor Bellers’ Schreibtisch fallen.
  »Herr Abendroth, hören Sie«, konnte Bellers nun endlich sagen. »Ich verstehe Ihre Besorgnis. Und ich versichere Ihnen, dass wir Ihre Vermisstenmeldung sehr ernst nehmen. Wir werden sofort die umliegenden Krankenhäuser anrufen und ...«
  »Das habe ich doch schon gemacht«, kam es dumpf hinter den Händen hervor, die das Gesicht des Mannes bedeckten. Es waren Hände so groß wie Bratpfannen.
  »Nun, jedenfalls ... Wenn Ihre Tochter irgendwo aufgefunden worden sein sollte, werden wir das erfahren. Und Sie sind sicher, dass sie nicht aus freien Stücken weggegangen ist? Ich meine, junge Leute denken nicht immer darüber nach, was sie tun. Vielleicht ...«
  »Meine Tochter ist nicht so. Sie war immer rücksichtsvoll und verantwortungsbewusst. So etwas würde sie nie tun.«
  »Was macht Ihre Tochter? Geht sie noch zur Schule?«
  »Nein, nein. Sie ist zwanzig. Sie studiert Musik. Gesang, um genau zu sein.«
  Bellers und Sandra schauten sich an. Musik!
  Sandra suchte nach Worten, dann formulierte sie vorsichtig: »Musik, das ist ja interessant. Und hatte sie auch Auftritte?«
  »Ja, schon. Doch, sie hatte schon ganz gute Erfolge.«
  »Und hatte sie auch einen Musikagenten?«
  »Nein, das nicht. Sie studierte ja noch.«
  Sandra überlegte, ob sie direkt nach Lamprecht alias Lambardo fragen sollte. Aber was, wenn der Mann den Namen erkannte? Immerhin wurde er seit dem vorigen Abend im Zusammenhang mit dem Bombenanschlag öffentlich genannt. Dann würde er doch zwei und zwei zusammenzählen können.
  Auch Bellers schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an und schüttelte leicht den Kopf. »Haben Sie ein Foto von ihr?«, fragte er den Mann. »Dann werde ich sofort die Fahndung nach ihr einleiten.«
  Abendroth nickte und holte ein Foto aus der Innentasche seiner Jacke. Es war eine dick gepolsterte Lederjacke, die ihn noch breiter machte, als er sowieso schon war, und die für diese Jahreszeit viel zu warm war.
  Sandra trat neben Bellers und betrachtete das Foto. »Eine sehr schöne, junge Frau«, sagte sie, und über das Gesicht ihres Vaters huschte ein Lächeln.
  »Ja, nicht wahr? Das hat sie von ihrer Mutter. Die sah genauso aus, als sie in diesem Alter war.« Er lächelte versonnen.
  »Wo ist Ihre Frau?«
  Das Lächeln verschwand. »Sie ist gestorben. Schon vor vielen Jahren. Genau gesagt, bei Marias Geburt.«
  »Das tut mir leid«, sagte Sandra.
  Der Mann nickte. »Habe ich Ihr Wort, dass Sie sich um meine Tochter kümmern?«, vergewisserte er sich.
  »Versprochen. Jetzt gleich.«
  »Ja, dann ... Dann gehe ich mal. Hier sind meine Telefonnummern. Bitte informieren Sie mich, sobald Sie etwas wissen, ja? Auch wenn Sie nur etwas vermuten.«
  »Das werden wir tun«, versprach Sandra, nicht ganz wahrheitsgemäß.
  Kaum hatte sich die Tür hinter dem Mann geschlossen, sahen Sandra und Bellers sich wieder an.
  »Denken Sie das Gleiche wie ich?«, fragte Bellers schließlich.
  »Vermutlich. Allerdings hoffe ich, dass ich mich irre.«
  »Ja. Ich auch. Andererseits: eine junge Frau, die seit vorgestern verschwunden ist. Und die Musik studiert.«
  Sandra nickte. Nicht umsonst hatten die Kollegen von der Vermisstenstelle den Mann zu ihnen geschickt.
  »Warum haben Sie ihm nicht die Kleidungsstücke gezeigt, die am Tatort gefunden wurden?«
  »Diese blutigen Fetzen? Ich bitte Sie!«
  War er also doch nicht bloß der sture Paragraphenreiter.
  »Wenn ich vermeiden kann, diesen Mann unnötig durch die Hölle gehen zu lassen, dann werde ich das tun«, fuhr Bellers fort. »Außerdem können wir anders vorgehen. Die DNA der drei Opfer ist inzwischen analysiert worden. Der zweite Mann war übrigens tatsächlich Degenhardt.«
  »Gut. Dann müssen wir uns nur noch einen Vorwand überlegen, warum wir eine Vergleichsprobe von Maria Abendroth haben wollen.«
  »Nicht nötig. Der Vater hat schon etwas mitgebracht. Entweder ahnt er was, oder er möchte einfach auf Nummer sicher gehen.«
  »Was hat er denn mitgebracht?«
  »Na ja.« Zögernd holte ihr Kollege einen Plastikbeutel hervor, in dem ein gebrauchter Tampon steckte.
  »Oh!«, sagte Sandra. »Das ist ungewöhnlich. Aber nicht schlecht. Das Ding wird voller Zellen und damit voller DNA sein.«
  »Ja. Das müsste jetzt jemand zur KTU bringen.« Bellers schaute interessiert auf das Kästchen, in dem er seine Stifte aufbewahrte.
  »Und da haben Sie sich gedacht, das wäre doch eigentlich eine Aufgabe für eine Frau, hm?«
  Bellers sagte nichts.
  »Na gut. Geben Sie das Ding mal her. Ich schaue, ob ich bei der KTU eine Kollegin finde, der ich das anvertrauen kann.«
  Bellers betrachtete die Schreibtischunterlage, auf der es nun wirklich nichts zu sehen gab. Noch nicht einmal einen ordentlich abgeschriebenen Einkaufszettel.
  Sandra brachte den Tampon in die KTU, wo sie Petra Oberrath antraf, die gerade über den Flur ging.
  »Ich habe hier Vergleichsmaterial für eine DNAProbe«, erklärte Sandra. »Es geht um die Frau, die im Wagen von Lamprecht gesessen hat.« Sie zeigte Petra den Beutel.
  Die Frau von der KTU spitzte die Lippen. »Oha! Von wem stammt der denn?«
  »Von einer jungen Frau, die von ihrem Vater seit vorgestern vermisst wird. Eine Musikstudentin.«
  »Gut. Dann kümmere ich mich sofort darum. Man fragt sich allerdings, wie ein Vater an den gebrauchten Tampon seiner Tochter kommt.«
  »Stimmt. Die beiden leben zwar zusammen. Aber trotzdem. Ich glaube nicht, dass viele Väter wüssten, wo sie suchen müssten, wenn sie so etwas auftreiben wollten.«
  »Bevor du gehst: Ich wollte dich noch was fragen«, sagte Petra Oberrath.
  »Ja?«, antwortete Sandra vorsichtig. Eine solche Einleitung machte sie prinzipiell misstrauisch.
  »Ich wollte fragen, ob du vielleicht mal Lust hast, mich zu besuchen.«
  »Oh! Ja ... Gern.« Sandra wurde nicht allzu oft eingeladen. Und sie lud umgekehrt auch selten jemanden zu sich ein. Sie war kein geselliger Typ, auch wenn das nicht daran lag, dass sie es sich nicht wünschte. Sie traute sich einfach nicht.
  »Wunderbar. Dann komm doch gleich heute Abend mit zu uns, ja? Nach der Abendbesprechung.«
  »Äh... Passt das denn so kurzfristig?«
  »Kein Problem. Ich sag zu Hause Bescheid. Einen Esser mehr oder weniger merken wir sowieso nicht.«
  Au weia, dachte Sandra. Wie viele Personen lebten denn mit Petra zusammen?
  »Guck nicht so ängstlich«, lachte die andere. »Wir sind zwar viele, aber wir sind alle nett. Also, abgemacht?«
  »Na gut«, antwortete Sandra und überlegte, ob sie nicht gerade einen Fehler gemacht hatte.
  Sandra kehrte zurück in ihr und Bellers’ Büro. Ihr Kollege hatte schon wieder Besuch, diesmal von Mike Gehrling, einem jungen Kollegen von Petra Oberrath. Ein großer Schlacks mit einer dicken Brille, die seine Augen eulenhaft vergrößerte.
  Als der Kollege Sandra sah, stellte er sich mit Handschlag und sogar einer kleinen Verbeugung vor. Er wies darauf hin, dass er einer der Sprengstoffexperten im KTU-Team sei.
  »Mike hat mir gerade etwas außerordentlich Spannendes erzählt«, sagte Bellers.
  »Ja?«
  »Ja«, erzählte der junge Mann. »Ich fand es nämlich faszinierend, mit welcher Wucht und gleichzeitig Präzision diese Autobombe vorgestern Morgen explodiert ist.«
  Faszinierend, nun ja. Die Menschen waren eben verschieden, dachte Sandra.
  »Ist euch aufgefallen, dass zwar das Auto final vernichtet wurde, die umliegenden Häuser aber so gut wie keine Beschädigungen aufwiesen?«
  »Ja? Und?«, fragte Sandra.
  »Nun, wir haben daraufhin diesen Sprengstoff auf Herz und Nieren geprüft. Ich weiß nicht, ob euch bekannt ist, dass man mittels Röntgenbeugung die genaue Zusammensetzung eines Sprengstoffes ermitteln kann. Seht her.« Er breitete ein zerknittertes Stück Papier auf Bellers Schreibtisch aus und strich es glatt. Neben Tabellen mit Zahlenkolonnen, Gleichungen und chemischen Formeln war eine Grafik mit mehreren halbkreisförmigen Linien zu sehen. Gehrling zeigte mit einem Finger darauf, dessen Nagel bis weit auf die Fingerkuppe abgenagt war.
  »Dies ist das Beugungsmuster des Sprengstoffs, der vorgestern benutzt worden ist. Dieses Beugungsmuster ist sozusagen der Fingerabdruck des verwendeten Sprengstoffs. Und das kann man jetzt mit über 300.000 durch das BKA gespeicherten Mustern vergleichen. Und siehe da: Es ist einmalig.«
  »Das heißt?«, fragte Sandra.
  »Dass der vorgefundene Sprengstoff in dieser Zusammensetzung noch nie zuvor verwendet worden ist. Zwar beruht er auf Ammoniumnitrat, was ein durchaus gängiges Sprengmittel ist. Aber es gibt eine Reihe von Zusätzen, die eben nicht gängig sind.«
  »Und er ist also noch nie zuvor benutzt worden?«, vergewisserte sich Sandra.
  »Noch nie, mit einer Ausnahme!«
  Wieder machte der junge Mann eine Kunstpause. Fast erwartete Sandra, einen Trommelwirbel zu hören.
  »Vor zwanzig Monaten kam es zur Explosion eines Pkws. In Essen. Damals sind zwei Menschen ums Leben gekommen.« Mike holte einen anderen, völlig zerknitterten Zettel aus der Hosentasche. »Es handelte sich um ... Moment ... Ah, um einen gewissen Ludger Friedrich. Bei ihm war eine Frau. Nina Deutschmann. Die Ermittler waren damals ziemlich sicher, dass der Anschlag Friedrich galt. Die Frau war wohl nur zufällig mit im Auto.«
  »Wie die junge Frau aus Lamprechts Wagen«, meinte Sandra.
  »Jetzt ziehen Sie vorschnelle Schlüsse«, widersprach Bellers. »Noch ist uns nichts bekannt, was das Motiv angeht. Wir sollten zum jetzigen Zeitpunkt für alle Möglichkeiten offen bleiben. Auch dafür, dass in Wahrheit die junge Frau bei dem Anschlag sterben sollte, und die beiden Männer nur zufällig mit im Auto saßen.«
  Ja, ja, dachte Sandra. Laut sagte sie: »Das mag sein, ist aber ausgesprochen unwahrscheinlich.«
  »Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.«
  Sandra rollte mit den Augen und sah, wie Mike Gehrling ihr zuzwinkerte.
  »Dann gibt es da noch etwas«, sagte er.
  »Ja?«
  »Der Sprengsatz ist mit einem Klebeband an der Unterseite des Autos befestigt worden. Von diesem Band konnten wir ebenfalls Reste sicherstellen. Es handelt sich um ein ausgesprochen stabiles, durch Gewebe verstärktes Klebeband, das in dieser Form in Deutschland nicht hergestellt wird. Wir konnten es jedoch einem Hersteller in den Niederlanden zuordnen, wo es allerdings in den meisten Baumärkten verkauft wird. Genau so ein Klebeband wurde auch bei dem Anschlag in Essen verwendet.«
  »Also können wir davon ausgehen, dass die beiden Anschläge miteinander in Verbindung stehen. Möglicherweise vom selben Täter verübt wurden«, überlegte Sandra, und Bellers widersprach endlich mal nicht.
  »Interessiert es jemanden, dass damals unter anderem in Richtung Wuppertal ermittelt wurde?«, fragte Mike.
  »Was? Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«, wollte Bellers wissen.
  »Ich bin nicht dazu gekommen. Jedenfalls haben die Ermittlungen ergeben, dass Friedrich mit größter Wahrscheinlichkeit aufgrund von Drogengeschichten umgebracht wurde. Er war der große Hecht in der Essener Drogenszene und wollte sein Geschäft expandieren in Richtung Bergisches Land. Das schien hier jedoch nicht auf Gegenliebe zu stoßen, und man hat die Sache unter sich geregelt, wie man in diesen Kreisen eben Sachen unter sich regelt. Es ist ein Name gefallen, der unseren Drogenfahndern vor Ort schon wiederholt begegnet ist.«
  »Und der wäre?«, fragte Sandra.
  »Kevin Klages.«


 Kapitel 14

  Wenige Minuten später gingen Sandra und Bellers über den Parkplatz und steuerten Bellers’ Wagen an.
  »Warum waren Sie heute eigentlich so spät?«, fragte Bellers.
  Weil sie gestern Abend eine Stunde lang wegen ihm geheult und heute Morgen dann verschlafen hatte, dachte Sandra. Laut sagte sie: »Stromausfall. Mein Wecker ging nicht.«
  »Warum haben Sie keinen zweiten Wecker?«
  »Damit zwei Wecker ausfallen?«
  »Unsinn. Einer von beiden sollte natürlich batteriebetrieben sein.«
  Tatsächlich besaß Sandra einen Wecker, der mit Batterie lief. Und der auf halb sieben gestellt gewesen war. Ihre Nachbarn würden sie heute Abend an der Wäscheleine aufknüpfen, denn es handelte sich um ein extra lautes Modell für Langschläfer. Das am Morgen eine volle Stunde lang das ganze Haus zusammengepiepst haben dürfte, weil sie ihn am Vortag natürlich nicht ausgestellt hatte. Sie hatte ja nicht vorgehabt, bei Inge zu übernachten.
  »Lassen Sie uns meinen Wagen nehmen«, sagte Bellers, und Sandra folgte ihm.
  Sie öffnete die Tür und stellte fest, dass der Beifahrersitz vollgestellt war mit allem möglichen Krimskrams. Alten Zeitschriften, angeschlagenem Porzellan, diversen Kleidungsstücken, mit etwas, das aussah wie eine Sammlung von Orden aus dem zweiten Weltkrieg. Sandra schaute zu Bellers.
  »Oh, das hatte ich ganz vergessen«, sagte er. »Mein Vater ist ... Er hat seine Wohnung ausgemistet. Moment, ich räume es in den Kofferraum.«
  »Lassen Sie nur. Ich setze mich auf die Rückbank.«
  Sie stieg hinten ein, und auf dem Weg zu Kevin Klages sprachen sie kein Wort. Sandra ging in Gedanken durch, was sie bisher erfahren hatten. Der Fall war von einem möglichen Terroranschlag zu einer normalen Mordermittlung geworden. Damit würden sie und ihre Kollegen nun hoffentlich in Ruhe und ohne die Mitwirkung von Staatsschutz, Innenministern und sonstigen Personen ihre Arbeit machen können. Und hoffentlich auch weitgehend ohne besondere Aufmerksamkeit durch die Medien, die lediglich wie gewohnt von Zeit zu Zeit mit genau so vielen Informationen gefüttert werden würden, wie die Polizei es für richtig hielt. Der Anschlag war auch bereits von den ersten Seiten der Zeitungen verschwunden. In den Radionachrichten am Morgen war er gar nicht mehr erwähnt worden.
  Sie mussten nun als Nächstes unbedingt in Erfahrung bringen, ob Lamprecht ebenfalls mit Drogen zu tun hatte. Das würde dem Fall eine ganz neue Richtung geben. Sie schaute zu Bellers. Ob er wohl gerade die gleichen Gedanken hatte? Vermutlich nicht. Bestimmt war es gegen die Straßenverkehrsordnung, während des Autofahrens an andere Dinge als das Führen eines Kfz zu denken.
  Schließlich hielt Bellers in einem Wohngebiet nahe des Tölleturms. Wo man natürlich nicht einfach wohnte. Hier residierte man. Sandra schaute aus dem Seitenfenster und sah eine Villa, die sich als Bollywood-Filmkulisse geeignet hätte. Prunkvoll, protzig und komplett geschmacklos. Oder jedenfalls nicht nach Sandras Geschmack. Zwei Säulen aus rosafarbenem Marmor flankierten eine mindestens zehn Meter breite Treppe und trugen eine Art steinernen Baldachin. Die Villa war L-förmig gebaut, und zwischen den beiden Schenkeln ragte ein Turm in den Himmel. Haus und Garten waren überladen mit Marmorskulpturen und steinernen Standbildern. Die Büsche im Garten waren in so lächerliche Formen geschnitten, dass sie vor Scham sicherlich rot geworden wären, wenn die Photosynthese diese Farbe hergegeben hätte.
  Sandra wollte aussteigen, konnte aber die Tür nicht öffnen. Sie ruckelte ein paar Mal am Hebel.
  »Entschuldigung«, murmelte Bellers, und öffnete sie von außen.
  »Was ist los damit? Kaputt?« Das wäre ja eine Sensation!
  »Nein. Bloß die Kindersicherung.« Bellers sah sie nicht an.
  »Kindersicherung? Wofür haben Sie die denn?«
  »Wofür hat man die im Allgemeinen?«
  »Haben Sie Kinder?«
  »Ja. Drei.«
  »Drei?« Sandra nickte anerkennend mit dem Kopf. »Da ist ja bestimmt einiges los bei Ihnen. Wie alt sind sie denn?«
  Bellers Ohren funkten Unbehagen. »Ach, so jung sind sie gar nicht mehr. Müsste die Kindersicherung vielleicht mal rausnehmen ...« Er war kaum noch zu verstehen, so leise nuschelte er vor sich hin.
  »Wie alt sind sie?«, wiederholte Sandra.
  »16, 19 und 21 Jahre.«
  Sandra starrte ihn nur an. Er würde ja wohl kaum seit zehn oder mehr Jahren vergessen haben, die Kindersicherung herauszunehmen. Sie beschloss, den Gedanken besser nicht weiterzuverfolgen, und zeigte auf die Villa. »Wenn man das da sieht, sollte man sich überlegen, vielleicht auch ins Drogengeschäft einzusteigen, was?«
  Bellers schien erleichtert, dass das Thema Kindersicherung vom Tisch war. »Wenn man allerdings das Auto von Lamprecht gesehen hat, besser doch nicht«, meinte er. »Aber davon abgesehen, würden Sie wirklich ...«
  »Natürlich nicht. Was denken Sie denn?«, unterbrach ihn Sandra. Für ihre Art des Humors war Bellers offenbar nicht zugänglich. Klaus hätte jetzt so etwas gesagt wie: »Komm, lass uns die Asservatenkammer plündern und einen eigenen Drogenhandel aufziehen.«
  Bellers ging zum Grundstück, das von einem mindestens zwei Meter hohen, schmiedeeisernen Zaun umgeben war. Kameras thronten auf den Pfosten neben dem Tor und beobachteten sowohl die Garage als auch den Bereich vor dem Tor. Das war die Schattenseite des Reichtums: Man musste permanent fürchten, ihn wieder zu verlieren.
  Bellers klingelte, und wenig später fragte eine männliche Stimme: »Ja bitte?«
  »Guten Tag. Bellers und Santori von der Kriminalpolizei Wuppertal. Wir möchten mit Herrn Klages sprechen.«
  »Haben Sie einen Termin?«
  »Nein, aber es ist dringend. Wir ...«
  »Ich werde Herrn Klages fragen.«
  Es klickte, dann war nichts mehr zu hören.
  »Wenn der uns nicht reinlässt, besorge ich einen Haftbefehl. Oder einen Durchsuchungsbeschluss«, ärgerte sich Bellers. Das würde ihm zwar kaum gelingen, aber Sandra sagte nichts dazu.
  Nach bestimmt fünf Minuten rauschte es aus der Gegensprechanlage, und die Stimme von vorher sagte: »Herr Klages wird Sie empfangen.«
  Als würde es sich um eine päpstliche Audienz handeln.
  Ein Türsummer ertönte, und sie betraten den Garten. Die Kamera richtete sich leise surrend auf sie aus und folgte ihnen auf dem Weg zur Eingangstür, wo eine andere Kamera übernahm. Die erste Kamera surrte in ihre Ausgangsstellung zurück und überwachte wieder das Tor.
  Oben an der Treppe, unter dem riesigen Steinbaldachin, der sie zu Brei zerquetschen würde, wenn die Säulen nachgeben sollten, wartete ein Mann in schwarzer Hose und weißem Hemd. Offensichtlich bezahlte Klages seine Angestellten gut. Dieser Mann dort musste jedenfalls ein kleines Vermögen für Anabolika ausgegeben haben. Er konnte sich vor lauter Kraft kaum bewegen. Das locker geschnittene Hemd spannte über den melonengroßen Oberarmen und der vorgewölbten Brust. »Folgen Sie mir«, sagte er zu den Ermittlern und ging voran in das riesige Foyer.
  Man hätte sich auch in einem Opernhaus befinden können. In einer Ecke entdeckte Sandra einen schmächtigen Mann im grauen Kittel, der gerade den Boden wischte. Er teilte die Leidenschaft des Türöffners offensichtlich nicht, jedenfalls schien er noch nicht mal genug Muskeln zu haben, um sich aufrecht zu halten. Etwas irritierte Sandra an ihm, und es dauerte einen Moment, bis sie erkannte, was es war: Unter dem Ärmel des schäbigen Kittels und am Halsausschnitt lugten eine ganze Reihe goldener Kettchen hervor. Sandra überlegte kurz ihn anzusprechen, aber dann schüttelte sie leicht den Kopf. Wenn dieser Mann dort sein offenbar sauer verdientes Geld in Schmuck anlegen wollte, war das schließlich seine Sache.
  Zwei breite, geschwungene Treppen führten in das nächste Stockwerk. Drei Türen gingen hier von einer Galerie ab, der Mann vor ihnen öffnete die erste. Er führte sie in einen Saal mit den Ausmaßen einer Turnhalle. Allerdings erheblich geschmackvoller eingerichtet. Wobei das mit dem Geschmack natürlich Ansichtssache war. Sandra hätte vielleicht sogar eine Turnhalle vorgezogen.
  Genau wie der Garten war auch dieser Saal hier völlig überladen. Auf jeder freien Fläche standen Skulpturen, die Wände waren tapeziert mit Bildern. Seltsame Objekte aus Draht, Plastik und etwas, das wie getrockneter Kuhdung aussah, standen und lagen an jedem nur denkbaren Ort. Vermutlich wurden sie von den dazugehörigen Künstlern »Installationen« genannt.
  »Guten Tag, die Herren. Und Damen, wie ich sehe.«
  Ein kleiner Mann mit sicher großem Ego erhob sich von einer Eckcouch, auf der bequem zwei Fußballmannschaften Platz gefunden hätten. Sandra musste bei seinem Anblick an Hefegebäck denken – kleine Teigklumpen, die sich zu Übergröße aufplustern.
  Der Mann streckte die Arme vor wie ein Messias, der die Menge grüßt und im Begriff ist, einige Wunder zu vollbringen.
  »Kommen Sie, kommen Sie. Setzen Sie sich. Ich bin wie immer jederzeit bereit, mit unseren Freunden und Helfern zusammenzuarbeiten.« Was übersetzt hieß: Aus mir kriegt ihr nichts heraus, das haben schon ganz andere versucht.
  Bellers ging auf den Mann und seinen ausgestreckten Arm zu, aber gerade als er die Hand ergreifen wollte, entzog sie ihm der andere und machte eine einladende Bewegung zum Sofa. Sandra bemerkte sein zufriedenes Grinsen und versuchte gar nicht erst, ihm die Hand zu reichen.
  Klages war nur wenig größer als sie, nicht mehr als 1,65 Meter, dafür aber doppelt so breit. Auch er schien eifriger Konsument muskelaufbauender Substanzen gewesen zu sein, allerdings war ein großer Teil dieses Gewebes inzwischen durch wabbeligere Varianten ersetzt worden. Er war richtiggehend fett, und die ehemaligen Muskeln waren nur noch zu erahnen. Eigentlich hätte er als abschreckendes Beispiel für alle Bodybuilder herhalten können, aber diese jungen Männer waren sicher allesamt davon überzeugt, dass sie selbst niemals älter werden würden.
  Klages hatte eine solche Menge an Gold über seinen Körper verteilt, dass er wie mit Lametta behangen wirkte. Mehrere goldenen Kettchen schmückten seinen nicht vorhandenen Hals. Um Hand- und Fußgelenke glitzerte es. Die Uhr war golden, an den Fingern saßen goldene Ringe, teils mit funkelnden Steinen besetzt. Selbst im Mund leuchtete Zahngold. Der Mann passte zu seinem Haus.
  »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte er und ließ seine Zähne blitzen. Er hatte sehr bewegliche Augenbrauen, die wie Satzzeichen jede seiner Aussagen begleiteten. Gerade hatte er eine von ihnen nach oben gezogen, die andere nicht.
  »Wir kommen ...«
  »Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche, aber sollte ich vielleicht besser meinen Anwalt anrufen?« Beide Augenbrauen bildeten nun halbrunde Bögen über den Augen.
  »Sollten Sie das?«, fragte Bellers zurück.
  »Ha, ha, gut geantwortet. Ich denke, das war ein Ja. Entschuldigen Sie mich für einen Moment.«
  Er zwinkerte, verließ den Raum und ließ sie einfach sitzen. Sein Gorilla blieb neben der Tür stehen und passte mit vor der Brust verschränkten Armen auf, dass sie sich nicht etwa eine der Installationen unter den Nagel reißen würden.
  Nach bestimmt zehn Minuten kehrte Klages zurück, neben sich ein Herr in Anzug und Krawatte, mit dem Aktenkoffer in der Hand, ohne den bei einem Anwalt nichts ging.
  »Mannsdorf«, grüßte er zackig und reichte Bellers die Hand. Sandra ließ er aus, vielleicht hielt er sie für eine Schreibkraft.
  Bellers stellte sie vor und betonte dabei die Silbe »ober« in Kriminaloberkommissar.
  Nachdem nun alle ihr Bein gehoben und das Revier markiert hatten, nahmen sie wieder auf der Couch Platz.
  »Darf ich erfahren, was Sie meinem Mandanten zur Last legen?«, eröffnete Mannsdorf das Gespräch. Oder den Kampf, je nachdem.
  »Wie kommen Sie darauf, dass wir Ihnen etwas zur Last legen?«, wandte Bellers sich an Klages. »Wir haben Sie lediglich um ein Gespräch gebeten.«
  »Ich habe meine Erfahrungen mit Gesprächen, um die mich die Polizei lediglich bittet«, grinste Klages.
  »Ach. Und welche?«
  »Darüber können Sie sich in Ihrer Dienststelle informieren«, mischte sich der Anwalt wieder ein. »Was Sie im Übrigen besser getan hätten, bevor Sie hierherkommen und meinem Mandanten und mir die Zeit stehlen.«
  Bellers presste die Lippen so fest zusammen, dass sie nicht mehr zu sehen waren.
  Sandra sagte: »Dann lassen Sie uns zum Thema kommen, damit wir keine weitere Zeit verlieren. Vorgestern Morgen kamen bei der Explosion einer Autobombe in Sonnborn drei Menschen ums Leben.«
  »Das ist mir bekannt«, meinte Klages, und seine Brauen lagen tief über den Augen, als müssten sie diese vor den Grausamkeiten der Welt schützen.
  »Und?«, fragte Mannsdorf.
  »Und wie es aussieht, wurde für diesen Anschlag ein Sprengstoff verwendet, der bislang erst ein einziges Mal aktenkundig geworden ist. Es handelt sich um eine selbst hergestellte Mischung, die es in dieser Form nicht zu kaufen gibt.«
  »Und bei welcher anderen Gelegenheit ist der betreffende Sprengstoff bereits benutzt worden?«, fragte der Anwalt.
  »Es handelte sich um einen Anschlag auf einen Pkw. Vor etwa zwanzig Monaten in Essen.«
  Klages brauchte den Bruchteil einer Sekunde, dann seufzte er scheinbar gelangweilt: »Nicht schon wieder.«
  »Was meinen Sie damit?«, wollte Bellers wissen.
  »Mein Mandant möchte damit zum Ausdruck bringen, dass Sie ihn vor zwanzig Monaten bereits schon einmal wegen dieser Geschichte zu Unrecht verdächtigt und belästigt haben. Er befand sich damals auf einer Geschäftsreise in Indien.«
  »Das sei dahingestellt. Es ist aber doch bemerkenswert, dass dieser Sprengstoff in der betreffenden Zusammenstellung noch niemals zuvor oder danach verwendet worden ist. Bis zum vorgestrigen Tag.«
  »Ja, und?«, kläffte Mannsdorf. »Ich verstehe immer noch nicht, worauf Sie hinauswollen? Wenn mein Mandant mit dem Anschlag vor zwanzig Monaten nichts zu tun hatte, dann ist doch anzunehmen, dass er auch mit dem von vorgestern nichts zu tun hat. Im Übrigen war er auch bis vorgestern Abend auf Geschäftsreise. In Ägypten.«
  »Wie praktisch. Nehmen wir mal an, er hatte aber doch mit dem Anschlag vor zwanzig Monaten zu tun ...«, begann Bellers, wurde aber von Klages unterbrochen, der seine Hand auf einen niedrigen Beistelltisch knallen ließ. Seine Augenbrauen bildeten einen Pfeil, der zur Nase wies.
  »Das reicht jetzt. Sie stehlen mir meine Zeit. Wenn sonst nichts ist?« Er stand auf und verließ einfach den Raum.
  Sein Anwalt räusperte sich. »Alles Weitere dann bitte mit offizieller Vorladung oder gar nicht.« Er klemmte sich seinen Aktenkoffer unter den Arm und verließ ebenfalls den Raum.
  Jetzt waren sie mit dem Gorilla alleine. Bevor der sich noch auf die Brust trommeln würde, verließen auch Sandra und Bellers das Haus.


