Mittwoch, 20. Januar 2016

Kelchsau, Windau und Spertental


Kelchsau, Windau und Spertental

Author D.Selzer-Mckenzie

Video: https://youtu.be/5Sc6o7bAHdY

Schwalben und Bartgeier; Nebbiolo und Dolcetto; Agnello sambucano und Orangen¬konfitüre; hohe Hänge, steile Spitzen und lichte Lärchen - der vielfältige Charme des Valle Stura zieht Christine Kopp (Text und Fotos) immer wieder in die Seealpen.

N

 

leder mit den Alpen - freie Sicht aufs Mittelmeer!", skandierte die Jugendbewegung, die die Stadt Zürich 1980 wütend aus ihrer

behäbigen Beschaulichkeit aufrüttelte. Lä-

chelnd denke ich an den unter uns Schwei-

zern legendären Slogan, als ich hinter

 

FranQois den letzten Steilhang zur Cima Sud d'Ischiator (2926 m) angehe: Das Mit¬telmeer ist ganz nah, aber noch sind wir umringt vom Gipfelmeer.

Wir waren in der Dämmerung in Bes-morello aufgebrochen, einem Dörfchen in einem Seitental des Valle Stura. An die¬

 

sem prachtvollen Aprilsamstag hätten wir in den West- oder Ostalpen an einem vergleichbaren, für Skitouren wie ge¬machten Gipfel Dutzende Bergsteiger an¬getroffen. Doch wir befanden uns eben in den Seealpen, den Alpi Marittime. Und so waren wir mutterseelenallein.

unverkennbare Pyramide des 3841 Meter hohen Monviso aufragte.

Ischiator, der „rutschige Ort": Schließ-lich stehen wir auf dem südlichen Vorgip-fel des Berges mit diesem geheimnisvol¬len Namen. Und ich bekomme endlich, wovon ich in den Tagen davor geträumt hatte: den Blick auf das große Blau! Um ehrlich zu sein, es ist keine freie Sicht aufs Mittelmeer, eher eine Ahnung davon. Aber schon dieser verheißungsvolle Hauch ist umwerfend, ein Gefühl von mediterraner Weite, das in mir anhält, als wir in weiten Kurven über die riesigen Firnhänge hin-unterjauchzen. Beim Schwingen und Sur¬fen sehe ich plötzlich ein paar Schwalben, die hoch über uns gen Norden ziehen. Der Frühling ist da.

Die Cima Sud d'Ischiator war der ski-fahrerische Höhepunkt meiner bisher drei Aufenthalte im Valle Stura. Oder vielleicht auch nicht: Da war dieser allererste Tag, zwei Jahre davor, mit Freeriden im „Cham¬pagne Powder" an den offenen Hängen der Cima delle Lose und im lichten Lär¬chenwald darunter. Einen gelungeneren Einstieg in das piemontesische Skitouren-paradies westlich der Stadt Cuneo hätte ich mir nicht erträumen können.

Mit einer lieben Bergführer-Freundin war ich am Vortag ohne Karte und Führer im Dorf Sambuco im Albergo Osteria del-la Pace eingetrudelt. Außer dem Namen dieser Unterkunft, die mir von mehreren Empfehlungen her ein Begriff war, hatten

 

wir beide keine Ahnung vom Tal. Verlegen erkundigten wir uns also im Hotel bei Raf¬faele, was wir unternehmen könnten. Der quirlige Gastgeber hatte sich schon bei der Begrüßung als begeisterter Skialpinist offenbart. Und nun hörte ich zum ersten Mal seine berühmte Frage: „Quanto volete fare?"„Wie viel wollt ihr machen?" Denn Raffaele empfiehlt nicht einfach eine Tour, sondern will zuerst einmal wissen, wie viel Aufstieg es sein darf: achthundert, tausend, fünfzehnhundert Meter oder ein richtig langer Hatscher? Ist man sich über diese Zahl im Klaren, überlegt sich Raffa¬ele die passende Antwort. Für mich und

„Wie viele Höhenmeter

dürfen's denn sein?",

fragt der Wirt im Albergo.

Gudrun suchte er aus: Zuerst diesen gran¬diosen Freeride-Tag an der Cima delle Lose, unterstützt durch die einzige Auf¬stiegsanlage des Tales, eine endlose Ses¬selbahn. Und für den Tag danach den kur¬zen Aufstieg zur Enclausetta mit Samtfirn und Ausblick nach Frankreich in das prachtvolle Valle de 1'Ubayette.

Pulver und Firn innerhalb von achtund¬vierzig Stunden und unendlich viel Platz, um unsere Spuren ungehindert in den Schnee zu ziehen. Und danach die kulina-rischen Genüsse in der Osteria della Pace. Kein Wunder, dass ich das Valle Stura so¬fort ins Herz schloss.

