Günter Grass „Die Blechtrommel“
Von D.Selzer-McKenzie
Vor fünfzig Jahren, zur Frank¬furter Buchmesse von 1959, erschien ein Roman, der die Deutschen das Fürchten und
das Lesen neu lehrte: Günter Grass setzte mit der „Blech
trommel" einen Paukenschlag
Als ich den Roman „Die Blechtrommel" zum ersten Mal las, empfand ich die Wucht, mit der die Niedertracht und
der Triumph einer Epoche zum Ausdruck ge¬bracht wurden, als einzigartig, beklemmend -Und aufregend zugleich. In kaum einem Ro¬man erscheint mir bis zum heutigen Tag das Obszöne der deutschen Gesellschaft im zeit¬lichen Umfeld des Nationalsozialismus so bril¬lant dargestellt wie in diesem. „Die Blechtrom¬mel" zeigt uns Nachgeborenen, unter welchen Bedingungen ein Alfred Matzerath zum Mit¬läufer wird, zu einem, der um ein Haar Mörder seines Sohnes wird, in welchem Klima unsere Gesellschaft zum Nationalsozialismus wucher¬te, wie strotzend und trotzend sie in ihrer Ver-blendung glühte und sich schließlich unter ih¬rer Verantwortung nach dem Krieg wand, mal grotesk, dann feige und schadenfroh, lieber mit dem Finger auf den anderen zeigend und Schuld zuweisend als in Demut, Scham und Trauer.
Bereits 1958 stellte Günter Grass die ers¬ten zwei Kapitel seines Manuskripts auf der Tagung der Gruppe 47 vor — und erhielt den Preis dieser autonomen Autorenvereinigung. 1959 erscheint Heinrich Bölls „Billard um halb zehn" und mit ihm die Debüts von zwei jungen Autoren: Uwe Johnsons „Mutmaßun¬gen über Jakob" und „Die Blechtrommel" von Grass. Es werden weniger die Vorschusslor¬beeren gewesen sein, die manchen Literatur¬kritiker aus der Fassung brachten. Wer das Ver¬gnügen hat, sich der Wirkungsgeschichte die¬ses Romans mit der Distanz eines halben Jahr¬hunderts zu nähern, kommt zu der Vermu¬tung, dass sich Indizien für die herausragende Bedeutung des Romans bereits in der spontan geäußerten Empörung offenbaren. Ich zitiere Peter Hornung aus der' „Deutschen Tages¬post", Würzburg, vom 23. November 1959: „Ein Teil unserer bundesdeutschen Kritiker
prominenz hat wieder einmal ihre fragwürdi¬ge Literatursensation. Sie heißt Oskar Matze¬rath. Als Mordverdächtiger (tatsächlich ist er zweifacher Mörder) lebt er gegen Ende des Ro¬mans fröhlich in dem sauberen, hellen Zim¬mer einer Heil- und Pflegeanstalt. (...) Vor Jahresfrist erhielt sein Schöpfer Günter Grass den Preis der Gruppe 47. Offenbar war das der Blankoscheck dafür, daß sein 700 Seiten umfassender Roman ein Meisterwerk würde. Als dann eine epileptische Kapriole daraus wurde, übersah man das großzügig. Das Urteil der Mannen der Gruppe 47 ist ja unfehlbar."
Aus dem Hohn spricht die starke Provo¬kation, die eine Gruppe 47 damals für die feuil¬letonistische Öffentlichkeit darstellte, und die Skepsis, mit der man ihr begegnete. Doch was den Rezensenten mindestens so aufbrachte wie der in seinen Augen moralisch fragwürdi¬ge Inhalt des Buches, ist das literarische Ver¬fahren: „Grunzend kann ich nur das Behagen nennen, mit dem Grass in Abnormitäten und Scheußlichkeiten wühlt. Konsequent macht er sich über jeden moralischen und ethischen An¬spruch lustig. Vom Religiösen ganz zu schwei¬gen." Hornung kommt zu dem Schluss, es han-dele sich bei der „Blechtrommel" um eine „Re¬bellion des Schwachsinns und des erzähleri¬schen Unvermögens", die in klinischen Phan¬tasmagorien ende.