 Kapitel 15

  Und damit wirst du nicht durchkommen, mein Freund«, murmelte Bellers, als sie zu seinem Wagen gingen. »So nicht, glaub mir.«
  Er sah zwar vollkommen ruhig aus, aber an seinen zackigen Bewegungen konnte Sandra sehen, wie er sich aufregte. Sie fand das gut. Endlich verhielt er sich mal wie ein Mensch, und nicht wie ein Fleisch gewordenes Lehrbuch über Ermittlungsarbeit.
  »Dem glaubt man besser gar nichts«, meinte sie. »Wieso sagen Sie das?«
  »Das hat man doch gemerkt.«
  »Woran?«
  »Na, an ... an allem eben.«
  »Das ist mir zu unkonkret. Solche Aussagen sollten Sie gründlicher überlegen.«
  Und du solltest mich nicht noch weiter ärgern, dachte Sandra. Sonst passiert was. Oder sonst rede ich kein Wort mehr mit dir, dachte sie weiter und wusste selbst, dass sie sich gerade wie eine Dreijährige aufführte.
  »Wir werden jetzt sofort ...«, begann Bellers, dann unterbrach er sich, weil sein Handy klingelte. »Ja? Ach, du bist es.« Er ging einige Schritte vom Auto weg und wandte Sandra den Rücken zu. Es war wohl kein dienstliches Gespräch.
  Obwohl Sandra nicht lauschen wollte, konnte sie nicht vermeiden, dass sie einiges mitbekam.
  »Schon wieder? ... Nein ... Du weißt doch ... Aber wenn ich sage ... Nein, mach das nicht. Hör zu, ich komme sofort. Bis dahin mach gar nichts, hörst du? Gar nichts!«
  Als er sein Handy einsteckte und das Auto öffnete sah Sandra, wie seine Hände zitterten.
  »Probleme?«, fragte sie.
  »Nein.« Er stieg ein, verfehlte zweimal das Zündschloss und versuchte dann, im dritten Gang anzufahren.
  »Soll ich vielleicht fahren?«, fragte Sandra von hinten.
  »Es ist alles in Ordnung. Ich ... Ich muss nur mal kurz nach Hause. Kann ich Sie im Präsidium absetzen?«
  »Von mir aus. Wann kommen Sie denn wieder?«
  »Das ... Es wird sicher nicht lange dauern. Sie können ja vielleicht die Sache mit dem Anschlag in Essen recherchieren.«
  »Haben Sie das noch nicht getan?«, wunderte sich Sandra. Es war doch wohl kaum möglich, dass ihr Kollege unvorbereitet hierhergekommen war?
  »Selbstverständlich. Aber Sie doch ganz offensichtlich nicht.«
  Hätte sie bloß nicht gefragt, dachte Sandra und sagte: »Sind Sie sicher, dass Sie fahren können?«
  Bellers war soeben mit den beiden rechten Reifen über den Bordstein gerumpelt. »Natürlich.« Ihr Kollege umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Bis zum Präsidium sprach er kein Wort mehr. Er setzte Sandra ab und fuhr mit quietschenden Reifen davon.
  Sandra sah ihm kopfschüttelnd hinterher. Dieser Mann hatte irgendein Problem. Und wenn es sich dabei um etwas handelte, das gegen die Regeln verstieß, dann könnte er sie mal ganz anders kennenlernen.
  Im Büro fuhr sie den Computer hoch und suchte nach allem, was sie über die Explosion vor zwanzig Monaten finden konnte. Der Mann, der in dem Wagen ums Leben gekommen war, hieß Ludger Friedrich. Er war eine bekannte Größe im Essener Rotlichtmilieu und hatte sich stets betont gesetzestreu gegeben. Seine »Mädchen« erhielten ein festes Gehalt und regelmäßige medizinische Versorgung. Alle waren volljährig und arbeiteten freiwillig für ihn. So freiwillig, wie eine Frau eben als Prostituierte arbeitete. Es gab vermutlich keine Einzige unter ihnen, die nicht aus einer Notlage heraus diesen Schritt getan hatte. Aber so wie es aussah, hätten sie es tatsächlich schlechter treffen können, als bei Ludger Friedrich zu landen. Dinge wie Sex-Flatrates gab es in seinen Häusern nicht. Wenn die Frauen krank waren, wurden sie nicht zum Arbeiten gezwungen. Sie bekamen sogar Urlaub und einen freien Tag pro Woche. Wenn man davon absah, dass er den größten Teil ihres Honorars für sich behielt, obwohl er so gut wie nichts dafür tat, verhielt er sich nahezu anständig.
  Bis dahin die gesicherten und kriminalistisch nicht relevanten Fakten. Nun ging es weiter mit den ungesicherten. Dem Gerede, das in der Drogenszene über ihn kursierte und das stets auf der Ebene von Gerüchten blieb, weil Drogenabhängige im Allgemeinen kein Interesse hatten, sich auf eine unterschriebene Aussage festnageln zu lassen. Nach den Ermittlungen der Essener Drogenfahndung hatte Friedrich vermutlich etwa zwei Jahre vor seinem gewaltsamen Tod begonnen, in größerem Stil mit Drogen zu handeln. Soweit sie es wussten, hatte er sich auf Kokain und Heroin beschränkt, schmutzigere Sachen wie Methamphetamin oder andere synthetische Drogen lagen ihm nicht. Auch was die Drogen anging, verhielt er sich offenbar wie ein Gentleman. Wie die Gerüchteküche besagte, war sein Stoff sauber, seine Geschäftsbedingungen ehrlich, er haute niemanden übers Ohr. Hätte er eine Drogeriekette gegründet, anstatt mit Drogen und Sex zu handeln, er wäre ein angesehener Mann gewesen.
  Weiterhin war den Essener Kollegen zu Ohren gekommen, dass Friedrich sein Geschäft ausweiten wollte. Nach einigen Vorstößen in andere Städte des Ruhrgebiets, die jedoch fest in den Händen seiner Konkurrenten waren, war er schließlich auf Wuppertal und das Bergische Land verfallen. Hier hatte er offenbar Potential für den Verkauf von gutem, sauberem Stoff gesehen. Und nun wurde es noch spekulativer. Wie es in den Berichten der Essener Kollegen hieß, hätten sie aus nicht genannten Informationsquellen erfahren, dass Friedrich durch diese Expansionspläne einem gewissen Kevin Klages in die Quere geraten sei. Dieser habe weder die Neigung gezeigt, etwaige Konkurrenten in aller Freundlichkeit darauf hinzuweisen, dass sie gerade einen Fehler begingen, noch habe er einen Hang zu ehrlicher Geschäftskonkurrenz in freier Marktwirtschaft gehabt. Stattdessen habe er eventuelle Konkurrenten schlicht beseitigt beziehungsweise beseitigen lassen. Denn die nicht benannte Quelle sei davon ausgegangen, dass Kevin Klages einen Auftragskiller beschäftige, der bereits mehrfach unliebsame Menschen aus dem Weg geschafft habe. Da sich nichts davon bestätigen ließ, hatten die Essener Kollegen diese Spur jedoch nach einigen Monaten wieder aufgegeben. Zwar war auch in Wuppertal wiederholt gegen Kevin Klages ermittelt worden, aber ebenfalls ohne Ergebnis.
  Als Nächstes las Sandra alles, was sie zu dem zweiten Opfer, das vor zwanzig Monaten mit Friedrich in seinem Wagen ums Leben gekommen war, finden konnte. Es handelte sich um Nina Deutschmann, eine 31-jährige, freie Journalistin. Nach Angaben ihres Mannes Uli Deutschmann arbeitete sie seit Monaten an einer Reportage über Prostitution in Deutschland. Nebenher schrieb sie Kolumnen und Artikel für verschiedene Zeitungen. Die Ermittlungen hatten absolut nichts zutage gefördert, was diese Frau zum Opfer eines Sprengstoffanschlags prädestiniert hätte. Offensichtlich war sie tatsächlich einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.
  Sandra schaute auf die Uhr. Es war bereits Mittag, und Bellers hatte sich noch nicht gemeldet. Wie lange sollte sie noch auf ihn warten? Jetzt würde sie erst mal etwas essen, und dann würde sie mit den Ermittlern sprechen, die den Sprengstoffanschlag in Essen untersucht hatten. Egal ob mit oder ohne Bellers.
  Aber es kam anders. Kaum hatte sie in der Kantine Platz genommen, klingelte ihr Handy.
  »Na endlich. Wo sind Sie?«, fragte Bellers, nachdem sie das Telefon aus der Hosentasche gekramt und fast ins Tagesgericht 2 fallen gelassen hatte.
  »Wo sind Sie?«, fragte Sandra zurück.
  »Unterwegs zu Sofia Lamprecht. Ich möchte sie wegen eventueller Verbindungen ihres Mannes zu Drogengeschäften vernehmen. Kommen Sie bitte auch dorthin.«
  »Jetzt? Ich habe mir gerade etwas zu essen geholt.«
  »Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, es langsam angehen zu lassen. Der Fall ist noch frisch. Je mehr Zeit vergangen ist, desto schwieriger wird es für uns werden, Spuren aufzudecken und zu verfolgen.«
  Handbuch für Ermittler, Seite eins, dachte Sandra.
  »Ganz abgesehen davon, dass nach wie vor die halbe Welt auf uns schaut und mit Sicherheit genauestens zur Kenntnis nehmen wird, wie unsere Fortschritte ...«
  »Es ist aber auch nicht der richtige Zeitpunkt, um während der Arbeitszeit zu Hause irgendwelche Dinge zu regeln«, unterbrach ihn Sandra.
  »Ich ... Also schön. Dann essen Sie zu Ende und warten im Präsidium auf mich.« Ehe Sandra noch etwas entgegnen konnte, hatte er aufgelegt.
  Sie schüttelte den Kopf und begann, an ihrem ledrigen Kotelett herumzusäbeln. Wieso scheuchte Bellers sie eigentlich herum? Gut, er sollte sie einarbeiten. Deswegen war sie aber nicht unmündig oder gar seine Leibeigene. Kurz überlegte Sandra, jetzt erst recht zu den Ermittlern des Essener Sprengstoffanschlags zu fahren. Oder wenigstens mit ihnen zu telefonieren. Aber dann fand sie es selbst albern und beschloss, nach dem Essen lieber ein Stück spazieren zu gehen. Aus dem Spazieren wurde dann ein wilder Lauf von sechs Kilometern. In 24 Minuten. Sandras Anspannung war enorm gewesen.
  Nach einem Abstecher auf ihre persönliche Toilette im dritten Stock, in der sie sich gewaschen und umgekleidet hatte, kehrte Sandra in ihr Büro zurück und stellte fest, dass Bellers schon da war.
  »Wo waren Sie? Im Schwimmbad?«, begrüßte ihr Kollege sie. Sandra hatte beim Waschen des Gesichts auch ihre Haare nass gemacht.
  »Unsinn. Fragen Sie mich nicht, wo ich war, dann frage ich Sie nicht, wo Sie waren. Also, wie war es bei Sofia Lamprecht?«
  Bellers schaute sie einige Sekunden schweigend an. Dann rückte er einen Bleistift gerade, der quer in seiner Stiftdose gelegen hatte. »Sie behauptet, nichts über Drogen zu wissen. Gar nichts. Sie weiß sozusagen noch nicht mal, dass es so etwas wie Drogen überhaupt gibt.«
  »Aha. Und was glauben Sie?«
  »Ich glaube, sie hat jedenfalls in den letzten Jahren nichts Härteres genommen als Eiweißgetränke zum Muskelaufbau. Das sagt natürlich nichts darüber aus, ob ihr Mann mit Drogen zu tun gehabt haben könnte.«
  »Natürlich nicht.« Handbuch für Ermittler, Seite zwei: keine unzulässigen Schlussfolgerungen.
  »Aber ich habe etwas Interessantes von ihr erfahren.«
  »Und das wäre?«
  »Lamprechts Familie besitzt noch ein weiteres Haus. Ein Ferienhaus in der Eifel.«
  »Ach?«
  »Ja. Das bedeutet noch mehr Arbeit für Petra Oberrath und ihre Truppe. Sofia Lamprecht hat übrigens nichts dagegen, dass wir uns in diesem Haus umschauen. Aber da sie noch nicht die offizielle Erbin ist, habe ich mit dem Staatsanwalt gesprochen und um einen Durchsuchungsbeschluss gebeten. Frau Oberrath wird heute allerdings noch nicht dazu kommen, sich das Haus anzusehen. Also schlage ich vor, dass wir zunächst selbst hinfahren. Vielleicht finden wir dort irgendetwas, das auf eine Verbindung von Lamprecht zu Drogengeschäften hinweist. Zu den Kollegen in Essen können wir auch morgen noch gehen. Wir ...«
  Während er noch redete, stand Sandra schon fast auf dem Flur. »Wir könnten so manches, wenn Sie jetzt endlich kommen würden«, entgegnete sie.
  Wieder schaute Bellers sie verwundert an. Dann schnappte er sich kopfschüttelnd seinen Autoschlüssel, der stets in der rechten Ecke seiner obersten Schublade lag, und folgte ihr.
  * * *
  Auf der Fahrt in die Eifel sprachen sie über den Sprengstoffanschlag zwanzig Monate zuvor in Essen. Als Sandra über Nina Deutschmann sagte: »Diese Frau hat einfach nur Pech gehabt, als sie Klages in die Quere gekommen ist«, wandte Bellers ein: »Moment, Sie sind zu voreilig. Wenn ich Sie richtig verstehe, wissen wir nicht mit Sicherheit, ob nicht doch sie mit dem Mordanschlag gemeint gewesen war. Genauso wenig wie wir wissen, ob wirklich Kevin Klages hinter der Sache steckt und ob es überhaupt etwas mit Drogen zu tun gehabt hat.«
  »Die Ermittler damals schienen das für wahrscheinlich zu halten.«
  »Aber nicht für sicher. Sonst würde Klages jetzt nicht in seiner Villa, sondern im Gefängnis sitzen.«
  »Sie wissen doch selbst, dass man nicht immer beweisen kann ...«
  »Wenn man es nicht beweisen kann, kann man auch nicht sicher sein.«
  Sandra hätte fast die Armaturen zertrümmert. Und war leider gleichzeitig kurz davor zu weinen. Nur mit halbem Ohr hörte sie, wie Bellers von einem Blumenstrauß und einer Karte vor Lamprechts Haus berichtete. Die Blumen waren Disteln gewesen, und auf der Karte hatte keine Beileidsbekundung gestanden. Stattdessen hatte irgendjemand geschrieben: Dieter Lamprecht, wir tanzen auf deinem Grab! Unterzeichnet war die Karte mit Womens together, was immer das heißen mochte.
  Die restliche Strecke bis zu Lamprechts Haus in der Nähe von Maria Laach redeten beide kein Wort mehr. Bellers machte zwar zwischendurch eine Bemerkung übers Wetter und später eine über die Landschaft, aber Sandra ging nicht darauf ein. Sollte er ruhig schmoren.
  Schließlich hielten sie vor einem einsamen Haus ganz in der Nähe des Laacher Sees. Das Haus verschwand fast hinter einer bestimmt zwei Meter hohen Hecke, die ein großes Grundstück umgab. Durch ein mehrere Meter breites Tor konnten sie sehen, dass der Garten regelmäßig gepflegt wurde. Das Haus selbst war ein würfelförmiger Kasten mit spitzem, dunkel geziegeltem Dach. Drei Wände waren verschiefert, nur die Vorderfront war verputzt und weiß gestrichen, sodass das Haus nicht ganz so düster wirkte wie manche andere Häuser in dieser Gegend. Als Bellers an einem Weg seitlich des Hauses parkte, entdeckte Sandra durch ein weiteres Tor in der Hecke eine Terrasse, auf der eine Menge Gartenmöbel standen. Außerdem sah sie bestimmt ein Dutzend Jugendliche, mit auf den Tisch gelegten Füßen und Bierflaschen in den Händen. Zwei hockten knutschend in einer Hollywoodschaukel, einige andere rauchten verdächtig dick aussehende Zigaretten, die sie im Kreis herumreichten. Einer war ein paar Schritte beiseite gegangen und pinkelte gerade in ein Vogelbad.
  »Was ist denn hier los?«, brummte Bellers.
  »Schauen wir’s uns mal an«, erwiderte Sandra und war schon auf dem Weg in den Garten, als Bellers noch sein Auto abschloss und zweimal überprüfte, ob die Tür auch wirklich zu war.
  »Hallo«, rief Sandra, als sie um die Hausecke bog. »Darf ich fragen, was ihr hier macht?«
  »Party«, antwortete einer der Jungs mit Bierflasche. Er hielt die Flasche hoch, verlor dabei das Gleichgewicht und plumpste vom Stuhl. Kichernd blieb er auf dem Boden liegen.
  »Haben Sie die Berechtigung, sich hier aufzuhalten?«, fragte Bellers.
  Dieser Satz musste erst durch betrunkene und bekiffte Hirnwindungen geleitet werden, was einige Zeit in Anspruch nahm. Es war ein Mädchen, das als Erste diese Aufgabe bewältigt hatte. Sie fragte: »Was?«
  »Wir wollen wissen, wer euch erlaubt hat, hier zu feiern«, präzisierte Sandra.
  Erneutes Schweigen war die Antwort. Aber diesmal hatte das Schweigen sozusagen eine Richtung. Die Jugendlichen schauten den Jungen an, der mit dem Arm um die Schultern eines Mädchens in der Hollywoodschaukel saß.
  »Na?«, fragte Sandra und sah ihn ebenfalls an.
  »Na was?«, fragte der Junge zurück.
  »Na, was ihr hier macht?«
  »Was macht ihr denn hier?«, fragte der Junge zurück und streckte herausfordernd sein Kinn vor.
  Na gut, dachte Sandra und ging zu ihm. »Wir sind von der Kriminalpolizei und ermitteln hier wegen eines Gewaltverbrechens.«
  Der Junge ließ den Unterkiefer hängen. Das Mädchen neben ihm rückte ein Stück von ihm ab, als handelte es sich bei dem Gewaltverbrechen, um das es hier ging, um unrechtmäßiges Knutschen in einer Hollywoodschaukel. Der pinkelnde Junge im Garten versuchte, sich unauffällig zu verdrücken.
  »Hallo! Bleiben Sie bitte hier, bis wir Ihre Personalien festgestellt haben«, rief Bellers ihm hinterher.
  Der Junge blieb stehen, schaute ihn groß an und fragte dann ebenfalls: »Was?«
  »Wir brauchen deinen Namen. Und den von euch anderen auch. Na los.« Sandra hatte ihr Notizbuch gezückt.
  Nach und nach gaben die Jugendlichen ihre Personalien an. Die Jungs und Mädels hier waren noch sehr jung, trotz der wilden Party, die sie gerade gefeiert hatten.
  Es stellte sich heraus, dass sie die Schule geschwänzt und schon seit dem frühen Morgen hier »abgehangen« hatten. Sie waren alle aus der gleichen Klasse – einer neunten – und inzwischen würden eine ganze Menge Eltern bereits über ihr Fehlen in der Schule informiert sein und halb besorgt, halb wütend auf sie warten. Wie diese Kinder ihren Eltern erklären wollten, warum sie betrunken und bekifft viel zu spät nach Hause kamen, hatten sie sich wohl irgendwann später überlegen wollen.
  Der Junge in der Hollywoodschaukel war der Sohn des Gärtners, der dieses Anwesen pflegte. Er hatte seinem Vater die Schlüssel gemopst und hatte die anderen angestiftet mitzumachen. Behaupteten jedenfalls die anderen. Er selbst schaute seine Freunde bloß entsetzt an. Das war wohl vorerst die letzte Party, die er organisiert hatte. Schließlich informierte Sandra seine Eltern, die in einer Telefonkette alle anderen Eltern benachrichtigten, und innerhalb der nächsten halben Stunde wurden alle Jugendlichen schimpfend in Autos verfrachtet und abtransportiert.


