Yunnan China Reise Travel SelMcKenzie Selzer-McKenzie
Ein Reisebericht von D.Selzer-McKenzie
4 Morgens gibt
es immer diesen Moment, in dem man aufwacht und kurz glaubt, irgendwo in den
Alpen zu sein. Die Töne hallen rund und voll, große Glocken an den Hälsen
großer Tiere: Sie ziehen am Fenster vorbei auf ihrem Weg zur Weide. Es klingt
wie im zurückliegenden Wanderurlaub. Aber dann hört man die Stimmen der Hirten
und weiß wieder, wo man ist. Und dass das da draußen keine Milch-kühe sind,
sondern zottelige Yaks.
Wolken wie Wattebäusche
Wenn man jetzt aus dem Bett steigt und hinaus in das
unentschlossene Licht des jungen Morgens tritt, liegen die chinesischen
Ausläufer des Himalaja da. Das Land wirkt, als sei es über Nacht von einem
Künstler gemalt worden, mit wenig Farbe und viel Wasser. Den Horizont füllen
pastellfarbene Gipfel-silhouetten, kleine Wolken hängen wie fasrige
Wattebäusche über den Wiesen. Die Ruhe der Nacht macht der Stille des Morgens
Platz: Alles ist unwirk¬lich, alles wirkt unfertig hier im chinesischen
Shangri-la, und wenn die Yaks 200 Meter entfernt sind, hat der Morgennebel sie
verschluckt.
Shangri-la ist eines jener seltenen Ziele, an die bis vor
Kurzem noch keiner reisen konnte. Es wusste nämlich niemand, wo es lag. Wie für
El Dorado,
Eingebettet zwischen Hügeln liegt Shigu. Hier trifft der
Jangtse auf den Wolkenberg und macht kehrt.
Xanadu oder andere Sehnstichtsorte existierten auch für
Shangri-la keine Koordinaten; das Land existierte lediglich in der Fantasie.
Beziehungsweise als Name für eine Hotelkette und einen Schlager der Flippers,
die daraus eine Insel machten. Shangri-la war eine sehnsüchtige Vorstellung —
mehr nicht. Dabei ist das geheimnisvolle Land bereits 1932 ziemlich genau
beschrieben worden. James Hiltons „Hinter dem Horizont" handelt von vier
Europäern, die nach einer Bruchlandung im Himalaja von ei¬nem buddhistischen
Mönch gerettet und in ein Kloster gebracht werden, dessen Bewohner wie
45¬Jährige aussehen, aber über 300 Jahre alt sind. Sein
Roman basiere auf den Aufzeichnungen eines dieser Europäer,
schrieb Hilton, was er allerdings besser verschwiegen hätte. Jetzt nämlich
machte sich jeder daran, dieses Shangri-la zu suchen. Glücksritter al¬ler
Couleur, Heilssuchende, Gralsforscher, sogar die Nazis forschten nach dem Land
der ewigen Jugend. Als dann später der Tourismus zu einem entschei-denden
Wirtschaftsfaktor wurde, traten Chinas Nachbarn Bhutan, Ladakh und Sikkim auf
den Plan und behaupteten, das wahre Shangri-la zu sein. Mitte der 90er-Jahre
ließ ein Provinzpolitiker in einem schwer zugänglichen Tal im Nordosten der
chinesischen Provinz Yunnan wissen, er sei mit den Figuren aus Hiltons Roman
verwandt. Was man im Tal nebenan natürlich nicht gerne hörte. Und im Tal
daneben wiederum auch nicht. Plötzlich war Shangri-la überall. In Zhonglian bauten
schwerrei¬che Unternehmer sogar einen Shangri-la-Airport.
Reiseziel per Beschluss
Am Ende schuf Peking Fakten. Die Regierung schickte
Experten. Mit dem Roman, mit Vermes-sungsgeräten, mit Landkarten. Und mit der
Voll-macht, Groß-Shangri-la einzurichten: 50 Bezirke im Grenzgebiet von Yunnan,
Sichuan und Tibet ¬eine landwirtschaftlich geprägte Region voller ma
lerischer Landschaften, in denen etliche ethnische
Minderheiten zu Hause sind. Früher waren die Men-schen hier unter sich. Dann
wurde ihre Heimat mit¬tels Regierungsdekret zu einem der großen
Sehn-suchtsreiseziele der Menschheit gemacht. Die Shangri-la-Touristen kommen
auch mit freund¬licher Unterstützung der UNESCO. Die hat das Zentrum der
Millionenstadt Lijiang zum Weltkul¬turerbe erklärt — nicht wegen Shangri-la,
sondern wegen der historischen Bausubstanz.
Original oder Kopie?