Ein halbes Jahrhundert später gelesen, rü¬cken diese vehemente Abscheu und ästhetisch richtende Inbrunst brenzlig scharf an eine Ver¬urteilung im Sinne der „entarteten Kunst", wie sie bei den Nationalsozialisten gefürchtet und verpönt war. Die Gesellschaft des Nach¬kriegsdeutschlands war noch außerstande, die Verantwortung für das Geschehene zu tragen. Sie war nicht einmal in der Lage, ein literari¬sches Werk in all seinen Dimensionen jenseits des einfältigen Verlangens nach Identifikation mit idealen Helden als ebendas zu erkennen: ein Porträt seiner Zeit. Der sogenannte Gnom in der Heilanstalt ist kein anderer als der Deut¬sche in seiner Nachkriegszeit.
Wie stark haben sich unsere Gesellschaft, unser Land und unsere Sprache in den vergan¬genen fünfzig Jahren verändert? Wie in den gut dreißig Jahren zuvor, in denen Günter
vrass äufwuchs und sein Deutsch lernte, mit dem er dieses Werk schrieb? Eine trommeln¬de, aufrührende, über jeden und sich selbst spottende Sprache, die ihre Herkunft seziert und dabei in der Nase des Lesers den Duft des rauchenden Kartoffelackers der kaschubi¬schen Landschaft evoziert, der sich mit dem Geruch von Sex mischt, genauer dem der Zeu¬gung unter vier Röcken, unter denen ein be-reits auf der Flucht befindlicher Mann seinen Weg unversehens in die Bäuerin findet.
Begreife ich die Herkunft des Autors aus der bildenden Kunst, glaube ich eine deutliche Resonanz auf Otto Dix und wohl mehr noch auf George Grosz zu erkennen. Farbenfroh, plastisch, störend. Auf manchen Betrachter wirkt die pralle Darstellung des Menschen ab¬stoßend hässlich, abgründig vulgär, der Hu¬mor gehässig; für den anderen erscheint ge¬nau dies sachlich, realistisch und befreiend im Sinne eines kritischen und genauen Blicks. „Die Blechtrommel" erzählt, sie setzt aus Wor¬ten Bilder und Gedanken plastisch zueinan¬der, sie zeigt die Widersprüche von Wahrhei¬ten auf und schafft als Werk zugleich eine eige: ne, unabhängige, unumstößliche Wahrheit: Diese kündet von der Komplexität und Subjek¬tivität jeder Wahrheit, aber auch von der abso¬luten ästhetischen Souveränität eines Kunst¬werks, wie sie kein historisches Werk zur Deu¬tung von Gesellschaft und Geschichte jemals in Anspruch nehmen wollte und könnte.
In der Reaktion auf „Die Blechtrommel" ge¬bärdet und entlarvt sich das moralische Emp¬finden ihrer Leser. Was der eine Rezensent 1959 empörend widerlich findet, der andere grell überzeichnet und infam verspottend, er¬scheint dem nächsten böse und wahr. Die scharf polarisierende Resonanz ist eines der Merkmale großer Literatur, in ihr offenbaren sich die Qualitäten der Erregungskraft. Wer den kleinen Oskar Matzerath voller Abscheu als Gnom und Giftzwerg bezeichnete, der ver¬riet mit seiner Kränkung die tiefsitzende Eitel¬keit, aus der heraus sich der Deutsche mit tita¬nenhaften, gesunden, übermenschlichen Hel-den identifizieren wollte, es mit einem kindli¬chen Trommler aber nicht konnte.
Und doch erprobt der Autor hier alles ande¬re als Überzeichnung, sondern einen Realis¬mus, der sich der deutschen Schuld, und nicht nur der, gewachsen sehen will. Wie konnte deutsche Literatur nach dem Zweiten Welt¬krieg wieder eine Stimme erlangen, eine hör¬bare, eine von der Falltür zum hauseigenen Leichenkeller her vernehmliche — eine, die über die sprachlichen Grenzen hinaus vernom¬men wurde, gelesen sein wollte, verstanden und begrüßt?
Bis heute ist die WahrnehMung der Deut¬schen und ihrer ästhetischen Ausdrucksversu¬che in der Literatur geprägt von dem Bild der Deutschen als Nationalsozialisten, Mörder und Henket. Es gibt kaum einen deutschen Roman, für den sich die Welt nach 1945 so sehr interessiert hat wie für „Die Blechtrom¬mel". Gewiss sind da noch „Das Parfum" und „Der Vorleser" — aber auch dort, wie kürzlich „Le Monde" schrieb, handelt die deutsche Li¬teratur vom „Monster". Und wie sollte sie an¬ders? Seit dem Zweiten Weltkrieg hat das Grauen ein reales Gesicht. Günter Grass fin¬det eine Sprache und Bilder, die der Zerklüf¬tung eines menschlichen Daseins, der mensch¬lichen Zerstörungskraft und Infragestellung al¬ler Menschlichkeit — wie er und seine Genera¬tion sie erlebt haben — Ausdruck verleiht. Hier wanken die Koordinaten von Ästhetik und Mo¬ral, hier musste sich der betroffene Leser pro¬voziert fühlen.
