Samstag, 25. Mai 2013

Satz des Günter Minkwitz – Optik SelMcKenzie Selzer-McKenzie


Satz des Günter Minkwitz – Optik SelMcKenzie Selzer-McKenzie

Author D.Selzer-McKenzie


 
 
 
 


Vor fünfzig Jahren formulierte Dr. Günter Minkwitz einen ma-thematischen Zusammenhang, der bis heute als „Satz von Minkwitz" in allen Lehrbüchern der Augenoptik zu finden ist. Im 21. Fielmann Akademie Kolloquium berichtete er über die Umstände seiner für die Augenoptik so bedeutenden Veröf¬fentlichung. Eine Chance für Heinz Jürgen Höninger, etwas mehr über ihn zu erfahren.

 

Sonntagmorgen in einem Cafö im Schat¬ten von Schloss Plön. Selbstbedienung. Eigentlich kein Rahmen für ein Interview mit einem im Grunde recht bedeutenden Mann, könnte man denken. Vor uns die Tabletts mit je einem Pott Kaffee und zwei belegten Brötchen. Ein seltsamer Kontrast zum Vortrag. Da hatten wir noch im soge¬nannten Pförtnerhäuschen des Schlosses mit Professor Grein und den Referenten des Kolloqiums fröhlich zusammen gesessen und diverse Saftdrinks probiert. Dr. Günter Minkwitz war da so etwas wie der Star gewesen, ein gehobener Schatz aus längst vergangener Zeit. Ein Atemhauch Geschich¬te, der sich in der Kühle des Nordens zur Gestalt verdichtete und sich wahrscheinlich am nächsten Morgen in der aufsteigenden Sonne wieder verflüchtigen würde. Aber zum Glück gibt es dieses Cafä, das früh in der Kühle öffnet.

Günter Minkwitz ist sympathisch, mit einem schelmisch beobachtenden, gleichzeitig aber scheuen Blick, dem man ansieht, dass er es nicht gewohnt ist, im Rampenlicht des öffentlichen Interesses zu stehen. Kein Wunder, wurde ihm, der vor 50 Jahren für die Brillenoptik so Bedeutendes und Blei¬bendes erkannt und berechnet hat, erstmals hier in der Fielmann-Akademie wirklich Ehre zuteil. Dieses Faktum ist unverständlich, wo doch das Gleitsichtglas seit so vielen Jah¬ren die Augenoptik im Mindset dominiert.

Geboren wurde er 1935 in Leverkusen. Sei¬ne aus Schlesien stammenden Eltern lebten hier allerdings nur kurz während eines be¬ruflichen Intermezzos des Vaters. Dann kam der Krieg, Flucht und Vertreibung — der Va-

 

ter fiel — und das Erreichen der neuen Hei¬mat Berlin, wo er 1946 mit seiner Mutter und seinen vier Geschwistern ins Haus der Großeltern einzog. Hier wuchs er auf, zog mit seiner Frau gemeinsam die Kinder groß und fuhr von hier aus zu seiner Arbeitsstel¬le. Dem Leben mit seinen Fügungen ge¬genüber ist der gläubige Katholik dankbar, auch als sein Stück Berlin zur DDR wurde. Er verbrachte sein Berufsleben unbehelligt in den Biotopen von Familie, Freundschaft und dem ,Institut für Optik und Spektro-skopie der deutschen Akademie der Wis¬senschaften zu Berlin'. Er trifft sich bis heute noch mit den Klassenkameraden der ehemaligen Oberschule, in der er nach dem Krieg in die zweite Klasse einstieg.

Er wusste ja, dass es auch anders sein konnte. Gerne hätte Minkwitz Physik stu¬diert. Aber die Verhältnisse in der DDR waren sperrig. Für katholische Nicht-FDJler schlossen sich Karrieretüren manchmal schnell. Für ihn bedeutete das die Nicht¬zulassung zum Studium. Minkwitz glaubt an Fügung. Die kam in Gestalt eines Ma¬thematikprofessors, der von Freunden auf ihn aufmerksam gemacht wurde. Der prüfte Minkwitz auf Herz und Nieren in Mathe¬matik und nahm ihn als Student an. Trotz alledem. Da war Minkwitz 19 Jahre alt und entwickelte später ein großes Interesse für Differentialgeometrie, einem Teilgebiet der Mathematik, in dem Analysis und Geome¬trie zusammenfließen. Er ist strebsam. Aber man durfte auch nicht bummeln. 1959 war er dann fertig mit dem Studium. Mit 24. Was nur tun danach? Eines morgens geht er deshalb zu seinem Professor und fragt um Rat. Der greift prompt in die Tasche seines

Jackets, zieht einen Zettel hervor und sagt: „Stellen Sie sich da mal vor. Die suchen einen Mathematiker mit Ahnung von Dif-ferentialgeometrie." Das ist für Minkwitz Fügung.

Denn gerade an diesem Morgen, als der junge Absolvent sich vorgenommen hat¬te, seinen Professor zu fragen, traf dieser in der S-Bahn einen Studienkollegen aus längst vergangenen Tagen. Man kam ins Gespräch über dies und das — auch über den Beruf. Der ehemalige Kommilitone, Mathe¬matiker am besagten Institut für Optik und Spektroskopie, fragte bei seinem Kollegen nach, ob er vielleicht einen fähigen Absol¬venten kenne, der Interesse an Differential-geometrie habe und sich vorstellen könne, sich mit Glasflächenproblematiken ausein-anderzusetzen. Irgendwann endet auch eine solche S-Bahn-Fahrt, und weil man sich so lange nicht gesehen hatte und nicht wieder aus den Augen verlieren wollte, tauschten beide die Adressen aus. Die zog der Profes¬sor nun aus der Tasche und überreichte sie dem überraschten Minkwitz.

