Montag, 14. Mai 2012

Yunnan China Reise Travel SelMcKenzie Selzer-McKenzie



Yunnan China Reise Travel SelMcKenzie Selzer-McKenzie




Ein Reisebericht von D.Selzer-McKenzie

4          Morgens gibt es immer diesen Moment, in dem man aufwacht und kurz glaubt, irgendwo in den Alpen zu sein. Die Töne hallen rund und voll, große Glocken an den Hälsen großer Tiere: Sie ziehen am Fenster vorbei auf ihrem Weg zur Weide. Es klingt wie im zurückliegenden Wanderurlaub. Aber dann hört man die Stimmen der Hirten und weiß wieder, wo man ist. Und dass das da draußen keine Milch-kühe sind, sondern zottelige Yaks.

Wolken wie Wattebäusche

Wenn man jetzt aus dem Bett steigt und hinaus in das unentschlossene Licht des jungen Morgens tritt, liegen die chinesischen Ausläufer des Himalaja da. Das Land wirkt, als sei es über Nacht von einem Künstler gemalt worden, mit wenig Farbe und viel Wasser. Den Horizont füllen pastellfarbene Gipfel-silhouetten, kleine Wolken hängen wie fasrige Wattebäusche über den Wiesen. Die Ruhe der Nacht macht der Stille des Morgens Platz: Alles ist unwirk¬lich, alles wirkt unfertig hier im chinesischen Shangri-la, und wenn die Yaks 200 Meter entfernt sind, hat der Morgennebel sie verschluckt.

Shangri-la ist eines jener seltenen Ziele, an die bis vor Kurzem noch keiner reisen konnte. Es wusste nämlich niemand, wo es lag. Wie für El Dorado,





Eingebettet zwischen Hügeln liegt Shigu. Hier trifft der Jangtse auf den Wolkenberg und macht kehrt.

Xanadu oder andere Sehnstichtsorte existierten auch für Shangri-la keine Koordinaten; das Land existierte lediglich in der Fantasie. Beziehungsweise als Name für eine Hotelkette und einen Schlager der Flippers, die daraus eine Insel machten. Shangri-la war eine sehnsüchtige Vorstellung — mehr nicht. Dabei ist das geheimnisvolle Land bereits 1932 ziemlich genau beschrieben worden. James Hiltons „Hinter dem Horizont" handelt von vier Europäern, die nach einer Bruchlandung im Himalaja von ei¬nem buddhistischen Mönch gerettet und in ein Kloster gebracht werden, dessen Bewohner wie 45¬Jährige aussehen, aber über 300 Jahre alt sind. Sein



Roman basiere auf den Aufzeichnungen eines dieser Europäer, schrieb Hilton, was er allerdings besser verschwiegen hätte. Jetzt nämlich machte sich jeder daran, dieses Shangri-la zu suchen. Glücksritter al¬ler Couleur, Heilssuchende, Gralsforscher, sogar die Nazis forschten nach dem Land der ewigen Jugend. Als dann später der Tourismus zu einem entschei-denden Wirtschaftsfaktor wurde, traten Chinas Nachbarn Bhutan, Ladakh und Sikkim auf den Plan und behaupteten, das wahre Shangri-la zu sein. Mitte der 90er-Jahre ließ ein Provinzpolitiker in einem schwer zugänglichen Tal im Nordosten der chinesischen Provinz Yunnan wissen, er sei mit den Figuren aus Hiltons Roman verwandt. Was man im Tal nebenan natürlich nicht gerne hörte. Und im Tal daneben wiederum auch nicht. Plötzlich war Shangri-la überall. In Zhonglian bauten schwerrei¬che Unternehmer sogar einen Shangri-la-Airport.

Reiseziel per Beschluss

Am Ende schuf Peking Fakten. Die Regierung schickte Experten. Mit dem Roman, mit Vermes-sungsgeräten, mit Landkarten. Und mit der Voll-macht, Groß-Shangri-la einzurichten: 50 Bezirke im Grenzgebiet von Yunnan, Sichuan und Tibet ¬eine landwirtschaftlich geprägte Region voller ma

lerischer Landschaften, in denen etliche ethnische Minderheiten zu Hause sind. Früher waren die Men-schen hier unter sich. Dann wurde ihre Heimat mit¬tels Regierungsdekret zu einem der großen Sehn-suchtsreiseziele der Menschheit gemacht. Die Shangri-la-Touristen kommen auch mit freund¬licher Unterstützung der UNESCO. Die hat das Zentrum der Millionenstadt Lijiang zum Weltkul¬turerbe erklärt — nicht wegen Shangri-la, sondern wegen der historischen Bausubstanz.

Original oder Kopie?