Während der ersten Stunden in den alten
Kopf-steinpflastergassen Lijiangs weiß man nicht so ge-nau, ob man entzückt
sein soll von der Aufgeräumt-heit, den vielen Menschen in ihren Trachten, den
steinernen Brücken und den historischen Straßen, über deren steinaltes Kopfsteinpflaster
man bum-melt. Oder ob einen das hier nicht doch zu sehr an einen Themenpark
erinnert — als sei dieses Lijiang überhaupt nicht das Original, sondern nur
eine je¬ner Kopien, die China ja gerne detailgetreu produ¬ziert. Dann aber
sitzt man am späten Nachmittag auf einem der Altstadtplätze, blinzelt in die
tief ste¬hende Sonne und beobachtet die alten Frauen, die zum Tanzen
zusammenkommen. Zuerst sind es nur zehn oder zwölf. Aber weil ihr Lachen
ansteckt und die Tanzschritte simpel sind, machen bald immer mehr Menschen mit.
Schließlich scheint der ganze Platz im Kreis zu tanzen und die Musik wie eine
Wolke über den Gassen und Dächern hinauf zu den Hügeln über der Stadt zu
schweben.
Nach dem Trubel tut es gut, aufs Land hinauszufah
ren, gewissermaßen hinein nach Shangri-la. Und dann passiert
etwas Erstaunliches: Je länger man unterwegs ist in diesem weiten Land, desto
mehr bei sich selbst fühlt man sich. Vor allem in den kleinen Dörfern bemerkt
man das: Wie man durchatmet, still wird, plötzlich auf Details achtet, auf das
Moos auf den Ziegeln und die Furchen im Holz und den Gesang eines Vogels oben
in einem Baum. Vielleicht auch deshalb wirkt der Zauber des alten China in
seinen kleinen Orten noch immer stark. So stark, dass man sich bei seinen
Streifzügen minutenlang fühlt, als habe man sich nicht bloß verlaufen, son¬dern
sei durch ein Zeitloch zurück in eine andere Epoche gefallen.
Manchmal entdeckt man in solchen Orten etwas ganz
Besonderes, in Shigu war das so. Das liegt ganz am Rand des Riesenreiches, drei
Autostunden von Lijiang entfernt. Dieser Teil Chinas wird von Bergen
eingerahmt, an klaren Tagen sieht man verschneite Himalajagipfel am Horizont.
Wenn man auf der Straße weiter geradeaus fahrep würde, käme man irgendwann nach
Tibet. Shigu liegt eingebettet zwi-schen den Hügeln. Es gibt eine etwas
breitere Dorf-hauptstraße vom Ortsanfang bis zum Ortsende und viele steile
Gassen. Die Häuser tragen alle die glei¬chen Schindeldächer, und vom Hügel
hinter der Schule aus mutet es fast an, als sei ganz Shigu mit einem einzigen
Dach geschützt.
Berühmt ist Shigu, weil die Naxi hier einst die mächtigen
Tibeter besiegt haben. 1548 war das, und jedes Schulkind kann einem erzählen,
was damals geschah. Viel faszinierender aber ist der Blick auf Shigus
Hausfluss, den Jangtse. Der nämlich kommt aus dem linken Horizont
herausgeflossen, ein lan
ges, gerades Band, dem sich hier bei Shigu aller¬dings ein
Berg in den Weg gestellt hat. Wahr¬scheinlich hat der Jangtse ziemlich lange
versucht, sich irgendwie durchzumogeln, mit der Kraft seines Wassers und
unendlicher Geduld. Aber irgendwann hat er dann doch aufgegeben — und sich
einen an¬deren Weg gesucht. Bei Shigu macht der Jangtse kehrt, fließt kurz
zurück nach Norden, um dann Richtung Osten abzudrehen und auf fast 5000
Kilometern Länge das ganze große Land zu bewäs¬sern. Ohne diese Kehrtwende bei
Shigu an der Stelle, wo der Fluss auf den Wolkenberg trifft, wäre China nicht
denkbar gewesen. Jedenfalls nicht das China, das wir heute kennen. Über so etwas
kann man lan¬ge nachdenken auf seiner Reise durch Shangri-la. Irgendwann wird
einem bewusst, wie wenig man von diesem Land weiß und wie viele Geschichten es
erzählen könnte.
China spüren
Die Teehausbesitzerin bringt eine neue Schale. Sie lächelt.
Der Tee dampft und beschlägt die Brillen-gläser. Für kurze Zeit kann man China
nicht mehr sehen, sondern nur noch hören. Das Klackern der Mahjong-Steine vom
Nebentisch, an dem die Alten spielen. Den Gesang ihrer Vögel, deren Käfige sie
in die Bäume gehängt haben. Das Zischen der Tee-kessel. Das Knistern, wenn die
Teehausbesitzerin die Schälchen mit den Wassermelonenkernen und Nüs-sen auf den
Tischen nachfüllt. Und wenn die Ruhe des Tages allmählich in die Stille der
Nacht über¬geht, die Glocken der Yaks, die von den pastellenen
Weiden zurückkehren
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