Dienstag, 19. Januar 2016

Winter in Südtirol


Winter in Südtirol

Author D.Selzer-McKenzie

Video: https://youtu.be/3PXPBci8GRg

Leise flüstern die Skier in der Loipe. Es geht durch einen verschneiten Märchenwald. Plötz¬lich schält sich aus den Tannen eine Bergkulisse wie aus einem Bildband von Reinhold Messner: Felsriesen mit Gipfeln so spitz wie die Zähne eines Drachens ragen empor. Fasziniert von der Mächtigkeit der Berge übersieht man beinahe das Reh, das ein paar Meter vor den Skiern über die Loipe hüpft und auf der anderen Seite wieder im Wald verschwindet. Idyllisch und zugleich aufregend ist die Landschaft in den Sextner Do¬lomiten im Südtiroler Hochpustertal.

Kofeln, die den Himmel kitzeln

Viele Gipfel heißen hier Kofel. Obwohl der Name vom Wort Kuppe herrührt, sind die meis¬ten eher spitz. Sie kitzeln den Himmel 3.000 Me¬ter über dem Meeresspiegel und tragen Namen wie Neuner-, Elfer-, Zwölfer- und Einserkofel.

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$- ill . größte steinerne Sonnenuhr B Kasknödel und Kletterprofis

mg Wintercamping am Patzerfeld

 

Denn sie gehören zu einem weltweit einzigarti¬gen Naturschauspiel: der größten steinernen Sonnenuhr. Zur Wintersonnwende steht die Sonne um 12 Uhr genau auf dem Zwölferkofel, um 1 Uhr auf dem Einser. Die Römer rechneten anders. Sie begannen erst bei Sonnenaufgang zu zählen. Deshalb zeigte bei ihnen der Zwölferko-fel die „Sexta Hora" an, die sechste Stunde. Ver¬mutlich entstand so der Ortsname Sexten.

Niedriger Puls durch tägliches Langlauftraining

Ein paar Minuten hinter dem Ort ist Eugenio Rizzo mit seinen Gästen gestartet. Auf 1.500 Me¬ter führt die Höhenloipe am Berghang entlang. Ein paar dunkle Holzhütten tupfen die weiße Schneelandschaft. „Hier ist das ,Negerdorf", er¬zählt Eugenio. Als im ersten Weltkrieg Tiroler Standschützen die Verteidigungslinie am karni-schen Kamm aufbauten, nutzten sie das Wort als Erkennungsparole — vermutlich weil sich im Laufe der Zeit das Holz der Hütten schwarz färb¬te. Die Winter im Krieg waren hart. Nicht nur im Kampf starben viele Menschen — zahlreiche wurden auch Opfer der Natur.

 

Eugenio ist in den Karnischen Alpen aufgewach¬sen. Schon als Teenager war er ein ausdauernder Junge und flitzte wie ein Profi auf Langlauf¬skiern durch Täler und über Berge. „Beim Ein¬zug zum Militär dachten sie erst, ich hätte einen Herzfehler, weil mein Puls so niedrig war. Dabei kam das vom täglichen Langlauftraining", lacht der 55-Jähige, der auch Biathlet war. Zuletzt hat er jahrelang die Tour de Ski organisiert, die nach der Olympiade als wichtigstes und härtestes Ski¬rennen gilt, das neben Oberstdorf unter ande¬rem in Toblach und Cortina ausgetragen wird.

Kletterrouten mit hohem Schwierigkeitsgrad

Südtiroler lieben das Kräftemessen. Jedes Win¬terwochenende findet ein anderer Skimarathon statt. Denn so rau die Natur ist, so zäh sind auch die Einheimischen. Otti Innerkofler ist so ein Kerniger. Der 44-Jährige hat den Elan eines Mittzwanzigers und kein Gramm zu viel auf den Rippen. „Beim Klettern kann ein zusätzliches Kilo entscheidend sein, ob man es schafft oder nicht", erklärt er sein Gewicht. Gemeinsam mit seiner Frau Klara betreibt er eine Almhütte auf 1.877 Meter Höhe direkt an der Loipe. Drinnen hängen Skizzen von Kletterrouten mit hohen Schwierigkeitsgraden an der Wand. Es duftet nach leckerem Apfelkuchen. Da schnallt man gern die Skier für eine Pause ab.

Otti jongliert Teller mit Kuchen und Kasknö-deln zwischen Küche und dem vollen Gastraum.