Die Lektüre der „Blechtrommel" verlangt zwar Kenntnis von der Zeit der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und der ers¬ten Jahre nach dem Krieg, der prüden, ver¬stockten und in jeder Hinsicht beschädigten Gesellschaft. Aber das Buch verlangt diese Kenntnis in geringerem Maß, als es sie vermit¬telt. Die in diesem Land der Raum und Macht suchenden Kriegsbeginner und Kriegsverlie¬rer nicht nur physisch, sondern vor allem auch ideologisch demontierten und gefallenen „Helden", besiegten Mörder und Schänder bil¬deten unmittelbar nach dem Krieg eine Gesell-schaft, die um Atem rang und nach einer Stim¬me suchte, die im eigenen Ohr stets falsch und schrill klingen musste. Wobei Trommel und Stimme eines Oskar weniger das Trommelfell des Lesers als dessen Gewissen reizten.
Doch nicht genug mit Kenntnis und Wis¬sen. Was nützt schließlich alles Wissen ohne Moral, Vernunft und Verstand? „Die Blech¬trommel" erfordert von ihrem Leser außer-dem geistige Beweglichkeit und tiefe Empa¬thie, um über die literarische Qualität des Wer¬kes hinaus auch den Mut und die Notwendig
keit dieses Buches zu begreifen. „Die Blech¬trommel" verlangt letztlich sämtliche Fähig¬keiten und Eigenschaften, von deren Abwesen¬heit, Zerstörung und Verlust sie erzählt.
Wenn die deutsche Nachkriegsgesellschaft um Atem rang, musste er nicht faul riechen? Welchen Mut erforderte es 1959, den über¬lebenden Helden seiner Zeit als gewissenlos handelnden und doch gewissenhaft erzählen¬den „Zwerg" in amoralischer Umgebung zu zeigen? Kein guter Mensch, nirgends, kein Ver¬trauen in Perspektive, Erinnerung und Urteil. Dabei erscheint die Tatsache, dass Oskar Sex mit seiner ebenso kindlichen Stiefmutter hat, als Ausdruck gesuchter Nähe und Verwandt¬schaft, aber auch im Sinne der tabulosen Er¬oberung von Welt, geradezu notwendig. Es ist eine Vereinigung, die erst im moralischen Empfinden des Lesers anrüchig wird, infantil und durchtrieben, zügellos und hybrid — in je¬der Interpretation höchst zweifelhaft. Wo der Autor das Triebhafte und Zufällige aufzeigt, das Zusammentreffen kindlicher Allmachtsan¬sprüche und die Abwesenheit von Vernunft und Moral, generiert er ein Grauen, das emp-findlich an ebenjene Eigenschaften seiner Le¬ser appelliert. Wer wollte hier noch wegschau¬en, wer könnte hier das Buch zufrieden zuklap¬pen und ungerührt seinen Tagesablauf fortset¬zen? In einer Zeit, in der die Deutschen gern stolz auf sich und ihre wirtschaftliche Renovie¬rung blicken wollten, zeigt Günter Grass ohne Scheu die Abgründe unserer Geschichte.
Oskar Matzerath wächst im sogenannten Kleinbürgertum auf — aber ist „Die Blechtrom¬mel" deshalb eine Entlarvung des Kleinbürger¬tums als Herd des Nationalsozialismus, wie da¬mals ihre Rezensenten vermuteten? Der Mief, in dem sich der Nationalsozialismus breit- machte, wurde möglicherweise vom Dünkel und von der peinlichen Unterscheidung der Stände und Klassen befördert — aber ich denke nicht, dass wir heute allein das Kleinbürger
tum für den Nationalsozialismus verantwort
lich sehen können. Nicht einer allein war ver
antwortlich, sondern jeder — eine schwere Be
lastung und Herausforderung. Doch wenn
man in dieser Erkenntnis den Kern der Demo
kratie nach 1945 vermuten möchte, dann
wohl auch die Grundlage unserer heutigen Ge
sellschaft. In der Entscheidung, dass der Au¬
tor uns kein—e-n-ivienderen Erzähler als kar Matzerath präsentiert, liegt der Skandal '
des Buches, denn wir Rönnen, ja, wir dürfen ihm nicht glauben, dass er ein armer Irrer ist, unschuldig und ohne jede Verantwortung für sein Tun. Wir können ihn schlecht in die Un¬schuld entlassen, so wenig wie uns selbst. Er ist kein Zwerg, nur weil er klein ist. Wir müs¬sen alles von ihm erwarten, alles befürchten, alles erhoffen. Vor allem den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit.
