Montag, 28. März 2016

Korsika


Korsika

Author D.Selzer-McKenzie

https://youtu.be/yL4h_TPkpHk

Menschenmassen laufen durch die Straßen, überall blitzt es - die Osterfeierlichkeiten auf der Mittelmeerinsel sind in vollem Gange. Besonders um das zu sehen, kommen die Touristen.

 

to- Perdono. Perdono mio, dio. Die Stimme des Pfarrers hallt blechern durch das Megafon. Hun-derte Gläubige stimmen andächtig mit ein. Plötz¬lich sinkt der Catenacciu zu Boden. Das 34 Kilo schwere Holzkreuz bleibt dumpf auf ihm liegen. Die 16 Kilo schwere Eisenkette an seinem Knöchel wetzt rasselnd über das eiskalte Steinpflaster.

Der Catenacciu ist barfuß. Seine purpurrote Bü-ßerkutte maskiert ihn fast vollständig. Lediglich seine Pupillen sind durch die schmalen Sicht¬schlitze seiner Kapuze erkennbar. In ihnen spie¬gelt sich ein wirres Flackern der Kerzenlichter. Catenacciu stammt aus dem Korsischen und bedeutet der Gefesselte. Der Begriff steht als Sy¬nonym für die bedeutendste Osterfeierlichkeit Korsikas: die Büßerprozession in Sartene.

Auf dem Weg nach Golgatha

Am Karfreitag gegen 20.30 Uhr startet der Bu߬gang in der Kirche Santa Maria Assunta. Dabei vollziehen katholische Würdenträger, Honorati¬oren der Stadt und ein Großteil der Bürger Sarte-nes den Gang Christi nach Golgatha.

 

Den Geistlichen folgt der Catenacciu. Er muss anonym bleiben. Nur der Pfarrer kennt seine Identität. Die Liste derer, die den Leidensweg Jesu Christi am eigenen Leib erfahren wollen, ist lang. Es heißt, es seien häufig Straftäter, die ihre Taten auf diesem beschwerlichen Weg büßen wollen. Sartenes Altstadtviertel Sant'Anna und Borgo bieten die perfekte Kulisse dazu: Schmale Gassen, bröckelnder Putz und durch die schmiedeeisernen Gitter der Balkone und Fens¬ter schimmern Grableuchten. Noch weit bis ins 20. Jahrhundert hinein wütete in diesen Gassen eine Vendetta. Die berühmt-berüchtigte Blut¬rache raffte seinerzeit einen beachtlichen Teil junger Männer dahin.

Dem biblischen Drehbuch konform stürzt der Catenacciu unterwegs dreimal. Simon von Kyre-ne, in einer weißen Büßerkutte, darf ihm aufhel¬fen. Es folgen acht sogenannte kleine Büßer in schwarzen Kutten. Sie transportieren eine Jesus¬figur, eingewickelt in ein Leichentuch und abge-deckt durch einen schwarzen Baldachin auf einer Trage. Ein gespenstischer Umzug, nervös erhellt vom Blitzlichtgewitter der Zuschauer und den Leuchten zahlreicher Fernsehteams. Bei der an¬schließenden Messe droht die Kirche aus allen

 

Nähten zu platzen. Viele Gläubige warten vor der massiven Pforte und lauschen den knarzenden Lautsprechern. Nach dem Segen drängt alles zum Altar, um eine hölzerne Darstellung Christi zu küssen. Währenddessen knien der Catenacciu, Simon von Kyrene und die kleinen Büßer unweit davon am Ende des Kirchenschiffs. „Manchmal erkennt man ihn an den Füßen", raunzte mir eine ältere Korsin vor der Prozession zu. Tatsächlich, vor allem die älteren Herrschaften werfen im Vorbeigehen gerne einen verstohlenen Blick auf die Füße des Büßers. Bis zum nächsten Karfreitag werden sich wohl wieder zahlreiche Mythen um die Identität des Cattenaciu ranken.

Auf den Spuren des „Paten"

Schon am Gründonnerstag startet die Osterpro¬zession in Bonifacio. Die südlichste Stadt Korsi¬kas thront seiltänzerisch auf einem mächtigen Kalksporn. Ihr verwinkeltes Altstadtlabyrinth nutzte schon Francis Ford Coppola für seine Mafia Trilogie „Der Pate". Fünf Kirchen und sie¬ben Bruderschaften geben ihr den Status einer religiösen Festung. Entsprechend inflationär fal¬len auch die Prozessionen aus.