 Kapitel 16

  Gut, dass wir die noch gesehen haben«, meinte Sandra, als sie über die Terrasse zum Haus gingen. »Die Spurensicherung hätte sonst Tage damit verbracht, Fingerabdrücke von den Bierflaschen und Speichelproben von den Kippen zu nehmen, und wir hätten die wildesten Theorien entwickelt, was hier wohl los gewesen ist.«
  »Sie hätten die wildesten Theorien entwickelt«, gab Bellers zurück. »Ich selbst halte mich an die Fakten.«
  Noch ein Mal und es passiert was, dachte Sandra.
  Bellers hatte schon die Schlüssel gezückt, aber die Terrassentür stand sperrangelweit offen. Sie gab den Weg in ein Wohnzimmer frei, das mit schweren und wuchtigen Eichenmöbeln überladen war. Ein Ecksofa mit geblümtem Bezug nahm ein Viertel des Raums ein. Gegenüber auf einem Schränkchen stand ein großer, klobiger Bildröhren-Fernseher, der in Zeiten der Flachbildschirme museumsreif wirkte. Sonst gab es nur nur noch einen Schrank, eine Vitrine, in der altes Geschirr mit Rosenmuster ausgestellt war, und einen Esstisch mit sechs Stühlen. Alles aus demselben, dunkel lackierten Eichenholz.
  »Passt gar nicht zu Lamprecht«, entfuhr es Sandra. Im selben Moment ärgerte sie sich. Sie hatte eigentlich gar nicht mehr mit Bellers reden wollen. Und schon gar nicht über Dinge, die keine Fakten waren. Wahrscheinlich würde sie sich gleich wieder anhören müssen, dass sie nicht wirklich wissen konnte, was zu Lamprecht passte. Und dass es auch gar nicht sachdienlich war, sich Gedanken darüber zu machen.
  Aber diesmal sagte ihr Kollege lediglich: »Stimmt.«
  »Ich geh mal nach oben«, murmelte Sandra und atmete auf, als sie auf der Treppe und damit außer Sichtweite war. Die Treppe bestand aus alten Holzstufen, die mit einem zerschlissenen Läufer belegt waren, der bei jedem Schritt hin und her rutschte.
  Im oberen Stockwerk befanden sich vier Schlafzimmer und ein Bad. Sandra entdeckte, dass in einem der Zimmer die Bettdecken zerwühlt waren. Die Jugendlichen hatten ihre Party anscheinend nicht nur auf die Terrasse beschränkt.
  Im Bad fand sie Duschbad und Shampoo, Rasierzeug, Rasierwasser, einen Kamm. Alles für den Mann. Aber keine Schminksachen, keine Bürste, keine Cremes, nichts, was auf die Anwesenheit von Frauen hindeutete. Entweder kam Lamprecht immer nur alleine hierher oder gar nicht, und die Sachen waren noch von seinem Vater. Alt genug sahen sie aus.
  Dann ging Sandra durch die Schlafzimmer, schaute in Schränke und unter Betten, und in einem von ihnen – natürlich dem letzten – wurde sie fündig.
  »Bellers?«, rief sie nach unten. »Können Sie mal kommen?«
  Kurz darauf erschien ihr Kollege im Zimmer. Sandra lag gerade mit dem Oberkörper unter dem Bett und strampelte mit den Beinen, um noch tiefer darunterzurutschen.
  »Was machen Sie da?«, fragte Bellers.
  »Ich habe was gefunden«, sagte Sandra und musste niesen, weil ihr bestimmt ein Pfund Staub ins Gesicht rieselte, als sie einen Plastikbeutel zwischen den Brettern des Lattenrostes hervorzerrte. Der Beutel war etwa handtellergroß und prall gefüllt mit einer weißen, pulvrigen Substanz. Sandra schob den Beutel unter dem Bett hervor.
  »Oha!«, hörte sie ihren Kollegen.
  »Hier ist noch mehr davon. Eine ganze Menge, um genau zu sein.« Sie zerrte am nächsten Beutel.
  Kurz darauf wurde es auf einmal hell unter dem Bett, und eine weitere Ladung Staub schwebte auf sie herab. Bellers hatte die Matratze angehoben.
  »Warum holen Sie die Beutel nicht von oben?«, fragte er, während er sie seelenruhig durch das Lattenrost hindurch betrachtete. Sandra sagte nichts. Mit zusammengepressten Lippen schob sie sich unter dem Bett hervor und klopfte sich den Staub von der Kleidung. Dann schaute sie auf das Rost. Bestimmt dreißig Beutel lagen hier, dicht an dicht gedrängt. Wenn der Inhalt das war, wonach es aussah, musste das ein Vermögen wert sein.
  »Sie haben den Beutel übrigens ohne Handschuhe angefasst«, bemerkte Bellers.
  Sandra blickte auf ihre Hände, als müsste sie überprüfen, ob das stimmte. Sie hatte sich mitreißen lassen von ihrem Fund. Hatte nicht nachgedacht. Darüber würde sie sich vermutlich noch mehrere Wochen lang ärgern.
  »Nun gut«, meinte Bellers. »Wir sollten demnach in Richtung Drogen ermitteln.«
  »Und in Richtung Kevin Klages«, fügte Sandra herausfordernd hinzu. Sie wartete darauf, dass Bellers widersprach. Aber er nickte nur.
  Dann riefen sie Petra Oberrath an und schauten anschließend in die übrigen Räume. Im Gästeklo im Erdgeschoss fanden sie weitere Beutel mit weißem Pulver, außerdem bestimmt hundert Packungen mit verschreibungspflichtigen Medikamenten.
  Eineinhalb Stunden später kündigte das Quietschen eines nicht geölten Rades das Eintreffen der Kollegin der Spurensicherung an. Als sie die vielen Beutel und Packungen sah, riss sie die Augen auf. »Donnerwetter. Das dürfte nicht zum Eigengebrauch bestimmt gewesen sein.«
  »Wohl kaum«, stimmte Bellers zu.
  »Okay. Dann verdünnisiert euch mal und lasst mich und meine Leute in Ruhe arbeiten. Ich rufe an, sobald ich weiß, was in den Beuteln ist.« Petra hatte bereits ihren Koffer geöffnet und wedelte sie mit den Händen beiseite.
  »Sollen wir nicht ...«, begann Bellers.
  »Nein, sollt ihr nicht. Ihr stört mich hier nur.« Und im selben Atemzug fragte sie Sandra: »Bleibt es bei heute Abend?«
  »Meinst du denn, du bist rechtzeitig fertig?«
  »Aber sicher bin ich rechtzeitig fertig. Ich mache um halb sechs Schluss, dann bin ich bis sieben locker im Präsidium. Es liegt immer an einem selbst, wann man fertig ist.«
  »Na ja«, brummte Bellers.
  »Aber sicher. Wenn man um sechs aufhört, dann ist man um sechs fertig. Wenn man dagegen erst um zehn aufhört, ist man erst um zehn fertig.«
  »Es gibt aber doch Situationen ...«
  »Ja, klar«, unterbrach ihn Petra. »Aber die sind selten. Meist ist man selbst schuld, wenn man zu lange arbeitet.«
  So hatte Sandra das noch nie betrachtet. Bellers offensichtlich auch nicht, denn er runzelte die Stirn.
  * * *
  Auf dem Weg nach Wuppertal klingelte Bellers Handy. Da er gerade dabei war, sich während des Berufsverkehrs in einen Kreisverkehr einzufädeln, bat er Sandra: »Können Sie bitte das Gespräch annehmen?«
  Sandra nickte. »Bei Bellers«, meldete sie sich.
  »Markus? Bist du das?«, hörte sie eine Stimme, die ihr ein Loch ins Trommelfell zu schneiden schien.
  »Äh, nein. Hier ist Sandra Santori, eine Kollegin. Wer ist denn da?«
  »Ich will Markus sprechen«, sagte die Stimme.
  »Das geht gerade schlecht. Worum geht es denn? Kann ich ihm was ausrichten?«
  »Können Sie. Sagen Sie ihm, er soll seinen fetten Arsch nach Hause bewegen und seinen dämlichen Alten einfangen. Sonst rufe ich die Bullen. Diesmal endgültig.«
  »Ähm...«, begann Sandra, aber die andere hatte schon aufgelegt.
  »Was war?«, fragte Bellers, der es nun endlich geschafft hatte, eine Lücke zwischen zwei Lastern zu erwischen und in den Kreisverkehr zu gelangen.
  »Tja, ich weiß gar nicht ... Irgendjemand will, dass Sie nach Hause kommen.« Von dem fetten Arsch sagte sie lieber nichts. Bellers’ Hinterteil war tatsächlich etwas groß geraten.
  Sie sah, wie seine Hände das Lenkrad umklammerten. Er verpasste die Ausfahrt und drehte eine weitere Runde im Kreisverkehr.
  »Hat sie ... hat sie gesagt, wieso?«
  »Ich habe es nicht so genau verstanden. Sie sollen Ihren Alten einfangen, kann das sein?«
  »Ach ... das wird wohl unser Hund sein. Der läuft immer weg.« Bellers’ Ohren sahen nicht danach aus, als wäre das die reine Wahrheit.
  »Ja, dann«, meinte Sandra bloß.
  Bellers fuhr weiter, mit zusammengepressten Lippen. Sie waren schon fast beim Präsidium, als Sandra fragte: »Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Beim Einfangen, meine ich.«
  »Nein!«, kam es schnell zurück. »Das ist unmöglich. Ich meine, unnötig. Außerdem müssen Sie in die Besprechung gehen. Für den Fall, dass ich nicht rechtzeitig zurück bin.«
  Sandra schaute auf die Uhr. Es war halb fünf. Es schien lange dauern zu können, einen alten Hund einzufangen.
  »Na gut. Wie Sie meinen. Dann schreibe ich einen Bericht über unseren Fund in der Eifel. Über die Vernehmung von Sofia Lamprecht kann ich natürlich nichts schreiben.«
  »Nein. Klar. Das müssen Sie auch nicht.« Bellers war mit den Gedanken bereits irgendwo, aber nicht mehr bei ihr.
  Also stieg Sandra achselzuckend aus. Sie schrieb den Bericht, der sechs Seiten lang wurde. Sie kürzte noch einige Stellen, und dann nutzte sie die zwanzig Minuten bis zur Abendbesprechung für fünfzig Liegestütze, zweihundert Kniebeugen und dreihundert Sit-ups. Dabei hoffte sie inständig, dass Bellers nicht doch schon vor der Besprechung zurückkam und sie keuchend am Boden ihres Büros vorfinden würde. Aber sie hatte Glück.
  In der Besprechung wurden ihre Neuigkeiten mit »Aaah« und Pfiffen aufgenommen, was sie freute. Als wäre es ihr Verdienst, dass in Lamprechts Ferienwohnung Drogen versteckt gewesen waren. Nur Imke starrte vor sich auf den Tisch und spielte mit einem Bleistift.
  »Damit dürfte die Sache mit dem Terrorismus endgültig vom Tisch sein«, meinte Bongarz. »Oder gibt es da neue Informationen?«
  Fladerer schüttelte den Kopf. »Weiterhin keinerlei Hinweise auf einen terroristischen Anschlag. Morgen wird bei der Pressekonferenz diesbezüglich Entwarnung gegeben und auf einen kriminellen Hintergrund des Anschlags hingewiesen werden.«
  »Dann sollten wir wohl diesen Kevin Klages hops nehmen, was?«, meinte Lukas Mann.
  »Nein, das sollten wir nicht«, widersprach Fladerer und ließ sich ächzend auf einen Stuhl fallen.
  »Wieso nicht?«
  »Es spricht einiges gegen ihn, das stimmt«, erklärte Fladerer. »Aber klar ist hier noch gar nichts. Außerdem haben wir den guten Klages schon mehrere Male hopsgenommen, und immer hat er uns eine lange Nase gedreht und ist lächelnd davonspaziert. Übrigens nicht ohne Entschädigungen für die ihm entstandenen Unannehmlichkeiten einzufordern. Nein, bevor wir dem Feuer unterm Hintern machen, müssen wir mehr als nur ein Streichholz in der Hand haben.«
  »Aber wir lassen ihn doch wohl nicht einfach in Ruhe?«, beharrte Lukas Mann.
  »Das nicht. Aber wir müssen vorsichtig sein. Der hat einen Anwalt, der schlimmer als zwanzig Kampfhunde ist. Bongarz, am besten übernehmen Sie das.«
  »Ach. Und warum Bernd? Warum nicht ich?«, fragte Lukas.
  »Sie können ja mitgehen. Aber überlassen Sie Bongarz das Fragen. Er ist nun mal ein alter Hase und weiß, was er darf und was nicht. Außerdem ist er sehr diplomatisch.«
  »Und ich bin das nicht, oder wie?«
  »Nein«, gab Fladerer schlicht zurück. »Bongarz, setzen Sie sich vorher noch mit der Drogenfahndung in Verbindung, ja? Die haben bestimmt ein paar Meter Akten über unseren Freund Klages.«
  »Wird gemacht«, stimmte Bongarz zu.
  »In Ordnung. Was sonst?«, fragte Fladerer.
  »Wir sollten die lustige Witwe noch mal befragen«, meinte Michael Schweizer. »Zum einen muss sie doch von den Drogengeschäften ihres Mannes etwas mitbekommen haben. Außerdem bin ich immer noch nicht überzeugt, dass sie mit dem Anschlag auf ihn nichts zu tun hat.«
  »Bellers war heute schon bei ihr und hat nichts gehört oder gesehen, was sie verdächtig erscheinen ließ«, wandte Sandra ein. »Außerdem gibt es da diese Sache mit dem Sprengstoff. Wie hätte sie zufällig genau die gleiche Art Sprengstoff herstellen und nutzen können wie Klages? Wenn es denn Klages war, vor zwanzig Monaten in Essen.«
  Schweizer zuckte mit den Schultern. Daran hatte er offensichtlich nicht gedacht. Und genauso offensichtlich war er nicht erfreut, dass er daran nicht gedacht hatte. »Was weiß ich. Vielleicht steckt sie mit Klages unter einer Decke. Oder sie hat zufällig denselben Killer angeheuert, der Klages’ Aufträge ausführt.«
  »Wenn er wirklich einen haben sollte«, meinte Fladerer. »Was wir nicht wissen, sondern nur vermuten.«
  »Oder sie steckt hinter dem Anschlag in Essen, und Klages hat gar nichts damit zu tun«, überlegte Imke.
  »Nicht sehr wahrscheinlich«, meinte Fladerer. »Aber gut. Schweizer, Sie und Frau Hellweg gehen morgen noch mal zu Sofia Lamprecht und nehmen sie richtig in die Mangel. Sie können auch noch mal diese Mitarbeiterin von ihm ... Diese Dings ...«
  »Sonja Kluge«, warf Michael Schweizer ein. Wahrscheinlich sagte er sich jeden Abend sämtliche Namen, Daten, Orte und Fakten eines Falls auf, bevor er ins Bett ging.
  »Genau. Die können Sie auch noch befragen. Irgendjemand muss doch etwas von seinen Geschäften gewusst haben.«
  »Und was machen Bellers und ich?«, fragte Sandra.
  »Wo ist Bellers eigentlich?«, fragte Fladerer zurück.
  »Der musste etwas erledigen. Also, was sollen wir machen?«
  »Was schlagen Sie denn vor?«
  »Eigentlich ...« Sandra stockte. Eigentlich sollte sie Sätze nicht mit »eigentlich« anfangen. Das hatte ihr Inge immer wieder eingeschärft. »Wir hatten geplant, mit den Kollegen aus Essen zu reden.«
  Fladerer nickte. »Dann machen Sie das. Gibt es sonst noch was?«
  »Wissen wir etwas über die Identität des weiblichen Opfers von vorgestern?«, fragte Imke.
  »Bei den neu eingegangenen Vermisstenmeldungen gibt es zurzeit nur eine, die infrage kommt«, antwortete Fladerer. »Jedenfalls nur eine hier in Wuppertal. Eine ... Moment ...« Er blätterte in seinen Unterlagen.
  »Maria Abendroth«, sagte Sandra, was ihr einen giftigen Blick von Schweizer einbrachte. Er war hier für das Faktenwissen zuständig.
  »Genau. Sie ist heute Morgen von ihrem Vater vermisst gemeldet worden. Er hat sogar mitgedacht und einen persönlichen Gegenstand von ihr mitgebracht, sodass die DNA-Untersuchung bereits läuft.«
  Sandra unterdrückte ein Grinsen bei der Erwähnung des persönlichen Gegenstands.
  »Morgen früh sollten wir das Ergebnis haben. Sonst noch was? Nein? Frau Hellweg, wären Sie wieder so gut?«
  Wieder fasste Imke zusammen, was sie besprochen hatten. Fladerer nickte ihr zu und sagte: »Dann wünsche ich allen einen guten Abend. Bis morgen um die gleiche Zeit.«


 Kapitel 17

  Es war 18.25 Uhr. Bis zu Sandras Verabredung mit Petra Oberrath waren noch mehr als dreißig Minuten Zeit, und sie verbrachte sie wieder mit gymnastischen Übungen in ihrem Büro. Aber diesmal hatte sie nicht so viel Glück, denn Bellers kam herein, als sie gerade zwischen Schreibtischstuhl und Papierkorb lag und Sit-ups machte. Sie rollte sich schnell auf die Seite und tat so, als suchte sie etwas, das neben den Korb gefallen war. Tatsächlich lag dort der Zettel mit Petras Telefonnummer und Adresse, der irgendwie vom Schreibtisch dorthin gesegelt sein musste. Warum sie sich für ihre angebliche Suche in voller Länge auf den Boden legen musste, und warum sie so rot im Gesicht war, blieb ihr Geheimnis.
  Bellers schaute sie mit hochgezogenen Brauen an. Aber da er gerade selbst von einer Mission zurückkehrte, über die er nicht reden wollte, fragte er nicht, was sie dort auf dem Boden trieb. Er wollte nur wissen, wie die Besprechung gelaufen war, dann machte er sich wieder auf den Heimweg.
  Sandra ging zur Spurensicherung und schaute, ob Petra schon da war. Tatsächlich traf sie die Kollegin an, als sie gerade ihren Koffer im Schrank verstaute und die Schuhe wechselte. Sie tauschte ihre vernünftigen, robusten Trekkingschuhe gegen gänzlich unvernünftige, schrille Pumps aus glitzerndem Silber, die an ihren stämmigen Beinen viel zu klein aussahen. Mit ihrer rundlichen Figur wirkte sie nun wie ein auf der Spitze stehender Kinderkreisel. Sie nahm eine rosa glänzende Jacke vom Haken und lächelte Sandra aufmunternd zu.
  »Alles klar? Können wir?«
  »Gerne. Soll ich hinter dir herfahren?«
  »Wäre das Einfachste. Wir wohnen ein bisschen abgelegen, der Weg ist nicht so leicht zu finden.«
  Das war noch untertrieben, wie Sandra feststellte. Es ging auf kleinsten Sträßchen durchs Windrather Tal. Und zum Schluss rumpelten sie über Feldwege in eine Wildnis hinein, in der Sandra außer Füchsen und Hasen kein Leben vermutet hätte.
  Aber das täuschte. Nach etwa fünf Minuten Geholper entdeckte sie zwischen Bäumen und Feldern einen großen Hof mit Stallungen, einer Scheune und einem Wohngebäude. Auf dem Hof tummelten sich zwei Hunde, unzählige Katzen und etliche Kinder. Eine alte Frau, die aussah, als wäre sie einem Märchenbuch entstiegen, kam mit einem großen Eimer aus einem der Ställe. Auf den Wiesen neben dem Hof sah Sandra etwa dreißig Kühe. Sie standen oder lagen herum, und ihre Kiefer mahlten gemächlich den zweiten Durchgang ihrer Grasmahlzeit. Auf einer anderen Weide sah Sandra Schafe und Ziegen, die sich nach und nach zu ihrem Unterstand begaben und offenbar auf die Nachtruhe vorbereiteten.
  Sandra parkte neben Petras Geländewagen und stieg aus.
  »Und? Gefällt’s dir?«, fragte Petra.
  »Doch, schon. Ich wusste gar nicht, dass du auf einem Hof lebst.«
  »Und zwar schon immer. Ich bin hier aufgewachsen. Die alte Frau dahinten ist übrigens meine Uroma.«
  »Du hast noch eine Uroma?«, staunte Sandra.
  »Bei uns bekommen alle Frauen mit Anfang zwanzig ihre ersten Kinder. Wenn meine Älteste das auch so hält, und wenn Uromi bis 102 durchhält, könnte sie noch Ur-Ur-Uroma werden. Nächsten Monat wird sie 94 Jahre alt und ist immer noch topfit. Sie versorgt die Schweine und die Hühner. Außerdem hackt sie Holz, obwohl meine Oma das nicht will.«
  »Lebt sie auch hier? Deine Oma, meine ich.«
  »Na klar. Seit Generationen bleibt bei uns immer die älteste Tochter auf dem Hof. Das ist natürlich nirgends festgelegt, aber es hat sich so ergeben. Ich bin auch eine älteste Tochter. Und meine eigene älteste Tochter sagt schon seit sie sprechen kann, dass sie auch hier bleiben will.«
  Sandra nickte. »Wer wohnt denn noch hier?«
  »Natürlich die älteste Tochter meiner Oma, also meine Mutter. Dann noch zwei Onkel von mir und ein Großonkel, alle drei unverheiratet. Die Cousine meiner Uroma lebt ebenfalls hier. Sie ist geistig behindert, und ihre eigenen Eltern wollten sie damals nicht haben. Daher kam sie zum Arbeiten hier auf den Hof, sobald sie laufen konnte. Dann gibt es noch meinen Mann, meinen Vater und meinen Opa. Der liegt allerdings im Sterben.« Letzteres sagte sie so selbstverständlich, wie man über eine kranke Kuh redet. Vielleicht war man so, wenn man auf einem Hof aufwuchs. »Und natürlich meine Kinder«, beendete Petra ihre Aufzählung.
  »Wie viele Kinder hast du?«
  »Sechs. Vier Mädchen und zwei Jungen.«
  »Sechs Kinder? Ach, du liebe Zeit!«, staunte Sandra, die selbst als Einzelkind bei Eltern aufgewachsen war, die ebenfalls Einzelkinder gewesen waren.
  »Das ist normal bei uns«, lachte Petra. »Aber jetzt komm rein. Wir essen immer um halb acht.«
  Sie gingen über den Hof, und sofort schwirrten Petras Kinder herbei und hüpften wie Welpen an ihr hoch. Innerhalb von Sekunden wurden an die fünfzig Sätze losgelassen, die alle mit »Mama« begannen. Petra musste ihren manchmal stressigen Job bei der Spurensicherung wie Urlaub erleben.
  »Wer ist das denn?«, fragte schließlich ein etwa achtjähriges Mädchen und zeigte auf Sandra. Ihre schräg stehenden Augen und ihr großes, rundes Gesicht ließen erkennen, dass sie das Down-Syndrom hatte. Mit ihren roten Bäckchen erinnerte sie Sandra an einen Obstkuchen mit frischen Erdbeeren. Auf dem Arm trug sie ein kleines Kätzchen, das sich mit geschlossenen Augen an ihre Brust schmiegte und das Köpfchen kraulen ließ.
  »Das ist eine neue Kollegin von mir. Sie heißt Sandra.«
  »Hallo Sandra«, sagte das Mädchen. »Magst du Tiere?« Und ehe Sandra sich versah, hatte sie ihr das kleine Kätzchen in die Hand gedrückt. Das Tierchen hatte nichts dagegen und schmiegte sich jetzt eben an Sandras Brust. Es war federleicht und sein schwarzes Fell so weich, dass es beim Streicheln kaum zu spüren war. Jetzt gähnte es herzhaft und zeigte dabei spitze Zähne in einem rosa Mäulchen. Sandra konnte kaum die Augen abwenden. Sie hatte noch nie eine so kleine Katze gesehen.
  »Ja, du magst Tiere«, stellte das Mädchen fest. »Das ist gut. Magst du auch Kinder?«
  Sandra sah in ihr offenes Gesicht. Das Mädchen blickte sie erwartungsvoll an.
  »Ja«, sagte Sandra. »Ich mag auch Kinder.« Jedenfalls Kinder wie dich, fügte sie im Stillen hinzu. Denn Kinder, wie sie sie in den vielen Schulen kennengelernt hatte, die sie als Kind der Reihe nach besucht hatte, mochte sie nicht. Kinder, die johlend und kreischend hinter ihr hergelaufen und sie wegen ihres enormen Übergewichts gehänselt hatten, unter dem sie bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr gelitten hatte. Bis zu dem Jahr, als sie von zu Hause weggelaufen und bei Inge gelandet war.
  »Dann kannst du reinkommen«, beschloss das Mädchen und zog Sandra am Ärmel.
  Petra streichelte dem Mädchen über den blonden Pferdeschwanz und lächelte Sandra zu.
  »Darauf kannst du dir was einbilden. Noch nie hat jemand Luises Prüfung so schnell bestanden wie du.«
  Sandra wusste zwar nicht so recht, wovon die Rede war. Aber irgendwie war sie tatsächlich ein bisschen stolz.
  Gezogen von Luise, umringt von einigen anderen Kindern, und immer noch mit dem Kätzchen auf dem Arm betrat Sandra das Wohnhaus. Im Eingangsbereich befand sich eine riesige Garderobe mit Jacken, Hüten, Schuhen und Gummistiefeln in allen nur denkbaren Größen, Farben und Formen. Von dort aus kam man in eine Wohnküche, die so groß war wie Sandras gesamte Wohnung. Mitten im Raum stand ein riesiger Esstisch mit Stühlen und Bänken. Auf dem Tisch stand bereits ein Stapel Teller. Gläser und Bestecke wurden soeben von Petras ältester Tochter, einem etwa zwölfjährigen, ernst aussehenden Mädchen, geholt und verteilt. Ein kleiner Junge von etwa vier Jahren wuselte ihr vor den Beinen herum und brachte sie beinahe zu Fall. Zwei andere Mädchen, die etwa sechs und neun Jahre alt sein mochten, stritten sich darum, wer an diesem Abend neben Petra sitzen durfte.
  Drei Männer saßen bereits am Tisch. Sie hatten jeder ein Bier vor sich stehen, das sie mit ihren schweren Arbeiterhänden, in denen der Schmutz für alle Ewigkeit in Falten und Furchen eingraviert war, hin und her drehten. Sie schauten nur kurz auf, als Sandra und Petra den Raum betraten, dann blickten sie wieder schweigend auf ihre Flaschen. Das waren bestimmt die drei unverheirateten Onkel oder Großonkel.
  Vor Petra hatte sich eine kleine Schlange von Menschen gebildet, die sie der Reihe nach umarmten. Zuletzt wurde Petra von einem etwa vierzigjährigen Mann umarmt und geküsst. Er begrüßte Sandra: »Und Sie sind also die neue Kollegin? Schön Sie kennenzulernen. Petra bringt nur sehr selten mal jemanden mit nach Hause.«
  »Weil die meisten zu doof sind«, sagte Petra vom Waschbecken her, wo sie sich gerade die Hände wusch. Es dauerte einige Minuten, bis die vielen Menschen endlich am Tisch saßen, bis die Getränke verteilt waren und das Essen in dampfenden Schüsseln auf dem Tisch stand. Dann wurde es still, denn Petras Oma sprach ein Gebet.
  Anschließend wurde das Essen verteilt. Es gab Nudeln, Gulasch und Salat, und es schmeckte köstlich.
  Obwohl Petra sich mit allen sechs Kindern gleichzeitig und außerdem mit ihrem Mann und ihrer Mutter unterhielt, fand sie trotzdem noch Zeit, auch mit Sandra zu reden.
  »Und? Wie gefällt es dir bei uns?«, fragte sie.
  »Es ist lustig«, sagte Sandra, die gerade zugeschaut hatte, wie das kleine Kätzchen seine Pfote in Luises Gulasch getunkt hatte und sie nun hin und her schlackerte, um die Soße loszuwerden. Luise schimpfte mit ihr: »Du darfst doch nicht auf den Tisch! Was fällt dir ein?« Sie rieb die Pfote mit einer Serviette sauber und setzte das Tierchen auf die Erde. Sekunden später spürte Sandra, wie sich scharfe Krallen ihre Beine emporarbeiteten, und im nächsten Moment hockte das Tier neben ihrem Teller und überprüfte, ob auch da diese seltsame braune Soße zu finden war.
  »Kitty! Gehst du wohl da runter!«, rief Luise.
  Kitty ging nicht. Stattdessen angelte sie sich eine Nudel von Sandras Teller und kickte sie über den Tisch, bis Petra schließlich zugriff und sie erneut auf den Boden setzte. Sandra war gespannt, bei wem sie als Nächstes auftauchen würde.
  Petra erzählte über ihre Familie, und Sandra merkte, wie sie mit wenigen Worten das Temperament und Wesen jedes einzelnen dieser Menschen auf den Punkt bringen konnte. Sie hätte zu gern gewusst, wie Petra ihrer Familie sie, die neue Kollegin, beschrieben hatte!
  »Wie kommst du eigentlich mit Bellers klar?«, fragte Petra, als auch der Nachtisch – Vanillepudding mit Schokoladensoße – aufgegessen war.
  Ohne lange zu überlegen, antwortete Sandra: »Es ist schwierig. Sehr sogar. Der Mann macht mich richtig fertig.«
  Petra nickte. »Hab ich mir schon gedacht. Ist er dir zu zwanghaft?«
  »Das auch. Außerdem weiß ich nicht, was er von mir hält. Bei erster Gelegenheit wird er mich bestimmt in die Pfanne hauen, um mich wieder loszuwerden.«
  »Das glaub ich nicht. Okay, er ist ein Kauz, das schon. Aber er ist grundanständig, das kannst du mir glauben. Zu anständig, wenn du es genau wissen willst. Das hat er von seinem Vater, der nicht nur ein begnadeter Ermittler, sondern ein hoffnungsloser Idealist war. Wen auch immer du im Präsidium auf ihn ansprichst, da werden dir alle das Gleiche sagen. Er wird immer noch regelrecht verehrt. Und Markus ist ein bisschen wie er, nur in pedantischer Form.«
  Sandra zuckte mit den Schultern.
  Und dann fügte Petra noch etwas hinzu, über das Sandra später lange nachdachte: »Wenn du glaubst, er respektiert dich nicht, dann hat das was mit dir zu tun, nicht mit ihm.«