Gelesen hatte ich schon davor einiges über das Tal. Im Internet und in Program¬men von Bergsteigerschulen - besonders im März sind viele geführte Gruppen aus der Schweiz, aus Deutschland, Frankreich und Norditalien im Valle Stura unterwegs. Gewisse Schlagwörter wiederholten sich auffallend: „steile Gipfel", „einsame Täler", „Touren ohne Ende". Und Sätze wie „pie-montesische Küche und Weine mit Skige¬nuss vereint" oder „Slow Food und Ski¬touren vom Feinsten". Da die Küche Itali¬ens und seine Rotweine für mich zu den

 

unerlässlichen Zutaten des Lebens gehö¬ren, war der Fall klar: Ins Valle Stura, wo offenbar nicht nur hinreist, wer gerne Ski fährt, sondern auch, wer gerne gut isst und trinkt, musste auch ich!

Schon bei Cuneo erhält man einen ers¬ten Eindruck von den Alpi Marittime, den Seealpen. Die südlichste Gebirgsgruppe der Alpen ist schroffer und höher, als es ihre Nähe zum Meer vermuten ließe. Ihre wilden Berge muss man sich geduldig er¬schließen mit Aufstiegen, die oft zuerst über lange, flache Böden führen, um dann in steiles und offenes Gelände überzuge-hen. Und es wimmelt von Cime und Mon-ti: Das Valle Stura allein bietet über sieb¬

 

zig Skitouren auf meist zwischen 2500 und 3000 Meter hohe Gipfel. Nimmt man das Valle de l'Ubaye dazu, auf der fran¬zösischen Seite des Grenzpasses Colledella Maddalena zuhinterst im Tal, sind es über hundert. Natürlich: Nicht immer sind die Verhältnisse gut. Aber häufig fin¬det man gleichzeitig Pulver und Firn. Und das vom Gegensatz zwischen Meer und Bergen geprägte Klima brachte gerade in den letzten Jahren viel Schnee bis spät in den Frühling.

Auch bei den Touren, die ich vor zwei Jahren Anfang April mit Francois hier un¬ternahm, lag viel Schnee. Der weit gereis¬te Bergführer und Fotograf, der das Stura davor nicht kannte, war sogleich begeis-

Vielfalt prägt das Erleben: zauberhaf¬te Morgenstimmung beim Aufstieg zum Ischiator; prächtige Firnhänge an der Cima delle Lose; den Monte

Enciastraia machen Wolken und Sturm zum Alpintrip — Fixpunkt ist das Abendessen bei Bartolo Bruna.

 

Skitouren im Valle S

BESTE ZEIT: Ende Dezember bis April; im März sind am meisten Skitourengänger unterwegs (Unterkunft rechtzeitig buchen). Allgemein sind die Seealpen schneereich; in den letzten Jahren fiel ausgesprochen viel Schnee.

ANREISE: Über Turin nach Cuneo, dann über Borgo San Dalmazzo ins Valle Stura nach Demonte und Sambuco.

LITERATUR/KARTEN:

> Auswahlführer (italienisch) von Jean-Charles Campana bei Blu Edizioni (bluedizioni.it): „Alpi Ligure, Alpi Marittime, Alpes de Provence" und „Dal Colle della Maddalena al Monviso, Italia-Francini

tert. So auch auf unserer ersten Tour zur knapp 2800 Meter hohen Testa del Ferro. Vom Talort Prinardo stiegen wir auf ei¬nem Sträßchen, dann auf einem Weg ins Tal hinein. Weit und breit kein Mensch. Francois ließ sich von Gelände und Ge¬fühl leiten. Höher oben hielten wir Sicher-heitsabstand - der Wind hatte in den Wo¬chen davor gewütet -, bevor wir den Grenzgrat zu Frankreich erreichten und über ihn zum Gipfel aufstiegen.

Die Aussicht war berauschend, und noch beeindruckender war die Abfahrt über mächtige, sehr steile Osthänge in einen an-deren flachen Talboden und hinaus nach Pontebernardo. Im halb verlassenen Dörf-chen aßen wir etwas in der Sonne. Ich hielt mich allerdings zurück, im Wissen um das bevorstehende Abendessen.

Die Osteria della Pace liegt mitten im Dorf Sambuco unweit der Straße, die sich durch das Valle Stura von Demonte über den erwähnten Colle della Maddalena ( französisch Col de Larche) hinüber nach Frankreich zieht. Entsprechend leidet das Tal, das überdies eine drastische Abwan¬derung erfahren hat, unter dem Lastwa-genverkehr zwischen den zwei Ländern. Das kleine Hotel in Sambuco setzt einen

 

ura

> Skitourenkarte 1:25.000 „Sci alpinismo in Valle Stura" mit 131 Routen und Zusatz-infos (IU fraternalieditore.com).

> IGC-Skitourenkarten 1:25 000 „Valle Stura-Vinadio-Argentera" und "Valle Maira-Acceglio-Brec de Chambeyron", vor Ort oder über Internet erhältlich.