Am Osterwochenende holen alle Bruderschaften ihre reich verzierten Heiligenschreine und Kreu¬ze hervor und schreiten mit ihnen von der Ober¬in die Unterstadt. Über die Zugbrücke, früher der einzige Zugang zur Altstadt, gelangen sie zu ei¬nem Wegkreuz an den steilen Klippen. Von hier aus liegt Sardinien fast in Rufweite. An Tagen, wo der Wüstenwind Scirocco über die Meerenge fegt und die Stadt in seinen Sandschleier hüllt, glaubt man Afrika riechen zu können. Über eine steile Treppe gelangen die Umzüge in den windge¬schützten Naturhafen der Neustadt. Dort lässt sich der Alltag vor allem bei Helligkeit kaum aus der Ruhe bringen. Die Fischhändler verkaufen Fische, Muscheln und Krustentiere unweit der Hafenkapelle. Touristen lassen sich mit kleinen Motorbooten zu den romantischen Grotten in der Steilküste schippern. Andere beäugen das Schauspiel aus sicherer Entfernung bei einem Ca& au lait. Trotz der Ku-Klux-Klan-ähnlichen Kutten, der barfüßigen Büßer und dem mysti¬schen Gemurmel von Gebetsformeln - bei Tages¬licht fehlt der Zeremonie einfach der Spukeffekt. Doch schon in der Dämmerung entfalten die Fa¬ckeln und Laternen ihre volle Wirkung. Wenn die Gemeinschaft der Gläubigen dann noch am Friedhof mit seinen schummrigen Familiengruf-ten vorbeigeht, ist Gänsehaut garantiert.

Lauter Salut

zum Abschluss der Messe

Weniger unheimlich, dafür umso lauter gestaltet sich die orthodoxe Variante der Feierlichkeiten am Ostersonntag. In Carg se an der Westküste, wo im 17. Jahrhundert 800 griechische Emigran¬ten auf der Flucht vor der ottomanischen Knecht¬schaft anlandeten, wird die Wiederauferstehung Christi mit feierlichem Geläut verkündet. Noch beim Verlassen der Kirche feuern Ministranten

 

die ersten Gewehrsalven aus ihren Schrotflinten ab. Gleichzeitig surren die Videokameras los. Fotografen, hoch oben in den Platanen vor dem Kirchenportal um Gleichgewicht bemüht, hoffen auf das ultimative Motiv.

Hoher Wert auf der Straße

Der Archimandrit schwingt das Weihrauchfass. Helfer tragen eine in Gold gehaltene Ikone durch die Stadt. Das byzantinische Kunstwerk aus dem 12. Jahrhundert ist von unschätzbarem Wert. Sie zeigt die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind und im unteren Bildteil die Heiligen Spiridon und Nikolaus. Der orthodoxe Goldreigen wird wie¬derholt von heftigen Gewehrsalven erschüttert. Junge Mädchen, rausgeputzt wie Christina Agui-lera in einem Musikvideo, sorgen für Nachschub. Aus schmucklosen Plastiktüten reichen sie den Ministranten eine Platzpatrone nach der ande¬ren. Auf einem Hügel am Ortsrand wird ein Ge¬bet gesprochen. Weit reicht der Blick in die noch leicht verschneiten Bergketten Korsikas und auf das sattblaue Meer. In diesem Urlaubspanorama wirkt der von schwer bewaffneten Messdienern eskortierte Archimandrit mehr als bizarr. Nach dem feierlichen Umzug gibt der Archi-mandrit der Lokalpresse noch heftig gestikulie¬rend ein Interview. Danach rauchen er und seine Ministranten genüsslich eine Zigarette. Kaum verlaufen sich die Menschenmassen in den Gas¬sen, wirkt Cargse, als wäre nie etwas geschehen. Im Nu gewinnt die beschauliche Kleinstadt seine küre Identität als Badeort zurück. Lediglich das Trottoir erweckt den Eindruck, als hätten sich rivalisierende Straßengangs einen erbitterten Revierkampf geliefert: Unzählige Patronenhül¬sen zeichnen exakt den Weg der Prozession nach

- das ist Ostern auf Korsisch.

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