 Kapitel 18

  Sandra blieb bis elf bei Petra. Viel länger, als sie vorgehabt hatte. Die Kinder waren schon lange im Bett, auch die älteren und ganz alten Erwachsenen. Sandra hatte am Schluss nur noch mit Petra, deren Mann und ihren Eltern bei einem Glas selbstgemachtem Johannisbeerwein zusammengesessen.
  Zum Abschied brachte Petra Sandra zu ihrem Wagen und sagte: »Ich kann dir gratulieren. Du bist jetzt eine Freundin der Familie. Sowohl Uroma als auch Luise fanden dich gut. Und auf die beiden hören wir anderen immer.«
  Sandra konnte nur nicken. Und fuhr dann mit einem sehr warmen Gefühl im Bauch, das sie sonst nur nach ihren Abenden bei Inge kannte, nach Hause.
  Das gute Gefühl hielt an bis zum nächsten Morgen, als sie ihr Büro betrat. Um fünf nach acht. Bellers blickte vom Schreibtisch auf und empfing sie mit den Worten: »Wäre es denkbar, dass Sie in Zukunft vielleicht mal pünktlich kommen? Wir könnten schon längst unterwegs sein.« »Wieso pünktlich? Waren wir denn verabredet?«
  »Was heißt verabredet? Arbeitsbeginn ist um acht. Punkt acht. Nicht irgendwann nach acht.«
  »Davon weiß ich nichts.«
  »Das sollten Sie aber wissen. Damit wir Situationen wie heute vermeiden, wo ich meine Zeit damit vertue, auf Sie zu warten. Aber jetzt lassen Sie uns losfahren.« Er holte seinen Autoschlüssel aus der Schublade und ging zur Tür.
  Sandra hatte eine Menge Dinge im Kopf, die sie ihm gerne gesagt hätte. Dass sie nicht wissen konnte, was er erwartete, wenn er nicht darüber redete. Dass nirgendwo geschrieben stand, um wie viel Uhr Arbeitsbeginn war. Dass es nur in seinem zwanghaften Gehirn hieß: pünktlich um acht. Dass ...
  Sie folgte Bellers zu seinem Wagen. Als er losfuhr, fragte sie: »Wohin fahren wir?«
  »Zu Abendroth.«
  Aha. Zu Abendroth. »Darf ich auch erfahren, was wir bei ihm wollen?«
  »Es war seine Tochter, die in dem Wagen ums Leben gekommen ist. Die DNA-Ergebnisse sind da.«
  »Oh«, machte Sandra.
  Minuten später fügte Bellers hinzu: »Das wird fürchterlich für den Mann.«
  Gegen halb neun hielten sie vor einem Reihenhaus in einem Neubaugebiet in Vohwinkel. Sandra hatte als Kind ein Buch über Zwerge gehabt, das sie heiß und innig geliebt hatte. Und genau wie in diesem Buch sah es hier aus: Die Häuser waren klein und niedlich. Alles sehr sauber, sehr gepflegt, mit Blumen in den Vorgärten und auf den Balkonen. Die Bürgersteige wirkten frisch gefegt, und selbst die Autos, die es in ihrem Zwergenbuch natürlich nicht gegeben hatte, waren sauber und funkelten in der Sonne.
  Das Haus der Abendroths unterschied sich nicht von den anderen, außer dass es, wenn möglich, noch sauberer und ordentlicher wirkte. Der Rasen im Vorgarten schien mit Lineal gestutzt worden zu sein, auf jedem Fensterbrett standen Blumenkästen mit leuchtenden Blüten.
  Bellers hatte noch nicht fertig eingeparkt, als sich bereits die Tür öffnete und Abendroth ihnen entgegenschaute. Er schien in den letzten 24 Stunden um mehrere Jahre gealtert zu sein. Sein Gesicht wirkte eingefallen, um die Augen herum hatten sich dunkle Ringe gebildet, und die Haare sahen stumpf aus, obwohl sie offenbar frisch gewaschen waren. Der Mann nickte langsam mit dem Kopf, als er sah, wer da vor seinem Haus geparkt hatte. Er schaute zuerst Bellers, dann Sandra ins Gesicht. Dann stöhnte er und schloss die Augen. Etwa dreißig sehr lange Sekunden blieb er so stehen. Sandra kam sich vor, als wäre sie in einem Film gefangen, dessen Spule sich verhakt hatte. Doch dann gab sich der Mann einen Ruck, öffnete die Augen und machte eine Bewegung mit der Hand, damit sie ihm ins Haus folgen sollten. Dort führte er sie in ein Wohnzimmer, das ebenso wie der Garten und der Flur sauber und ordentlich war. Nichts lag herum, auch kein Staub. Die Bücher im Regal waren nach Farbe und Größe sortiert, bestimmt fünfhundert Schallplatten standen Kante auf Kante in einem anderen Regal. Sandra schaute zu Bellers. Eigentlich müsste er sich hier wohlfühlen, dachte sie.
  Abendroth ließ sich in einen Sessel fallen und starrte vor sich hin.
  Bellers räusperte sich. »Können wir Ihnen etwas holen? Ein Glas Wasser? Oder vielleicht einen Kaffee?«
  Abendroth schüttelte den Kopf. Nach einer kleinen Ewigkeit sagte er: »Sie ist tot, stimmt’s?«
  Bellers seufzte. »Es tut mir sehr leid.«
  Abendroth schloss erneut die Augen und verzog sein Gesicht, als hätte er Schmerzen. Sandra schaute ihn besorgt an. Bekam der Mann jetzt einen Herzinfarkt? Und wirklich legte er eine Hand aufs Herz und verzog das Gesicht noch weiter.
  »Sollen wir einen Arzt rufen?«, fragte Bellers.
  Abendroth schüttelte den Kopf. Dann sagte er: »Es tut sehr weh, ja. Aber nicht so, wie Sie denken.« Er atmete einige Male tief durch. Dann öffnete er die Augen und fragte: »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Einen Kaffee vielleicht?«
  »Nein, danke«, sagte Bellers.
  »Mir bitte schon. Vielen Dank«, sagte Sandra.
  Abendroth stemmte sich wie ein Greis aus dem Sessel hoch und schlurfte aus dem Zimmer.
  Bellers wandte sich Sandra zu: »Glauben Sie wirklich, wir sind zum Kaffeetrinken hier?«
  »Ich ...«
  »Und müssen Sie diesen Mann jetzt auch noch in die Küche jagen? Nachdem er einen solchen Schlag verkraften musste?«
  »Es ist...«
  »Trinken Sie doch in Zukunft bitte zu Hause Kaffee. Und wenn’s geht so früh, dass Sie trotzdem um acht im Büro sind.«
  »Jetzt reicht’s mir aber!«, platzte Sandra heraus. »Erstens habe ich der Sache mit dem Kaffee nur zugestimmt, damit der Mann in die Küche gehen und sich wieder fangen kann. Haben Sie nicht gemerkt, wie er um Fassung gerungen hat?«
  »So, so, und Sie wissen das so genau?«
  »Das hätte jeder gemerkt. Nur Sie nicht. Steht ja schließlich nicht im Lehrbuch, stimmt’s?«
  Bellers schnaubte. Nach einigen Sekunden fragte er: »Und zweitens?«
  »Was?«
  »Sie haben mit ›erstens‹ begonnen. Daraus schließe ich, dass es auch ein ›zweitens‹ gibt.«
  »Ach ja. Und zweitens sollen Sie mich nicht immer unterbrechen. Ich fühle mich dann nicht ernst genommen.«
  Dazu sagte Bellers nichts. Er stand auf, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute sich die Bücher in den Regalen an. Nach über einer Minute setzte er sich wieder und sagte: »Das mit dem Unterbrechen tut mir leid. Ich werde darauf achten.«
  Dazu fiel nun wiederum Sandra nichts ein, aber in diesem Moment kam Abendroth zurück und brachte ein Tablett mit einer Kaffeekanne, drei Tassen, einem Milchkännchen und einer Zuckerdose. Alles aus feinem Porzellan.
  Er schenkte Kaffee ein, wobei er fast die Tassen verfehlte, weil seine Hände so sehr zitterten. Als er die Tassen weiterreichte, klapperten sie auf den Untertassen. Sein Gesicht jedoch war wie versteinert. Schließlich räusperte er sich. »Also. Dann erzählen Sie. Wann haben Sie sie gefunden?«
  »Herausgefunden, dass es Ihre Tochter ist, haben wir erst heute Morgen«, begann Bellers. Es klang wie eine Entschuldigung. »Gefunden haben wir sie schon vor drei Tagen. Aber da wussten wir nicht, dass es Ihre Tochter ist.«
  Abendroth nickte und rührte in seiner Tasse, obwohl er weder Milch noch Zucker hineingetan hatte. »Sie ist ermordet worden?«
  »Ja. Tut mir leid.«
  »Was können Sie uns über Ihre Tochter erzählen?«, fragte Sandra. »Maria heißt sie, nicht wahr?«
  Der Mann nickte. »Ja. Maria. Wie meine Frau. Meine verstorbene Frau. Wissen Sie, wir hatten uns nur Namen für Jungen überlegt, weil Maria – also, meine Frau – sich ganz sicher war, sie würde einen Jungen bekommen. Als es dann ein Mädchen war, und als ... und als meine Frau nach der Geburt gestorben war, habe ich die Kleine Maria genannt. Meinen Sie, das war falsch?« Er schaute Sandra an.
  »Nein«, antwortete Sandra.
  »Ich wurde damals gefragt, ob ich das Kind als Ersatz für meine Frau ansehe. Aber so war es nicht. Sie war ganz anders als meine Frau.« Er starrte in seine Tasse und rührte immer noch.
  »Wie war sie denn?«, fragte Sandra nach einer Weile.
  Der Mann lächelte traurig. »Wild. Lebendig. Lustig. Sie hat immer was angestellt. Zog meistens mit Jungs durch die Gegend, kletterte auf Bäume, spielte Fußball und so etwas. Aber ihre große Leidenschaft ist die Musik. Sie singt wie ein Engel. Seit einem Jahr studiert sie Musik, das war immer ihr Traum. Sie ...« Er brach ab. Dann sagte er leise: »Oder sie studierte Musik, muss ich jetzt wohl sagen.«
  »Hatte sie irgendwelche Schwierigkeiten?«, fragte Bellers.
  »Schwierigkeiten?«
  »Nun, mit anderen Menschen zum Beispiel. Vielleicht mit einem früheren Freund, den sie verlassen hat, oder so etwas.«
  Der Mann schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich weiß von nichts. Und sie hat mir immer viel erzählt. Nein, ich glaube, wenn sie ernsthafte Schwierigkeiten gehabt hätte, hätte sie es mir gesagt.« Wieder rührte er in seinem Kaffee, der inzwischen nur noch lauwarm sein konnte. »Aber mit irgendjemandem hatte sie ja offenbar doch Probleme gehabt. Sonst wäre sie nicht tot.« Er stand auf und ging im Raum auf und ab. »Aber mit wem? Mit wem bloß?«, murmelte er vor sich hin.
  »Es kann sein, dass sie gar nicht gemeint war«, erklärte Bellers.
  »Wie meinen Sie das?«
  »Nun, vielleicht war sie nur zufällig mit betroffen. Es ist so ...« Bellers rang nach Worten. Wahrscheinlich suchte er nach einer Möglichkeit, Marias Vater einigermaßen schonend mitzuteilen, dass seine Tochter von einem Sprengsatz in Stücke gerissen wurde.
  »Haben Sie von der Explosion der Autobombe vor drei Tagen gehört?«, fragte er schließlich.
  Abendroth wurde blass. »Ja. Wieso?«
  »Ihre Tochter hat mit im Wagen gesessen. Leider.«
  Der Mann sagte gar nichts.
  »Und da noch zwei weitere Männer mit im Auto waren, unter anderem auch der Besitzer des Wagens, wäre es gut möglich ... Geht es Ihnen nicht gut?«
  Abendroth war grau wie ein Toter. Seine kompletten sechs Liter Blut mussten in die Füße gesackt sein.
  »Nein!« Es war nur ein Hauch. Und dann schwankte der große Mann und fiel schließlich wie ein gefällter Baum zu Boden. Seine Stirn durchschlug ein niedriges Holztischchen und schlug krachend auf dem Boden auf. Sekunden später breitete sich ein roter Fleck um Abendroths Kopf aus.
  Bellers lief zu ihm und rief Sandra zu: »Rufen Sie einen Notarzt. Schnell.«
  Er hockte sich neben den Mann und griff nach seinem Handgelenk. Dann fühlte er an seinem Hals.
  »Ist er tot?«, fragte Sandra mit dem Handy in der Hand. Sie hatte bereits die 112 gewählt, und aus dem Gerät drang eine Stimme: »Hallo? Hallo! Können Sie mich hören?«
  »Nein, er lebt noch«, antwortete Bellers. »Und der Puls fühlt sich ganz normal an.«
  Sandra schüttelte sich kurz, dann erklärte sie dem Mann vom Notruf, was geschehen war.
  Nur sechs Minuten später hörten sie Sirenen. Ein Notarzt und zwei Sanitäter kamen ins Wohnzimmer gerannt, wo der Arzt sich sofort neben Abendroth auf den Boden hockte. Er fühlte den Puls, hob die Augenlider an und leuchtete in die Augen. Dann maß er den Blutdruck.
  »Und?«, fragte Bellers.
  »Ich kann noch nicht viel sagen. Bis jetzt keine Anzeichen einer Hirnschädigung. Wir nehmen ihn zur Beobachtung mit.«


 Kapitel 19

  Das war ja ein Ding«, meinte Bellers, als er und Sandra alleine zurückblieben.
  »Erschreckend«, stimmte Sandra zu. »Der Mann tut mir echt leid.« Sie überlegte einen Moment. »Aber wo wir schon hier sind: Was halten Sie davon, wenn wir uns ein wenig im Haus umschauen, bevor wir nach Essen fahren?«
  »Wir haben keine Genehmigung.«
  »Das nicht. Aber die könnten wir ja nachträglich einholen, falls wir etwas finden. Wobei ich eigentlich nicht glaube, dass wir etwas finden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Maria Abendroth mit dem Anschlag gemeint gewesen war.«
  »Nein. Wohl nicht.«
  »Also?«
  Bellers rang sichtlich mit sich. Dann gab er sich einen Ruck. »Also gut. Aber nur oberflächlich. Sobald wir irgendetwas Verdächtiges entdecken, holen wir eine offizielle Genehmigung.«
  »Klar.«
  Sie gingen ins Haus zurück und durchstreiften die Räume. Es war nichts zu finden, was auch nur ansatzweise verdächtig war. Sandra bemerkte, dass die Möbel nicht nur sauber und gepflegt, sondern auch von sehr guter Qualität waren. Es war geradezu unnatürlich ordentlich und sauber.
  Im Zimmer von Maria Abendroth schauten sie sich etwas genauer um. Entweder hatte sie die Ordnungsliebe ihres Vaters geerbt, oder er räumte auch bei ihr auf. Jedenfalls lag alles an seinem Platz, die Wäsche im Schrank war ordentlich gebügelt und gefaltet. Eine ganze Wand wurde von Schallplatten und CDs eingenommen, die Musik umfasste das gesamte Spektrum der Musik, angefangen bei Gregorianischen Gesängen bis hin zu Rock und Pop. In einem anderen Regal sah Sandra Bücher über Musik, außerdem stapelweise Noten.
  Auf dem Schreibtisch fand sie schließlich doch etwas Interessantes. In einem Kästchen lag eine Visitenkarte von Dino Lambardo. Auf der Rückseite stand: Liebe Maria. Melde dich bei mir – jederzeit! Dein Dino. Maria hatte also nachweislich Kontakt zu Lambardo gehabt und war nicht bloß zufällig, als Tramperin vielleicht, in seinem Wagen gewesen.
  In einer Schublade lag ein Terminkalender, in dem jedoch so gut wie nichts vermerkt war. Wahrscheinlich hatte Maria, wie fast alle Menschen ihrer Generation, ihre Termine im Smartphone notiert. Und das würde mit ihr in die Luft geflogen sein. Aber einige Termine standen doch in dem Buch, unter anderem ein Eintrag vom Freitag vor dem Anschlag, in dem es hieß: 16.00 Uhr Musikagentur. Und dann die Adresse. Sandra zeigte Bellers die Karte und sie beschlossen, zunächst mit Sonja Kluge Kontakt aufnehmen, Lambardos Mitarbeiterin in der Agentur. Nachmittags wollte sie dann zu den Essener Kollegen fahren.
  Als sie gingen, steckte Sandra die Karte ein. Bellers rief im Krankenhaus an und erfuhr, dass Abendroth, so weit man es bis jetzt wisse, keine schwerwiegenden Hirnverletzungen erlitten habe. Allerdings sei er noch nicht aufgewacht, man müsse also von einer Gehirnerschütterung ausgehen. Ob und wann er vernehmungsfähig sei, könne man noch nicht sagen.
  * * *
  Sie fuhren zurück nach Elberfeld und hielten wenig später vor dem unscheinbaren Gebäude, in dem sich Lambardos Agentur befand. Auf ihr Klingeln hin wurde sofort geöffnet. Wieder wurden sie von der langbeinigen Schönheit empfangen, die einen Lederminirock und ein rückenfreies Shirt trug. Heute waren ihre Augen jedoch nicht verschwollen und rot, heute lag ein helles Strahlen auf dem perfekt geschminkten Gesicht.
  »Ja bitte? Ach, Sie sind’s!« Sie hatte Sandra wiedererkannt. »Die Frau von der Polizei, stimmt’s?«
  »Genau. Und das ist mein Kollege. Wir haben noch einige Fragen.«
  »Gern. Kommen Sie rein.«
  Sie führte sie wieder in den Besucherbereich, wo sich ein etwa fünfzigjähriger Mann breitbeinig auf einem Sessel fläzte. Er trug eine viel zu enge, schwarze Jeans und ein schreiend buntes Hemd. Mit zusammengezogenen Brauen musterte er Sandra von Kopf bis Fuß, unter besonderer Berücksichtigung der Region zwischen Hals und Bauch. Auch Bellers wurde taxiert und offenbar als Konkurrent eingestuft. Jedenfalls bildete sich eine steile Falte zwischen den Brauen.
  »Guten Tag. Wer sind Sie?«, fragte Bellers, ebenfalls mit einer Falte zwischen den Brauen.
  »Wer will das wissen?«, kam es zurück.
  »Die Polizei.« Bellers zückte seinen Ausweis.
  Der Mann nahm ihn entgegen, drehte ihn einige Male hin und her und sagte dann: »Hm.«
  »Also, wer sind Sie?«
  »Das ist Frank Siebert. Franky ist Musikagent. Und er will vielleicht unsere Musiker übernehmen«, antwortete Sonja eifrig.
  »Ach? Das geht aber schnell.«
  Der Mann zuckte mit den Schultern.
  »War überhaupt schon eine Todesanzeige in der Zeitung? Oder woher wissen Sie vom Ableben Ihres Konkurrenten?«
  »Das kam doch in den Nachrichten«, antwortete wieder Sonja Kluge. »Das bringen die schon seit gestern. Immer wieder.«
  Bellers nickte und hielt den Blick immer noch starr auf Siebert gerichtet. »Schon möglich. Und da haben Sie sich gedacht, da der Konkurrent tot ist, könnten Sie davon profitieren. Vielleicht haben Sie bei seinem Tod sogar ein wenig nachgeholfen?«
  Jetzt wurde der andere blass. »Sie spinnen ja. Wieso sollte ich?«
  »Das liegt doch wohl auf der Hand!«
  »Sie spinnen«, wiederholte der andere. »Ich bin gestern von Lamprechts Frau angerufen worden. Sie hat mir die Agentur angeboten. Beziehungsweise die Musiker.«
  »Was heißt das: die Musiker angeboten? Sind die zu verkaufen oder was?«
  »Im Prinzip schon. Die sind doch alle zu doof, bis drei zu zählen. Die können vielleicht ihre Songs ins Mikro jaulen, aber von Verträgen haben die keinen blassen Schimmer. Die brauchen also dringend einen Agenten. Und wenn ich jetzt komme und ihnen anbiete, sie zu übernehmen, sagen die auf jeden Fall ja.«
  »Und Frau Lamprecht verkauft sie Ihnen also.«
  Frank Siebert nickte. »So ist es. Für 200.000 Euro, wenn Sie es genau wissen wollen.«
  Bellers pfiff leise. »So viel? Lohnt sich das denn?«
  »Immerhin sind die Master Stars dabei.«
  »Die bringen schon alleine das Geld wieder rein«, strahlte Sonja Kluge. Sie setzte sich auf die Kante von Sieberts Sessel und legte einen Arm um seine Schultern. »Ich habe ihm gesagt, dass ich sie entdeckt habe, und ich bin sicher, dass Franky sie sogar noch größer rausbringt. Der hat’s echt drauf. Stimmt’s, Franky?«
  Sandra konnte es nicht fassen. Gerade zwei Tage war es her, dass diese junge Frau Stapel von Papiertüchern nass geweint hatte, weil ihre große Liebe gestorben war. Der Mann, mit dem sie Tisch, Bett und Bauernhof teilen sowie zehn Kinder haben wollte. Und jetzt schien es bereits den nächsten Anwärter zu geben. Sie hatte das Trauerjahr in Rekordzeit bewältigt.
  Frank Siebert tätschelte ihr die Hand. »So ist es, Baby. Und jetzt muss ich los, ich habe Termine.«
  Bellers sah aus, als hätte er ihn am liebsten weiter festgehalten. Aber dann nickte er doch und ließ ihn gehen.
  »Und was wollten Sie jetzt eigentlich?«, fragte Sonja Kluge, als sie mit den Ermittlern alleine war.
  »Wir möchten mit Ihnen über Maria Abendroth sprechen«, sagte Sandra. »Sagt Ihnen der Name etwas?«
  »Abendroth? Nicht, dass ich wüsste. Aber ich schau mal nach. Moment.«
  Sie ging zum Empfangstresen und tippte auf einem Laptop herum. Dann sagte sie: »Ach doch, die war hier. Jetzt erinnere ich mich wieder, ich hatte nur ihren Namen nicht im Kopf. Sie selbst könnte ich gar nicht vergessen, nach dem Auftritt, den sie hingelegt hat.«
  »Nach welchem Auftritt?«, fragte Bellers
  »Sie hat eine total unglaubwürdige Geschichte erfunden, nur um sich bei uns einzuschleichen. Dino hat das natürlich nicht gerafft. Wenn so ’ne Tussi jung und schön war, hat er nie was gerafft.«
  »Und trotzdem wollten Sie mit ihm Ihr Leben verbringen?«, musste Sandra einfach fragen.
  »Ach was. Das ist doch schon ewig her.« Das stimmte. Volle zwei Tage. Was in ihrem Alter vielleicht wirklich noch etwas ausmachte. »Und so toll war er auch wieder nicht«, fuhr sie fort. »Ich hätte ihn mir erst noch zurechtbiegen müssen. Aber das ist ja jetzt vorbei. Ist auch gut so.«
  »Und was war das jetzt für eine Geschichte mit Maria Abendroth?«
  »Die kam eines Tages einfach hier hereinspaziert und wollte vorsingen. Ich meine, so funktioniert das natürlich nicht. Normal spricht Dino die Musiker an, nicht umgekehrt. Oder sprach, natürlich. Und wenn doch mal ein Musiker zu ihm kommt, anstatt umgekehrt, dann meldet er sich vorher an. Fragt nach einem Termin.«
  »Und Maria Abendroth hat das alles nicht getan?«
  »Nö. Sie hat behauptet, Dino habe ihr nach einem Konzert eine Visitenkarte gegeben mit der Aufforderung, zu ihm zu kommen, wann immer sie will. Angeblich hatten sie sich auch schon auf einen Termin geeinigt. Sie hatte sogar eine Karte von ihm, und da stand auch was drauf. Aber die war gar nicht von Dino. Also, sie war schon von Dino, aber es war nicht seine Schrift.«
  »Hat sich die Sache denn aufgeklärt?«
  »Nö. Als sie Dino gesehen hat, hat sie selbst zugegeben, dass der Typ, der ihr die Karte und den Termin gegeben hatte, ganz anders aussah. Aber wo sie nun schon mal da war, und wo sie, wie gesagt, jung und schön war, hat Dino sie angehört.«
  »Und?«
  »Na ja. Sie hatte eine ganz gute Stimme, das schon. Aber die völlig falsche Ausstrahlung.«
  »Nämlich?«
  »Eigentlich gar keine Ausstrahlung. Sie war völlig blass. Kein bisschen Scharisma. Sie war einfach ein liebes, nettes Mädchen. Und damit kann man kein Star werden.«
  »Also hat Dino Lambardo sie wieder weggeschickt?«, fragte Sandra.
  »Natürlich nicht. Ich hab doch gesagt, sie sah gut aus. Er hat sich mit ihr verabredet. Irgendwann abends. Sie sollte zu ihm nach Hause kommen. Das war ... Moment, das war an dem Abend, bevor er in die Luft geflogen ist. War die … war die etwa mit im Auto?«
  »Es sieht so aus«, stimmte Sandra zu.
  »Ach du Scheiße, das war aber Pech. Hätte sie mal besser auf mich gehört. Ich hab ihr gleich gesagt, sie soll gefälligst die Finger von ihm lassen.«
  »Aber das wollte sie nicht?«
  »Die hat sich eingebildet, er will wirklich mit ihr arbeiten. Weil er ihre Stimme so klasse findet. Ich hab ihr gesagt, dass er sie bloß ins Bett bekommen will, und sie meinte, sie könnte sich schon wehren. Na ja, sie war eben ein naives Gänschen.«
  »Warum?«
  »Weil man sich gegen Dino nicht wehren konnte. Der hatte doch diese Tropfen. Von denen man so daneben ist, dass man nichts mehr merkt.«
  »Reden Sie von K.-O.-Tropfen?«
  »Genau. Damit hat er jede Frau rumgekriegt, wenn man so will. Am nächsten Tag konnten die noch nicht mal was sagen, weil sie gar nichts wussten. Und wenn sich doch mal eine beschweren wollte, hat Marvin immer alles bestätigt, was Dino bestätigt haben wollte.«
  »Hat denn keine der Frauen etwas unternommen?«, fragte Sandra.
  »Doch. Ein paar schon. Nur konnten sie ja nichts beweisen. Dass er mit ihnen etwas hatte, schon. Aber nicht, dass sie es nicht wollten. Diese Tropfen sind wohl nach ein paar Stunden nicht mehr nachzuweisen. Und die meisten haben ja vermutlich erst mal stundenlang unter der Dusche gestanden, anstatt gleich zur Polizei zu gehen. Aber einige von denen haben es sich nicht gefallen lassen. Die haben sogar so eine Gruppe gegründet. Woman all oder Woman together oder so.«
  Bellers und Sandra sahen sich an. Womens together waren diejenigen gewesen, die die Karte mit dem Spruch: Wir tanzen auf deinem Grab vor Lambardos Haus abgelegt hatten.
  »Seit wann wissen Sie von Lambardos Machenschaften?«, erkundigte sich Bellers bei Sonja Kluge.
  »Schon lange«, antwortete die junge Frau, ohne zu merken, dass sie sich gerade um Kopf und Kragen redete.
  »Und warum haben Sie nichts unternommen? Vergewaltigung ist ein Kapitalverbrechen. Das muss angezeigt werden, sonst macht man sich mitschuldig.«
  Die junge Frau machte große Augen. »Aber was hab ich denn damit zu tun?«
  »Sie hätten es anzeigen müssen.«
  »Der war doch mein Chef. Und wir wollten heiraten. Da zeig ich den doch nicht an.«
  »Und warum wollten Sie jemanden heiraten, von dem Sie wissen, dass er Frauen vergewaltigt?«
  »Das hat er doch gar nicht. Die haben doch geschlafen.«
  »Das ist trotzdem eine Vergewaltigung. Und so jemanden wollten Sie heiraten?«, fragte Sandra.
  »Will ich doch gar nicht.«
  »Vorgestern wollten Sie es noch!«
  »Ja, vorgestern«, sagte Sonja Kluge, als wäre von einem früheren Leben die Rede. »Aber jetzt doch nicht mehr.«
  »Jetzt wollen Sie Frank Siebert heiraten, oder wie?«
  »Jedenfalls ist er ein total toller Typ. Viel cooler als Dino. Außerdem ist er nicht verheiratet.«
  »Wie auch immer.« Bellers stand auf. »Sie werden wegen dieser Vergewaltigungsgeschichte noch von uns hören.«
  »Aber ich hab doch gar nichts gemacht!«, jammerte die junge Frau.
  »Richtig. Und genau das war Ihr Fehler.«