Günter Grass betrat die Manege der Öffent¬lichkeit nicht als junger Wilder. Er war kein Ta¬bubrecher um des Brechens oder gar des Rich¬tens willen. Er suchte keine Provokation und Abrechnung mit seinem Nachkriegsdeutsch¬land. Drei Jahre nach Erscheinen der „Blech¬trommel" äußert er in einem Gespräch mit Manfred Bourree im „Echo der Zeit": „Ein Schriftsteller hat nicht das Recht, anzuklagen oder zu verurteilen. Ein Schriftsteller muß auf¬zeigen. (...) Ich habe nicht die Absicht, zu pro¬vozieren, ich will nur aufzeigen, ich will nur die Strömungen der Zeit einfangen. Im Grun¬de bin ich konservativ."
In meinen Augen aber ist es nicht allein Aufzeigen, was Günter Grass in der „Blech¬trommel" unternimmt. Er erzählt. Er fabu¬liert. Er schöpft Bilder und erschafft eine Welt, die nicht bloße Abbildung, sondern Ver¬tiefung und Ausformung ist — eine literarische . Welt, die die Qualitäten des mehrdimensiona¬len Denkens eines Bildhauers besitzt. So¬wenig er provozieren wollte, so sehr ist es ihm doch gelungen. „Die Blechtrommel" war der Sand im Getriebe einer Zeit, in der sich Verges¬sen und Verdrängen einer zu verantworten¬den menschlichen und historischen Katastro¬phe als pragmatische Strategien des Wieder¬aufbaus erwiesen. Und es scheint mir nicht die schlechteste Eigenschaft eines Buches, wenn es für Diskussionen und Debatten, für Begeisterung und Abscheu, für Ekel und Freu¬de und Kopfschütteln sorgt.
Grass ist in der „Blechtrommel" aber alles andere als konfrontativ parteilich, vor allem nimmt er sich aus der amoralischen Betrach¬tung der Verhältnisse nicht heraus. Wer die „Blechtrommel" aufmerksam liest, wer dieser subversiven Schöpfung, dieser leuchtenden und düsteren Wahrnehmung folgt, der er¬kennt sehr bald, dass der Autor sich selbst zu keinem Zeitpunkt aus der kritischen Betrach¬tung seiner Gesellschaft ausschließt.
In meinen Augen ist der zentrale Motor des Romans ebenjene tief empfundene Verantwor¬tung. Und wenn der Autor sagte, er habe we¬der provozieren noch anklagen, nur aufzeigen wollen — dann, weil er das moralische Richten anderen überlassen wollte. Wenn es manchen seiner Leser ekelt, dann, weil er mit bis dahin ungekarmter Offenheit über das Wahre und Abscheuliche berichtet. In der „Blechtrom¬mel" äußert sich Grass über die Teilhabe des Einzelnen an der Geschichte, er äußert sich als Schöpfer eines Oskar Matzerath, über den wir so wenig entscheiden können, ob er ver-rückt ist, wie Büchners Oberlin es über Lenz' zu sagen vermag. Während Lenz ein unschul¬dig und verzweifelt Leidender war, der mit Gott und seinem Dasein haderte, liegen zwi¬schen Büchner und Grass deutsche Sünde und Schande, zwei Weltkriege. Wir zweifeln und verzweifeln mit der „Blechtrommel" am Men¬schen, nicht mehr an Gott.
Die Richter, die nach dem Zweiten Welt¬krieg hierzulande politisch und juristisch, mo¬ralisch und ästhetisch urteilen konnten, muss¬ten erst mühsam gefunden und manchmal von außen dazugebeten werden. Wenn bei den Nürnberger Prozessen juristische Kriterien ge¬funden und Urteile gefasst werden mussten, erprobte die Gruppe 47 ästhetische Kriterien, um eine Stimme der Verantwortung im Nach-kriegsdeutschland zu finden. Es gab keinen Grund zu triumphieren, aber allen Grund zur Äußerung, dazu, natürliche Reflexe wie Ver¬gessen und Verdrängen zu sabotieren — es gab allen Anlass zum Erzählen. Nur an wem die eigene Stimme eichen? Wessen Mutterspra¬che in wessen Vaters Land?