TOURISMUSVERBAND:

vallesturademonte.com/gertt

UNTERKUNFTSTIPP: Albergo Osteria della Pace, 1-12010 Sambuco (CN), Tel.: 0039/ 0171/965 50, N albergodellapace.com

MEHR INFOS, TOURENTIPPS UND BILDER: iü+alpenverein.de/panorama

Gegenpol und hat sich zum Mittelpunkt für Skitourengänger und im Sommer für Ausflügler, Biker und Wanderer aus dem In- und Ausland entwickelt. Zu verdan-ken ist dies der Schaffenskraft von Barto-lomeo „Bartolo" Bruna und seiner Familie - Frau Alda, Tochter Manuela, Schwie¬gersohn Raffaele und Sohn Daniele, der

Heute Pulver, morgen Firn

- bei über siebzig Gipfeln

ist das oft möglich.

die gegenüberliegende Bar La Meridiana in ein gediegenes Lokal verwandelt hat.

Während Bartolo vom frühen Morgen bis zum späten Abend in der Küche steht und seine Gäste vom Brot über die Konfi¬türe bis zur Pasta - natürlich alles haus¬gemacht - liebevoll verwöhnt, berät Raf¬faele sie als ausgebildeter Sommelier bei der Wahl des richtigen Weines und als leidenschaftlicher Skibergsteiger bei der Planung der Touren. Das Gasthaus mit seinen schönen Zimmern, dem kleinen Wellness-Bereich und der hervorragenden Küche hat sich zu einer echten Oase entwickelt und setzt Impulse weit über Sambuco hinaus.

Den guten Geist von Bartolo hatte ich bereits beim ersten Aufenthalt schätzen gelernt. Und da ich liebend gerne koche, fragte ich ihn bald, ob ich ihm in die Töp¬fe schauen dürfe. Ich durfte. So auch nach der Testa del Ferro: Frisch geduscht, klop¬fe ich an die Küchentür. Bartolo empfängt mich freundlich. Beim Schneiden und Rühren erzählt er mir die Geschichte der Osteria von den Anfängen seines Urgro߬vaters über die Kriegsjahre bis heute. Bar-tolo ist ein durch und durch positiver Ma¬cher, der sich weder von wirtschaftlich harten Zeiten noch durch bürokratische oder politische Hindernisse beeindru¬cken lässt. Vielmehr redet er von seiner

 

Hoffnung, dass immer mehr Menschen die Hemdsärmel hochkrempeln, um das Tal mit nachhaltigen touristischen An¬geboten aufzuwerten. Jammern - über Verkehr, Staat oder Strukturen - bringe nichts, sagt Bartolo, bevor er mir seine unschlagbaren Rezepte für Orangenkon¬fitüre, Stockfisch im Ofen, Auberginensa-lat und eine Gemüsetimbale mit Mönchs¬bart diktiert.

Anfang 2015 waren wir zurück im Valle Stura. Eugenio und ich reisten aus dem nahen Valle Varaita an, seinerseits ein be¬liebtes Skitouren- und vor allem Eisklet-tergebiet. Wie gewohnt, fragten wir Raffa¬ele nach seinen Tipps. Es lag wenig Schnee, aber das Wetter war großartig. Auf seinen Rat hin brachen wir, dieses Mal ohne Lifthilfe, von Argentera zur

 

Cima delle Lose auf Als wir auf den Gip¬felgrat ausstiegen, erfuhr ich einmal mehr: Die Nähe zum Meer heißt nicht, dass es an diesen Bergen immer sanft zugeht. Ein eisiger, stürmischer Nordwind blies uns

Die Nähe zum Meer heißt

nicht, dass es an diesen

Bergen immer sanft zugeht.

beinahe vom schmalen Rücken. Das Ab-fellen war schwierig, von der Aussicht kriegten wir nichts mit. Wir hatten nur ei¬nen Wunsch: so schnell wie möglich weg und hinunter in den Lärchenwald, wo uns der vom Wind unberührte Schnee feder¬leicht empfing!

Am nächsten Tag fuhren wir zum Colle della Maddalena und brachen von hier aus zu zwei kurzen, aber sehr steilen Tou¬ren auf. Zuerst gelangten wir vom Pass über weite Hänge und ein ruppiges Cou-loir zur Tete de Blave. Dann hängten wir den Monte Pierassin an: Seinen Gipfel er¬reicht man hintenrum durch das hübsche Vallon de l'Oronaye. Für die Abfahrt wähl¬ten wir die ausgesetzten Hänge direkt zur Passstraße hinunter.

Doch zuerst war noch etwas anderes. Auf dem Gipfel hörten wir plötzlich ein Rauschen. Ich blickte hoch, und da sah ich ihn: den Bartgeier. Wenige Meter über uns zog er mit gigantischen Schwingen seine Runden. Still schauten wir zu

 

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