 Kapitel 20

  Wie kann man nur so dämlich sein?«, schimpfte Bellers vor sich hin, als sie zu seinem Auto gingen.
  »Haben Sie wirklich vor, sie wegen dieser Vergewaltigungen anzuzeigen?«, fragte Sandra.
  »Aber sicher.« Er schaute sie an. »Würden Sie das nicht machen, oder was?«
  »Doch. Aber ich hätte nicht gedacht ...«
  »Was hätten Sie nicht gedacht?«
  »Na ja. Dass Sie als Mann es so schlimm finden, was da passiert ist.«
  »Was hat das denn damit zu tun, dass ich ein Mann bin?«
  Sandra zuckte nur mit den Schultern.
  »Ich weiß ja nicht, welches Männerbild Sie haben«, fuhr Bellers fort. »Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich das, was da abgelaufen ist, nicht gutheiße. Außerdem ist es gegen das Gesetz.«
  Das war jetzt natürlich ein Argument, das eines Bellers würdig war. Wenn etwas gegen das Gesetz war, dann musste es verfolgt werden. Punkt.
  »Um diese Gruppe von Frauen werden wir uns kümmern müssen«, fügte Bellers hinzu. »Diese ... wie heißen sie?«
  »Womens together«, antwortete Sandra.
  »Genau. Wir müssen schauen, ob sie noch mehr falsch gemacht haben, als nur den Plural von woman unrichtig zu bilden.«
  Sandra schüttelte den Kopf. Warum war Bellers eigentlich nicht Lehrer geworden?
  »Was war das wohl mit dieser Visitenkarte?«, wechselte Sandra das Thema.
  »Tja. Seltsame Geschichte. Vielleicht hat Maria Abendroth die Sache selbst inszeniert, um an Dino Lambardo heranzukommen. Möglicherweise hat sie diese Karte irgendwo aufgetrieben und hat die Worte auf der Rückseite selbst daraufgeschrieben.«
  »Aber angenommen, sie war es nicht: Wer könnte es dann gewesen sein? Wollte jemand, dass sie mit Lambardo Kontakt aufnimmt? Und wenn ja, wer und warum?«
  Bellers antwortete nicht.
  »Wollte vielleicht sogar jemand, dass sie mit ihm zusammen im Wagen sitzt und ...«
  »Sie spekulieren zu viel«, sagte Bellers. »Bleiben Sie bei den Fakten.
  »Und Sie haben mich schon wieder unterbrochen.«
  Bellers schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Das stimmt. Tut mir leid.«
  Schweigend fuhren sie zum Präsidium.
  »Ich muss noch etwas erledigen«, sagte Bellers und hielt vor dem Eingang. »Und Sie gehen am besten etwas essen. Ich hole Sie dann um zwei wieder ab, damit wir nach Essen fahren.«
  Sandra schaute auf die Uhr. Es war gerade zwölf. Zu früh für ein Mittagessen. Und was fiel ihm eigentlich ein, ihr vorschreiben zu wollen, wann sie essen sollte?
  Also ging sie nicht zum Essen. Aus Prinzip. Und wenn sie noch so viel Hunger gehabt hätte. Stattdessen nutzte sie die Zeit für einen kurzen Abstecher zu Inge. Es war Donnerstag, und donnerstags war Inge nie in der Uni. Sandra betete, dass sie zu Hause sein möge. Und sie hatte Glück.
  »Sandra, wie schön!« Inges Augen leuchteten auf. »Hast du Zeit, etwas zu essen?«
  »Ein bisschen. Um zwei holt mich Bellers am Präsidium ab.«
  »Ich fahr dich hin«, bot Inge an und holte ein Nudelgericht aus dem Kühlschrank, das sie in die Mikrowelle stellte. Als es warm war, häufte sie Sandra eine Portion auf den Teller, nahm sich selbst nur einen Klecks und setzte sich hin. Sandra unterdrückte ein Lächeln. Inge gab gerne vor, dass sie »wie ein Vögelchen« aß, und nahm sich daher stets nur kleinste Portionen. Von diesen nahm sie sich aber derartig viele, dass sie am Ende doch immer mehr gegessen hatte als Sandra. Sie wollte eben gerne asketisch wirken, anstatt wie ein Bauarbeiter das Essen in sich hineinzuschaufeln.
  »So, jetzt erzähl«, sagte Inge mit vollem Mund, nachdem Sandra den ersten Bissen heruntergeschluckt hatte.
  Und Sandra erzählte. Von dem Fall und seinen Verwicklungen. Vor allem aber von Bellers. Fast wörtlich wiederholte sie, was er an diesem und am vorigen Tag zu ihr gesagt hatte und wie er es gesagt hatte.
  Inge hörte kopfschüttelnd zu. »Am liebsten würde ich mal mit ihm reden. Soll ich?«
  »Bloß nicht. Ich weiß noch sehr gut, wie das war, als du damals mit meinem Chemielehrer geredet hast.«
  »Na und? Du musst zugeben, dass er dich danach nicht mehr unfair behandelt hat.«
  »Und du musst zugeben, dass du eine ganz schön hohe Geldstrafe wegen der Ohrfeige bekommen hast.«
  »Na ja.« Inge lächelte.
  »Aber was soll ich nun mit ihm machen? Mit Bellers, meine ich. Der Typ macht mich fertig.«
  »Wenn du mich nicht an ihn ranlässt, musst du eben selbst dafür sorgen, dass er Respekt vor dir bekommt.«
  »Und wie soll das gehen?«
  »Ich würde zum Beispiel als Erstes herausfinden, was er immer so Dringendes zu erledigen hat. Vielleicht kannst du ihn damit erpressen«, sagte Inge seelenruhig und nahm einen Schluck Wein.
  Sandra schaute sie belustigt an. Dann merkte sie, dass es nicht als Witz gemeint war. »Das ist jetzt nicht dein Ernst«, sagte sie.
  »Und ob«, erwiderte Inge.
  »Du hast vielleicht Ideen! Ich kann den doch nicht erpressen.«
  »Warum denn nicht?«
  »Na, weil ... weil man das nicht macht.«
  »Wenn ich immer nur gemacht hätte, was man macht, dann wäre ich jetzt tot«, gab Inge zurück.
  Sandra drückte Inge kurz die Hand. »Ich weiß. Und das wäre furchtbar. Aber jetzt sind wir erwachsen, und Bellers ist nicht der gewalttätige Alpharüde einer Jugendbande. Ich denke, ich muss anders mit ihm klarkommen.«
  »Na, dann sieh mal zu, wie du es machst. Und wenn du doch mal einen Tipp oder Hilfe brauchst, komm zu mir.«
  Sandra sah zu, wie die kleine, drahtige Frau das Geschirr zusammenstellte und zur Spülmaschine brachte. Wenn Inge doch bloß wirklich ihre Mutter gewesen wäre! Was hätte sie wohl mit Sandras Vater gemacht, wenn der seine Tochter mit seinen zynischen Bemerkungen so fertig machte, dass sie sich noch nicht mal für wert befunden hatte, Raum einzunehmen und Sauerstoff zu verbrauchen? Wenn man mal davon absah, dass sie einen Mann wie ihn überhaupt nicht erst geheiratet hätte, hätte er vermutlich schon die erste Attacke auf Sandras Selbstwertgefühl nicht überlebt. Jedenfalls nicht unverletzt.
  Es war Sandras beste Idee gewesen, mit sechzehn von zu Hause wegzulaufen. Und die beste Idee des Schicksals war es gewesen, dass sie gleich in der ersten Nacht auf dem Lüftungsschacht vor einem Kaufhaus von Inge aufgelesen und mit nach Hause genommen wurde. Wenige Tage später hatte sie Sandras Eltern klargemacht, dass ihre Tochter fortan bei ihr lebte. Anderenfalls würde sie mit Sandra zusammen zum Jugendamt gehen und dafür sorgen, dass sie in eine Wohngruppe kam. Mit sechzehn ging das, wenn die Jugendlichen selbst es so wollten. Und schließlich hatten Sandras Eltern eingewilligt. Was hätten auch die Nachbarn gedacht, wenn das Jugendamt mit ihnen Kontakt aufgenommen hätte?
  * * *
  Pünktlich um fünf nach zwei betrat Sandra das Büro. Aber Bellers war nicht da. War er etwa schon ohne sie losgefahren? Sandra schaute auf ihr Handy und musste feststellen, dass es immer noch ausgeschaltet war. Inge bestand darauf, beim Essen nicht von Handygedudel gestört zu werden. Als sie es nun einschaltete, waren gleich drei Nachrichten von Bellers auf der Mailbox. Die erste lautete, er wisse nicht, ob er es pünktlich schaffen werde, in der zweiten machte er sie darauf aufmerksam, dass sie als Ermittlerin tagsüber ihr Handy eingeschaltet lassen sollte, und in der dritten kündigte er sein Erscheinen im Präsidium für etwa acht Minuten nach zwei an. Sie möge doch bitte auf dem Parkplatz stehen, damit sie direkt losfahren könnten.
  Sandra schüttelte den Kopf und ging wieder nach draußen. Auf dem Parkplatz sah sie Bellers, der gerade mit finsterer Miene sein Auto abschloss.
  »Da sind Sie ja«, sagte Sandra, bevor er nur Luft holen konnte. »Ich warte schon.«
  »Was war mit Ihrem Handy?«, fragte Bellers.
  »Was war mit zwei Uhr?«, fragte Sandra zurück.
  Danach schwiegen beide. Bis Essen. Es war eine lange Fahrt. Irgendwann stellte Bellers das Radio an.
  In Essen fuhren sie auf den Besucherparkplatz des dortigen Präsidiums, und auf dem Weg zum Gebäude fragte Sandra: »Sind wir eigentlich angemeldet?«
  »Das fällt Ihnen aber früh ein«, gab Bellers zurück. »Ja, wir sind angemeldet. Das habe ich heute Morgen erledigt, nachdem Abendroth abgeholt wurde und Sie unbedingt noch sein Haus durchsuchen mussten. Wir dürfen übrigens nicht vergessen, nachträglich die Erlaubnis von Abendroth einzuholen, uns im Zimmer seiner Tochter umschauen zu dürfen.«
  Nein, das sollten sie wirklich nicht vergessen, dachte Sandra. Vor allem deshalb, weil sie die Visitenkarte von Lamprecht noch immer heimlich in ihrer Hosentasche herumtrug.
  Der Beamte, mit dem sie verabredet waren, saß zusammen mit zwei weiteren Kollegen in einem Raum, in dem das absolute Chaos herrschte. Die Tische waren unter der Last von Akten und Papieren nicht mehr zu erkennen, aus Schränken und Regalen quollen weitere Papierfluten. Außerdem waren bestimmt dreißig Kaffeetassen im Raum verteilt, die auf Akten balancierten, im Waschbecken lagen und sogar im Topf eines Gummibaums standen, der seine Blätter herabhängen ließ, als hoffte er, aus den Tassen noch einen Rest Flüssigkeit aufsaugen zu können.
  »Ah! Die Kollegen aus Wuppertal«, grüßte einer der Männer. »Müsst euch jetzt also auch mit einer Explosion herumschlagen, wie?«
  »Das ist richtig«, gab Bellers etwas steif zurück.
  »Setzt euch doch.« Der Mann wies auf zwei Stühle, die allerdings mit Papierstapeln beladen waren.
  Bellers schaute sie etwas ratlos an, Sandra packte ihren Stapel einfach auf den Boden und setzte sich.
  »Dann wollen wir mal sehen. Wo haben wir es denn?«, murmelte der Mann vor sich hin und zog schließlich zwei dicke Akten unter einem halben Meter Papier hervor. Eine Kaffeetasse kam ins Wanken und stürzte ab, blieb aber heil. Der Mann kickte sie einfach mit dem Fuß unter den Schreibtisch.
  »Wie machen wir’s? Wollt ihr die Akte lesen, oder soll ich was erzählen?«
  »Bitte erzählen«, antwortete Bellers.
  »Na schön. Ich bin übrigens Peter, die beiden da sind Steffen und Thorsten. Die waren bei den Ermittlungen mit dabei.«
  Bellers und Sandra stellten sich ebenfalls vor.
  »Wie kommt ihr eigentlich darauf, dass euer Fall etwas mit unserem zu tun hat?«, wollte Steffen wissen. »Es explodieren hierzulande zwar nicht jeden Tag Autobomben, aber trotzdem.«
  »Wegen des Sprengstoffs. Es war der gleiche wie bei euch«, sagte Sandra.
  »Verstehe«, nickte Peter. »Ja, der Sprengstoff war uns auch aufgefallen.«
  »Wie seid ihr bei den Ermittlungen vorgegangen?«, erkundigte sich Sandra. Sie interpretierte Bellers’ Schnaufen so, dass er das schon wusste, weil er sich natürlich vorher per Intranet informiert hatte.
  »Nun, nach der Identifizierung der Opfer haben wir deren Hintergrund ausgeleuchtet. Bei der Frau war nichts zu finden. Sie war freie Journalistin, lebte mit ihrem Mann und einem kleinen Baby zusammen. Sie recherchierte wohl gerade zu einem Artikel über Prostitution. Gut, könnte sein, dass sie mit ihren Nachforschungen jemandem auf den Fuß getreten ist. Aber ihr Mann wusste nichts dergleichen. Und es wäre ja auch nicht gerade wahrscheinlich, dass sie in einem fremden Auto in die Luft gesprengt wurde, wenn es wirklich um sie gegangen wäre.«
  Sandra nickte. »Was ist mit dem Mann?«
  »Mit Ludger Friedrich?«
  »Auch. Aber erst mal wollte ich jetzt was über den Ehemann von Nina Deutschmann erfahren.«
  »Ja, der war interessant. Nicht in der Richtung, dass er Dreck am Stecken hatte und jemand seine Frau tötete, um ihn unter Druck zu setzen. Unter Verdacht stand er erst recht nicht. Im Gegenteil, der Mann war fix und fertig, als er seine Frau verloren hatte. Aber er hat uns den letzten Nerv geraubt, weil er Privatdetektiv gespielt hat. Wo wir auch hinkamen und wen wir auch befragt haben, Uli Deutschmann war immer schon vor uns da gewesen. Er war übrigens auch derjenige, der uns auf die Drogengeschichte und auf Kevin Klages gebracht hat.«
  »Wie hat er das denn geschafft?«
  Peter schüttelte kurz den Kopf. »Der war wie ein Bluthund. Schnüffelte von morgens bis abends herum. Redete mit allen, die irgendwas mit Friedrich zu tun hatten. Trieb sich wochenlang mit Drogenkranken und Prostituierten herum, um sie auszuhorchen. Und das mit dem Baby vorm Bauch. Der war echt besessen davon, den Täter zu finden.«
  »Und das ist ihm gelungen?«, vergewisserte sich Sandra.
  »Möglicherweise. Gut denkbar, dass er recht hatte und dass es Klages war, der die Sache in Auftrag gegeben hat. Klages selbst war nämlich in den Tagen um den Anschlag herum im Ausland. Wenn er also wirklich dahintersteckte, musste er einen Killer beauftragt haben. Aber wir konnten ihm nichts nachweisen, es beruhte alles nur auf Hörensagen und Gerüchten. Diese Drogenkranken sind wie ein Fischschwarm: Wenn Sie die Hand hineinstecken, um einen zu greifen, sind sie alle weg. Wir hatten sogar einen verdeckten Ermittler als Junkie eingeschleust. Aber auch der war nicht in der Lage, handfeste Beweise zu sichern.«
  »Schöne Scheiße«, fügte Thorsten hinzu, der bislang noch gar nichts gesagt hatte.
  Bellers nickte. »Wir in Wuppertal hatten Klages schon verschiedene Male im Visier. Aber der Mann windet sich aus allem heraus. Es ist nie zu einer Anklage gekommen.«
  »Und jetzt vermutet ihr, dass er hinter dem Anschlag in Wuppertal steckt?«, fragte Peter.
  »Ja«, antwortete Sandra.
  »Wir wissen es nicht«, sagte Bellers im selben Moment. Dann fügte er mit einem Seitenblick auf Sandra hinzu: »Es wäre aber möglich. Jedenfalls hatte Dieter Lamprecht, der Besitzer des Wagens, offensichtlich mit Drogen zu tun.«
  »Na, dann wünsche ich viel Spaß, Kollegen. Und viel Erfolg. Aber so einen wie den Klages wird man eigentlich nur los, wenn ihn jemand um die Ecke bringt, bevor er ihn um die Ecke bringt. Und bisher scheint er ja immer der Schnellere gewesen zu sein.«


 Kapitel 21

  Als sie das Essener Präsidium verließen, schien es Sandra noch wahrscheinlicher als zuvor, dass Kevin Klages hinter dem Anschlag steckte. Nur nützte ihnen das nichts, solange sie ihm nichts nachweisen konnten.
  »Ich würde gerne noch mit diesem Uli Deutschmann sprechen«, sagte Sandra. »Wenn der im Alleingang herausgefunden hat, wer hinter dem Anschlag steckte, dann weiß er vielleicht weitere Dinge, die er der Polizei nicht mitgeteilt hat.«
  Bellers schaute auf die Uhr. »In Ordnung. Das könnten wir gerade noch schaffen.«
  Er brachte die Adresse des Mannes in Erfahrung, und Sandra lotste ihn dorthin.
  Das Haus, in dem die Deutschmanns wohnten, hatte seine besseren Tage bereits hinter sich. Die ganze Fassade war dunkelgrau, nur unter den Fensterbänken war die ursprüngliche, beige-gelbe Farbe noch zu sehen. An einer Hausecke sah man in einer Nische einen steinernen Ritter zu Pferde, der eine Lanze im Arm hielt. Die gesamte Figur war durch Ruß und sauren Regen so geglättet, dass nur noch die Umrisse zu erkennen waren. Die Haustür war aus ehemals schönem, massivem Holz gefertigt, das nun jedoch Risse und Absplitterungen zeigte.
  Bellers klingelte bei Deutschmann, und kurz darauf hörten sie eine Männerstimme aus der Gegensprechanlage fragen: »Ja, bitte?« Im Hintergrund quengelte ein Kleinkind.
  »Herr Deutschmann?«, fragte Bellers.
  »Ja. Wer ist denn da?«
  »Bellers und Santori von der Kriminalpolizei Wuppertal. Können wir Sie kurz sprechen?«
  »Wuppertal? Wieso …? Fünfter Stock.«
  Der Türöffner schnarrte, und Bellers und Sandra machten sich an den langen Aufstieg nach oben. Sandra nahm erfreut zur Kenntnis, dass Bellers schon nach zwei Stockwerken zu schnaufen begann und sich immer schwerer am Geländer nach oben zog. Sie selbst war noch nicht mal warm geworden, als sie oben ankamen, und ihr Atem ging kaum schneller.
  Ein Mann von Mitte dreißig stand in der Wohnungstür und schaute ihnen entgegen. Sandra musste bei seinem Anblick an ein hartes, schweres Schwarzbrot denken. Er war extrem dünn, und seine Augen blickten aus so tiefen Höhlen heraus, als hätten sie sich darin versteckt und wollten sehen, ohne gesehen zu werden. Die Wangen waren so eingefallen, dass man von außen die Zahnreihen erkennen konnte, die Hände waren wie die eines Skeletts, über das man eine dünne Haut gezogen hatte. Trotzdem wirkte er nicht schwach oder müde. Stattdessen schien in ihm ein Feuer zu lodern, das ihn von innen her auffraß.
  An sein Hosenbein klammerte sich ein kleiner Junge von vielleicht zwei Jahren. Er war das Gegenteil seines Vaters: strohblonde Haare, ein helles, offenes Gesicht und Babyspeck überall dort, wo er hingehörte.
  Seltsamerweise trugen beide alberne, bunte Hütchen auf dem Kopf.
  »Hallo. Kommen Sie rein«, begrüßte Deutschmann die Ermittler. Er führte sie in ein Wohn- und Esszimmer, das hell und freundlich wirkte. Der Boden war mit Spielsachen bedeckt, auf dem Tisch stand eine bunte Torte mit einem Pinguin aus Marzipan in der Mitte. Daneben ein Holzkranz mit zwei brennenden Kerzen.
  »Fabian hat heute Geburtstag«, erklärte der Mann und strich seinem Sohn, der wie ein drittes Bein mit ihm mitgelaufen war, über die Haare.
  »Ist das wahr?«, fragte Bellers. »Und wie alt bist du geworden? Bestimmt fünf, oder?«
  Sandra schaute ihn überrascht an. Die zwei brennenden Kerzen auf dem Tisch, und die Tatsache, dass der Junge seinem Vater gerade bis zum Oberschenkel reichte, waren doch wohl Hinweis genug ... Dann sah sie, dass er den Kleinen nur aus der Reserve locken wollte. Mit Erfolg. Der Junge schüttelte heftig den Kopf und sagte: »Wei!« Er unterstrich seine Aussage, indem er die Hand hob und zwei seiner kleinen, runden Fingern abspreizte. Es dauerte eine Weile, bis er die Finger sortiert hatte, und er musste die andere Hand zu Hilfe nehmen.
  »Zwei? Das kann ich ja gar nicht glauben! Du bist doch schon so groß!«, staunte Bellers und machte runde Augen.
  Der Kleine streckte sich von etwa 90 auf 91 Zentimeter und lächelte Bellers an. »Wei«, bestätigte er noch mal, und wieder sortierte er seine Finger.
  »Na, das ist ja ein Ding! Aber weißt du was? Wenn du heute zwei wirst, dann brauchst du auch zwei Geschenke, oder? Magst du Luftballons?« Bellers holte zwei dünne Gummihandschuhe, die er immer bei sich trug, aus seiner Jackentasche. Dann pustete er sie auf und verknotete sie. Der Kleine strahlte, als er sie in Empfang nahm, und spielte an den aufgeblasenen Fingern herum.
  Nun wandte sich Bellers dem Vater zu: »Passt es denn heute überhaupt? Wir können auch ein anderes Mal wiederkommen.«
  »Doch, es passt schon. Setzen Sie sich doch.« Uli Deutschmann wies auf die Stühle, die um den Tisch standen. Sandra musste erst eine Marzipan-Eisscholle wegwischen, bevor sie sich setzen konnte.
  »Worum geht’s?«, fragte Deutschmann. »Doch wohl nicht um meine Frau. Der Fall wurde schon vor Monaten zu den Akten gelegt.«
  »Was uns sehr leid tut. Sie können uns glauben, dass es uns nicht gefällt, einen Fall wie den Ihrer Frau nicht aufklären zu können.«
  Deutschmann nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. »Mag sein.«
  »Aber wir sind heute wegen eines anderen Falls hier. Die Autobombe in Wuppertal. Sie werden den Aufruhr mitbekommen haben.«
  Deutschmann beugte sich nach hinten und verschränkte die Arme. »Natürlich. Und deswegen sind Sie hier?«
  »Der Sprengstoff war der gleiche, der damals hier in Essen verwendet worden war. Wir gehen also davon aus ...«
  »Dass schon wieder Klages hinter der Sache steckt«, führte Deutschmann den Satz zu Ende.
  »Es ist zumindest nicht auszuschließen. So wie es aussieht, hatte eines der Opfer mit Drogen zu tun. Jedenfalls haben wir größere Mengen Heroin und Kokain in dessen Wohnung gefunden.«
  »Verstehe. Ja, das passt. Und was wollen Sie von mir?«
  »Hören, ob Sie uns weiterhelfen können. Wie wir erfahren haben, haben Sie nach dem Tod Ihrer Frau eigene Ermittlungen angestellt. Sozusagen.«
  »Nicht sozusagen. Ich habe ermittelt. Und zwar mit mehr Erfolg als die Polizei, wenn ich das erwähnen darf.«
  »Wir haben uns gefragt, ob Sie vielleicht noch etwas wissen, das uns weiterhelfen könnte«, sagte Sandra.
  Der Mann schaute zu seinem Sohn, der ganz versunken die Finger der aufgeblasenen Handschuhe nach innen stülpte und zuschaute, wie sie wieder nach außen ploppten.
  »Was würde Ihnen denn weiterhelfen?«, fragte er dann.
  »Eigentlich alles, was Sie über Klages wissen. Oder über andere, die mit dem Fall in Verbindung standen.«
  Uli Deutschmann goss sich eine Tasse Kaffee ein, bot ihnen aber keinen an. Sandra fiel auf, dass außer seinem und dem Gedeck des Kindes noch ein drittes Gedeck auf dem Tisch stand. Deutschmann bemerkte ihren Blick.
  »Das ist für meine Frau«, sagte er. »Wenigstens an Fabians Geburtstag soll sie mit dabei sein. Irgendwie.«
  Sandra nickte. Das war unglaublich traurig.
  »Was ich über Klages weiß«, begann der Mann dann. »Das habe ich damals alles weitergegeben. Ich habe nichts zurückgehalten. Schließlich wollte ich doch, dass er für seine Tat zur Verantwortung gezogen wird.«
  »Erzählen Sie doch noch mal, was Sie wissen«, bat Sandra. »Wenn Sie sich erinnern.«
  Deutschmann verzog den Mund. »Wenn ich mich erinnere? Ich werde mich immer erinnern. Ich bin mit Klages auf immer verbunden, ob ich will oder nicht. Er ist derjenige, der meinem Sohn die Mutter genommen hat. Und mir die Frau.« Bei den letzten Worten wurde seine Stimme leiser. »Es war ihm völlig egal, wer da mit im Auto saß. Er ist absolut skrupellos. Und sein Handlanger auch.«
  »Wen meinen Sie mit Handlanger?«
  »Na, seinen Killer. Der seit Jahren für ihn die Drecksarbeit macht. Klages selbst war natürlich verreist, als das Auto mit meiner Frau in die Luft flog. Sein Killer hat den Job für ihn erledigt. Es war übrigens nicht das erste Mal, dass Unbeteiligte getötet wurden.«
  Sandra sah auf. »Sondern?«, fragte sie.
  »In der Wuppertaler Drogenszene spricht man von mehreren Morden. Bei denen nicht immer nur diejenigen ums Leben kamen, die Klages loswerden wollte. Sondern eben auch Menschen, die sich zufällig gerade in der Nähe aufhielten.«
  »Na ja«, meinte Bellers. »Was Drogenkranke so erzählen ...«
  »Natürlich habe ich auch nicht alles einfach naiv geglaubt«, unterbrach ihn Deutschmann. »Ich habe an die hundert Menschen befragt, viele von ihnen mehrfach. Und dann habe ich versucht, die Spreu vom Weizen zu trennen. Vor allem habe ich auf Geschichten geachtet, die sich wiederholten, und die wenigstens zum Teil nachzuweisen waren. Ich bin schließlich bei acht Mordanschlägen mit 12 Toten gelandet.« Er schaute Bellers und Sandra durchdringend an. »Oder, seit Montag, bei neun Anschlägen und 15 Toten.«
  Einen Moment sagte niemand etwas. Sandra schaute auf den Kleinen, ob der vielleicht das Gespräch über Mordanschläge und Tote verfolgte und gleich weinen würde. Aber der Junge war vollkommen in sein Spiel mit den Handschuhen vertieft.
  Sandra fragte Deutschmann: »Sagt Ihnen der Name Dino Lambardo etwas? Oder Dieter Lamprecht?«
  Uli Deutschmann zögerte kurz, dann schüttelte er den Kopf.
  »Wie ist es mit Maria Abendroth und Marvin Degenhardt?«
  »Auch nicht.«
  »Haben Sie damals etwas über diesen Auftragsmörder herausgefunden? Irgendwelche Hinweise?«
  »Ja. Ich habe sogar eine Frau gefunden, die ihn kannte.«
  Sandra und Bellers machten große Augen.
  »Wer ist die Frau?«
  »Eine Drogenabhängige aus Wuppertal. Sie bekam seit Jahren ihren Stoff von Klages beziehungsweise von seinen Leuten. Außerdem war sie über längere Zeit hinweg eine von Klages’ Geliebten. Sie hatte mehrmals jemanden gesehen, von dem sie glaubte, dass es der Killer war.«
  »Mehr wusste sie nicht?«
  Deutschmann verzog das Gesicht. »Als ich das nächste Mal mit ihr sprechen wollte, war sie tot. Überdosis.«
  Sandra kam eine Frage in den Sinn, wusste aber nicht, wie sie sie stellen sollte.
  Deutschmann übernahm das für sie. »Falls Sie sich fragen, ob ich beobachtet wurde und ob sie wegen mir getötet wurde, so lautet die Antwort: vermutlich. Ich hatte sie bei den bisherigen 12 Toten bereits mitgezählt.«
  »Wie kommen Sie darauf?«
  »Kurz nach ihrem Tod bekam ich einen Brief. Darin war ein Foto meines Sohnes. Es war erst einen Tag zuvor aufgenommen worden, an seinem ersten Geburtstag. Daneben war eine Todesanzeige mit seinem Todesdatum, eine Woche nach seinem Geburtstag. Darunter stand: Das wollen wir doch alle nicht. Halt dich aus der Sache raus.«
  »Haben Sie das der Polizei gezeigt?«
  »Na klar. Aber Klages war nichts nachzuweisen. Wieder mal.«
  »Und Sie? Haben Sie sich rausgehalten?«, fragte Sandra.
  Deutschmann schaute sie an. »Mein Sohn lebt noch, wie Sie sehen.«