Obwohl der Autor kein Vorbild aus seiner Verwandtschaft für den kleinen Oskar miss-braucht hat, schreibt er doch über seinesglei¬chen; präzise und kritisch zeigt er einen Jun¬gen, der keineswegs alles, aber wohl manches mit dem Deutschen im und nach dem Krieg ge¬mein hatte. Der Verdächtige ist ein Schelm, ein durchtriebener Knilch aus „verlotterter", zumindest promisker Familie — deren genaue Verwandtschaftsverhältnisse und Abstam¬mung zumindest im jüngsten Glied nicht ein¬wandfrei geklärt werden konnten. Er ist ver¬antwortlich für seine Geschichte und die sei¬ner Familie, da er ihr Erzähler ist. Er leidet nicht an seinem Dasein, an Krankheit, Schuld und Verlust, er berichtet auf seine burleske Art über jedes Elend und Glück seiner Welt
Lesen wir heute „Die Blechtrommel" als Zeugnis einer Teilhabe am Zeitgeschehen, so ist das Aufzeigen des Grauens gnadenlos und trotzig und mutig: Wirft die vor Eigensinn strotzende Darstellung des Infantilen, der sich selbst des Mordes beschuldigt, nicht eine heik¬le und allzeit gültige Frage auf? Die Frage, wie viel Schuld der Einzelne auf sich geladen hat, wie viel Verantwortung er tragen kann und muss? Aus dieser Perspektive betrachtet, möchte ich Oskars Äußerung, er trage Schuld am Tod seiner Eltern, durchaus zustimmen. Selbst wenn dies der vermeintlich existieren¬den Wirklichkeit nicht entsprechen sollte und der Roman keine weiteren Anhaltspunkte da¬für liefert — über die „Wirklichkeit" wissen wir allein durch Oskar.
Der verdächtige Held des Romans leidet in unseren Augen an mangelnder Größe, wo wir Deutschen uns doch nur „authentisch" in unserer Größe fühlen, es mangelt ihm an Ernst, Sittsamkeit und Romantik, den geisti¬gen Grundpfeilern unserer Herkunft, es man¬gelt ihm an zweifelsfreier Abstammung, wo den nationalsozialistischen Deutschen an ge¬nauer Buchführung in dieser Angelegenheit noch mehr lag als an der Konfession: Nie aber mangelt es ihm an Raum, von dem die Nationalsozialisten glaubten, er fehle den Deutschen. Er findet ihn unter Röcken, unter Tischen und Tribünen. Sein Raum ist der Un¬terschlupf — und so sehe ich ihn auf seiner letzten Station. Dort, wo er als Kranker und mit anderen Kranken leben soll, ist der Unter¬schlupf perfekt.
Auch an Macht mangelt es ihm nicht, denn seine Macht besteht in den Schlägen und Wir¬beln seiner Stöcke, im blechernen Laut der Trommel und in einer physisch und psychisch reizenden Stimme. Diese Macht verfolgt aller¬dings keine vernünftige Strategie, sie ist eine sinnliche, der sich niemand verschließen kann; ungleich den Augen lassen sich Ohren nicht schließen und hören Zwerchfell und Ge¬wissen selbst ohne Ohren noch.
Wenige Jahre nach der deutschen Veröffent¬lichung von Anne Franks Tagebuch und weni¬ge Jahre nach dem vorerst von der Gruppe 47 verhöhnten Vortrag der „Todesfuge" durch Paul Celan schreibt der junge Günter Grass seinen ersten Roman. Ein nur wenig jüngerer und noch nicht berühmter, knapp dreißigjähri¬ger Kritiker namens Hans Magnus Enzens¬berger prophezeit im Süddeutschen Rundfunk
am 18. November 1959, die wenige Wochen zu¬vor erschienene „Blechtrommel" werde unter deutschen Kritikern „Schreie der Freude und der Empörung" hervorrufen. „Der Skandal, der darin liegt, ist letzten Endes an keinen Stoff gebunden: er ist der Skandal der realisti¬schen Erzählweise überhaupt."