Während der ersten Stunden in den alten Kopf-steinpflastergassen Lijiangs weiß man nicht so ge-nau, ob man entzückt sein soll von der Aufgeräumt-heit, den vielen Menschen in ihren Trachten, den steinernen Brücken und den historischen Straßen, über deren steinaltes Kopfsteinpflaster man bum-melt. Oder ob einen das hier nicht doch zu sehr an einen Themenpark erinnert — als sei dieses Lijiang überhaupt nicht das Original, sondern nur eine je¬ner Kopien, die China ja gerne detailgetreu produ¬ziert. Dann aber sitzt man am späten Nachmittag auf einem der Altstadtplätze, blinzelt in die tief ste¬hende Sonne und beobachtet die alten Frauen, die zum Tanzen zusammenkommen. Zuerst sind es nur zehn oder zwölf. Aber weil ihr Lachen ansteckt und die Tanzschritte simpel sind, machen bald immer mehr Menschen mit. Schließlich scheint der ganze Platz im Kreis zu tanzen und die Musik wie eine Wolke über den Gassen und Dächern hinauf zu den Hügeln über der Stadt zu schweben.

Nach dem Trubel tut es gut, aufs Land hinauszufah



ren, gewissermaßen hinein nach Shangri-la. Und dann passiert etwas Erstaunliches: Je länger man unterwegs ist in diesem weiten Land, desto mehr bei sich selbst fühlt man sich. Vor allem in den kleinen Dörfern bemerkt man das: Wie man durchatmet, still wird, plötzlich auf Details achtet, auf das Moos auf den Ziegeln und die Furchen im Holz und den Gesang eines Vogels oben in einem Baum. Vielleicht auch deshalb wirkt der Zauber des alten China in seinen kleinen Orten noch immer stark. So stark, dass man sich bei seinen Streifzügen minutenlang fühlt, als habe man sich nicht bloß verlaufen, son¬dern sei durch ein Zeitloch zurück in eine andere Epoche gefallen.

Manchmal entdeckt man in solchen Orten etwas ganz Besonderes, in Shigu war das so. Das liegt ganz am Rand des Riesenreiches, drei Autostunden von Lijiang entfernt. Dieser Teil Chinas wird von Bergen eingerahmt, an klaren Tagen sieht man verschneite Himalajagipfel am Horizont. Wenn man auf der Straße weiter geradeaus fahrep würde, käme man irgendwann nach Tibet. Shigu liegt eingebettet zwi-schen den Hügeln. Es gibt eine etwas breitere Dorf-hauptstraße vom Ortsanfang bis zum Ortsende und viele steile Gassen. Die Häuser tragen alle die glei¬chen Schindeldächer, und vom Hügel hinter der Schule aus mutet es fast an, als sei ganz Shigu mit einem einzigen Dach geschützt.

Berühmt ist Shigu, weil die Naxi hier einst die mächtigen Tibeter besiegt haben. 1548 war das, und jedes Schulkind kann einem erzählen, was damals geschah. Viel faszinierender aber ist der Blick auf Shigus Hausfluss, den Jangtse. Der nämlich kommt aus dem linken Horizont herausgeflossen, ein lan



ges, gerades Band, dem sich hier bei Shigu aller¬dings ein Berg in den Weg gestellt hat. Wahr¬scheinlich hat der Jangtse ziemlich lange versucht, sich irgendwie durchzumogeln, mit der Kraft seines Wassers und unendlicher Geduld. Aber irgendwann hat er dann doch aufgegeben — und sich einen an¬deren Weg gesucht. Bei Shigu macht der Jangtse kehrt, fließt kurz zurück nach Norden, um dann Richtung Osten abzudrehen und auf fast 5000 Kilometern Länge das ganze große Land zu bewäs¬sern. Ohne diese Kehrtwende bei Shigu an der Stelle, wo der Fluss auf den Wolkenberg trifft, wäre China nicht denkbar gewesen. Jedenfalls nicht das China, das wir heute kennen. Über so etwas kann man lan¬ge nachdenken auf seiner Reise durch Shangri-la. Irgendwann wird einem bewusst, wie wenig man von diesem Land weiß und wie viele Geschichten es erzählen könnte.

China spüren

Die Teehausbesitzerin bringt eine neue Schale. Sie lächelt. Der Tee dampft und beschlägt die Brillen-gläser. Für kurze Zeit kann man China nicht mehr sehen, sondern nur noch hören. Das Klackern der Mahjong-Steine vom Nebentisch, an dem die Alten spielen. Den Gesang ihrer Vögel, deren Käfige sie in die Bäume gehängt haben. Das Zischen der Tee-kessel. Das Knistern, wenn die Teehausbesitzerin die Schälchen mit den Wassermelonenkernen und Nüs-sen auf den Tischen nachfüllt. Und wenn die Ruhe des Tages allmählich in die Stille der Nacht über¬geht, die Glocken der Yaks, die von den pastellenen

Weiden zurückkehren

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