 Kapitel 22

  Auf dem Weg nach Hause ließ sich Sandra noch mal durch den Kopf gehen, was sie von Deutschmann über dessen Frau erfahren hatten. Sie war als freie Journalistin recht erfolgreich gewesen. Ihr Geld hatte sie hauptsächlich mit Kolumnen und kleineren Artikeln über aktuelle Themen verdient. Sie war aber zusätzlich immer mit Reportagen zu Themen beschäftigt gewesen, die ihr wirklich am Herzen lagen, und an denen sie mehrere Monate gearbeitet hatte. Schon zwei Mal hatte sie Preise für ihre Beiträge gewonnen, einmal für einen Bericht über das Leben und Leiden in deutschen Kinderheimen in den fünfziger bis siebziger Jahren. Und einmal für einen Artikel über die Machenschaften im deutschen Musikbetrieb.
  Deutschmann selbst war Lehrer, war aber seit dem Tod seiner Frau nicht mehr berufstätig gewesen. Er war noch immer arbeitsunfähig.
  Kurz vor Wuppertal räusperte sich Sandra: »Es ist zum Verrücktwerden. Es muss doch möglich sein, einen solchen Menschen hinter Gitter zu bringen.«
  »Sie reden von Klages?«
  »Natürlich. An ihn selbst ist ja offenbar nicht heranzukommen. Also müssten wir seinen Auftragskiller finden und ihn zu einer Aussage bewegen. Und das alles, bevor Klages ihn tötet oder töten lässt.«
  »Ihre Aussage strotzt geradezu von unbewiesenen oder unwahrscheinlichen Annahmen«, entgegnete Bellers. »Wie sollen wir diesen Killer finden? Warum sollte er aussagen, wenn er sich damit selbst belastet? Vor allem aber: Warum gehen Sie einfach so davon aus, dass es diesen Killer überhaupt gibt? Nur weil Deutschmann es gesagt hat?«
  »Er hat sich immerhin lange mit dem Fall beschäftigt und ...«
  »Das hat sich die Polizei auch. Und sie hat keine Beweise für Klages’ Täterschaft und einen eventuell angeheuerten Killer gefunden.«
  »Aber wenn doch zufällig immer wieder Menschen getötet werden, die Klages im Weg sind, und wenn Klages gerade dann zufällig immer im Ausland weilt, drängt sich schon ein gewisser Verdacht auf.« Sandra merkte, dass ihre Stimme belegt klang.
  »Aber eben nur der Verdacht. Sie sind immer so vorschnell mit Ihren Schlussfolgerungen. Die Tatsache, dass jemand eben nicht vor Ort war, als eine Straftat begangen wurde, beweist ja wohl nicht, dass diese Person hinter der Tat steckt. Und selbst wenn doch: Woher wollen Sie wissen, dass es nur ein Killer war? Vielleicht war es jedes Mal ein anderer, der ... Weinen Sie?«
  Sandra hatte angestrengt aus dem Fenster gestarrt. Jetzt kramte sie in ihrer Hosentasche nach einem Taschentuch. »Natürlich nicht«, brachte sie mühsam heraus. »Ich muss nur ... Können Sie mal kurz anhalten?«
  »Wir sind auf der Autobahn. Und gleich in Wuppertal.«
  »Trotzdem.«
  Bellers schwieg, fuhr aber am nächsten Rastplatz raus. Kaum stand sein Wagen, sprang Sandra hinaus und ging auf dem Grünstreifen in Richtung der Büsche, zwischen denen sich mit Sicherheit schon Tausende von Menschen erleichtert hatten. Angestrengt versuchte sie, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen. Mit mäßigem Erfolg. Sie gestattete sich ein paar lautlose Schluchzer, dann raffte sie die Schultern, wischte sich übers Gesicht und fasste einen Entschluss: Sie würde mit diesem Menschen nicht länger zusammenarbeiten. Noch heute würde sie Fladerer darauf ansprechen.
  Sandra kehrte zu Bellers zurück, murmelte etwas von »leichtem Asthma«, dann fuhren sie schweigend zum Präsidium.
  Bei der Abendbesprechung erzählten sie von den Gesprächen mit den Kollegen aus Essen und mit Uli Deutschmann.
  »Der hat wohl nicht zufällig Interesse, bei uns einzusteigen?«, fragte Bernd Bongarz, als Sandra erzählte, was der Mann alles herausgefunden hatte.
  »Höchstens wenn es dabei um Klages und seinen Killer ginge. An anderen Dingen hat er, glaube ich, generell kein Interesse mehr.«
  »Doch. An seinem Sohn«, warf Bellers ein.
  »Das stimmt.«
  »Gut. Bellers und Santori, Sie bleiben weiter an Klages und seinem Killer dran, wenn es diesen tatsächlich gibt«, sagte Fladerer. »Am besten setzen Sie sich mit der Drogenfahndung in Verbindung und schauen, was Sie über Klages und seine Kontakte finden. Wenn dieser Uli Deutschmann jemanden aufstöbern kann, der Klages’ mutmaßlichen Killer kannte, dann können wir das hoffentlich auch. Hellweg und Schweizer, Sie helfen dabei. Es gibt vermutlich Hunderte von Junkies und Kleindealern zu befragen. Gibt’s was Neues über Dieter Lamprecht?«
  Michael Schweizer berichtete über Lamprechts Geschäfte, die sehr gut liefen. Er hatte zwar eine Menge Geld von seinen Eltern geerbt, aber er war trotzdem nicht von Beruf Sohn geblieben, sondern hatte sein Vermögen weiter vergrößert. Was in erster Linie an den Master Stars lag, die das Geld nur so in die Agentur strömen ließen.
  Bellers berichtete von den Vergewaltigungen unter Einsatz von K.-O.-Tropfen.
  »Sieh mal einer an«, nickte Fladerer. »Im Körper von Maria Abendroth hat Peter Hahn tatsächlich Abbauprodukte von Rohypnol gefunden. Er hat schon überlegt, ob sie das Zeug gewohnheitsmäßig nimmt, hat aber keine Hinweise darauf gefunden. Und es passt ja auch nicht zu ihr, so wie sie von ihrem Vater beschrieben wird.«
  »Wobei nicht alle Eltern ihre Kinder mit der nötigen Objektivität beschreiben können«, warf Bellers ein.
  »Du musst es ja wissen«, grinste Lukas Mann, und erntete einen bitterbösen Blick von Bellers.
  »Wie auch immer. Dieser Sache sollten wir weiter nachgehen«, bestimmte Fladerer. »Schweizer, überprüfen Sie bitte, ob irgendwelche Anzeigen gegen Lamprecht vorliegen. Wegen Vergewaltigung unter Einfluss von K.-O.-Tropfen.«
  »Das muss wohl so sein«, warf Sandra ein. »Es haben sich sogar einige Frauen zusammengetan, denen das Gleiche passiert war. Womens together nennen die sich. Sie haben ...«
  »Sie haben jedenfalls schon mal keine Ahnung von Englisch«, unterbrach Schweizer. »Es heißt nicht womens. Das ist ein Verb mit einem unregelmäßig gebildeten Plural und ...«
  »Es ist kein Verb, sondern ein Nomen«, unterbrach nun wiederum Sandra seine Ausführungen.
  »Wenn wir das Grammatische geklärt haben, könnten wir vielleicht mit dem Inhaltlichen fortfahren?«, schaltete sich Fladerer ein, und wieder einmal verschwanden seine Augen fast hinter den fleischigen Backen, als er grinste.
  »Natürlich«, fuhr Sandra fort. »Also, diese Frauen haben sich wohl zusammengetan, um sich gegenseitig zu unterstützen. Einige von ihnen haben tatsächlich Lamprecht angezeigt. Allerdings ohne Erfolg.«
  »Wissen wir sonst etwas über die Aktivitäten dieser Damen? Zum Beispiel, ob sie gerne mal eine Autobombe zünden?«, fragte Lukas Mann und grinste in die Runde.
  Aber selbst Imke rollte mit den Augen. »Wirklich sehr lustig, Lukas!«
  »Bis jetzt wissen wir nichts«, entgegnete Bellers. »Ich habe allerdings am Tag nach dem Anschlag einen Blumenstrauß mit einer Karte vor Lamprechts Haus gefunden. Auf der Karte stand: Wir tanzen auf deinem Grab.«
  »In tiefer Trauer sind sie also schon mal nicht«, meinte Lukas.
  »Wer will es ihnen verdenken?«, sagte Imke.
  Fladerer räusperte sich: »Schweizer, überprüfen Sie bitte, was Sie über diese Gruppe finden können. Und wenn Sie schon dabei sind, schauen Sie auch gleich nach diesem ... diesem Dings aus Essen.«
  »Ludger Friedrich«, warf Sandra ein.
  »Genau. Da die beiden Fälle offensichtlich zusammenhängen, könnte sich eine ganz neue Ermittlungsrichtung ergeben, wenn dieser Friedrich ähnliche sexuelle Gewohnheiten zeigen würde wie Lamprecht.«
  »Und was hätte Klages dann damit zu tun?«, fragte Schweizer. »Immer vorausgesetzt, er steckt hinter den Anschlägen.«
  »Das weiß ich auch nicht«, gab Fladerer zu. »Santori und Bellers, Sie möchte ich bitten, die Frauen aus dieser Gruppe aufzusuchen, sobald Schweizer Namen und Adressen nennen kann. Möglichst noch, bevor Sie sich im Drogenmilieu umschauen.« Jetzt wandte er sich an Bongarz und Mann. »Was haben Sie über Marvin Degenhardt und seine Nazi-Genossen zu berichten?«
  »Doch nicht Genossen! Das sind Kameraden!«, entgegnete Bongarz.
  »Oh, Entschuldigung«, grinste Fladerer. »Also?«
  »Dieser Degenhardt war ein hohes Tier in der rechtsradikalen Szene«, begann Bongarz.
  »Was vermutlich daran lag, dass sein IQ höher als Null war. Wenn auch nur geringfügig«, warf Lukas ein.
  »Jedenfalls gibt es feindschaftliche Beziehungen zu anderen rechtsradikalen Gruppierungen beziehungsweise Kameradschaften. Natürlich auch zu linksradikalen Gruppen. Und zu normal-linken. Und zu religiösen. Und zu Gruppen, in denen sich Menschen mit Migrationshintergrund zusammentun. Und zu ...«
  »Vielleicht geht es schneller, wenn Sie aufzählen, mit wem keine Feindschaft bestand«, unterbrach Fladerer.
  »Das ist tatsächlich schneller erledigt: Mit ihrer eigenen Gruppe. Den Freien Männern Deutschlands.«
  »Mit der Betonung auf ›Männer‹?«, erkundigte sich Imke.
  »So ist es. Die meisten Mitglieder scheinen tatsächlich männliche Single zu sein und ganz und gar in dieser und für diese Gruppe zu leben. Das ist wie eine Sekte: Sie haben nur noch Kontakt zu anderen Gruppenmitgliedern, sie arbeiten für die Gruppe, sie ...«
  »Mit anderen Worten, sie sind Loser, die es unter normalen Umständen nicht bringen?«, warf Sandra ein. »Die weder einen Job noch eine Frau finden?«
  »So könnte man es zusammenfassen«, lächelte Bongarz. »Wobei wir den einen oder anderen kennengelernt haben, der doch eine Frau oder Freundin hat. Die dürfen dann für ihre heldenhaften Kämpfer die Wäsche waschen und das Essen kochen.«
  »Oh Mann!«, stieß Sandra aus, und Fladerer schaute sie belustigt an.
  Dann fragte er: »Sie sind also echte Sympathieträger, wenn ich richtig verstehe. Aber kommen sie oder eine der mit ihnen verfeindeten Gruppen für einen Sprengstoffanschlag infrage?«
  »Grundsätzlich kommen sie für jede gewalttätige Sache infrage«, antwortete Bongarz. »Aber diese Sprengstoffgeschichte erforderte meiner Meinung nach zu viel Planung. Das traue ich denen nicht zu.«
  »Auf andere, zum Beispiel religiöse Gruppen, gibt es ja nach wie vor keinerlei Hinweise.«
  »Außerdem ist da die Sache mit dem Sprengstoff«, erinnerte Sandra. »Wir sollten doch auf jeden Fall davon ausgehen, dass derjenige, der Lamprecht getötet hat, auch diesen Friedrich in Essen auf dem Gewissen hat.«
  »Das ist aber nicht bewiesen. Wir ...«, begann Bellers.
  »Aber es ist so wahrscheinlich, dass wir vorerst davon ausgehen«, schnitt ihm Fladerer das Wort ab. Sandra erneuerte innerlich ihren Vorsatz, nicht länger mit Bellers zusammenarbeiten zu wollen. »Frau Oberrath, was gibt es Neues von der KTU?«
  »Wir haben Lamprechts Haus in der Eifel von innen nach außen gewendet und haben insgesamt ... Moment ...« Sie zog ein Blatt aus ihrem Rucksack. »Insgesamt 47 Pfund Heroin und 68 Pfund Kokain gefunden.«
  Lukas Mann pfiff laut. »Donnerwetter.«
  »Genau. Donnerwetter. Lamprecht scheint sich ziemlich sicher gefühlt zu haben, jedenfalls lag das Zeug mehr oder weniger frei herum. Ich habe noch nie so schlecht versteckte Drogen gesehen.«
  »Warum auch nicht? Wer kommt schon in die Eifel?«, meinte Lukas Mann.
  »Seltsamerweise gaben die Nachbarn an, dass auch Dieter Lamprecht nicht in die Eifel komme. Das Haus stehe eigentlich permanent leer, seit Lamprechts Vater gestorben ist. Der war wohl der Einzige, der dort immer mal ein paar Tage verbracht hat.«
  »Na, mindestens einmal war der Sohn ja offenbar doch da«, entgegnete Schweizer.
  »Wenn nicht jemand anderes die Drogen dort versteckt hat«, wandte Bellers ein.
  »Wer denn? Etwa der Gärtner? Oder sein Söhnchen?«
  Bellers zuckte mit den Achseln.
  »Sonst noch was von der KTU?«, fragte Fladerer.
  Petra Oberrath schüttelte den Kopf. »Jedenfalls nichts Wichtiges.«
  »Und sonst? Gibt es etwas Neues von Abendroth?«
  Bellers räusperte sich. »Die letzte Information aus der Klinik lautete, dass er nicht lebensgefährlich verletzt, aber heute noch nicht vernehmungsfähig ist. Wir sollen uns morgen wieder mit ihnen in Verbindung setzen.«
  Fladerer nickte. »Wir sollten ihn fragen, ob wir uns mal im Zimmer seiner Tochter umschauen dürfen.«
  Noch ehe Sandra sich stoppen konnte, platzte sie bereits heraus: »Das haben wir schon getan. Und wir haben dies hier entdeckt.« Sie kramte in ihrer Hosentasche und sah, wie Bellers Augen Blitze schossen. Im selben Moment wurde ihr bewusst, was sie hier gerade tat. Aber nun war es zu spät. »Also, ich habe das entdeckt«, sagte sie kläglich, als sie die inzwischen reichlich zerknitterte Karte auf den Tisch legte. Wenigstens steckte sie in einem Beweismittelbeutel. Jedenfalls zur Hälfte, der Beutel war nämlich nicht verschlossen gewesen.
  »Das glaub ich jetzt nicht«, stieß Imke hervor. »Trägt die ein Beweisstück einfach so in der Hosentasche herum.«
  Sandra zog den Kopf ein. Nicht jetzt auch noch das. Nicht nach dem, was gerade mit Bellers im Auto geschehen war.
  »Was ist das überhaupt?«, fragte Lukas Mann.
  »Eine Visitenkarte. Von Lambardo«, murmelte Sandra.
  »Mit einer Botschaft, wie ich sehe«, sagte Fladerer und dreht die Karte hin und her. »Lambardo lädt Maria ein, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Nun denn. Gleich als Erstes morgen früh bringen Sie das in Ordnung. Sprechen Sie mit Abendroth und lassen Sie sich sein Einverständnis geben, sich im Zimmer seiner Tochter umzuschauen. Am besten schriftlich.«
  Sandra nickte.
  »Und Sie schauen bitte, ob Sie hier noch etwas retten können«, fuhr Fladerer fort und schob Petra Oberrath die halb eingetütete Visitenkarte über den Tisch. »Nehmen Sie auf jeden Fall der Kollegin Santori Fingerabdrücke ab. Ich nehme stark an, dass wir diese ebenfalls auf der Karte finden werden.«
  Das nahm Sandra auch an, also zog sie bloß den Kopf ein.
  »Stammt die Karte denn wirklich von Lamprecht?«, wollte Lukas Mann wissen.
  Sandra räusperte sich. »Ja und nein. Es ist eine seiner üblichen Karten, das schon. Aber als Maria Abendroth unangemeldet in der Agentur auftauchte, hat sie erzählt, dass der Mann, der ihr die Karte gegeben hatte, anders ausgesehen habe als Lamprecht. Und Sonja Kluge bestätigte, die Schrift auf der Karte sei nicht die ihres Chefs gewesen.«
  »Also gut«, ergriff Fladerer wieder das Wort. »Zum weiteren Vorgehen: Bongarz und Mann bleiben bitte noch einen Tag an Degenhardt und seinen Feinden dran. Wenn sich weiter nichts ergibt, lassen wir die Spur vorerst fallen. Die anderen konzentrieren sich auf Klages und auf das Drogenmilieu. Außerdem auf diese Selbsthilfegruppe. Ich habe schon mit der Drogenfahndung Kontakt aufgenommen, und die schauen, ob sie vorübergehend zwei Leute entbehren können, die uns unterstützen. Erst mal bringen sie uns morgen einen Zentner Akten vorbei. Und ich werde mir morgen Nachmittag Klages zur Brust nehmen. Santori und Bellers, Sie hätte ich gerne dabei. Die nächste Besprechung dann zur gleichen Zeit am gleichen Ort.«
  Nach und nach verließen alle den Raum, nur Sandra trödelte herum.
  »Wollen Sie etwas?«, fragte Fladerer, der noch einige Unterlagen zusammenpackte.
  »Ähm, ja. Ich wollte fragen, ob ich einem anderen Partner zugeteilt werden könnte. Herr Bellers und ich ... das läuft nicht gut.« Aber steck mich bloß nicht mit Imke Hellweg zusammen, fügte sie in Gedanken hinzu. Die schien ja auch etwas gegen sie zu haben. Auch wenn Sandra nicht wusste, was.
  »Was ist denn los?«
  »Er ... Wir sind einfach zu unterschiedlich.«
  »Das ist doch kein Problem. Das kann sogar für die Zusammenarbeit sehr vorteilhaft sein.«
  »Ja, schon. Aber ...«
  In diesem Moment kam Petra Oberrath zurück.
  »Ich wollte Sandra wegen der Fingerabdrücke mitnehmen. Störe ich?«
  »Frau Santori bittet mich gerade darum, nicht mehr mit Bellers zusammenarbeiten zu müssen.«
  Sandra schaute ihn an. Warum erzählte er das einfach weiter? Das war doch ein vertrauliches Gespräch!
  »Ich rede so offen mit Frau Oberrath, weil sie nicht direkt zum Team gehört und daher den Blick von außen hat«, erläuterte Fladerer, als habe er Sandras Gedanken gelesen. »Nun, was glauben Sie, Frau Oberrath?«
  »Ich glaube schon, dass die Zusammenarbeit zwischen den beiden schwierig ist«, antwortete Petra, nachdem sie bestimmt eine volle Minute nachgedacht hatte.
  »Also denken Sie, ich sollte dem Wunsch der Kollegin Santori nachgeben?«, vergewisserte sich Fladerer.
  »Nein.« Diese Antwort kam schneller.
  »Sehen Sie, das denke ich auch. Also dann bleiben Sie mit Bellers zusammen. Bis morgen.« Damit verließ er einfach den Raum und ließ Sandra stehen.


 Kapitel 23

  Auf dem Weg zur KTU sagte Sandra kein Wort. Auch als Petra ihr das Stempelkissen reichte, schwieg sie noch immer.
  »Was ist? Bist du beleidigt?«, fragte Petra schließlich.
  »Ph. Natürlich nicht.«
  »Natürlich doch. Was ist los?«
  »Das weißt du ganz genau.«
  »Also, Sandra. Ich bin ehrlich der Meinung, dass du und Bellers gut zusammenarbeiten könntet, wenn ihr euch erst zusammengerauft habt. Du tust ihm unrecht.«
  »Tue ich nicht. Du weißt doch gar nicht, wie er mich behandelt.«
  »Ich kann’s mir aber denken. Erinnert er dich an jemanden?«
  Vor Sandras Augen entstand ein Bild ihres Vaters. Sein verächtlicher Blick, wenn er ihr klargemacht hatte, dass sie zu überhaupt nichts tauge. Was praktisch täglich der Fall gewesen war. Und trotzdem!
  »Das hat doch damit gar nichts zu tun«, behauptete sie. »Der Mann macht mich wahnsinnig. Und wegen dir habe ich ihn jetzt noch länger am Hals. Schönen Dank auch.« Dann rauschte sie einfach davon, bis oben hin angefüllt mit Enttäuschung. Mit etwas selbstgerechter Enttäuschung, das musste sie zugeben, aber egal.
  Wenigstens Inge war auf ihrer Seite, als sie abends mit ihr telefonierte. Ihre Freundin und Mentorin erneuerte ihren Rat herauszufinden, was Bellers immer so Geheimnisvolles trieb, wenn er für Stunden verschwand, und dies dann gegen ihn zu verwenden.
  * * *
  Am nächsten Morgen war Sandra besonders früh im Präsidium, um sich über Klages’ polizeiliche Akte zu informieren. Diese gab nicht viel her, jedenfalls nicht, was nachweisbare Dinge anging. An Gerüchten und Spekulationen war dagegen kein Mangel. Auch in Wuppertal waren V-Leute und verdeckte Ermittler eingesetzt worden, aber Klages war einfach nicht zu fassen gewesen. Er schien ein ganzes Imperium an Personen aufgebaut zu haben, die für ihn Aufträge erledigten, Informationen besorgten, Tatsachen verschleierten. Und er hatte einen wirklich fähigen Anwalt sowie gewiefte Steuerberater, die zum Beispiel die Herkunft des vielen Geldes erklärten, mit dem Klages geradezu um sich warf. Die Abteilung Wirtschaftskriminalität hatte sich schon die Zähne ausgebissen an dem miteinander verwobenen, völlig undurchsichtigen Geflecht von Beratungs- und IT-Firmen und -Firmchen, über das Klages der alleinige und unangefochtene Herrscher war.
  Sandras Respekt vor Uli Deutschmanns Recherchen wuchs. Er war mit seinen Ermittlungen weiter gekommen als die Wuppertaler und auch die Essener Polizei. Und die Tatsache, dass er diesen Drohbrief bekommen hatte, deutete darauf hin, dass er nicht einfach nur Gerüchten aufgesessen, sondern auf der richtigen Spur gewesen war. Zu schade, dass er seine Ermittlungen hatte aufgeben müssen. Vielleicht hätte er tatsächlich den Killer aufgetrieben.
  Um zehn vor acht wurde Sandra vom Pförtner angerufen, dass ein Besucher für sie gekommen sei. Die Stimme des Pförtners war leicht schleppend. Offenbar hatte er sein erstes flüssiges Frühstück bereits hinter sich.
  »Wer ist es denn?«, fragte Sandra.
  »Ein Herr ... Wie war noch mal Ihr Name?«, fragte er mit gedämpfter Stimme, während er den Hörer zuhielt. Sandra sollte wohl nicht merken, dass er sich nicht mal mehr für zwanzig Sekunden einen Namen behalten konnte.
  »Ein Herr Abendroth«, sagte der Pförtner schließlich.
  »Ach? Der ist hier? Sagen Sie ihm, ich hole ihn ab.«
  Sandra ging nach unten und nahm Abendroth in Empfang. Der Mann schien um einige Zentimeter geschrumpft zu sein, war aber natürlich trotzdem noch so groß, dass Sandra den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm in die Augen schauen zu können. Jedenfalls in eines seiner Augen, das andere war zugeschwollen. Abendroth schaute unstet von hier nach da, blickte sie aber kein einziges Mal an. Auf der Stirn prangte ein großes Pflaster, an dessen unterem Rand ein dunkelblauer Fleck zu sehen war, der sich im Laufe der nächsten Tage vermutlich weiter nach unten bewegen, sich grün und braun verfärben und schließlich verblassen würde. Die ganze rechte Gesichtshälfte war geschwollen.
  »Herr Abendroth! Sind Sie schon aus der Klinik entlassen worden? Oder sind Sie einfach gegangen?«
  Abendroth schaute sie immer noch nicht an und sagte nichts. Also einfach gegangen, dachte Sandra.
  »Ich wollte mich erkundigen, ob Sie schon etwas wissen«, nuschelte Abendroth schließlich, mit seiner zur Hälfte geschwollenen Lippe.
  »Dann kommen Sie doch bitte mit nach oben in mein Büro.« Sandra ging voraus, und Abendroth folgte ihr. Aus dem Augenwinkel sah Sandra, dass er leicht schwankte und sich am Treppengeländer festklammerte.
  »Geht es Ihnen wirklich gut? Sie sehen aus, als hätten Sie besser noch länger in der Klinik bleiben sollen.«
  »Nein. Es ist alles in Ordnung«, antwortete der Mann tonlos.
  Nichts war in Ordnung, dachte Sandra. Und wie sollte es das auch sein, wo der Mann gerade den Menschen verloren hatte, der offenbar das Wichtigste in seinem Leben gewesen war.
  Im Büro schob sie Abendroth einen Stuhl vor ihren Schreibtisch, und der Mann ließ sich schwer darauf fallen. Er brauchte einige Sekunden, um wieder zu Atem zu kommen, während er mit seinem einen Auge im Büro umherblickte. Dann fragte er: »Also?«
  »Also was?«
  »Wissen Sie schon etwas?«
  Sandra wusste nicht, was sie sagen sollte. Ja, sie wussten schon eine ganze Menge. Oder sie vermuteten es wenigstens. Aber was davon konnte sie diesem Mann mitteilen?
  Sie atmete erleichtert auf, als in diesem Moment die Tür aufging und Bellers hereinkam. Ihr Kollege machte große Augen, als er den Besucher sah.
  »Herr Abendroth? Sind Sie etwa schon aus der Klinik entlassen worden?«, fragte auch er.
  »Ich möchte mich erkundigen, was Sie bisher herausgefunden haben«, wich Abendroth aus.
  »Verstehe.« Bellers holte sich einen weiteren Stuhl, und setzte sich seitlich von Sandras Schreibtisch, sodass er beide im Blick hatte. »Sie sind doch ganz bestimmt noch nicht entlassen worden«, sagte er dann mit einem Blick auf Abendroths Gesicht, das eine graugelbe Farbe angenommen hatte.
  Abendroth wich seinem Blick aus.
  »Sollten Sie nicht lieber wieder in die Klinik zurückgehen?«
  »Nein, sollte ich nicht. Ich möchte jetzt wissen, was Sie in Erfahrung gebracht haben.«
  Bellers zögerte einen Moment. Dann sagte er: »Wir können noch nichts mit Sicherheit sagen, ermitteln aber in verschiedene Richtungen.«
  »Und welche Richtungen wären das?«, fragte er.
  Bellers schaute Sandra Rat suchend an, die aber keinen Rat wusste und den Blick daher nicht erwiderte. Außerdem hatte sie aber sowieso keine Lust, Bellers anzuschauen.
  Bellers räusperte sich. »Nun, zum einen gab es vor zwanzig Monaten bereits einen Anschlag, bei dem die gleiche Art von Sprengstoff benutzt wurde. Es handelt sich um eigenhändig hergestellten Sprengstoff mit ...« Bellers brach ab, als der Mann zusammenzuckte und die Augen schloss. »Was ist? Geht es Ihnen nicht gut? Haben Sie Schmerzen?«
  »Es geht schon«, murmelte Abendroth.
  »Nun. Gut. Also. Jedenfalls müssen wir davon ausgehen, dass es Zusammenhänge zwischen dem Anschlag, bei dem Ihre Tochter ums Leben kam, und dem Anschlag vor zwanzig Monaten in Essen gibt.«
  »Welche Zusammenhänge?«
  »Das wissen wir noch nicht. Aber es könnte sein, dass es dabei um Drogen geht. Sowohl in Essen als auch hier in Wuppertal hatte eines der Opfer mit Drogen zu tun.«
  Abendroth nickte. Wie es Sandra vorkam, minutenlang. Dann fragte er: »Haben Sie Hinweise, wer hinter den Anschlägen steckt?«
  »Hinweise ja. Aber noch keine Beweise.«
  »Möchten Sie etwas trinken? Oder sich hinlegen?«, fragte Sandra, weil Abendroth zunehmend grau im Gesicht wurde. Zum Hinlegen hätte sie allerdings nur den Fußboden anbieten können.
  »Ein Glas Wasser bitte«, flüsterte Abendroth. Sandra verließ das Büro, froh darüber, dass nicht sie mit Abendroth alleine blieb. Was hätte sie tun sollen, wenn dieser Zwei-Meter-Mann vom Stuhl gekippt wäre?
  Als sie mit einem Glas Wasser zurückkehrte, saß Abendroth zum Glück immer noch so da wie zuvor und hatte wieder etwas Farbe im Gesicht. Er trank das Glas in einem Zug aus und atmete einige Male tief durch.
  »Ich habe Herrn Abendroth gefragt, ob wir uns im Zimmer seiner Tochter umsehen dürfen, und er hat nichts dagegen«, teilte Bellers Sandra mit.
  »Ah. Gut«, sagte Sandra. Das hätte sie doch glatt wieder vergessen.
  Abendroth sagte: »Ich werde jetzt gehen. Danke für Ihre Offenheit.«
  Für welche Offenheit, überlegte Sandra. So viel hatte Bellers dem Mann doch gar nicht mitgeteilt. Aber mehr hatte er scheinbar auch nicht wissen wollen.
  »Was machen Sie jetzt?«, fragte Bellers. »Gehen Sie zurück in die Klinik?«
  Abendroth schüttelte den Kopf. »Ich gehe nach Hause. Ausruhen kann ich mich auch dort.«
  »Haben Sie jemanden, der bei Ihnen bleiben könnte?«
  »Ich möchte alleine sein.«
  »Vielleicht wäre es sinnvoll, wenn Sie das nicht sind. Jedenfalls nicht heute. Sie haben eine Gehirnerschütterung.«
  »Mir geht’s gut«, murmelte der Mann, und wie um zu demonstrieren, dass das nicht stimmte, schwankte er beim Aufstehen.
  »Dürfen wir Sie wenigstens nach Hause bringen?«
  Abendroth schüttelte erneut den Kopf. »Ich nehme ein Taxi.« Grußlos verließ er das Büro.
  Bellers und Sandra sahen sich an.
  »Der wird sich doch wohl nichts antun?«, fragte Sandra.
  »Zu verdenken wär’s ihm nicht. Seine Tochter war seine ganze Familie. Jetzt hat er nichts mehr.« Bellers schaute nachdenklich vor sich hin. »Es gibt nichts Schlimmeres, als seine Familie zu verlieren«, murmelte er. Dann holte er tief Luft und sagte: »Na schön. Haben wir das erledigt. Jetzt können wir kurz die Akten über Klages und über die Wuppertaler Drogenszene sichten. Und später zu den Frauen gehen, die kein Englisch können.«


 Kapitel 24

  Sie luden die Akten auf einen Wagen und schoben ihn ins Büro von Imke und Schweizer. Dort arbeiteten sie sich zu viert schweigend durch mehrere Meter Papier.
  »Hier ist Klages’ Werdegang recht gut zusammengefasst.« Schweizer wies auf die Akte, die gerade vor ihm lag. »Kevin Klages wurde am 24. Oktober 1964 in Leipzig geboren, er ist also knapp 52 Jahre alt. Er ist der Sohn von Adolf Klages, geboren am 3. Juli 1928, und Maria Klages, geborene Reuter, geboren am 17. Januar 1938. Die Familie floh kurz nach seiner Geburt in den Westen, und Klages ging hier zur Schule, bis er sie nach elf Jahren ohne Schulabschluss abbrach.«
  »Bis dahin irgendwelche Auffälligkeiten?«
  »Und ob. Er war ein jugendlicher Intensivstraftäter und legte als Erwachsener noch eins drauf. Aber gerade, als er sämtlichen Kredit aufgebraucht hatte und beim nächsten Gesetzesverstoß eine empfindliche Strafe zu erwarten gehabt hätte, wurde er seriös. Das war vor knapp zwanzig Jahren. Er gründete eine Unternehmensberatungsfirma. Und dann noch eine. Und eine IT-Firma. Und immer so weiter. Und nebenbei entwickelte er, wie hier vermutet wird, seinen eigentlichen Handel.«
  »Drogen«, sagte Sandra.
  »So ist es. Vor 12 Jahren kam der damalige Drogenbaron Wuppertals gewaltsam ums Leben.«
  »Aber nicht durch eine Autobombe?«
  »Nein. Sein Haus wurde abgefackelt. Drei Tote. Seitdem ist Mister X die große Nummer im Wuppertaler Drogenmilieu.«
  »Oder genauer: Mister K«, warf Imke ein.
  »So ist es. Aber er ist bis heute straffrei geblieben.«
  »Wissen wir irgendetwas über einen Auftragskiller von Klages?«, fragte Sandra.
  »Nichts. Noch nicht mal, ob er wirklich einen hat. Vielleicht ist es auch jedes Mal ein anderer.«
  »Möglich«, stimmte Sandra zu. »Wobei die beiden letzten Anschläge sich so sehr gleichen, dass ich wenigstens in diesen beiden Fällen vom selben Täter ausgehen würde.«
  »Denke ich auch«, stimmte Schweizer zu. »Ich erstelle hier übrigens eine Liste mit Personen aus Drogenkreisen, die wir befragen sollten.« Er hob mehrere Blatt Papier hoch, auf denen erschütternd viele Namen standen. »Wir haben versucht, sie zu sortieren: Drogenabhängige, Kleindealer, und hier ist eine Liste mit Personen, die nachweislich Kontakt zu Klages haben. Sogenannte Geschäftsfreunde, Geliebte und Ähnliches.«
  Sandra nahm die Liste entgegen. »Oha, das sieht nach Arbeit aus.«
  »Am besten teilen wir uns auf und fangen gleich damit an«, meinte Bellers. »Jedenfalls gleich nachdem wir mit diesen Womens together gesprochen haben.«
  Sandra griff nach der Liste mit den Geschäftspartnern und Geliebten, aber Imke nahm sie ihr wieder ab.
  »So nicht. Du suchst dir jetzt nicht auch noch die besten heraus.«
  »Wieso? Warum die besten?«
  »Na, weil wir uns dann in stinkenden Löchern herumtreiben und mit halb toten Süchtigen reden müssen. Das kannst du schön selbst machen.«
  »Ja, gut. Von mir aus. Aber ...«
  »Das ist nur gerecht«, fuhr Imke fort. »Schließlich kannst du es dir heute Nachmittag mit Bellers zusammen gemütlich machen und Fladerer dabei zusehen, wie er Klages in die Mangel nimmt.«
  Also daher wehte der Wind, dachte Sandra. Imke war eifersüchtig. Obwohl Sandra nicht wusste weshalb. Sie hatte jedenfalls nicht vor, ihr ihre Stellung als Alphaweibchen des Rudels streitig zu machen. Aber wie auch immer: Imke war die nächste auf ihrer inneren Liste der Leute, mit denen sie nicht zusammenarbeiten wollte.
  »Schön, dann nehmen Bellers und ich die Drogenabhängigen.«
  Ihre Kollegen teilten die übrige Liste unter sich auf, und bevor sie sich trennten, fragte Bellers Schweizer: »Was ist mit dieser Frauen-Gruppe? Hast du was über sie gefunden?«
  »Einiges«, nickte Schweizer, und Sandra fragte sich, wann er das gemacht hatte. Entweder war er am vorigen Abend länger geblieben, oder er war heute sehr früh ins Präsidium gekommen. »Ich hab euch ein paar Sachen ausgedruckt.« Er reichte Bellers einige Blatt Papier. »Ich habe im Intranet insgesamt sechs Anzeigen gegen Lamprecht gefunden. Bei vier davon wurden die Ermittlungen eingestellt.«
  »Wie kann das sein?«, fragte Imke. »Wenn gleich sechs Frauen das Gleiche erzählen. Die werden sich ja wohl kaum alle untereinander abgesprochen haben, die gleiche Geschichte zu erzählen.«
  »So wurde es aber interpretiert«, entgegnete Schweizer. »Die Ermittler fanden es verdächtig, dass alle sechs Frauen sich untereinander kannten und der gleichen Gruppe angehörten. Eben diesen Womens together.«
  »Aber bei zwei von ihnen wurden trotzdem Anklagen erhoben?«, vergewisserte sich Bellers.
  »So ist es. Das waren die beiden ersten Frauen, die Anzeige erstatteten. Da war diese Selbsthilfegruppe den Ermittlern noch nicht bekannt. Lamprecht wurde übrigens beide Male freigesprochen, weil er behauptete, die Frauen hätten freiwillig mit ihm geschlafen, und weil somit Aussage gegen Aussage stand.«
  Imke schnaubte. »Wie viele Frauen hat Lamprecht denn vergewaltigt?«
  »Das kann ich nicht sagen. In der Selbsthilfegruppe gibt es wohl erheblich mehr Teilnehmerinnen als nur diese sechs. Und es sind ja wahrscheinlich nicht alle Opfer in diese Gruppe gegangen.«
  »Gibt es so etwas wie eine Leiterin?«, fragte Bellers.
  »Es gibt eine Ansprechpartnerin«, antwortete Schweizer und zog eines der Blätter aus dem Stapel. »Katja Schickler. 26 Jahre alt. Sie hat die Gruppe gegründet.«
  Bellers nickte. »Dann werden wir zuerst zu ihr gehen. Die Liste mit den Drogenkranken verschieben wir auf später.«
  Jawohl, mein Herr und Meister, dachte Sandra, sagte es aber nicht laut. Es würde auch so schlimm genug sein, mit Bellers über Stunden zusammen sein zu müssen.