Was mochte die Leser abgestoßen haben? Um den Ton der „Blechtrommel" in Erinne¬rung zu rufen, möchte ich eine Passage über den Tod von Oskars Mutter zitieren: Im drit¬ten Monat schwanger, nach wochenlang an¬dauernder Fischfraßorgie, wird Mutter Agnes schließlich ins Krankenhaus gebracht. "Mama zeigte uns, die wir sie besuchen durften, vier Tage lang ihr angeekeltes, im Ekel "mich manchmal anlächelndes, von Krämpfen ver¬wüstetes Gesicht. Wenn sie sich auch Mühe gab, ihren Besuchern kleine Freuden zu berei¬ten, wie auch ich mir heutzutage Mühe gebe, meinen Freunden an den Besuchstagen be¬glückt zu erscheinen, konnte sie dennoch nicht verhindern, daß ein periodisch auftreten¬der Brechreiz ihren langsam nachgebenden Körper immer wieder umstülpte, obgleich dem nichts mehr entfallen wollte als schlie߬lich am vierten Tage jenes mühevollen Ster¬bens jenes bißchen Atem, das jeder endlich ausstoßen muß, um den Totenschein zu be¬kommen."
Zur Beerdigung heißt es dann: „Mit Mama und dem Embryo wollte Oskar in die Grube. Unten bleiben, während die Hinterbliebenen ihre Hand voller Erde hinabwarfen, nicht hochkommen wollte Oskar, auf dem verjün¬genden Fußende wollte er sitzen, trommeln, wenn möglich unter der Erde trommeln, bis ihm die Knüppel aus den Händen, das Holz un¬ter den Knüppeln, bis ihm seine Mama, bis er ihr, bis jeder dem anderen zuliebe faulte, das Fleisch an die Erde und die Bewohner abgab; auch mit den Knöchelchen hätte Oskar noch gerne den zarten Knorpeln des Embryos vor- getrommelt, wenn es nur möglich und erlaubt gewesen wäre."
Dass solche Bilder an die Grenzen ästheti¬scher Belastbarkeit rühren, manchem Leser grell und schmutzig erscheinen, ihn ekeln, den anderen verzweifelt und vergeblich eine Identi¬fikation suchen lassen, wen wundert das? Und doch gerät der Tod von Oskars Mutter zu einer der zärtlichsten Passagen des Buches, in denen die Dankbarkeit (für die Trommel/Stimme) kei¬neswegs zur bloßen Ironie verkommt. Hätte es denn das Anliegen des Autors sein können, die eigene und die Generation seiner Eltern zu be¬frieden, zu beglücken und zu streicheln, indem er sie sich an einer Prosa delektieren ließ, mit deren Protagonisten sie sich im Guten identifi¬zieren, ja vereinigen durften?
Labung im Sinne einer Sättigung war nicht das Anliegen dieses Autors — noch nie. Er be¬richtet, er stachelt auf und reizt, er hindert sei¬ne Leser am Einschlafen, er nimmt ihnen die Dämmerung und erfragt Gewissen. Sein Ro¬man, „Die Blechtrommel", ist komisch und grausam, lüstern und nüchtern.
Bis zuletzt bleibt Oskar ein verdächtiger Held, einer, mit dem man niemals Schulter¬schluss suchen und vor dem man sich bei aller
_ Faszination stets ein wenig fürchten sollte. In
?i; den Augen der modernen Leserin erscheint es unzulänglich, den Roman an realistischen Si¬znalen zu messen. Dieser Roman muss an der ->prengkraft solcher Kategorien gemessen wer¬len, denn er ist phantastisch und realistisch zugleich, er strotzt vor infantilem Selbstbe
t: wusstsein, das er beständig schizoid kommen¬tiert und in Zweifel zieht. Die wechselnde Er¬zählperspektive zwischen der ersten und der dritten Person spiegelt einen im besten Sinn befangenen Autor. Die Oszillation zwischen Ich und Er schließt den Autor wie auch den Le¬ser dringlich ein. Mit der „Blechtrommel" ge¬rät ihr Leser in die Abgründe deutscher Ge¬schichte. Indem der richtende Leser Oskars Worten und Schuldbezichtigung nicht traut, ist er selbst gefordert, und erfährt, welche Mühe und welchen Gewinn es bedeutet, Ver¬antwortung zu teilen.
Günter Grass Die Blechtrommel – von Selzer-McKenzie SelMcKenzie
Sonntag, 20. September 2009
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