Er hatte bisher noch nie etwas mit Strah¬lenoptik zu tun gehabt, noch nie etwas mit Brillengläsern. Aber theoretisch zweidi¬mensional gekrümmte Flächen waren na¬türlich sein Thema. So stellte er sich bei Rolf Riekher, Ingenieur am Institut, das von Professor Ernst Lau geleitet wurde, vor. Um dem Unerfahrenen die praktischen Fragestellungen zu erläutern, griff Riekher flugs zu einem Blatt und zeichnete die Pro-

 

blematik bei nicht rotationssymmetrischen Asphären auf. Das Blatt hat Minkwitz auf¬gehoben — ein Zeugnis seiner Wertschät¬zung. Riekher war gelernter Augenoptiker, Kopf der technischen Abteilung und ein Mo-tivator sondergleichen. Dieser Mann hatte nach dem Krieg eine Schleiferei für drin¬gend benötigte Brillengläser aufgebaut und war seit 1951 am Institut. Für Minkwitz ein Genie, das aber in der Laufbahn beschränkt wurde durch die fehlende akademische Ausbildung.

Der Anfang der Idee des Gleitsichtglases war simpel. Professor Lau hatte sich bei Riekher über seine Bifokalbrille beschwert. Das motivierte den technischen Lösungs¬geist von Riekher spontan. Gemeinsam ent¬wickelten sie noch in diesem Gespräch die Idee zu einem Progressivglas — allerdings auf der Basis einer Rotationssphäre. Zwei Jahre später, 1953 — also ein Jahr, bevor Minkwitz das Studium begann — meldete man schon das Patent an unter der Über¬schrift: „Brillenglas mit gleitender Diop-trienzahl". Zeitgleich übrigens mit dem Franzosen B. Maitenaz, damals Essel, heute Essilor. Die Ehre der Idee gebührt also bei¬den, aber der Name Gleitsicht geht auf die Berliner zurück. Lau und Riekher jedenfalls lasen die Patentschrift von Maitenaz sehr genau und der Ingenieur interessierte sich dafür, wie sich solche nichtsrotationssym-metrischen Flächen mit einer Nabelpunktli-nie hinsichtlich des Flächenastigmatismus verhalten. Das war aber eine knifflige dif¬ferentialgeometrische Fragestellung. Und

 

deshalb suchten sie einen Mathematiker. „Das war das Geniale an Riekher", sagt Minkwitz. „Die Idee, nicht einen Physiker, sondern einen Mathematiker hinzuzuzie¬hen. Jemand, der von Optik keine Ahnung hat und mit anderen Sichtweisen an die Problematik rangeht. Quereinsteiger sind von Vorteil, weil sie unbelastet sind." Und Minkwitz war fleißig. Schon 1960 konnten auf einer Tagung in Jena erste Ergebnisse vorgestellt werden, die darauf hindeuteten, dass da eine gewisse Gesetzmäßigkeit vor¬liegen könnte.

Juli 1963 ist dann die eigentliche Ge-burtsstunde des Satzes von Minkwitz. Da erblickte er im Juliheft der Internationa¬len Zeitschrift OPTICA ACTA das Licht der Welt. Minkwitz versucht, dem Interviewer den Satz zu erläutern. Mit Geduld und

einem Blick, der fragt: Wieso versteht er das nicht? Er gibt auf. „Für die Anwendung ist wichtig zu wissen, dass der Astigmatis¬mus am stärksten in der Progressionszone ansteigt und zwar am Wendepunkt des Di-optrienverlaufs. Daher darf man die Additi¬on nur so groß wie nötig und die Progressi-onskurve nicht zu kurz wählen."

Einen Zusammenhang zu entdecken, der sich letztlich als eine mathematische Ge¬setzmässigkeit formulieren lässt, ist für einen Mathematiker etwas ganz Großes. Als würde man einen Blick in den Bauplan der Schöpfung wagen, plötzlich etwas ver¬stehen und dann als Formel festhalten. Eine Sternstunde im Leben. So war es auch für Günter Minkwitz — nur dass er damals noch nicht ahnte, dass diese Gesetzmässigkeit später seinen Namen erhalten würde. Wie alle Schüler die Binomische Formel lernen und den Satz des Phytagoras, büffeln alle Meisterschüler der Augenoptik den Satz von Minkwitz. Sie vergessen hier wie da die mathematischen Herleitungen, aber das Lebenspraktische bleibt: Addition klein, Progression nicht zu kurz. Wer ist schon Binomi, wer ist schon Phytagoras? Kaum einen Schüler interessiert das. Ähnlich ist es wohl auch bei Günter Minkwitz. Schöp¬fer verschwinden als Personen hinter ihrer Schöpfung. Was bleibt, ist ein wenig Un¬sterblichkeit; das wirkliche Leben nach dem Tod, wie zeitgenössische Philosophie sagt.

Wir aber leben noch und gehen zusammen zum Schloss zurück, packen unsere sieben Sachen und bummeln anschließend Rich-tung Innenstadt. Ich zum Parkplatz, er zum Bahnhof. Und wie ich ihm so hinterher¬schaue, sehe ich für mich einen alten Herrn, der ein ereingnisreiches und bestimmt an¬genehmes Wochende hinter sich hat in Eh¬rung seiner Leistung, die 50 Jahre zurück liegt. Übrigens: Später hat er nie wieder etwas mit Brillengläsern zu tun gehabt.

Sein Satz bleibt, er aber entschwindet am Ende der mit Kopfstein geplasterten Gasse, löst sich auf im leichten Dunst. Die Sonne kommt heraus — und er ist weg, der ehedem gewisse Herr Minkwitz, der nun über die Formel hinaus ein Gesicht hat. Vielen Dank.

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