 Kapitel 25

  Bevor sie jedoch zu Katja Schickler fuhren, machten sie einen Abstecher zu Abendroths Haus.
  Unterwegs fragte Bellers: »Was war denn mit Frau Hellweg?«
  »Was soll mit ihr sein?«
  »Ich hatte das Gefühl, dass Sie beide sich nicht gerade gut verstehen.«
  Sandra machte nur: »Hm.«
  »Es war, als wäre ein Rollladen vor Ihrem Gesicht heruntergerasselt, wenn Sie es genau wissen wollen«, fuhr Bellers fort.
  »An mir liegt es bestimmt nicht. Imke kann mich nicht leiden, so ist das.«
  Bellers schwieg einige Minuten. Erst als sie vor Abendroths Haus hielten, sagte er: »Denken Sie das nicht von Frau Hellweg. Sie mag ihre Probleme haben, aber mit Ihnen hat das nichts zu tun.«
  Wer’s glaubt, dachte Sandra.
  »Sie scheinen übrigens schnell zu glauben, dass andere etwas gegen Sie haben.«
  »Und wie kommen Sie jetzt darauf?«
  Bellers öffnete den Mund, zögerte dann und murmelte schließlich: »Nicht so wichtig.«
  Sandra folgte ihrem Kollegen zu Abendroths Haus. Was war das jetzt gewesen? Ein wenig Küchenpsychologie unter Kollegen?
  Abendroth öffnete ihnen die Tür und winkte sie einfach zum Treppenhaus durch. Dann verschwand er ins Wohnzimmer und ließ sie alleine nach oben gehen. Das war Sandra und Bellers natürlich nur recht. Sie hielten sich einige Minuten in Marias Zimmer auf, »fanden« dort die Visitenkarte, die inzwischen vermutlich schon längst von Petra Oberrath auf Fingerabdrücke und andere Spuren untersucht wurde, und gingen wieder nach unten. Als sie Abendroth von der Karte erzählten, nickte der nur teilnahmslos. Zum Glück wollte er die Karte nicht sehen.
  Dann machten sie sich auf den Weg zu der Ansprechpartnerin der Gruppe Womens together. Katja Schickler wohnte in einem kleinen Appartement in der Nordstadt. Drei große und nicht sehr schöne Wohnkomplexe, in denen Menschen wie in Bienenwaben nebeneinander lebten, standen um eine winzige Rasenfläche herum. Aber der Blick aus dem Wohnzimmerfenster ließ einen alles andere vergessen. Kilometerweit konnte man von hier aus die Stadt überblicken, bis sich der Blick an den gegenüberliegenden Bergen verlor.
  Katja Schickler war eine sehr große und sehr schlanke, junge Frau. Zu schlank. Sandra konnte die Knochen an Schultern und Hüften sehen, wie sie sich durch die Kleidung hindurch abzeichneten. Hose und Pullover waren für die Jahreszeit viel zu warm und für den dazugehörigen Körper viel zu groß.
  »Was wollen Sie?«, fragte sie, nachdem sie sich an einen Esstisch gesetzt hatten. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Die knochigen Finger spielten mit einer Tasse.
  »Wir möchten mit Ihnen über Dieter Lamprecht sprechen. Beziehungsweise Dino Lambardo, falls Sie ihn unter diesem Namen kennen«, sagte Bellers.
  Katja Schickler lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.
  »Sie wissen ja, dass er bei der Explosion einer Autobombe ums Leben gekommen ist.«
  Die junge Frau nickte. »Und um den Berliner Ex-Oberbürgermeister zu zitieren: ›Das ist auch gut so‹.« Sie schaute die Ermittler herausfordernd an.
  Bellers ließ sich nicht beirren. »Wie wir erfahren haben, haben Sie eine Gruppe gegründet. So etwas wie eine Selbsthilfegruppe. Womens together.«
  »Das ist richtig. Und es ist eine Selbsthilfegruppe. Nicht ›so etwas wie‹.«
  »Nun, wir würden gerne mehr darüber erfahren. Warum zum Beispiel dieser Name?«
  »Das ist was Internes«, murmelte Katja Schickler.
  »Inwiefern?«
  »Ach. Ist eigentlich Blödsinn.«
  »Erzählen Sie es trotzdem. Bitte«, forderte Sandra sie auf.
  »Also schön. Sie müssen wissen, dass Lamprecht nicht nur ein Arschloch, sondern auch ein Zyniker war. Besonders gerne lästerte er über blöde Leute. Und ganz besonders gerne über blöde Frauen. Was bei uns allen natürlich zu dem Reflex geführt hatte, ihm zu beweisen, dass wir schon mal nicht zu diesen blöden Frauen gehörten. Na ja.« Sie lachte freudlos. »Und damit wiederum bewiesen wir, dass wir es eben doch taten.«
  »Aber warum der Name?«
  »Das war Lamprechts Beispiel für blöde Frauen. Irgendwann hatte eine ihm wohl mal einen Songtext vorgestellt, in dem das Wort Womens vorkam. Seitdem war das für ihn quasi ein Synonym für Blödheit.«
  »Und gerade das haben Sie für Ihre Gruppe ausgewählt?«, wunderte sich Bellers.
  »Ja. Gerade das«, antwortete die junge Frau.
  Und Sandra verstand, was sie meinte. Es war ihr Ausdruck dafür, dass sie nie wieder versuchen würden, diesem Mann zu gefallen.
  »Was tun Sie denn so in Ihrer Gruppe?«
  »Was tut man wohl in einer Selbsthilfegruppe? Man hilft sich selbst. Untereinander. Nämlich dann, wenn einem sonst keiner hilft.« Die Frau verschränkte ihre Arme noch fester.
  Bellers schaute Hilfe suchend zu Sandra.
  »Wir wissen, dass Ihnen nicht geholfen wurde«, übernahm Sandra die Befragung. »Und wir bedauern das.«
  »Wer’s glaubt.«
  »Sie glauben es nicht?«
  »Nicht nach dem, was ich mit der Polizei erlebt habe. Und die anderen Frauen aus unserer Gruppe im Übrigen auch.«
  »Was haben Sie denn erlebt? Mit der Polizei, aber vor allem mit Lamprecht?«
  »Das interessiert Sie doch sowieso nicht.«
  »Doch. Das tut es.«
  Die Frau zögerte. Dann griff sie nach einer Schachtel Zigaretten und zündete sich eine an. Sie nahm einen so tiefen Zug, dass Sandra sich nicht gewundert hätte, wenn der Qualm an ihren Füßen wieder ausgetreten wäre. Schließlich begann sie zu erzählen: »Es war vor drei Jahren. Vor knapp drei Jahren, es war im September. Ich hatte mit meiner Band einen Auftritt in einer Musikkneipe gehabt, und Lambardo hat mich gehört. Nach unserem Auftritt hat er mich angesprochen, wie gut ihm unsere Musik gefallen habe, vor allem meine Stimme. Und ob ich kein Interesse hätte, ein paar Probeaufnahmen zu machen. Er könne mir weiterhelfen. Bla, bla. Und ich blöde Kuh bin ihm auf den Leim gegangen. Ich war so doof!«
  »Nein, waren Sie nicht«, widersprach Sandra.
  »Doch, war ich wohl. Ich hatte nämlich gleich ein blödes Gefühl und habe einfach nicht darauf gehört. Ich wollte so gerne groß rauskommen! Und da passte es mir natürlich nicht in den Kram, dass er vielleicht gar nicht an meiner Stimme, sondern an ganz anderen Dingen interessiert war. Also habe ich alles überhört und übersehen, obwohl dem fast schon der Sabber aus dem Mund gelaufen ist.«
  »Trotzdem sollten Sie sich keine Vorwürfe machen«, sagte Bellers. »Es ist doch ganz normal, dass man sich in einer solchen Situation Hoffnungen macht.«
  »Ach ja? Das haben Ihre Kollegen aber anders gesehen. Sobald die gehört haben, dass ich freiwillig zu Lambardo nach Hause gegangen bin, war für die der Fall klar.«
  »Inwiefern?«, fragte Sandra.
  »Insofern, dass ich versucht habe, mich nach oben zu schlafen. Und als das nicht geklappt hat, habe ich den armen Mann aus Rache angezeigt. Kennt man doch. Kommt schließlich millionenfach vor. Jedenfalls wenn man den Männern glaubt.«
  »Das sagen aber nicht alle Männer«, verteidigte sich Bellers.
  »Mag sein.« Die Frau nahm einen weiteren tiefen Zug.
  »Haben Sie keine Angst um Ihre Stimme?«, fragte Sandra und wies auf die Zigarette.
  Katja Schickler blickte auf ihre Hände und sagte: »Nein, ich habe keine Angst. Ich kann sowieso nicht mehr singen.«
  »Warum nicht?«
  Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Es geht einfach nicht.«
  Sandra nickte und fragte: »Können Sie uns erzählen, wie das mit Lambardo weiterging?«
  »Das habe ich doch schon Ihren Kollegen erzählt. Steht alles in der Akte. Falls die noch existiert und nicht als unwichtiger Blödsinn geschreddert wurde.«
  »Trotzdem. Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, bat Bellers.
  Es machte der jungen Frau etwas aus, das war deutlich zu sehen. Aber dann erzählte sie doch. »Er wollte, wie gesagt, Probeaufnahmen mit mir machen. Angeblich in seinem Studio zu Hause. Ha, ha. Abends natürlich. Weil er ja tagsüber keine Zeit hatte.« Sie brach ab und drückte die nur halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. Dann nahm sie eine neue aus der Packung und zündete sie an.
  »Und dann?«, fragte Sandra.
  »Als ich um acht zu ihm kam, war er schon im Bademantel. Angeblich, weil er gerade geduscht hatte. Und ich hab mir immer noch nichts dabei gedacht. Ich war so dumm!« Geradezu wütend zog sie an der Zigarette. Sie rauchte nicht aus Genuss. Auch nicht, weil sie süchtig war oder sich beruhigen wollte. Sandra hatte das Gefühl, sie rauchte, um sich selbst zu bestrafen.
  »Und dann bot er mir ein Glas Champagner an. Champagner! Damit kann man so ein naives Dummerchen wie mich natürlich schwer beeindrucken.« Wieder ein Zug an der Zigarette.
  »Frau Schickler, Sie waren weder dumm noch doof noch naiv«, sagte Bellers. »Bisher kommt mir Ihr Verhalten einfach ganz normal vor.«
  Die junge Frau schnaubte. »Finden Sie? Ich nicht. Aber egal, das Nächste, an das ich mich erinnere, ist, dass ich im Nordpark wieder aufgewacht bin. Mit Bisswunden an ... an mir, und mit Schmerzen überall.«
  »Was haben Sie dann gemacht?«
  »Wieder etwas Blödes. Ich habe mehrere Stunden geduscht. Und damit Spuren verwischt.«
  »Auch das ist völlig normal«, sagte Bellers. »Gut, es ist vielleicht nicht gerade hilfreich, das stimmt schon.«
  Katja Schickler winkte ab. »In meinem Fall war es eigentlich egal. Sie haben ganz tief in mir drin doch noch Sperma von Lambardo gefunden. Und die Abdrücke auf meiner Haut konnten seinem Gebiss zugeordnet werden.«
  »Ja, aber dann ...«, begann Bellers.
  »Nichts dann. Lambardo hat behauptet, ich hätte das alles so gewollt. Und als er mir dann leider, leider sagen musste, dass meine Stimme doch nicht gut genug für eine Sängerinnenkarriere sei, habe ich mich eben an ihm rächen wollen. Das leuchtete denen von der Polizei ungemein ein, und damit war der Fall erledigt. Die Ermittlungen wurden eingestellt.«
  »Was ist mit dem Medikament, das Lamprecht Ihnen gegeben hat? Hat man das noch nachweisen können?«, fragte Sandra.
  »Nein. Ich war nämlich so schlau, nicht nur stundenlang zu duschen. Ich habe auch noch bis zum nächsten Abend gewartet, bevor ich zur Polizei gegangen bin. Und die wiederum haben zwei weitere Tage verstreichen lassen, bevor sie mir Blut abgenommen haben. Da war dann nichts mehr festzustellen.«
  Eine Weile schwiegen alle. Dann räusperte sich Sandra: »Das tut mir sehr leid. Wirklich. Wurde denn gar nicht weiter ermittelt?«
  Katja Schickler schüttelte den Kopf.
  »Hat niemand Sonja Kluge befragt?«
  »Die nicht. Aber diesen Leibwächter haben sie befragt. Marvin Soundso. Der hat allerdings alles so bestätigt, wie Lamprecht es gesagt hatte.«
  Bellers schüttelte den Kopf.
  Sandra fragte: »Und den anderen Frauen ging es ähnlich?«
  »Ja. Fünf andere haben eine Anzeige gemacht. Fünf, von denen ich weiß, und die in unserer Gruppe sind. Möglicherweise waren es noch mehr. Bei zwei von ihnen kam es immerhin zu einer Anklage. Bei beiden endete die Verhandlung nach weniger als einem Tag mit einem Freispruch.«
  »Und bei allen anderen wurde das Ermittlungsverfahren eingestellt?«, vergewisserte sich Bellers.
  »So ist es.«
  »Und was genau machen Sie in Ihrer Gruppe?«, erkundigte sich Sandra.
  »Wir unterstützen uns. Emotional. Was anders bleibt uns ja nicht.«
  »Wie haben Sie die anderen eigentlich kennengelernt?«, wollte Bellers wissen.
  »Ich habe anfangs im Internet über mein Erlebnis berichtet. Ich wollte andere Frauen warnen. Sie sollten sich nicht mit Lambardo einlassen. Obwohl mir schon nach wenigen Wochen per einstweiliger Verfügung untersagt wurde, diese Anschuldigungen weiter zu verbreiten, hatten sich innerhalb dieser kurzen Zeit bereits über zwanzig Frauen gemeldet, denen das auch passiert war.«
  »Über zwanzig? Aber doch nicht alle mit Lambardo!«
  »Doch. Er war ein fleißiger Mann, wenn man so will. Und das waren ja nur diejenigen, die meine Warnungen gelesen hatten. Und die so mutig waren, Kontakt zu mir aufzunehmen. Wer weiß, wie viele es in Wahrheit sind.«
  Sandra schüttelte den Kopf. »Unglaublich!«, murmelte sie.
  »Ja, nicht wahr? Und deshalb dürfen Sie mir nicht übel nehmen, wenn mich Lambardos Tod nicht wirklich betroffen macht.«
  »Haben Sie ihn sich denn gewünscht? Oder eine der anderen Frauen aus Ihrer Gruppe?«, fragte Bellers.
  »Wollen Sie wissen, ob wir ihn umgebracht haben?«, fragte Katja Schickler zurück. »Ja, haben wir. Aber nur in Gedanken. Viele tausend Mal.«
  »Und es könnte nicht sein, dass eine der Frauen ...«
  »Hören Sie«, unterbrach Katja Schickler ihn. »Wenn es wirklich eine von uns gewesen wäre, dann hätten wir es anders gemacht. Wir hätten dafür gesorgt, dass nur er stirbt, und nicht noch zwei andere Personen. Und wir hätten ihm vor seinem Tod die Eier abgeschnitten.«


 Kapitel 26

  Zurück im Präsidium besorgte Sandra sich die Adressen einiger der Personen auf der Liste der Drogenabhängigen. Viele von ihnen hatten keinen festen Wohnsitz und würden demnach am ehesten am Elberfelder Bahnhof zu finden sein. Wenn sie überhaupt noch zu finden und nicht an einer Überdosis gestorben waren.
  Dann zog sie los zum Bahnhof und fragte sich bei denjenigen durch, die bereit waren, mit ihr zu reden. Endlich trieb sie eine Person von ihrer Liste auf. Ein junger Mann, Dominik Dobler, genannt Dodo. Er würde mit ihr sprechen, wenn sie ihm dafür einen Kaffee spendierte. Und wenn sie einen Fünfziger springen ließ. Sie gingen in die Innenstadt, in ein kleines Café, in dem Dodo einigermaßen sicher sein konnte, dass ihn niemand mit Sandra sah. Dort setzten sie sich an einen kleinen Tisch, direkt vor den Toiletten.
  »Also? Was willste wissen?«, fragte Dodo.
  Dodo war von Imke und Lukas Mann nicht nur als Abhängiger, sondern auch als Kleindealer eingeordnet worden. Sie musste also davon ausgehen, dass er nicht allzu bereitwillig Auskunft über Klages geben würde. Auch deshalb, weil er eine bereitwillige Auskunft vermutlich nicht überleben würde. Also fing sie ganz anders an. »Wir haben gehört, dass es einen Neuen auf dem Markt gibt.« So konnte sie vielleicht in Erfahrung bringen, ob Dieter Lamprecht alias Dino Lambardo tatsächlich den Fehler begangen hatte, sich in Klages’ Revier hineinzudrängen.
  »Und was hab ich damit zu tun?«, fragte Dodo.
  »Ich will nur wissen, ob du was davon gehört hast. Dass es einen Neuen gibt. So was spricht sich doch herum.«
  Dodo zuckte mit den Achseln. »Kann sein. Krieg ich noch ’nen Kaffee? Und ein Stück Kuchen?«
  »Bitte«, nickte Sandra und wartete, bis Dodo einen extragroßen Milchkaffee und ein Stück Käsesahnetorte bekommen hatte.
  »Also. Was ist jetzt mit dem Neuen?«, fragte sie dann, als Dodo heißhungrig den Kuchen verspeiste.
  »Was soll mit dem sein?«
  »Hast du ihn mal gesehen? Mit ihm gesprochen? Oder von ihm gehört?«
  Dodo nickte. »Gesehen und gesprochen.«
  »Ja?« Sandra riss die Augen auf. Damit hatte sie nicht gerechnet. »Und was war das für ein Typ? Oder war es eine Frau?«
  »Nö, ein Typ. Bot Stoff zu unglaublichen Preisen an.«
  »Unglaublich hoch?«
  »Nee. Unglaublich niedrig. Hab mich erst mal ordentlich eingedeckt.«
  Das durfte sein Chef aber nicht erfahren, dachte Sandra. »Wie sah er aus?«
  »Nicht besonders. So groß wie ich vielleicht. Also etwa 1,80 Meter. Und klapperdürr wie ’ne Leiche.«
  Das war in seinen Kreisen tatsächlich nichts Besonderes, stimmte Sandra innerlich zu. Aber es konnte jedenfalls nicht Lamprecht gewesen sein. Auf den Fotos in seiner Agentur hatte er ausgesehen, als würde er vor lauter Kraft aus der Hose platzen. Allerdings wäre Lamprecht wohl kaum selbst vor dem Bahnhof auf und ab gegangen und hätte Drogen angeboten.
  »Hast du erfahren, ob er auf eigene Rechnung gearbeitet hat?«, fragte sie.
  »Keine Ahnung.«
  »Weißt du, wo ich ihn finden kann?«
  »Nee. Ich hab ihn selbst schon lange nicht mehr gesehen. Mindestens zwei Wochen. Na, vielleicht hat er auf mich gehört.«
  »Inwiefern?«
  »Ich hab ihn gewarnt, er solle lieber aufpassen.«
  »Weswegen? Worauf aufpassen?«
  »Ist nicht so gesund, sich in Wuppertal mit Drogen breitzumachen.«
  »Ach? Warum denn nicht?«
  Dodo zuckte nur mit den Schultern und wischte mit dem Finger den Teller sauber.
  »Willst du noch einen Kuchen?«, fragte Sandra.
  »Klar.« Er bestellte ein weiteres Stück Käsesahnetorte und schaufelte mit unvermindertem Appetit den Kuchen in sich hinein.
  »Du hast gesagt, es sei nicht so gesund, in Wuppertal Drogen zu verkaufen. Was meinst du damit?«, fragte Sandra erneut.
  »Es ist auch nicht gesund, darüber zu reden.«
  »Alles was du sagst, bleibt unter uns«, versprach Sandra, nicht ganz wahrheitsgemäß.
  Der junge Mann zögerte. »Es gibt einen, dem das nicht passt.«
  »Und wen?«
  Dodo schüttelte nur den Kopf.
  »Machen wir es so: Ich nenne einen Namen, und du nickst, wenn es der richtige ist. Kevin Klages?«
  Dodo zögerte, dann nickte er ganz schnell mit dem Kopf.
  »Jetzt muss ich aber weg«, sagte er schließlich. »Und du sagst nichts?«
  »Nein. Kannst dich drauf verlassen.«
  Dodo nickte und schüttete den Rest seines Milchkaffees in sich hinein. Danach schlängelte er sich wie ein Aal nach draußen. Die 50 Euro hatte er vergessen.
  Sandra überlegte, was sie erfahren hatte. Es schien tatsächlich so zu sein, wie sie vermutet hatten: Dieter Lamprecht hatte versucht, im Wuppertaler Drogengeschäft Fuß zu fassen und hatte irgendeinen dünnen Mann - die ›Leiche‹ - als Drogenverkäufer angeheuert. Und Kevin Klages hatte ihm nachdrücklich klargemacht, dass er davon nichts hielt. So sah es jedenfalls aus.
  Wie sie es auch drehten und wendeten, sie landeten immer wieder bei Klages. Sandra war gespannt, wie die Vernehmung am Nachmittag laufen würde.