Zwischendurch nimmt er seine Ziehharmonika und spielt mit leuchtenden Augen Bergsteiger¬lieder. Dabei ist sein Tag mehr als ausgefüllt: Jeden morgen steht er um 4 oder 5 Uhr auf, je nachdem welche Mengen Apfelstrudel er backen muss. Später bringt er die Kinder ins Tal in die Schule, düst mit dem Motorschlitten zurück auf die Alm, wo er mit Klara bis 10 Uhr am Abend die Gäste bewirtet. Obendrein trainiert Otti sei¬ne Muskeln in der Kletterhalle und gibt Skikur¬se für Kinder. Manchmal doubelt er auch ge-fährliche Skiabfahrten für Schauspieler. Wie er mit dem durchgetakteten Leben klarkommt? „Prima, ich heiße ja nicht umsonst Innerkofler", lacht er. Sein Urgroßvater war die Kletterlegen¬de Sepp Innerkofler, der den 2.744 Meter hohen Paternkofel und viele weitere Gipfel als erster erklomm. Als Tourismuspionier übernahm er Ende des 18. Jahrhunderts die Dreizinnenhütte im gleichnamigen Naturpark und baute sie mit Lagerbetten aus.

Wintercamping: Abwasser beachten

Gut gestärkt geht es zurück auf die Loipe. Die Skier surren leicht abschüssig bis zum Kreuzberg-pass. Zu Füßen der Rotwand liegt der Campingplatz Patzerfeld. Die Wohnwagen tragen Mützen aus Schnee. Nicht nur hartgesottene Urlauber trotzen hier der Kälte. „Man lernt viel beim Wintercam¬ping", schwärmt ein Holländer vor seinem Sechs-Meter-Wohnmobil. „Zum Beispiel darf man das Ab¬wasser nicht einfach herauslaufen lassen, dann gefriert es." Was die

 

restlichen Kältecamper wohl mehr begeistert, ist das Gebäude direkt neben den Wohnwagen: Dort gibt es eine Sauna und verschiedene Mas¬sagen im Angebot.

Weiß gefrorene Fingerspitzen durch Draufbeißen beheben

So viel Komfort hatte Rainer Kauschke damals nicht. 1963 bestieg der Kletterer gemeinsam mit drei Freunden als erster eine neue Nordroute in der großen Zinne. Die Wände der „Drei Zin¬nen" sind nicht höher als 550 Meter, stehen aber senkrecht wie Schneidezähne in der Landschaft. Damit ihnen niemand zuvor kam, planten Kauschke und seine Freunde die Tour für den Winter. Am Ende haben sie 17 Tage bei teilweise minus 30 Grad in der Wand verbracht. „Sobald man die Hände vom Fels genommen hat, waren die Fingerspitzen weiß gefroren. Wir haben drauf-gebissen, um sie wiederzubeleben", erzählt der

 

gebürtige Sachse, der in Toblach seine zweite Heimat hat. „Ich hatte immer großen Respekt vor den Gipfeln und hätte nie etwas Unüberleg¬tes getan."

Damals war die Ausrüstung noch richtig schwer. Sie hatten Rucksäcke aus Leder dabei und Berg¬schuhe, die dreimal so viel wogen wie heute. „Wir mussten zweimal am Tag Lebensmittel zu uns hochziehen. Das war so anstrengend, es hat uns wahrscheinlich vor dem Erfrieren gerettet", erzählt der leidenschaftliche Bergsteiger. Die Zeit hat seine Haare inzwischen weiß gefärbt, trotzdem steigt er noch immer gern in die Zin¬nen, wenn auch nicht mehr auf ganz so extre¬men Routen.

Schnee versteckt

das Wahrzeichen Südtirols

Die „Drei Zinnen" sind das Wahrzeichen Süd¬tirols. Auch Eugenio Rizzo will, dass seine Gäste einen Blick darauf werfen können. Die nächste Loipe führt deshalb ins Höhlensteintal. Doch an diesem Tag ist Frau Holle dabei, die Märchenlandschaft zu reno¬vieren. Dicke Schneeflocken setzen sich auf Nase und Schultern, su¬chen sogar ein Versteck hinter den Wimpern. Von den Steilzähnen keine Spur. Die Wolken scheinen sie verschluckt zu haben. Dann muss eben später ein Blick in den Bildband genügen. Schließlich sind die „Drei Zinnen" eines der meistfotografierten Gebirge überhaupt.

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