 Kapitel 27

  Sandra fand noch eine weitere Frau von ihrer Liste, erfuhr aber wenig Neues von ihr. Sie kaufte ihren Stoff immer bei einem der Unterhändler und wusste über Klages nicht viel zu erzählen. Der Grund, warum sie mit auf der Liste gelandet war, war der, dass sie drei oder vier Mal an sogenannten Partys teilgenommen hatte, bei denen Klages seinen diversen Geschäftspartnern neben Kaviar und Kokain auch Frauen angeboten hatte. Da diese Frau hier jedoch seit drei Jahren Crystal Meth konsumierte und ihr Gesicht daher von Geschwüren übersät war, war sie schon länger nicht mehr zu diesen Partys eingeladen worden. Wobei die Einladungen eher so ausgesehen hatten, dass die Frauen ohne groß gefragt zu werden in Autos gezerrt und an entlegene Orte verfrachtet wurden, wo sie so sehr mit Drogen abgefüllt wurden, dass sie offenbar nichts mehr mitbekamen. Anschließend wurden sie mit etlichen Gramm ihrer bevorzugten Droge in der Tasche wieder zurückgekarrt. Meist hatten sie mehrere Tage nicht mehr laufen können. Aber die gute Bezahlung sorgte dafür, dass sie alle den Mund hielten.
  Die Mittagspause verbrachte Sandra mit Petra Oberrath, die sich in der Kantine einfach zu ihr setzte. Sandra überlegte zwar, ob sie aufstehen und gehen sollte. Aber nachdem Petra ihr gesagt hatte, sie solle sich nicht einfallen lassen, die beleidigte Leberwurst zu spielen, ließ sie es lieber sein. Das gemeinsame Essen wurde dann sogar ganz schön, denn Petra überreichte ihr ein Bild, auf dem zwei große Kreise, aus denen vier Äste mit kleineren Kreisen wuchsen, zu sehen waren. Zwei der Äste ragten jeweils seitlich aus dem großen Kreis heraus, die beiden anderen zeigten nach unten. In den beiden großen Kreisen waren in recht willkürlicher Anordnung zwei Augen, eine Strichnase und ein riesiger, lachender Mund verteilt. Die beiden Figuren berührten sich an jeweils einem der beiden seitlich abstehenden Kreise.
  »Das hat dir Luise gemalt«, lächelte Petra. »Es zeigt dich und sie.«
  »Oh, danke!« Sandra schaute das Bild genau an. »Halten wir uns an den Händen?«
  »So ist es. Darauf kannst du dir jetzt wirklich was einbilden. Luise geht nicht eben verschwenderisch mit Nettigkeiten um. Um genau zu sein, kann sie ganz schön kratzbürstig sein. Und wenn ihr jemand nicht passt, bekommt er das auf jeden Fall ungeschminkt zu hören.«
  Sandra nickte gerührt. Sie griff nach einer Serviette und faltete einen Schwan. In den vielen Stunden allein als Teenager in ihrem Zimmer hatte sie sich unter anderem mit der Kunst des Origami beschäftigt. Manchmal faltete sie immer noch Tiere, wenn sie sich beruhigen wollte und gerade keinen Sport machen konnte oder wollte. Es machte ihren Kopf angenehm leer, wenn sie sich neue Faltmuster überlegte.
  »Meinst du, der würde Luise gefallen?«, fragte sie aus einem Impuls heraus und hielt Petra den Schwan hin.
  Da die Serviette zu weich war, war er ein wenig schlapp und ließ den Kopf hängen. Aber Petra nahm das Geschenk trotzdem strahlend entgegen.
  »Der ist schön. Da wird sie sich auf jeden Fall freuen. Aber du musst dem Schwan noch einen Namen geben. Luise akzeptiert kein Geschenk ohne Namen. Sogar wenn meine Mutter ihr einen selbst gestrickten Pullover schenkt, muss der vorher einen Namen bekommen.«
  »Hm. Welche Namen mag sie denn so?«
  »Am besten welche, die mit dem Geschenk etwas zu tun haben. Die Pullover heißen zum Beispiel Pulli, Rolli, Lovi oder so.«
  »Dann heißt das hier Schwänli. Geht das?«
  »Perfekt. Wie gesagt, sie wird sich freuen.«
  Am liebsten hätte Sandra noch länger mit Petra zusammengesessen und über Luise und den Rest der Familie gesprochen. Aber sie musste zu Fladerer, der um halb drei mit ihr und Bellers die Vernehmung von Kevin Klages vorbereiten wollte.
  Viel gab es allerdings nicht vorzubereiten. Es blieb dabei, dass ihrer Meinung nach Klages hinter dem Anschlag auf Lamprecht steckte. Auch Bellers hatte in seinen Gesprächen mit Klages’ Kontakten nichts weiter in Erfahrung gebracht, als dass er der Silberrücken im Wuppertaler Drogengeschäft war, und dass es lebensgefährlich war, ihm in die Quere zu kommen.
  Pünktlich um drei gingen sie in den Vernehmungsraum und mussten dann auf Klages und seinen Anwalt warten. Natürlich kam er nicht um drei, sondern erst um 15.22 Uhr.
  Kaum hatten er und sein Anwalt den Raum dann betreten, legte sein Anwalt auch schon los: »Ich möchte doch hoffen, Sie haben einen guten Grund, meinen Mandanten zu sich zu bestellen. Wieder mal, wie ich betonen möchte. Ihr Verhalten grenzt an Polizeiwillkür, und ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir Anzeige gegen Sie erheben werden, wenn sich erneut herausstellen sollte, dass Sie nichts als haltlose Vorwürfe gegen meinen Mandanten vorbringen ...«
  »Jetzt lass sie doch erst mal zu Wort kommen«, unterbrach Klages ihn. »Vielleicht können wir die Sache ja ganz schnell klären.«
  »Davon bin ich überzeugt«, sagte Fladerer leutselig und schüttelte dem ebenfalls leutselig lächelnden Klages die Hand. Die beiden sahen sich an wie die besten Freunde. Aber in der Luft lag so viel Spannung, dass man eine Neonröhre damit hätte betreiben können.
  »Trotzdem möchte ich darauf hinweisen, dass die Zeit meines Mandanten kostbar ist. Und dass wir nicht vorhaben, wegen haltloser Vorwürfe Stunden in diesem Raum zu verbringen.«
  »Ja, ja«, sagte Klages, und schaute Fladerer mit hochgezogenen Augenbrauen an, als wollte er leise hinzufügen: Kinder! So sind sie eben.
  Fladerer lächelte zurück und wies mit seinem fleischigen Arm auf die beiden Stühle auf der einen Seite des Tischs. Auf der anderen Seite standen drei weitere Stühle, von denen zwei schmale Sitzflächen aus Holz hatten, und der dritte breit und gepolstert war. Es war nicht allzu schwer zu erraten, auf welchem der Stühle Fladerer Platz nehmen würde.
  Klages und sein Anwalt bekamen ebenfalls nur einfache Holzstühle.
  »Also? Worum geht es denn nun?«, fragte der Anwalt.
  »Vielleicht können Sie uns bei unseren Ermittlungen weiterhelfen«, wandte sich Fladerer an Klages, als wäre dessen Anwalt nur ein kläffender Pinscher.
  »Aber selbstverständlich. Ich bin immer bereit, die Arbeit unserer Gesetzeshüter zu unterstützen«, lächelte Klages.
  »Wir untersuchen die Explosion einer Autobombe Anfang der Woche. Sie wissen, wovon ich spreche?«
  Klages seufzte, und seine Augenbrauen bildeten ein Zeltdach über der Nasenwurzel. »Sie haben mich schon mal dazu befragt.«
  »Und wir haben Ihnen zu diesem Zeitpunkt bereits mitgeteilt, dass mein Mandant nichts zur Sache aussagen kann. Was gibt es also noch?«, mischte sich sein Anwalt ein.
  »Nun, meine Mitarbeiter haben mir erzählt, dass die vorherige Befragung etwas ... sagen wir, etwas abrupt endete. Und da dachten wir, wir könnten es vielleicht noch mal etwas gründlicher angehen.«
  Klages Augenbrauen bildeten zwei Bögen. Mannsdorf, sein Anwalt, schaute mit entnervtem Gesichtsausdruck auf seine Uhr. Eine Rolex mit goldenem Armband. Anwalt von Kevin Klages zu sein, war wahrscheinlich wie eine Lizenz zum Gelddrucken.
  »Na, dann fragen Sie schon.« Klages seufzte wie ein Schauspieler auf großer Bühne.
  »Beginnen wir mit der Frage, wann Sie davon erfahren haben, dass es einen neuen Konkurrenten im Wuppertaler Drogengeschäft gibt. Oder wohl eher einen Möchtegern-Konkurrenten.«
  »Beginnen wir mit der Feststellung, dass mein Mandant keinen Einblick ins Wuppertaler Drogengeschäft hat, weil er damit nichts zu tun hat«, behauptete Mannsdorf.
  »Sicher. Aber es kommen einem ja doch gelegentlich Gerüchte zu Ohren«, lächelte Fladerer verbindlich. »Selbst uns bei der Polizei werden solche Gerüchte zugetragen. Und eines davon besagt eben, dass irgendjemand in Wuppertal Drogen zum Schleuderpreis anbietet. Oder jedenfalls angeboten hat. Wie es aussieht, hat sich diese Person inzwischen – wie soll ich sagen – in ihre Bestandteile aufgelöst.«
  Klages zuckte mit den Schultern. »Das mag ja sein. Aber was habe ich damit zu tun?«
  »Gehen wir davon aus, rein theoretisch natürlich, Sie hätten doch etwas mit Drogen zu tun. Nur mal angenommen, Sie würden im ganz großen Stil Drogen verkaufen und würden seit Jahren keinen Konkurrenten neben sich dulden. Und nehmen wir weiter an, wir von der Kriminalpolizei gingen davon aus, dass Sie vor zwanzig Monaten einen Mord in Auftrag gegeben haben, der mittels eines Sprengstoffs durchgeführt wurde, der noch nie zuvor verwendet wurde. Und jetzt ist es zu einem weiteren Anschlag gekommen, bei dem der gleiche Sprengstoff benutzt wurde, und bei dem ein Mann ums Leben gekommen ist, in dessen Haus wir massenhaft Drogen gefunden haben. Nun, was sollen wir da denken?«
  Klages Augenbrauen stiegen bis weit auf die Stirn.
  »In diesem hypothetischen Fall denken Sie wahrscheinlich, ich hätte auch diesen neuerlichen Anschlag begangen. Oder in Auftrag gegeben, denn wie Sie sicherlich inzwischen überprüft haben, war ich einige Tage auf Geschäftsreise. Ich bin erst am Abend des vergangenen Montags zurückgekehrt.«
  »Ich sehe, unsere Gedankengänge sind nicht so unterschiedlich.«
  Wieder lächelten die beiden Männer sich an. Freundlich wie Steinböcke, kurz bevor sie ihre Hörner gegeneinander rammen.
  »Jetzt ist es aber so, dass Sie auf dem Holzweg sind«, fuhr Klages fort. »Weder bin ich im Drogengeschäft tätig, noch habe ich jemals einen Mordanschlag in Auftrag gegeben oder selbst durchgeführt.«
  »So, so«, meinte Fladerer.
  »Und ich habe keine Ahnung, wer den Anschlag vor vier Tagen begangen hat und warum.«
  Sandras inneres Radar, das seit Klages’ ersten Worten pausenlos: »Lüge!« gefunkt hatte, blieb bei diesem Satz seltsamerweise still. Sie verfolgte, wie das Gespräch zwischen den beiden hin und her wogte. Als Fladerer schließlich nach fast zwei Stunden die Vernehmung beendete, waren alle Beteiligten entnervt.
  »So, und wofür soll das jetzt gut gewesen sein?«, kläffte der Anwalt. »Ich weiß nicht, wozu Sie meinen Mandanten zu sich bestellt haben. Diese Vernehmung hat seine und meine Zeit über Gebühr strapaziert.«
  »Ich gebe zu, dass es sich nicht gelohnt hat«, stimmte Fladerer zu. »Ich hatte die Hoffnung, er verrät sich. Aber Ihr Mandant ist zu gut im Lügen.«
  Mannsdorf pumpte sich auf, aber Klages legte ihm eine Hand auf den Arm. »Lass nur. Wenn das von meinem alten Freund Fladerer kommt, nehme ich es als Kompliment.« Seine Augenbrauen tanzten, als er Sandra zuzwinkerte. »Und die junge Dame hat sicher auch was gelernt. Über die Sinnlosigkeit, Unschuldige zu befragen. Wo nichts ist, kann auch nichts gefunden werden.«
  Sandra hätte ihm am liebsten die Zunge herausgestreckt, beließ es aber bei einer ausdruckslosen Miene.
  Schweigend sahen sie zu, wie Klages und sein Anwalt das Vernehmungszimmer verließen.
  Dann seufzte Fladerer. »Ich könnte ihm pausenlos in die Fresse schlagen.« Als Sandra ihn erstaunt anschaute, fügte er hinzu: »Was ist? Dachten Sie, ich kenne solche Ausdrücke nicht?«


 Kapitel 28

  Das Wochenende verging ohne besondere Vorkommnisse. Sandra verbrachte den Samstag mit Inge, und am Sonntag besuchte sie die Oberraths auf deren Hof. Aber bei allem, was sie tat, gingen ihr die Dinge durch den Kopf, die sie bislang über den Fall herausgefunden hatten. So war sie fast erleichtert, als es endlich Montag war. Sie verbrachte den Vormittag damit, weitere Drogenabhängige zu suchen und zu befragen.
  Sandra sprach mit drei Frauen, die deutliche Zeichen drogenbedingten Verfalls aufwiesen. Sie waren erschreckend dünn, die Haut wies Geschwüre und Ekzeme auf, eine von ihnen war so gelb, dass Sandra kaum glauben konnte, dass sie nicht geschminkt war, und alle drei wirkten apathisch und leblos. Sandra erfuhr leider nur das, was sie sowieso schon wusste. Wieder wurde ihr von »der Leiche« erzählt, und sie hörte erneut, dass dieser Mann seit etwa zwei Wochen nicht mehr in der Drogenszene aufgetaucht war.
  Eine der Frauen erzählte außerdem, es gebe Gerüchte, dass Klages tatsächlich einen Auftragskiller beschäftige. Es kursierten die aberwitzigsten Geschichten über ihn. Zum Beispiel sagte man ihm nach, nur durch leichten Druck auf die Halsschlagader Menschen so töten zu können, dass es wirkte, als wären sie an einer Überdosis gestorben, was Sandra doch eher unglaubwürdig erschien. Dennoch speicherte sie im Hinterkopf ab, dass es möglicherweise weitere Mordfälle gab, die als solche gar nicht erkannt worden waren.
  Die meisten jedoch, die Sandra ganz direkt auf den Supermann-Killer ansprach, wagten noch nicht mal, die Frage zu beantworten.
  Mittags besprach sie sich mit Bellers, der ähnlich wenig zu berichten hatte wie sie.
  Dann fragte er: »Haben Sie eigentlich schon Berichte über Ihre Vernehmungen verfasst?«
  »Noch nicht«, gab Sandra zu.
  »Und wann gedenken Sie, das zu tun?«
  »Bald. Heute Abend.«
  »Auch über die Vernehmungen der letzten Woche?«
  »Das war nur eine. Mit diesem Dodo.«
  »Und warum haben Sie da nicht schon am Freitag einen Bericht geschrieben?«
  »Weil ich fand, ich könnte das genauso gut auch heute machen.«
  »Nein. Eben nicht genauso gut. Heute ist Ihre Erinnerung überlagert durch die neuen Eindrücke aus den anderen Vernehmungen. Mit wie vielen Personen haben Sie heute gesprochen? Mit drei? Wie wollen Sie da jetzt noch auseinanderhalten können, wer was gesagt hat? Vor allem, da Sie sich nie Notizen machen.«
  »Ich kann das sehr gut auseinanderhalten«, gab Sandra knapp zurück.
  »Das denken Sie. Ich wette, Sie werden eine ganze Reihe von Fehlern begehen, nur weil Sie die Berichte nicht zeitnah schreiben. Und das, wo ich Sie doch bereits darauf hingewiesen habe.«
  Das stimmte. Nicht nur einmal.
  »Bei mir ist das anders. Ich kann mir solche Dinge sehr gut merken.«
  »Das denken viele. Und am Ende stellt sich dann eben heraus, dass sie es doch nicht können. Es gibt sogar Untersuchungen zum Thema, wie sich Zeugenaussagen im Laufe der Zeit verändern. Man hat herausgefunden ...«
  Bla, bla. Bellers redete mehrere Minuten lang, und Sandra saß wie ein bockiger Teenager am Schreibtisch und spielte mit einem Kuli.
  Es war eine Erlösung, als Bellers’ Handy klingelte. Und eine noch größere Erlösung, als sie ihn sagen hörte: »Schon wieder? Aber das geht jetzt nicht ... Was? Nein, tu das nicht. Nicht! ... Na gut, ich komme.«
  Als er sein Handy einsteckte, war aus dem strengen Oberlehrer eine Person geworden, die abwesend und verwirrt wirkte. Er hatte ganz offensichtlich vergessen, worüber sie gerade gesprochen hatten. Beziehungsweise worüber er gerade doziert hatte. Ohne sie anzuschauen murmelte er: »Ich muss dann mal ... kurz weg.« Er klopfte seine Taschen ab und schaute suchend auf seinem wie immer penibel aufgeräumten Schreibtisch umher.
  »In der obersten Schublade, ganz rechts«, sagte Sandra.
  »Was? Ach so. Ja.« Er holte den Autoschlüssel heraus und verschwand. Ohne seinen Notizblock mitzunehmen, ohne den er normalerweise noch nicht mal zur Toilette ging.
  Sandra schaute zur Tür, die er offen gelassen hatte. Das wäre jetzt die Gelegenheit, Inges Rat zu befolgen. Sie würde ihm folgen. Würde sich ein Bild davon machen, was mit ihm nicht stimmte. Und dann würde sie diese Information gnadenlos gegen ihn verwenden, sie war gerade in der richtigen Stimmung dafür.
  Eilig lief sie auf den Parkplatz und sah, wie Bellers’ Auto gerade auf die Friedrich-Engels-Allee einbog. In Richtung Elberfeld. Möglicherweise fuhr er nach Sonnborn, wo er und seine Familie wohnten.
  Als Sandra kurz darauf ebenfalls auf die Hauptstraße einbog, konnte sie Bellers’ Wagen gerade noch sehen. Sie überholte einen Bus, bog zentimeterdicht vor ihm auf den rechten Fahrstreifen, was ihr ein empörtes Hupen einbrachte, zog dann rechts an einem LKW vorbei und schlängelte sich wieder nach links. So schaffte sie es, bis auf vier oder fünf Wagen an Bellers heranzukommen. Noch näher wollte sie nicht auffahren. Nicht, dass ihr Kollege sie womöglich entdeckte.
  Bellers fuhr an Elberfeld vorbei und schlug tatsächlich die Richtung nach Sonnborn ein. Dort fuhr er zu der Straße, in der er, wie Sandra aus dem Intranet erfahren hatte, wohnte. Er hielt vor einem weiß verputzten Einfamilienhaus, rannte zur Haustür und verschwand im Haus. Sandra parkte eine Querstraße weiter und wartete. Sie musste nicht lange warten. Sekunden später kam Bellers wieder heraus und blickte sich suchend um. Sandra duckte sich. Es wäre peinlich, wenn er sie hier sehen würde.
  Als sich ihr Kollege schließlich von ihr entfernte, wobei er immer noch suchend von links nach rechts blickte, stieg sie aus, schloss so leise wie möglich die Tür und folgte ihm.
  Scheinbar ziellos streifte Bellers durch die Straßen. Er schien etwas zu suchen. Vielleicht wieder den entlaufenen Hund? Wenn es ihn denn gab. Aber würde man ihn dafür extra von der Arbeit nach Hause holen?
  Als Bellers wieder mal um eine Ecke gebogen war, und Sandra ihn kurz aus den Augen verlor, hörte sie plötzlich erregte Stimmen.
  »Was wollen Sie von mir?«, rief jemand. So wie es klang, ein älterer Mann.
  »Ganz ruhig. Bitte beruhige dich«, sagte eine andere Stimme, in der Sandra die ihres Kollegen erkannte. Sie klang sehr aufgeregt.
  »Ich beruhige mich nicht! Wie kommen Sie dazu, mich zu belästigen?«
  Was war da bloß los, überlegte Sandra. Sie beschleunigte ihre Schritte, und bog gerade rechtzeitig um die Ecke, um zu sehen, wie ein alter Mann ihren Kollegen ohrfeigte. Bellers hielt den Mann am linken Arm fest, mit dem rechten klatschte der Alte ihm immer wieder ins Gesicht.
  »Hör auf. Bitte, hör auf«, rief Bellers, unternahm aber keinen Versuch, sich zu wehren oder auch nur zu schützen. Den Arm des Alten ließ er allerdings auch nicht los.
  »Lassen. Sie. Mich. Los!«, rief der alte Mann, und bei jedem Wort drosch er auf Bellers ein.
  »Hallo! Stopp! Was ist denn hier los?«, rief Sandra und lief zu den beiden.
  Bellers machte große Augen, als er sie sah. Er öffnete den Mund, sagte aber kein Wort. Im nächsten Moment klatschte es, und er hatte eine weitere Ohrfeige sitzen.
  Der alte Mann dagegen schaute Sandra direkt an.
  »Ah, ein Glück, dass Sie endlich kommen, junge Frau. Ich habe schon auf Sie gewartet.«
  »Auf mich?«
  »Ja. Hier ist der Bursche, von dem ich Ihnen berichtet habe. Er hält mich gefangen.«
  »Also ...«, begann Sandra. Dann fiel ihr nichts mehr ein.
  »Papa. So ist das doch gar nicht. Du wohnst jetzt bei uns. Du darfst nur nicht immer weglaufen.«
  »Ich wohne in der Hindenburgallee. Und da gehe ich jetzt auch hin.«
  »Da hast du früher gewohnt. Als Renate und ich noch ganz klein waren und Mama noch gelebt hat. Erinnerst du dich? Ich bin Markus, dein Sohn.«
  Der Alte schien gar nicht zugehört zu haben. »Ich möchte jetzt nach Hause«, sagte er zu Sandra. »Können Sie mich hinbringen?«
  »Ja, gerne«, antwortete Sandra und bot ihm ihren Arm. Zögernd hakte er sich ein. »Zeigen Sie mir den Weg?«, fragte Sandra.
  »Natürlich.« Der alte Mann schaute sich um. »Also ... Das ist jetzt allerdings seltsam ...« Seine Stimme wurde zu einem unverständlichen Gemurmel.
  Sandra schaute Bellers an und suchte nach der Wut, die sie noch vor Minuten auf ihn gehabt hatte. Als sie jedoch sah, wie ihm Tränen übers Gesicht liefen und auf sein Hemd tropften, hätte sie ihm am liebsten den Arm um die Schultern gelegt. Er bemerkte ihren Blick und schaute rasch zur Seite.
  »Vielleicht kann er uns ja weiterhelfen«, schlug Sandra vor und zeigte auf ihren Kollegen.
  »Er? Wer ist das?«
  »Auf jeden Fall jemand, der sich in dieser Gegend gut auskennt. Er kann Ihnen bestimmt sagen, wo Sie wohnen.«
  »Stimmt das, junger Mann? Warum weinen Sie denn?«
  Bellers kramte in seiner Hosentasche und wischte sich mit einem sauber gebügelten Stofftaschentuch übers Gesicht. Dann nickte er: »Ja, das stimmt. Ich kenne mich hier aus. Und ich kann Sie nach Hause bringen.«
  Er ging voraus, und Sandra führte den alten Mann, der ihr bereitwillig folgte, hinter ihm her. Unterwegs raunte er ihr zu: »Sagen Sie, kennen Sie diesen Mann?«
  »Ja«, antwortete Sandra, so laut, dass Bellers es hören konnte. »Sie können sich auf ihn verlassen. Er ist sehr anständig.«
  »So? Na, wenn Sie es sagen.«
  Wie ein Lämmchen folgte der Alte den beiden, bis sie schließlich vor Bellers’ Haus standen. Auch den Gartenweg ging er bereitwillig mit. Erst als eine Frau die Tür aufriss und keifte: »Da ist er ja wieder. Wo war er denn diesmal?«, stemmte der alte Mann seine Füße in die Erde wie ein störrisches Maultier.
  »Da gehe ich nicht rein. Das ist eine Hexe.«
  Sandra musste ihm insgeheim recht geben. Obwohl sie beim Anblick dieser Frau eher an die steinharten, mit Chili gewürzten Teigplatten denken musste, die sie mal während eines Urlaubs auf Thailand versehentlich probiert hatte. Sie hatte danach das Gefühl gehabt, es würden gleich Flammen aus Nase und Ohren schlagen.
  »Er war unterwegs«, begann Bellers.
  »Was du nicht sagst. Das weiß ich selbst. Ich hab dich doch schließlich angerufen.«
  »Ja, natürlich. Er ist hier durch die Straßen geirrt und wollte nach Hause. Er hat wohl gedacht ...«
  »Er hat nichts gedacht! Der denkt schon seit Monaten nichts mehr. Mein Gott, der macht mich wahnsinnig!«
  Mit diesen Worten verschwand die Frau im Haus.
  Der alte Mann flüsterte Sandra zu: »Ich will da nicht rein.«
  Sandra nickte. Das konnte sie verstehen.
  »Papa, du musst aber da rein«, sagte Bellers. »Du wohnst doch jetzt bei uns, weißt du nicht mehr? Das ist jetzt dein Zuhause.«
  Der Alte schaute ihn nur verständnislos an. Dann wandte er sich an Sandra. »Wer ist das?«, fragte er.
  »Das ist Markus, Ihr Sohn«, antwortete Sandra, wohl wissend, dass die Information, wenn sie überhaupt ankam, im nächsten Moment wieder vergessen sein würde.
  »Und ich soll da reingehen?«
  Sandra nickte.
  »Aber wann kann ich denn wieder nach Hause?«
  »So bald wie möglich. Ich verspreche, dass wir uns darum kümmern werden«, beruhigte ihn Sandra. »Aber jetzt müssen Sie vernünftig sein, ja? Ihr Sohn und ich haben zu arbeiten.«
  »Mein Sohn? Habe ich einen Sohn?«
  »Ja. Markus. Da, er steht neben Ihnen.« Sandra wies auf Bellers, in dessen Augen es schon wieder verdächtig glitzerte.
  »Der?«, wunderte sich der alte Mann und schaute Bellers von oben bis unten an. »Aber das ist ein erwachsener Mann.«
  »Ja, Ihr Sohn ist inzwischen erwachsen geworden. Und jetzt lassen Sie uns hineingehen. Wollen Sie mir Ihr Zimmer zeigen?«
  »Natürlich. Sie haben doch wohl nichts Unanständiges mit mir vor, was?« Der alte Mann zwinkerte ihr charmant zu.
  »Nein«, lachte Sandra.
  Sie ging mit ihm ins Haus, in dem er sich jedoch nicht zurechtfand. Bellers musste ihm sein Zimmer zeigen, das im ersten Stock lag und sehr hell und freundlich war. Fotos hingen an den Wänden. Die meisten zeigten Bellers als Jungen und ein Mädchen, wahrscheinlich seine Schwester. Sandra sah sie als Kinder, als Jugendliche und als junge Erwachsene. Auf anderen Bildern war eine Frau zu sehen. Immer jung und schön, niemals älter als Mitte oder Ende zwanzig.
  »Das ist Ursula, meine Frau«, lächelte der Alte und strich zärtlich über eines der Bilder. Sandra sah, dass die meisten Bilder zahlreiche fettige Fingerabdrücke aufwiesen. Er schien sie öfter zu streicheln. »Sie kommt bald wieder.«
  »Das ist schön«, antwortete Sandra.
  Nachdem sie sich noch einige andere Fotos zusammen mit dem alten Mann angeschaut hatte, verließ sie schließlich mit Bellers das Haus. Als sie an der Küche vorbeigingen, rief ihnen die Frau von vorher zu: »Wenn er wieder abhaut, ruf ich die Polizei und lass ihn irgendwo einweisen. Oder ich lass ihn einfach laufen. Vielleicht gerät er ja unter einen Laster.«
  Bellers setzte an, etwas zu erwidern, schüttelte aber dann doch nur den Kopf und ging nach draußen.


 Kapitel 29

  Als sie schließlich vor seinem Wagen standen, brummte Bellers: »Na schön. Jetzt wissen Sie es also. Dann können Sie ja jetzt lachen und es allen weitererzählen.«
  »Wovon reden Sie?«
  »Na, das können Sie sich doch nicht entgehen lassen. Der alte Bellers. Geachtet und verehrt bei der Wuppertaler Polizei. Bewundert von seinem stolzen Sohn. Ist jetzt nur noch ein sabbernder, verrückter, alter Mann.«
  »Er hat nicht gesabbert«, entgegnete Sandra automatisch, obwohl es darum nun wirklich nicht ging. »Und er ist auch nicht verrückt. Er ist dement.«
  »Ist er nicht.«
  »Ist er doch.«
  »Nein!« Bellers schrie das Wort fast hinaus, und Sandra sah die nackte Verzweiflung in seinen Augen.
  »Es tut mir leid. Ist nicht ganz einfach für Sie, was?«, sagte sie schließlich.
  Bellers schaute sie nur stumm an.
  »Es ist, als würde man jemanden verlieren, obwohl er noch lebt«, fuhr Sandra fort.
  Jetzt nickte Bellers langsam und flüsterte: »Genau so.«
  »Sie hängen sehr an Ihrem Vater?«
  Wieder nickte Bellers. »Er, meine Schwester und ich haben immer zusammengehalten. Wir hatten ja nur uns. Meine Mutter ist sehr früh gestorben.«
  »Das tut mir leid. Wirklich. Aber jetzt müssen Sie Ihrem Vater helfen. So kann es nicht weitergehen.« Sandra zeigte auf Bellers’ Haus.
  »Wie kann es nicht weitergehen?«
  »Sie können Ihren Vater nicht länger bei sich behalten. Er muss in professionelle Betreuung. Dort weiß man mit ihm umzugehen und kann ihn fördern. Außerdem ...«
  »Reden Sie von einem Heim? Niemals werde ich meinen Vater in ein Heim geben! Vergessen Sie es!«
  »Aber so geht es doch auch nicht. Ich habe den Eindruck, Ihre Frau kann nicht mehr und ...«
  »Lassen Sie meine Frau aus dem Spiel. Und überhaupt. Um meine familiären Angelegenheiten kann ich mich sehr gut alleine kümmern.« Er dachte einen Moment nach. Dann fragte er: »Was machen Sie eigentlich hier? Sind Sie mir gefolgt?«
  »Ich? Ich habe hier ... eine Bekannte, nach der ich gelegentlich schaue. Sie ist ... ihr geht es nicht so gut.«
  »So, so. Ausgerechnet hier. Und ich dachte, Sie sind im Präsidium und schreiben Ihre Berichte.«
  Sandra zuckte nur mit den Schultern und ging rasch zu ihrem Wagen. Inges Plan war gründlich schiefgegangen. Jetzt wusste sie zwar, welches Geheimnis Bellers vor allen versteckte. Aber es nützte ihr gar nichts. Ganz im Gegenteil.
  Nachmittags gelang es ihr, zwei weitere Personen von der Liste aufzutreiben. Danach erst ging sie ins Präsidium und schrieb die Berichte. Wenigstens diese kleine Eigenmächtigkeit musste sie sich herausnehmen. Anschließend brachte sie noch die Abendbesprechung hinter sich und war schließlich froh, als sie nach Hause gehen konnte. Sie hatte Bellers den ganzen Nachmittag über nicht gesehen. Und abends bei der Besprechung hatten sie so weit entfernt voneinander gesessen wie nur möglich. Kaum war die Besprechung beendet, war Bellers auch schon verschwunden, ohne dass sie noch ein Wort mit ihm gewechselt hatte.
  Abends im Bett kreisten noch lange die Ereignisse des Tages durch Sandras Kopf. Bellers, sein Vater, seine Mutter. Inge, mit der sie noch telefoniert hatte, und die ihr empfohlen hatte, die Geschichte mit Bellers’ Vater sehr wohl für sich auszunutzen. Aber das würde Sandra nicht fertig bringen. Inge hatte daraufhin bloß etwas von »windelweich« und »keinen Mumm« gemurmelt und einfach aufgelegt. Die ganze Sache war ein Reinfall gewesen und würde die Zusammenarbeit mit Bellers nicht gerade vereinfachen.
  * * *

  Der nächste Tag verging ebenfalls mit der Suche nach weiteren Drogenabhängigen. Sandra erfuhr nichts Neues, und ihre Frustration wuchs. Sie waren an einem Punkt in den Ermittlungen angelangt, an dem sich nichts mehr bewegte. Nicht nur ihr, sondern auch allen anderen machte das zu schaffen. Wobei es in diesem Fall besonders schwierig war, weil sie zu wissen glaubten, wie alles abgelaufen war, es aber nicht beweisen konnten. Bei der Abendbesprechung waren alle gereizt, und die Nerven lagen blank. Die Ermittler waren erleichtert, als sie endlich nach Hause gehen konnten. Dass der nächste Tag neue Entwicklungen bringen würde, wagte schon niemand mehr zu hoffen.
  Er brachte sie dann aber doch, wenn auch ganz anders, als es sich alle vorgestellt hatten. Als Sandra ins Präsidium kam, kam ihr Bellers schon auf dem Flur entgegen.
  »Wir müssen los. Es gibt eine neue Explosion.«
  »Was? Wo?«
  »Bei Klages.«
  »Bei Klages? Ist er ...«
  »Nein, ist er nicht. Aber fast. Seinen Fahrer hat’s allerdings erwischt.«
  Wieder schossen Sandra Bilder durch den Kopf, in denen verwüstete Restaurants und mit Scherben übersäte Straßenzüge zu sehen waren. »Terroristischer Hintergrund?«, fragte sie.
  »Wird natürlich überprüft. Aber ich glaube nicht daran. Bis jetzt gab es lediglich diese eine Explosion. Und die ausgerechnet bei Klages.«
  Im Auto brachte Bellers Sandra auf den neuesten Stand. Kevin Klages hatte an diesem Morgen zu irgendwelchen Geschäften aufbrechen wollen und hatte seinen Fahrer beauftragt, den Wagen zu holen. Der tat wie geheißen und fuhr das Auto vor. Bis dahin war noch nichts passiert. Klages sei eingestiegen, der Wagen sei die Auffahrt hinuntergerollt, und da sei Klages eingefallen, dass er wichtige Unterlagen vergessen hatte. Er sei ausgestiegen, und der Wagen sei weiter die Auffahrt hinuntergefahren, um draußen auf der Straße zu wenden und wieder zum Haus zurückzufahren. In dem Moment, als er das Grundstück verlassen habe, sei er jedoch explodiert.
  »Das ist ja ein Ding«, meinte Sandra. »Wollte sich da jema

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